Konstruktive Beiträge der medizinischen Wissenschaft zum „Diesel-Irrsinn“
Mit „belastbaren“ Argumenten für ein richtiges Maß an Vergiftung
Die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxide wurden in Deutschland seit ihrem Bestehen sehr regelmäßig überschritten, was die Politik mit mehr oder weniger ungerührtem Schulterzucken zur Kenntnis genommen hat. Doch kaum decken US-Umweltbehörden den gigantischen weltweiten Betrug der deutschen Lieblingsindustrie um Abgasmanipulationen auf und wird die deutsche Politik von ein paar deutschen Gerichten sowie der EU-Kommission wegen Vergiftung ihrer Bürger verklagt, beschließt sie, nach einer kurzen Bedenkzeit von gut zwei Jahren, dass nun drohende Fahrverbote endgültig zu weit gehen und handelt prompt: Sie lanciert eine nationale Debatte um die Frage, ob die Grenzwerte für NOx überhaupt ihre Berechtigung haben, die Ahndung ihrer Überschreitung verhältnismäßig
und drohenden Fahrverboten nicht eigentlich die rechtliche Grundlage zu entziehen sei. Und so herrscht seit Anfang des Jahres große Aufregung um die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung der Mobilität als entscheidender Standortbedingung der deutschen Industrie zum Schutze der Gesundheit der Bürger. Es melden sich die Männer vom Fach zu Wort.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- 1. Schadstoffforschung und -überwachung: eine medizinische Daueraufgabe
- 2. Das epidemiologische Programm …
- 3. … und seine Durchführung
- 4. Der wissenschaftliche Ertrag: gesundheitspolitische Empfehlungen für den Umgang mit Feinstaub und Stickoxid
- 5. Köhlers Polemik: Medizinisch schlecht zu belegende Argumente für eine politisch sehr belastbare Konsequenz
Konstruktive Beiträge der
medizinischen Wissenschaft zum
„Diesel-Irrsinn“
Mit „belastbaren“ Argumenten für ein
richtiges Maß an Vergiftung
Die Grenzwerte für Feinstaub und Stickstoffdioxide wurden
in Deutschland seit ihrem mehr als zehnjährigen Bestehen
sehr regelmäßig in nahezu jeder zumindest mittelgroßen
Stadt überschritten, was die Politik mit mehr oder
weniger ungerührtem Schulterzucken zur Kenntnis genommen
hat. Doch kaum decken US-Umweltbehörden den gigantischen
weltweiten Betrug der deutschen Lieblingsindustrie um
Abgasmanipulationen auf und wird die deutsche Politik von
ein paar deutschen Gerichten sowie der EU-Kommission
wegen Vergiftung ihrer Bürger verklagt, beschließt sie,
nach einer kurzen Bedenkzeit von gut zwei Jahren, dass
nun drohende Fahrverbote endgültig zu weit gehen und
handelt prompt: Sie lanciert eine nationale Debatte um
die Frage, ob die rechtmäßigen Grenzwerte für
NOx überhaupt ihre Berechtigung haben, die
Ahndung ihrer Überschreitung verhältnismäßig
und
drohenden Fahrverboten nicht eigentlich die rechtliche
Grundlage zu entziehen sei. Und so herrscht seit Anfang
des Jahres, zumindest für ein paar Wochen, große
Aufregung um die Verhältnismäßigkeit der Beschränkung der
Mobilität als entscheidender Standortbedingung der
deutschen Industrie zum Schutze der Gesundheit der
Bürger. Es melden sich die Männer vom Fach zu Wort.
Die Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und
Beatmungsmedizin (DGP) auf der einen Seite wehrt sich
gegen die Infragestellung der Grenzwerte und dringt auf
die Validität ihres Zustandekommens, indem sie auf ihre
hohen wissenschaftlichen Standards bei der Ermittlung des
Risikos für verlorene Lebensjahre der Gesellschaft pocht;
in einem Positionspapier [1] tritt sie sogar für eine
Verschärfung eben dieser Grenzwerte ein. Dagegen
polemisiert ihr ehemaliger Präsident Dieter Köhler, der
die Grenzwerte für einen Witz
und Fahrverbote
daher für völligen Unsinn
hält. Jeder Raucher, so
der emeritierte Professor, sei der lebende Beweis dafür,
dass die Studie der DGP wissenschaftlicher Schrott ist
und an der statistisch erhobenen Risikobewertung der
Luftschadstoffe und den daraus resultierenden Forderungen
nach ihrer Begrenzung, höflich gesprochen, irgendwas
nicht stimmen
kann.
