Leserbrief
Kritik des Artikels „Israel verteidigt sein Existenzrecht als regionale Supermacht“
Tatsächlich interessiert uns die Schuldfrage nicht. Warum sollen wir uns den Kopf darüber zerbrechen, welche Partei in einem kriegerisch-terroristischen Gemetzel die besseren Rechtstitel auf ihrer Seite hat? Was hätte man dann begriffen? Die andern haben angefangen, die andern sind die gewalttätigeren, man selber hat grundsätzlich nur „zurückgeschossen“: Diese Rechtfertigungen bekommt man seit jeher und zur Genüge stereotyp von allen Kampfparteien zu hören. Dazwischen soll man sich entscheiden? Die Rechtfertigungen der einen Seite anerkennen, die der anderen verwerfen: Das wäre ein Erkenntnisgewinn?
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Leserbrief
Kritik des Artikels „Israel verteidigt sein Existenzrecht als regionale Supermacht“
im GegenStandpunkt 3-06, S.191
Da mir der Artikel über den Libanon-Krieg zu sehr an Objektivität mangelt, empfand ich es für sinnvoll, Ihnen meine Kritik zu schildern und andere Tatsachen zu benennen, die in meinen Augen eine genauso gewichtige Rolle spielen, wie die von Ihnen angesprochenen.
Guerilla – Terrororganisationen
Ihr Artikel ist durchsetzt mit Begriffen wie Milizen oder Guerilla, die sich auf die Terrororganisationen, in diesem Fall Hisbollah und Hamas beziehen, so dass es mir wichtig erscheint, Ihnen den Unterschied zwischen Guerillas und Terroristen darzulegen, den ich mir bis dato „aneignete“.
Natürlich ist Herrn B. Jenkins (Terrorismusforscher) recht zu geben, der diesbezüglich meinte: „Der Terrorist des Einen ist der Freiheitskämpfer des Anderen.“ Der Unterschied zwischen Guerillas und Terroristen ist dennoch dieser, dass die Gewaltanwendung von Guerillas eine direkte Wirkung bezweckt, z.B. wird ein Angriff aus militärisch strategischem Nutzen geführt. Die Aktionen von Terroristen hingegen bezwecken eine indirekte Wirkung, also die psychologische Einschüchterung oder, wie Sie es auch schon treffend formulierten, die langsame aber stetige Zermürbung (z.B. eines Staates). Außerdem vermeiden Guerillas die Tötung von Zivilisten, was sich jedoch in keinster Weise auf die Aktionen (z.B.) der Hisbollah beziehen lässt, die noch eher gesagt die Tötung von Zivilisten anstrebt. Hier werden Zivilisten mit Absicht angegriffen oder sind als „Schutzschilde“ dienlich, wofür der Libanon als Präzedenzfall gilt oder zumindest gelten kann.
Natürlich gibt es auch keine Einigung auf die Definition des Terror-Begriffs, aber dieser Versuch einer Definition ist meines Erachtens bezogen auf heutige Verhältnisse schon sinnvoll:
„Terrorismus“ von Lars Berger und Florian Weber, Seite 16:
„Im Spannungsfeld von Staatenkriegen, Guerillakrieg und Verbrechen lässt sich Terror definieren als irreguläre, organisierte politisch motivierte Gewaltanwendung, die nicht unmittelbar als Widerstand gegen konkrete Unterdrückung motiviert ist, die sich direkt gegen Zivilisten richtet und deren Wirkung durch psychologische Folgen und nicht strategisch-materielle Erfolge erreicht wird. Diese Kriterien gelten generell für alle Spielarten des Terrors.“
Das umfangreiche Vernichtungsprogramm
Auf der ersten Seite dieses Artikels schreiben Sie: „Das umfangreiche Vernichtungsprogramm zerstört notwendigerweise sukzessive und systematisch die Lebensgrundlagen der gesamten Bevölkerung, weil die Infrastruktur, die Siedlungen, die Einkommensquellen allesamt irgendwie den Guerilla-Kämpfern nutzen können und folglich bei deren Bekämpfung in die Schusslinie geraten.“
Es ist kein Wunder, dass das „umfangreiche Vernichtungsprogramm“ die Lebensgrundlagen der gesamten(?) Bevölkerung zerstört, wenn sich die Waffenlager unter Kindergärten befinden, Bunker unter Schulen etc. Genau das macht diese Win-win-Strategie der Hisbollah ja aus (die übrigens von Ihnen nicht benannt wurde). Bekämpft Israel die Bedrohung durch die Zerstörung der Infra-Struktur (es war im Libanon unmöglich dies zu vermeiden!), gibt es eine riesige Protestwelle auf internationaler Ebene plus die Verurteilung Israels. Unterlässt Israel Angriffe, die die Infrastruktur zerstören könnten, haben die Terroristen der Hisbollah freie Möglichkeiten, weiter zu bomben.
