Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Pandemie V.
Exkurs zum Thema Volksgesundheit

Die politisch Zuständigen beschönigen nicht den Einsatz hoheitlicher Gewalt, sie rechtfertigen ihn mit den Geboten der seuchenmedizinischen Vernunft. Mit Vernunft reklamiert die Politik, dass sie im Sinne und im Interesse derer handelt, die sie ihren Maßregeln unterwirft. Dabei zeugt die Gewalt, die sie aufwendet, davon, dass der Zweck, den sie mit ihren Vorschriften verfolgt, nicht der der Betroffenen ist. Was ist also die Sache, die der Staat über sein Volk verhängt, wenn er für sein sturzvernünftiges Vorgehen ohne Gewalt nicht auskommt? Und auf wen bzw. auf welche Interessen trifft er mit seiner gewaltsam verordneten Vernunft?

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Systematischer Katalog

Pandemie V.
Exkurs zum Thema Volksgesundheit

Die Ausgangssperre zieht sich in die Länge. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung hält sich zwar in Grenzen; einstweilen steigt in Umfragen – die Sonntagsfrage stirbt wahrscheinlich zuletzt – die gute Meinung über die Regierung im Allgemeinen und die Kanzlerinnenpartei im Besonderen. Die Abteilung ‚moralisch-demokratische Volksbetreuung‘ macht sich allerdings, verantwortungsvoll vorauseilend, schon größere Sorgen.

Zum einen um die Stimmung im Land, die womöglich leidet, wenn dem lieben Volk nicht bloß jede Aussicht auf Aufhebung der erlassenen Restriktionen versagt, sondern schon die Diskussion über eine Exit-Strategie als verfrüht vorenthalten wird. So findet sie dann immerhin statt, ganz nach dem Grundmuster demokratischer Diskussionskultur: als Debatte über die vermutete Unzulässigkeit einer Diskussion über die Bedingungen ihrer Zulässigkeit...

Eine zweite Sorge gilt den demokratischen Grundrechten. Die leiden unter einem Ausgehverbot ebenso wie unter den für den Fall seiner Aufhebung bereits diskutierten Bedingungen. Selbstkritisch wird gefragt, ob „wir“ im Konflikt zwischen Freiheitsrecht und Gesundheitsschutz die richtige Entscheidung und mit der das rechte Maß getroffen haben.

Die wirklich Zuständigen beschönigen nicht den Einsatz hoheitlicher Gewalt. Sie rechtfertigen ihn mit den Geboten der seuchenmedizinischen Vernunft. Und das ist schon interessant, ganz jenseits der teilnahmsvollen Frage nach dem gleichgewichtigen Verhältnis beider Seiten. Denn mit Vernunft reklamiert die Politik, dass sie im Sinne und im Interesse derer handelt, die sie ihren Maßregeln unterwirft. Dabei zeugt die Gewalt, die sie aufwendet, davon, dass der Zweck, den sie mit ihren Vorschriften verfolgt, nicht der der Betroffenen ist. Und das wirft zwei Fragen auf:

Was ist die Sache, die der Staat über sein Volk verhängt, wenn er für sein sturzvernünftiges Vorgehen ohne Gewalt nicht auskommt? Und: Auf wen, auf welche Interessen trifft er mit seiner gewaltsam verordneten Vernunft?

1.