Was an diesen wissenschaftlichen Forschungsergebnissen stimmt oder nicht stimmt, hat nie anders als in dieser Hinsicht – Grenzwerte ja oder nein – interessiert. Die Frage ist entschieden; die Nationalakademie der Wissenschaften Leopoldina hat als staatlich bestallte Schiedsrichterin die alternative Statistik Köhlers inklusive seiner Rechenfehler und Empfehlungen zurückgewiesen, indem sie die Forschungsergebnisse der DGP bestätigt hat: Die Grenzwerte bleiben, bis auf Weiteres, wo sie sind, die Regierung genehmigt sich und ihrem Volk aber eine neue Überschreitungskulanz. Die Aufregung über die vergiftete Atemluft ist kurze Zeit später verflogen und der dieselbetriebene Autoverkehr geht in Deutschland weiter seinen Gang. Warum, wie und nach welcher Logik solche gesetzlichen Grenzwerte wie die für Feinstaub und Stickoxide wissenschaftlich zustande kommen, fiel während der ganzen Affäre als das Allerunwichtigste gänzlich unter den Tisch. Zu Unrecht.
1. Schadstoffforschung und -überwachung: eine medizinische Daueraufgabe
Solche seit Jahrzehnten (nicht nur) von den
Medizinexperten geführten, nie enden wollenden Debatten
über die Schädlichkeit von Luftschadstoffen gibt es schon
so lange, wie die Medizin die Luftqualität in Deutschland
in Hinblick auf durch sie verursachte Gesundheitsschäden
untersucht und dabei Schadstoffe ausfindig macht, deren
Schädlichkeit grundsätzlich bei allen Beteiligten außer
Frage steht: Luftschadstoffe sind schließlich von
Medizinern selbst definiert als eine
Beimengung der Luft, die sowohl die menschliche
Gesundheit als auch die Biosphäre gefährden
kann
. [2]
Und in ihren gesundheitsgefährdenden Eigenschaften sind
die Schadstoffe medizinisch auch bestens erforscht. In
ihrem Bericht halten sich die Mediziner zugute, mit ihrer
wissenschaftlichen Arbeit die Basis dafür gelegt zu
haben, dass die Belastung der Luft mit Schadstoffen in
den vergangenen 25 Jahren in Deutschland deutlich
abnahm
. Entwarnung gibt sie dennoch nicht; denn mit
den Jahren und Jahrzehnten sind die Schadstoffe nicht
einfach weniger geworden, mit der Beschränkung der einen
sind sukzessive erst ganz andere Schadstoffe emittiert
worden und damit überhaupt auf den Schirm der Medizin
geraten:
„Waren es in den 1960er-Jahren noch Ruß und grober Staub, so wurde in den 70er-Jahren Schwefeldioxid (saurer Regen) oder Blei (verbleites Benzin) als Problem erkannt. Später rückten der sommerliche Photosmog mit der Leitsubstanz Ozon ... in den Fokus.“
Die Medizin kennt ihre Pappenheimer, die mit großer Regelmäßigkeit einfach jährlich hunderttausende Tonnen irgendeines anderen Drecks emittieren, nachdem sie die Vergiftung der Atemluft durch einen bestimmten Schadstoff verboten und so ein Stück Rücksicht auf die Gesundheit der Gesellschaftsmitglieder gesetzlich aufgenötigt gekriegt haben:
„Dabei sind der Straßenverkehr, der vor allem durch seine Nähe zum Menschen sehr bedeutsam ist, die Industrie und Energieerzeugung sowie die Landwirtschaft die vier wichtigsten Emittenten in Deutschland. Darüber hinaus können lokal oder saisonal spezifische Quellen bedeutsam sein, z.B. die Verbrennung von Schweröl in der Schifffahrt, Emissionen von Flughäfen und Kleinfeuerungsanlagen.“
Dem Treiben der ihr durchaus bekannten Verursacher der
Gifte steigt sie in der Weise hinterher, dass sie in
ihrem medizinischen Interesse an Erkenntnissen zur
gesundheitlichen Relevanz
ihre theoretischen und
praktischen Anstrengungen darein legt, überhaupt erst mal
die messtechnischen Möglichkeiten
zu entwickeln,
derer es bedarf, um dem Fortschritt auf dem Feld der
gesundheitsgefährdenden Giftemission auf der Spur zu
bleiben. Von einem technologischen Fortschritt zum
nächsten gibt es da für sie immer wieder viel Neues zu
entdecken.