Angeblicher Nachschub und Beteiligung
Auf Seite 193 steht: „Gleichzeitig treibt Israel mit seinen Kriegsaktionen, die von der Internationalen Gemeinschaft zumindest im Prinzip als legitime Selbstverteidigung gegen Terrorgruppen eingestuft werden, und mit seinen ständigen Hinweisen auf die Herkunft der Waffen seiner Gegner aus Syrien und Iran, auf angeblich fortdauernden Nachschub von Raketen und auf eine angebliche Beteiligung von Eliteeinheiten als Ausbildern die Ächtung dieser Staaten als „Terrorunterstützer“ voran.“
Es besteht keinerlei Zweifel darüber, dass der Iran sowie Syrien die Hisbollah unterstützt haben und dem noch heute nachgehen, und zwar sowohl finanziell als auch über militärische Güter (Raketen, etc.). Außerdem entsandte der Iran terroristische Einheiten („iranische Revolutionsgarden“), die unter den Leichen im Libanon auch identifiziert wurden (soweit mir bekannt, waren es ca. ein Dutzend dieser Kämpfer).
Frommes antiwestliches Staatswesen
Auf Seite 199 heißt es in Ihrem Artikel:
„Dabei eifert die Hizbullah dem Iran nach, wo ein frommes antiwestliches Staatswesen, ironischerweise dank einer Menge Weltgeld für Erdöl, einen gewichtigen Platz in der Konkurrenz der Nationen behauptet; die Hamas will den jüdischen Staat beseitigen und in ganz Palästina einen Gottesstaat errichten.“
In diesem „frommen“ antiwestlichen Staatswesen gibt es eine staatliche Zensur über Zeitungen, Rundfunk- und Fernsehsender, drei Menschen wurden zum Tode verurteilt, weil sie sich vom. islamischen Glauben abwandten, Jungs ab 15 Jahre und Mädchen ab 9 Jahre (!) sind im Iran voll … [unleserlicher Text, wohl: rechtsfähig, sodass über sie schon in diesem Kindesalter die Todesstrafe] … verhängt werden kann. Der von Ihnen „gepriesene“ fromme antiwestliche Staat Iran hat nebst den genannten Argumenten noch einiges mehr zu bieten, was den heutigen Grund- und Menschenrechten in keinster Weise entspricht, jedoch von Ihnen keinerlei Benennung findet.
Resümee und Zusammenfassung
Meines Erachten messen Sie Israel sowie der USA die meiste Schuld bei und interpretieren das „Szenario“ aus imperialistischer Richtung, die natürlich der Kritik würdig ist.