Die Vernunft, die der Staat für seine Gewalt in Anspruch nimmt und mit seiner Gewalt ins Werk setzt, ist eines jedenfalls nicht: die Allgemeinheit des allgemeinmenschlichen Interesses, gesund zu bleiben oder wieder zu werden. Sein erklärter Zweck ist die Volksgesundheit. Welche Bewandtnis es damit hat, welche eigentümliche Ratio diesem Zweck eigen ist, das geht aus dem Verhältnis hervor, in das der Staat ihn stellt. Mit den gesundheitspolitischen Maßnahmen, die er für notwendig hält, schränkt er ganz empfindlich ein, wovon seine Gesellschaft und er selbst lebt: den Prozess des allgemeinen Geldverdienens. Die Notwendigkeiten seiner Geldwirtschaft setzt er aber keineswegs außer Kraft. Zu ihnen setzt er ins Verhältnis, was der Seuchenschutz gebietet. Für seine restriktiven Eingriffe ins nationale Geschäftsleben verlangt er sich selbst eine höchstwertige Rechtfertigung ab: den Nachweis einer Notlage, die den Schaden für die Wirtschaft unumgänglich macht. Und in dem Sinn handelt er auch: Die Schädigung des Geldkreislaufs hält er mit aller Macht so gering wie seuchenmedizinisch vertretbar; noch mehr Macht, nämlich per Schaffung von Geld, wendet er auf, um die trotzdem unerlässlichen Schäden zu kompensieren. Wenn er die Volksgesundheit so ernst nimmt, dass er um ihretwillen den gesellschaftlichen Hauptzweck der Geldvermehrung tatsächlich leiden lässt, dann darf der nicht wirklich Schaden nehmen. Zwar kommt kein Staat darum herum, der Seuchenbekämpfung aktuell Vorrang vor dem ungestörten Fortgang des Erwerbslebens einzuräumen; aber wenn er das tut, dann tut er das so, dass kein Zweifel bleibt, warum er das tut: weil Volksgesundheit eine unerlässliche Bedingung für ein gesundes Wirtschaftsleben ist. Wenn der Staat sich einer Infektionskrankheit annimmt und dafür sogar den normalen Geschäftsgang im Land partiell lahmlegt, dann geht es ihm um die Tauglichkeit seines Volkes für diesen Geschäftsgang: Das ist die eigentümliche Ratio des Zwecks Volksgesundheit, die den vom Gesundheitsinteresse der Individuen, die dem Staat als Volk dienen, unterscheidet.

Mit seinem Einsatz für diesen Zweck dient der Staat also eben der nationalen Geldwirtschaft, die er beschränkt. Er sichert eine ihrer unverzichtbaren Voraussetzungen, setzt die „Vernunft“ dieses Systems durch – gewaltsam und auf dessen Kosten.

2.

Die Maßregeln der Politik, mit denen die Bürger zu gesundheitspolitisch vernünftigem Verhalten genötigt werden, treffen weder auf ein naives Interesse an Gesundheit, das mit medizinischer Aufklärung eventuell zu wirklich sachgerechtem Verhalten anzuleiten wäre, noch – Haupt- und Lieblingsargument bürgerlicher Staatsableitungen – auf eine urmenschliche Neigung zur Unvernunft, gegen die man mit seuchenmedizinischen Argumenten wenig, nur mit Gewalt das Nötige ausrichten könnte. Mit seinen Vorschriften greift der Staat, an vielen Stellen sehr hart, in ein materielles Interesse ein, das aus der von ihm selbst gesetzten Notwendigkeit des Geldverdienens folgt. Es ist dieses gar nicht natürliche Interesse an einem Überleben unter dem Regime „des Marktes“, also unter den Bedingungen der staatlich verfügten und konsequent durchgesetzten Eigentumsordnung, das den gesundheitspolitischen Zwangsmaßnahmen der Regierungen entgegensteht. Das umso mehr, weil die für Geld arbeitende Bevölkerung gewohnheitsmäßig davon ausgeht, dass die eigene Gesundheit keineswegs ihr „höchstes Gut“ ist, sondern eine unentbehrliche Voraussetzung für den notwendigen Gelderwerb, das wichtigste Mittel, die damit verbundenen Notwendigkeiten durchzustehen. Insofern stehen die Adressaten der staatlichen Seuchenbekämpfungspolitik gleich schon auf dem Standpunkt der Funktion ihrer gesundheitlichen Verfassung für ihr Durchkommen in der Marktwirtschaft; insoweit komplementär zum Staatsinteresse an Volksgesundheit, also an einem für Gelderwerb tauglichen Volk; eben deswegen aber gar nicht auf der Linie dieses Staatsanliegens und einer daraus abgeleiteten restriktiven Gesundheitspolitik: Die durchkreuzt ja das private Kalkül mit der Not des Geldverdienens und der eigenen Konstitution als Voraussetzung dafür. Speziell für nicht infizierte oder symptomfreie Geldverdiener ist der drastische Seuchenschutz von oben schwer einzusehen und alles andere als ein geschenkter Sonderurlaub. Deswegen verlangen die materiell Geschädigten auch vom Staat finanzielle Entschädigung, legen ihre Obrigkeit also „von unten“ auf den „von oben“ verfolgten politökonomischen Sinn und Zweck der seuchenpolitischen Maßregeln fest: darauf, dass staatliche Gesundheitspolitik doch Dienst am marktwirtschaftlichen Gelderwerb ist und sich daran zu relativieren oder Kompensation zu leisten hat. Und im Rahmen ihres Kalküls lässt die Staatsmacht sich darauf sogar ein.