Und so sind es nun seit Mitte der 90er-Jahre zunehmend
Feinstaub und Stickstoffdioxid
, die der Medizin Sorge
bereiten, weil ihr im Prinzip schon seit den 50ern
bekannt ist, dass das, was die mittlerweile 650
Messstationen in Deutschland melden, toxisch ist. Da
wurden von Medizinern unterschiedlicher Fachrichtungen
innerhalb und außerhalb Europas
Erkenntnisse
derart gewonnen, dass diese modernen Luftschadstoffe zu
unspezifischen Atemwegssymptomen
, chronischen
Beeinträchtigungen der Lungenfunktion
wie Asthma oder
COPD bis hin zu einem erhöhten Risiko für
Lungenkrebs
führen können. Heutzutage sind ihnen auch
schädliche potentielle Auswirkungen auf andere Organe und
-systeme wie Herzrhythmusstörungen
und
Arterienverkalkung
bekannt, was mit einem
erhöhten Risiko von Herzinfarkt und Schlaganfall
einhergeht, diverse metabolische Erkrankungen
wie
Typ 2 Diabetes und Schwangerschaftsdiabetes
, eine
Reduktion des fetalen Wachstums
, Störungen der
kognitiven Funktion und neuronalen Entwicklung
sowohl beim Fötus als auch beim Erwachsenen und so
weiter. Aus diesen Erkenntnissen sind der Medizin in
ihren verschiedenen Disziplinen wiederum neue
Forschungsaufträge erwachsen, im Zuge derer sie unter
anderem nicht nur herausgefunden hat, dass
gesundheitsschädliche Auswirkungen Jung wie Alt und
Gesunde wie chronisch Kranke treffen können, sondern
auch, dass Luftschadstoffe sowohl kurzfristige
Wirkungen, ... die innerhalb von Stunden bis Tagen
eintreten, und langfristige Auswirkungen [haben können],
die erst nach zum Teil jahrelanger Belastung z.B. an der
Wohnadresse auftreten
. So prekär sind diese
wissenschaftlich gut untersuchten Schadstoffe
auch
und insbesondere deshalb, weil die Medizin bislang
keine Wirkungsschwelle
ausmachen konnte,
unterhalb derer die Gefährdung der Gesundheit
ausgeschlossen ist
.
Diese Erkenntnisse sind schon allerhand, möchte man meinen. Der Medizin selbst aber war ihr Wissen nie genug; nie war für sie die Frage nach der Giftigkeit der untersuchten Schadstoffe wissenschaftlich erledigt. Vielmehr hat sie ihre Ergebnisse immer mit dem Vorbehalt versehen, sie wisse noch nicht genau genug Bescheid und sich mit jeder gewonnenen Erkenntnis neu damit beauftragt, noch mehr Studiendaten und pathophysiologische Detailkenntnisse zu generieren. Diese nie zu stillende Wissbegier hat sich dabei auf die Frage, warum die technologischen Fortschritte der o.g. vier großen Emittenten ihr immer neues Material für ihre Forschungsaufträge liefern, nie erstreckt. Die gesellschaftlichen Ursachen, die sie kennt, auf den Begriff zu bringen – was gleichbedeutend wäre mit ihrer Kritik [3] – ist nicht ihr Ding. Was dann?
2. Das epidemiologische Programm …
Epidemiologen interessieren sich für einen
makroskopischen Zusammenhang zwischen Schadstoff und
Schaden: Ihr Untersuchungsgegenstand sind der
Gesundheitszustand der Bevölkerung und die
Auswirkungen von allen möglichen Einflussgrößen auf ihn.