Sie erwähnen zwar, dass fundamentale Islamisten sich die Vernichtung der Juden herbeiwünschen und dahingehend agieren, dennoch kommt dieser Punkt zu kurz, denn sie messen diesem Punkt nicht die notwendige Aufmerksamkeit bei. Israel und die USA sind schuld, imperialistisch und müssen sich als regionale Supermacht beweisen. Mit Ihrer Vorweisung des blühenden Kapitalismus in Israel sowie Ihre imperialistische Sichtweise lassen kaum einen Schluss zu, der sich auf diesen Krieg als solchen bezieht (Kausalität, Ideologie der „Parteien“ des Krieges, Verlauf, etc.)
Israel wies mehrmals auf die Tatsache hin, dass dies ein irregulärer Krieg ist, denn es kämpften nicht eine staatliche Armee gegen eine staatliche Armee, sondern eine Terrororganisation gegen eine Verteidigungsarmee. Israel vermied die Tötung der Zivilisten, wobei in jedem Krieg unweigerlich Zivilisten sterben. Die Hisbollah hingegen ist auf die Tötung von Zivilisten aus gewesen. Natürlich ist das „Ganze“ eine Frage der Perspektive, sprich Sichtweise, aber Ihr Imperialismus-Vorwurf und die Abwälzung von Argumenten darauf sowie Ihr Fingerzeig auf den blühenden Kapitalismus in Israel ließen es nicht zu, andere Wahrheiten wahrzunehmen, die dennoch genauso benannt werden müssen. Im mindesten (!) Falle ist der Hisbollah genauso viel Schuld beizumessen wie Israel, doch nicht mal ein Ansatz davon ist aus Ihrem Artikel herauszulesen.
In der Kurzform ist die Hisbollah der absolute Hauptverantwortliche für diesen Krieg und sollte keinerlei Respekt verdienen. Egal wie sehr sie sich „mäßigen“, sie bleiben unbestritten … [unleserlicher Text, wohl: Terroristen.]
Diesen zwei Zitaten möchte ich auch noch durch Anfügung Geltung verschaffen:
„Wenn die Araber ihre Waffen niederlegen, gibt es keinen Krieg mehr, aber wenn Israel seine Waffen niederlegt, gibt es kein Israel mehr.“ (der israelische Oberst der Reserve Moshe Elad)
„Wir haben nicht einmal zu einem Prozent gedacht, dass die Entführung zu einem Krieg führen würde, nicht zu diesem Zeitpunkt und in diesen Ausmaßen.“ (Nasrallah im priv. lib. Fernsehsender NTV)
Antwort der Redaktion
I.
Sie vermissen in unserem Artikel – erstens – eine unparteiische Schuldzuweisung, die uns – zweitens – dazu hätte bringen müssen, wenn nicht die alleinige, so doch die Hauptschuld an dem Libanon-Krieg den Feinden Israels zuzuweisen.
Tatsächlich interessiert uns die Schuldfrage überhaupt nicht. Warum sollen wir uns den Kopf darüber zerbrechen, welche Partei in einem kriegerisch-terroristischen Gemetzel die besseren Rechtstitel auf ihrer Seite hat? Was hätte man dann begriffen? Die andern haben angefangen, die andern sind die gewalttätigeren, man selber hat grundsätzlich nur „zurückgeschossen“: Diese Rechtfertigungen bekommt man seit jeher und zur Genüge stereotyp von allen Kampfparteien zu hören. Dazwischen soll man sich entscheiden? Die Rechtfertigungen der einen Seite anerkennen, die der anderen verwerfen: Das wäre ein Erkenntnisgewinn? Über den Grund der Feindschaft, die da ohne Rücksicht auf Verluste ausgetragen wird, und ebenso über die strategischen Ziele, die von den Gegnern verfolgt werden, weiß man jedenfalls noch gar nichts, wenn man sich ideell in die Position des gerechten Richters begibt und die wechselseitigen Anklagen und Beschwerden gegeneinander abwägt und aufrechnet. Stattdessen begibt man sich so in einen Kreisverkehr der gegenseitigen Schuldzuweisungen hinein, der mal immer weiter in die Vergangenheit führt – denn zu jedem „historischen Unrecht“, das die eine Seite namhaft macht, weiß die andere eine Vorgeschichte, die die „Rechtslage“ umgedreht erscheinen lässt –, mal Grausamkeiten zählt und vergleicht; den Zirkel soll man dann irgendwo anhalten und Partei ergreifen – wozu man in der Regel schon Partei ergriffen haben muss –; und wenn man ihn lieber für endlos erklärt und für tragisch hält, ist auch nicht mehr gewonnen als eine moralische Einstellung.