Was den Konsens zwischen Regierung und Regierten im Zeichen der gesundheitspolitischen Vernunft in vielen Fällen zusätzlich belastet, das ist der Umstand, dass die Politik mit ihren restriktiven Maßnahmen nicht nur auf das Geldinteresse diverser Kategorien von Werktätigen trifft, sondern auf bürgerliche Individuen, die sich die Notwendigkeiten des Berufslebens als selbstbewusst zu meisternde Herausforderung, den Zwang zur Konkurrenz als persönliche Karrierechance zurechtgelegt haben; als Erfolgsweg, in dessen autonome Gestaltung sie sich von niemandem hineinreden und schon gar nicht von politischen Autoritäten hineinpfuschen lassen. Bei denen weckt der Staat einen Widerspruchsgeist, der definitiv ganz und gar ein Produkt der Geschäftsordnung ist, die er seiner Gesellschaft verpasst hat, nämlich ein Resultat der selbstbewussten Anpassung des freien Individuums an deren Räson. Mit seinen prophylaktischen Zwangsmaßnahmen beleidigt er die Aktivisten seines eigenen Ladens. Konsequent uneinsichtig sind die aber auch nicht: Schließlich ist die aus Ehrgeiz und Konkurrenzdenken der anderen erwachsende Unvernunft der anderen anders als mit Zwang nicht zur Räson zu bringen – eine Entdeckung, die überhaupt viele mit der staatlichen Gesundheitspolitik versöhnt.

Besonders empfindlich treffen die staatlich verhängten Beschränkungen das soziale Leben seines Volkes, und zwar des gesamten, dort, wo es gar nicht um Gelderwerb und Karriere geht, sondern um den Lebensgenuss, für den die Menschen sich den Notwendigkeiten des marktwirtschaftlichen Erwerbslebens fügen und für den das alles sich lohnen soll. In das kleine Reich der Freiheit, das in der verbleibenden freien Zeit und in dem verdienten Geld sein Maß hat und seine Grenzen findet, die bürgerliche Privatsphäre, lassen die Besitzer eines freien Willens sich überhaupt nicht gerne hineinregieren. Das umso weniger, weil das ohnehin dauernd passiert, und weil das nach besten Kräften autonom gestaltete Privatleben ohnehin schon mit den Pflichten und den Notwendigkeiten eines Lebens im kapitalistisch-demokratischen Gemeinwesen ziemlich ausgefüllt ist. Selbst der Rest freier Betätigung, der da im Durchschnitt übrig bleibt, gehorcht zum großen Teil dem gar nicht natürlichen Bedürfnis, sich vom beruflichen und sonstigen Alltag zu erholen und für dessen Bewältigung wiederherzustellen. Die Gewohnheiten, die die Menschen dafür ausgebildet haben, werden durch die staatliche Corona-Politik gestört; was umgekehrt bedeutet: Auch hier trifft der Staat mit seiner Sorge um die Tauglichkeit des Volkskörpers auf wenig Gegenliebe bei Leuten, die in ihrer privaten Lebensführung Produkte des Systems sind, dessen Bestand sich der auf seinem Gewaltmonopol beruhenden Rechtsordnung verdankt. Hier, im staatlich zugestandenen Refugium freier Selbstbestimmung, ist das Bedürfnis nach Rücknahme der verhängten Beschränkungen am lebendigsten; zugleich ist hier viel Erfindungsgeist am Werk, wie sich staatliche Vorschriften umgehen, aber auch, wie sie sich erträglich gestalten lassen. Und solange das gelingt – das Unterhaltungsgewerbe, von der Unterbindung sozialer Kontakte am heftigsten betroffen, gibt sich hier die größte Mühe –, hält sich die unausbleibliche Unzufriedenheit in Grenzen.