Zur Beantwortung dieser Fragestellung können aus
epidemiologischer Sicht die unter 1. zitierten
pathophysiologischen Erkenntnisse, in denen über die
Entschlüsselung der genauen Wirkmechanismen der
Zusammenhang zwischen Schadstoff und Schädigung von
Zelle, Organ und Organismus inhaltlich bestimmt
wird, [4] nicht
viel beitragen; gesundheitsschädliche Effekte
seien zwar gut untersucht und belegt
, aber:
„Experimente, selbst an komplexen Zellkultursystemen, können zwar Wirkmechanismen aufzeigen, sagen aber zumeist nichts über die gesundheitlichen Folgen von Luftschadstoffkonzentrationen für die Bevölkerung aus, die unter realen Umweltbedingungen auftreten.“
Ihren Forschungsauftrag gewinnt die Epidemiologie aus dem
Interesse am Zustand der Volksgesundheit. Bezogen auf
diese eine gesamtgesellschaftliche Größe, die
die DGP von vielerlei adversen Effekten
gefährdet
sieht, sucht sie zu ermitteln, welchen Anteil
Feinstaub und Stickoxide innerhalb aller möglichen
verschiedenen Krankheitsursachen an ihnen haben, wie
schlimm und wie groß der ‚Beitrag‘
der feinstaub- und stickoxidbelasteten Luft zum insgesamt
gesellschaftlich zu verzeichnenden Gesundheitsschaden
ist. [5]
Epidemiologen stellen sich also als Wissenschaftler zu
den in vielerlei Hinsicht ungesunden Lebensbedingungen
für die Gesellschaftsmitglieder so, dass sie innerhalb
aller möglichen Gesundheitsgefahren eine medizinische
Rangfolge aufstellen wollen, wie viel und welche Schäden
genau Feinstaub und NOx – nicht am Individuum,
sondern – am Volkskörper anrichten. Daraus wollen sie
wissenschaftlich fundiert ableiten, wie viel Schadstoff
der gesellschaftliche Gesundheitszustand aushalten kann
und wie viel im Schnitt nicht, ob und inwiefern ihrer
medizinischen Ansicht nach also politischer
Handlungsbedarf besteht, um die Gesundheitsschäden zu
begrenzen. Genau dafür hat die DGP als die führende
Fachgesellschaft in der Pneumologie
in ihrem
Positionspapier den oben dargestellten medizinischen
Wissensstand zu den gesundheitlichen Effekten von
Luftschadstoffen
zusammengetragen, in dem neben dem
aktuellen Stand der epidemiologischen Studien
auch
die Evidenz aus experimentellen bzw. kontrollierten
Studien
, also die pathophysiologischen Ergebnisse,
als Beiträger zum Gesamtergebnis ihren Platz haben. Ihre
wissenschaftlichen Aussagen zum Zusammenhang zwischen
Luftschadstoffen und Gesundheitseffekten
auf die
Gesellschaft gewinnt sie aber im Wesentlichen über den
rein rechnerischen Nachweis einer Korrelation.
Die Wissenschaft, die die Epidemiologie treibt, ist
quantitativer Art, die gesundheitlichen
Folgen von Luftschadstoffkonzentrationen
ergründet
sie mittels einer wissenschaftlichen Erklärungsmethode,
die ohne jede Erklärung auskommt, der Statistik. Mit ihr
will sie nachweisen, dass (und damit ob
überhaupt) ein Zusammenhang und wie viel
Zusammenhang zwischen Feinstaub- und Stickoxidemission
und gesamtgesellschaftlich quantifizierbaren
Gesundheitsschäden besteht. Dafür hebt die Epidemiologie
– auf Basis des pathophysiologischen Zusammenhangs, in
dem immerhin der sachliche Grund dafür besteht,
dass sich Korrelationen überhaupt statistisch ermitteln
lassen! – neu an.
Den gesamtgesellschaftlichen Gesundheitsschaden „unter
realen Umweltbedingungen“, eben so, wie sie im
täglichen Leben normalerweise auftreten
, exakt, also
als bezifferbare Größe, zu ermitteln, ist das politisch
motivierte wissenschaftliche Programm, auf dessen
Grundlage die epidemiologische Forschung in Gang kommt.
Da sich realistische
Effekte auf die
Volksgesundheit aus jahre- und jahrzehntelanger
Feinstaub- und Stickoxid-Exposition ergeben, die, wie die
Medizin herausgefunden hat, mit dem „fetalen Wachstum“
beginnt, lassen sich solche Erkenntnisse eben nur aus der
Untersuchung des gesellschaftlichen Lebens in Deutschland
unter den Bedingungen, die der Kapitalismus vorgibt,
selber gewinnen. Mit ihrem Großexperiment, möglichst alle
diese Umweltbedingungen zu erfassen und zu untersuchen,
die die Volksgesundheit schädigen, haben Epidemiologen
gut zu tun.