Das ist nicht unsere Sache. Wir rechten nicht darum, ob Hamas und Hizbullah tapfer für die Sache ihres Volkes kämpfen oder ob Israel sein Existenzrecht verteidigt, richten auch nicht über die entsprechenden Sprachregelungen und legen keinen Wert auf einen ausgewogenen oder parteilichen Gebrauch wertender Ausdrücke und einschlägiger „sachdienlicher Hinweise“. Wir erlauben uns vielmehr die Frage, was für eine Sache das ist, für die eine „Partei Gottes“ und eine militante Palästinenserorganisation gegen die israelische Übermacht antreten, und wer da eigentlich was verteidigt, wenn Israels Armee im Libanon und in den Palästinensergebieten zuschlägt.
II.
Sie führen im Wesentlichen ein Hauptargument dafür an, dass die moralische Bewertung des Libanonkriegs für einen unvoreingenommenen Betrachter zugunsten Israels ausfallen müsse: den qualitativen Unterschied in der Art der angewandten Gewalt bei Israels Armee und bei Israels Feinden: Terror ohne direkten strategischen Nutzeffekt auf der einen, reguläre Kriegführung mit zivilen Opfern bloß als Kollateralschaden auf der anderen Seite. Über die pure Parteilichkeit bei der Einstufung einer Kampforganisation als „Terrorist“ oder „Freiheitskämpfer“ wollen Sie damit hinauskommen und objektive Indikatoren der besonderen Verwerflichkeit der Hizbullah-Aktionen namhaft machen. Über die Brutalität des Kampfgeschehens brauchen wir uns nicht zu streiten; aber was bleibt von dem Unterschied zwischen militärischer und terroristischer Gewaltanwendung übrig, wenn Sie ihn mal wirklich ohne das Interesse an moralischer Parteinahme betrachten? Wir können da objektiv jedenfalls nicht mehr entdecken als einen allerdings gewaltigen Abstand in der Wucht und Raffinesse der Kriegsmittel, die die feindlichen Parteien zum Einsatz bringen. Die unterlegene Seite bekämpft den feindlichen Staat, wo sie ihn mit ihren primitiven Waffen zu treffen vermag, wo er nämlich am leichtesten zu verletzen, in seiner Macht allerdings auch am wenigsten zu erschüttern ist: in seinen Bürgern, die mehr zufällig getroffen werden. Wenn eine Guerilla-Truppe sich dieses Mittel versagt, dann deswegen, weil sie nicht in Feindesland kämpft, sondern im eigenen Land gegen die Herrschaft antritt und das Volk für einen Aufstand gewinnen will; deswegen gehören zu ihrem Arsenal freilich durchaus auch Attentate, die darauf berechnet sind, das Gewaltmonopol der Regierung demonstrativ zu blamieren. Eine Staatsmacht mit einem wohlorganisierten, professionellen, waffentechnisch perfekt ausgestatteten Militär geht anders zu Werk. Sie bekämpft ihren Feind mit der Zerschlagung seiner Herrschaftsmittel und Machtquellen, also vorrangig seiner Streitkräfte und seiner Infrastruktur, seiner Verwaltung und seiner Wirtschaft; und weil das zivile Volk dabei nicht bloß öfters im Weg steht, sondern dem Feind durchaus auch als Manövriermasse zur Verfügung steht und insofern als letzte Machtbasis dient, richten sich auch auf die Zivilbevölkerung Angriffe, die auf Zermürbung berechnet sind und alles in den Schatten stellen, was Palästinas Terroristen an psychologischer Wirkung zustande bringen – denken Sie nur, wenn Sie schon von Israels entsprechenden Manövern nichts mitgekriegt haben, an den Feuerzauber, den die US-Luftwaffe unter dem Motto „Shock and Awe“ über Bagdad entfaltet hat. Auf jeden Fall vermag eine moderne Armee, speziell wenn sie die Lufthoheit erobert hat, an der „Hardware“ einer feindlichen Macht so große Verwüstungen anrichten, dass sich