Zur Vorstellung eines Widerstands gegen die Staatsgewalt, einer ideellen Aufkündigung des gewohnten staatsbürgerlichen Gehorsams führt die in der Privatsphäre akkumulierende Unzufriedenheit da, wo das Bedürfnis nach freier Betätigung mit besonderer Entschiedenheit den Übergang zum Standpunkt des Rechts auf ungestörtes Tun und Lassen macht. Dieser Übergang liegt dem bürgerlichen Individuum so nahe, dass es ihn in der Regel gar nicht explizit macht, weil es da gar keinen Unterschied wahrnimmt – woran einmal mehr zu sehen ist, dass der Privatmensch als Kreatur der staatlichen Rechtsordnung agiert und reagiert, die Staatsgewalt also gerade in der Privatsphäre ihrer Bürger auf ihr eigenes Produkt trifft, wenn sie dort mit ihren seuchenpolitischen Maßregeln ein trotziges Rechtsbewusstsein aufweckt. Klar ist damit allerdings auch, dass es Sache einer kleinen radikalen Minderheit bleibt, den Staat deswegen eines Übergriffs oder gar Anschlags auf die bürgerlichen Freiheitsrechte zu verdächtigen, die er doch selbst gewährt und deswegen in höchsten Ehren halten müsste.

3.

Seinen festen Platz hat dieser Verdacht in Deutschlands demokratischer Öffentlichkeit an ganz anderer Stelle. Man kennt da die Fälle in der Staatenwelt, wo Maßnahmen des Seuchenschutzes nur ein Vorwand für die Regierungen sind, sich zu diktatorischen Praktiken ermächtigen zu lassen; wo speziell die auch für einheimische Seuchenbekämpfer durchaus attraktive Idee, Bewegungen und Begegnungen von Infizierten und Infektionsgefährdeten – was per Saldo die Gesamtbevölkerung ergibt – digital aufzuzeichnen und die Bewegungsprofile für Warnungen zu benutzen, für den Ausbau von Volkskontrolle und Unterdrückung missbraucht wird. Ob eine solche Anklage im Einzelfall zu begründen ist, spielt weniger eine Rolle; zur Illustration eines ohnehin feststehenden Feindbilds von „autoritären“ bis „diktatorischen Regimen“ taugt sie allemal. Ebenso wie der damit eigentlich schlecht zusammenpassende, aber ganz leicht passend gemachte Vorwurf, eine von Deutschlands demokratischen Sittenwächtern geächtete Regierung hätte das Infektionsgeschehen in ihrem Land sträflich unterschätzt, heimtückisch verheimlicht oder beides zugleich.

Eine ganz besonders besorgte Minderheit wird allerdings auch im Hinblick auf die eigene Nation bedenklich, wenn sie z.B. daran denkt, dass in Corona-Zeiten entfallende Gottesdienste die Religionsfreiheit gefährden oder Demonstrationen unterbleiben müssten, was schlimm ist, auch wenn gar kein Anliegen benannt wird, für das man aktuell gerne demonstriert hätte – es geht, irgendwie, ums Prinzip. Und je entschiedener es darum geht, umso mehr sind die kritischen Stellungnahmen vom Geist der Verantwortung für das Gemeinwesen geprägt, dessen bisherige Verfassung man – trotz allem ... – so lieb gewonnen hat: Dessen wirklichen Chefs wird ein Dilemma zwischen Freiheit und Volksgesundheit attestiert, das sie womöglich verkehrt auflösen könnten, und in Erinnerung gerufen, dass ein allzu forsches Vorgehen ihnen und ihrer Demokratie schlecht zu Gesicht steht und Sympathiewerte kosten würde. So etwas wie eine Absage an die politische Gewalt, die die demokratisch regierte Zivilgesellschaft offensichtlich nötig hat, geschweige denn an die Gesellschaft, die ohne flächendeckendes Gewaltmonopol nicht auskommt, wird aus solcher Sorge um die demokratischen Werte jedenfalls nicht. Es langt ja nicht einmal zu einer Frage nach dem Begriff der Volksgesundheit, um die der Staat sich so intensiv kümmert.

An dessen Stelle tritt bei Staatskritikern, die sich an Radikalität nicht übertreffen lassen wollen, der Vorwurf, der Staat täte dafür zu wenig. Maßstab ist das alberne Ideal eines Gesundheitswesens, in dem auch im Fall der pandemischen Ausbreitung eines neuartigen, ziemlich tödlichen Virus die Möglichkeit von Opfern prinzipiell ausgeschlossen sein müsste. Das kommt davon, wenn der Wille zu unnachsichtiger Staatskritik sich mit dem Standpunkt der Verantwortung fürs Bessermachen verbindet. Die Sehnsucht nach einem richtigen Leben im Falschen stirbt auch am Coronavirus nicht.