3. … und seine Durchführung
Ihr Forschungsauftrag, die Größe des Gesundheitsschadens zu ermitteln, der speziell dem Feinstaub bzw. Stickstoffdioxid zuzuordnen ist, erweist sich der Epidemiologie nach zwei Seiten als überaus komplex: was die Exposition, also die Vielfalt von Belastungen, Art und Dosis der Schadstoffe, denen der Mensch ausgesetzt ist, angeht, einerseits; und andererseits was dessen Disposition, also die unterschiedliche individuelle Geneigtheit zum Krankwerden, betrifft. Da heißt es nach strengen Kriterien abzugrenzen, zu messen und zu isolieren.
Es gilt also erstens das gesamte
Hoheitsgebiet
, das sich der Epidemiologie als
statistisch ziemlich unübersichtlicher Flickenteppich
darstellt, in Beurteilungsgebiete
einzuteilen, in
denen die fein nach Partikelgröße sortierten
Schadstoffkonzentrationen an verschiedenen,
repräsentativen Messstationen in Ballungszentren
und im ländlichen Hintergrund
zu unterschiedlichen
Stoß-, Tages-, Nacht- sowie Jahreszeiten ermittelt
werden. Auch Talsenken und Windschneisen und überhaupt
dem Ideal nach sämtliche irgendwie bedingende
Einflussgrößen werden erfasst und mitberücksichtigt, um
die realistischerweise eingeatmeten
Schadstoffkonzentrationen in ein Verhältnis zu den im
jeweiligen Gebiet auftretenden, potentiell durch
Feinstaub und Stickoxide verursachten Krankheiten setzen
zu können. Und siehe da, Mortalität und Morbidität
gibt es häufiger dort, wo die Schadstoffkonzentrationen
höher liegen, sowohl was ihre dauerhafte Höhe als auch
kurzfristige Belastungsspitzen
angeht. Die damit
ermittelten vielfachen Zuordnungen von Krankheit resp.
Tod und Emissionswerten reichen einem Epidemiologen aber
nicht als Erkenntnis. Das heißt nämlich, was die konkrete
zu untersuchende Exposition (also z.B. die
Feinstaubbelastung am Wohnort)
angeht, nicht allzu
viel. Denn je realitätsgetreuer er sein Studiendesign
anlegt, desto unpräziser ist das statistische Ergebnis.
Die Exposition gegenüber Feinstaub ist unter modernen
marktwirtschaftlichen Verhältnissen nämlich in aller
Regel mit weiteren gesundheitsschädlichen Belastungen
korreliert... Dies ist z.B. häufig der Fall für
verschiedene verkehrsbedingte Emissionen, wie z.B.
Feinstaub, Ultrafeinstaub, NO2 und Lärm.
Und so muss die DGP konstatieren, dass die Separierung
der Effekte von Einzelbestandteilen auf den
Organismus
, also ihr Forschungsziel einer
rechnerischen Zuschreibung von bestimmten
Gesundheitsschäden auf das Konto eines
bestimmten Schadstoffs, insbesondere dann, wenn sich die
Konzentrationen parallel verhalten
, äußerst
schwierig
bzw. mit ihren statistischen Methoden
mitunter gar nicht möglich ist. Je genauer sie ermitteln
will, welcher Bestandteil so eines insgesamt
ungesunden Schadstoffgemisches in welchem Maß
mit bestimmten biologischen Endpunkten
, also
schwerwiegenden Krankheiten, assoziiert ist, umso mehr
ufert ihr Rechenaufwand aus, den sie für die Separierung
der Einzeleffekte, die alle miteinander „korrelieren“,
treiben muss; und umso größer sind ihre Vorbehalte gegen
den Zusammenhang, den sie auf diese Art nachweist. Das
veranlasst die Epidemiologie aber weder zur Aufgabe ihres
Forschungsprojekts noch zu einer Kritik an ihren Methoden
(und es ist ja auch nicht so, dass die Medizin die
„Effekte von Einzelbestandteilen auf den Organismus“
nicht bestens kennen würde!), sondern fordert sie in
ihrem Auftrag, belastbare Korrelationen
zu
gewinnen, statistisch heraus: Da es außer Zweifel steht,
dass die Schadstoffgemische die gleichen
Emissionsquellen haben und mit diesen eng
korrelieren
, lässt sich zwar die durch Feinstaub
induzierte Schädigung nicht präzise separieren, aber den
Vorbehalten gegen das eigene Ermittlungsverfahren lässt
sich in ihren Wahrscheinlichkeitsrechnungen ein
statistischer Ausdruck verleihen; und mit diesen
statistischen Warnhinweisen ist der Gesamteffekt dafür
umso realistischer, der sich so zumindest als Hinweis
auf direkte (kausale) Wirkungen
festhalten lässt. Für
medizinische Statistiker ist der „Hinweis“ kein
Rückschritt von der gewussten qualitativen Bestimmung der
Schädlichkeit, sondern ein Schritt nach vorne; immerhin
haben sie aus der komplexen Giftküche, die die
Gesellschaft atmet, Feinstaub und Stickoxide als
mögliche mitwirkende Faktoren „belegt“ – mit der
gebotenen epidemiologisch-wissenschaftlichen Vorsicht,
dass es sich hierbei auch um Zufall oder sonstige
„Messfehler“ handeln könnte. Das ist der Preis für eine
Forschung, die von notwendigen Zusammenhängen nichts
wissen will und nur mit statistischen Zusammenhängen
argumentiert.