daneben sogar die ansehnlichste Zahl von Todesopfern – und gar nicht bloß von Soldaten, deren Tötung moralisch anscheinend in Ordnung geht, was unseres Erachtens nicht für diese Sorte Moral spricht – wie eine unbeabsichtigte Nebenwirkung ausnimmt. Soll man sich jetzt deswegen ideell auf die Seite der stärkeren Waffen und der überlegenen Staatsgewalt schlagen und die womöglich noch bedauern, wenn sie auf einen Gegner trifft, der durch die Zerstörung von Kasernen, Waffenlagern und anderen strategischen Zielen relativ schlecht zu treffen ist, weil er noch nicht einmal über eine eigene derartige Grundausstattung verfügt, sondern sogar noch seine Raketen geschenkt kriegen muss –? Und unterstellen Sie jetzt bitte nicht, wir würden Ohnmacht für einen guten, rechtfertigenden Grund für Terror halten oder wir wollten diesen Gruppen Harmlosigkeit attestieren: Wir sind uns sicher, dass Hizbullah und Hamas nichts lieber täten, als mit zielgenauen Jagdbomber-Angriffen die israelischen Streitkräfte zu zerschlagen und dabei noch weit mehr Israelis als bisher, Zivilisten aber nur noch begleitend und im Rahmen strategisch sinnvoller Aktionen umzubringen. Die Frage geht umgekehrt an Sie: Hätten Sie in dem Fall für diese Volksbefreiungs- und Staatsgründungsfanatiker etwas übrig? Uns liegt es jedenfalls fern, einen Krieg darauf hin zu besichtigen, welche Sorte Vernichtung und Menschenopfer uns verwerflicher vorkommt, um daraus einen guten Grund für eine Parteinahme abzuleiten – die, nebenbei, durch eine solche allemal einigermaßen zynische Abschätzung ohnehin nie zustande kommt, sondern bloß für ein gutes Gewissen beim Parteinehmen sorgt.
III.
Noch ein Wort zu dem Vorwurf an den Hizbullah, Zivilisten quasi als Geiseln genommen, sich hinter denen und Waffen unter Kindergärten versteckt zu haben. Ihnen fällt zu dieser Taktik ein, dass sie der israelischen Armee das Bombardieren schwer gemacht hätte; zwar nicht wirklich, aber indirekt in dem Sinn, dass der Schein eines schonend geführten Krieges Schaden genommen hätte; wobei Sie die „riesige Protestwelle auf internationaler Ebene plus Verurteilung Israels“ wohl ein wenig überschätzen, vor allem aber offenbar für ungerecht halten. Aber nochmal: Soll man jetzt wirklich Israel dafür bedauern, dass es sich mit der Verwüstung des südlichen Libanon nicht überall beliebt gemacht hat? Und dem Hizbullah umgekehrt als bösartig erschlichenen Erfolg („Win-win-Strategie“) zurechnen, dass Israel sich auch durch „menschliche Schutzschilde“ nicht vom Bombardieren hat abschrecken lassen? Uns fällt daran jedenfalls nur einmal mehr auf, wie skrupellos und zugleich besten Gewissens fertige Staaten über Leichen gehen und wie souverän Organisationen, die Staaten werden wollen, auch dem eigenen Volk, dem sie zu einer ganz „volkseigenen“ Herrschaft, nämlich zu der Ihren verhelfen wollen, Lebensgefahr und Todesopfer zumuten. Womit wir wieder beim Thema unseres Artikels wären: bei der Staatsräson Israels, die offenbar eine sehr weit ausgreifende Verteidigung der nationalen Sache gebietet, und auf der anderen Seite bei dem frommen Emanzipationsprogramm des Hizbullah bzw. dem Staatsgründungsprojekt der Hamas. (Dass letztere in unserem Artikel mit weniger Zeilen gewürdigt werden als erstere, hat wieder nichts mit Hauptschuld und weniger Schuld zu tun, sondern mit dem unterschiedlichen Gewicht, das beiden Seiten in der Frage des Grundes und der politischen Bedeutung des Kriegs zukommt; dazu gleich noch eine Bemerkung.)
IV.
Dass Sie unsere knappe Kennzeichnung des iranischen Staatswesens in dem Zusammenhang als Kompliment auffassen – oder sollten die Gänsefüßchen um „gepriesen“ Einverständnis signalisieren? –, ist ein eher komisches Missverständnis. Aber vielleicht erkennen Sie ja wirklich nicht die Kritik, die in der von Ihnen zitierten Bemerkung zum iranischen Gottesstaat, nämlich zu dem absurden Widerspruch dieser Staatskonstruktion enthalten ist. Zu der Kritik, die Sie bei uns vermissen und andeutungsweise selber nachreichen, sei noch einmal angemerkt: Es ist eine Sache, die Brutalitäten einer Staatsgewalt aus deren Programm, im Fall Iran: aus dem Stellenwert einer verbindlichen Staatsidee für den Zusammenhalt eines in die Weltwirtschaft integrierten und doch durch die Herrschaft des Geldes gar nicht wirklich wirksam konstituierten Gemeinwesens zu erklären (dazu haben wir uns in Heft 4-03 ausführlich geäußert); und es ist eine andere Sache, einem Staat seine Abweichungen von den Idealen der „heutigen“ demokratischen Herrschaftsweise vorzuhalten und diese Abweichungen mit dem Verweis auf staatliche Brutalitäten zu bebildern. Letzteres ist wieder nicht unser Ding – es kommt ja auch gar nicht mehr dabei heraus als eine billige Selbstbestätigung des Idealismus, mit dem die „heutige“ demokratische Herrschaft sich feiert und von ihren mündigen Wählern „gepriesen“ werden will.
Was im Übrigen die Unterstützung des Hizbullah durch Syrien und Iran betrifft, so haben auch wir keinen Zweifel daran, dass die Waffen dieser Organisation nicht aus eigener Produktion stammen, sondern aus befreundeten Staaten. Mit dem Satz, den Sie zitieren, sollte das nicht in Abrede gestellt, sondern darauf hingewiesen werden, dass Israel großen Wert darauf legt, dass sein Libanonkrieg als Schritt hin zur Bekämpfung der syrischen und der iranischen Staatsgewalt begriffen und diese Stoßrichtung auch ideologisch von der demokratischen Weltöffentlichkeit und diplomatisch von seinen Schutzmächten gebilligt wird.
V.
Ihr Eindruck, wir würden „Israel sowie den USA die meiste Schuld“ an dem Krieg beimessen, kommt wahrscheinlich daher, dass Sie den Artikel als Abhandlung über Kriegsschuld lesen und dass wir von der in diesem Sinne einschlägigen Deutung des israelischen Vorgehens als Notwehr nichts halten. Nicht nur, dass damit – siehe Punkt I. – nichts erklärt ist: Wir halten diese Deutung außerdem für eine gründliche Verkennung der Machtverhältnisse in der Region. Ihr Zitat des Hizbullah-Häuptlings Nasrallah – für Sie wohl eine Art Schuldeingeständnis?! – illustriert das ganz gut: Es zeigt, wie wenig man auf dieser Seite mit einem derart massiven Vorgehen Israels gerechnet hat, und insofern umgekehrt, mit welcher Freiheit Israel zum Großangriff übergegangen ist und die Entführung seiner Soldaten dafür zum Anlass genommen hat – was übrigens auch den vielen pro-israelischen Kommentatoren hierzulande aufgefallen ist. Deswegen haben wir in unserem Artikel auch die Frage nach dem Kriegsgrund und -ziel Israels an den Anfang gestellt und auf ihre Beantwortung den meisten Raum verschwendet: Nicht, weil wir die Juden zusammen mit den Amis für die Bösen und die Araber mitsamt ihren iranischen Mullahs für die Unschuldigen halten würden, sondern weil der Staat Israel sich da als die – mit amerikanischer Rückendeckung – entscheidende Kriegsmacht der Region betätigt, seinen Anspruch auf autonome Beschlussfassung über Krieg und Frieden in der Region betätigt und bekräftigt hat. Was diesen Staat dazu befähigt, was er damit leistet, welchen politischen Zielen – eigenen und amerikanischen – er damit dient: Das will der Artikel klären; dafür stehen die Erläuterungen zur kapitalistischen Verfassung des Landes – die, nebenbei, alles andere als „blühend“ ist – und zu seinem Stellenwert innerhalb der aktuellen Fortschritte des demokratischen Imperialismus. Dass Sie darin nichts finden, was sich „auf diesen Krieg als solchen bezieht“, halten wir nicht für unseren, sondern für Ihren Fehler: Wollen sie über „Kausalität, Ideologie, Verlauf etc.“ wirklich nicht mehr wissen, als dass und wo überall die Hizbullah-Leute die bösartigere Sorte Gewalt angewandt haben?
VI.
Sie argumentieren – teilweise – so, als sollte man sich bei der Beurteilung des Krieges und für eine gerechte Urteilsfindung in die Lage eines bedrohten Israeli hineinversetzen, der von seinem Staat nichts anderes verlangt – und bekommt –, als dass der ihm die Bedrohung des friedlichen Alltagslebens durch terroristische An- und Übergriffe vom Hals schafft. Auch einem verschreckten Israeli würden wir aber – ebenso wie einem eingeschüchterten Libanesen oder einem drangsalierten Palästinenser – die Frage zumuten, ob er denn wirklich meint, dass seine Obrigkeit nichts weiter als ihn und seinen Frieden schützt; ob er nicht noch ein bisschen unterscheiden kann zwischen sich und dem politischen Programm, dem er subsumiert ist; ob er nicht merkt, wie brutal seine Staatsgewalt – bzw. seine quasi-staatliche Führung – ihn mit all seinen Lebensbedürfnissen für ihr Machtprogramm funktionalisiert: in dem einen Fall für das Projekt, den israelischen Staat zur militärischen Führungsmacht in der Region zu machen; ein Projekt, das in einem alles andere als widerspruchsfreien Ergänzungsverhältnis zum Weltkontrollprojekt der USA steht; in dem andern Fall für das Ziel, sich zum halbwegs ebenbürtigen, jedenfalls kongenialen Konkurrenten der israelischen Übermacht aufzubauen. Sogar den israelischen Oberst würden wir fragen, ob er überhaupt merkt, was er mit seinem rechtfertigend gemeinten Aphorismus der Sache nach aussagt: dass Israel von seiner militärischen Überlegenheit lebt und deswegen für seine militärische Überlegenheit leben muss, weil es als kriegerische Abschreckungsmacht in den Nahen Osten hineingepflanzt worden ist und sich dort breit gemacht hat…
Dass Völker dazu da sind, die imperialistische Mission ihres Souveräns zu verteidigen, und nicht umgekehrt: Diese Einsicht muten wir auch am Fall „Israel und die Palästinenser“ unseren Lesern zu.