Zweitens tritt ihr bei ihrem Forschungsauftrag
die Bevölkerung in ihrer Buntscheckigkeit als
statistisches Problem für die Quantifizierung gegenüber.
Denn die Erkrankungswahrscheinlichkeit hängt nicht nur
von Dauer und Höhe der Schadstoffkonzentration ab,
sondern auch innerhalb eines „Beurteilungsgebiets“ stirbt
zwar mancher unter gleicher Exposition, die meisten aber
nicht, und auch nicht jeder wird auf dieselbe Art und
Weise chronisch krank. Damit geht die Epidemiologie im
Interesse an belastbaren Aussagen
über die Wirkung
der Schadstoffbelastung auf die Bevölkerung ebenso
konsequent im Sinne ihrer Fragestellung um: Wenn die
Schadstoffe schon die disparatesten möglichen
Auswirkungen auf jeden einzelnen individuellen
Organismus, abhängig von dessen
Grundkonstitution und -disposition haben können, dann
ergibt sich daraus die nächste statistische
Herausforderung, wenn die Epidemiologie auf bestimmte
Bevölkerungsgruppen
stößt: Die einen – vornehmlich
Kinder, ältere Menschen, schwangere Frauen
und
Menschen mit Vorerkrankungen
– erkranken häufiger,
schneller und stärker
, während andere bei
gleicher Belastung
gesund bleiben. In der Weise
arbeitet die DGP die medizinische Erkenntnis heraus, dass
der Organismus mit seinen physiologischen, genetischen
und psychosozialen
Voraussetzungen und nicht
zuletzt
mit seinem persönlichen
(Gesundheits-)Verhalten
, mit seinem Ernährungs-
und Bewegungsverhalten sowie Nikotin- oder
Alkoholkonsum
selber als ein möglicher Teilauslöser
einer Erkrankung gilt, der neben dem Faktor
Exposition mehr oder weniger zum Tragen kommt. Darauf
bezieht sich die DGP konstruktiv in ihrem Bedürfnis, die
Schadensgröße gesamtgesellschaftlich genau abzuschätzen,
wenn sie ihr Augenmerk gerade auch auf die Schwachen,
besonders Gefährdeten richtet:
„Als vulnerable Gruppen werden Personen bezeichnet, die nicht über individuelle oder kollektive Fähigkeiten verfügen, um Umwelteinflüssen adäquat zu begegnen.“
In ihrem Bedürfnis, diejenigen Mengen oder
Konzentrationen einer Belastung festzulegen, mit deren
Aufnahme über einen definierten Zeitraum mit an
Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine relevante
schädliche Wirkung mehr verbunden ist
, ist es ihr ein
Anliegen, diese „vulnerablen Gruppen“ besonders zu
berücksichtigen
. Um diese mit der größten
Wahrscheinlichkeit Betroffenen möglichst vor
Gesundheitsschäden zu bewahren, erkennt die Epidemiologie
sie selbst als Teilursache ihrer Erkrankungen an, wenn
sie für deren besondere Berücksichtigung eine
Absenkung der Emissionen fordert.
Diese ganzen Daten (neben den Feinstaub- und
Stickoxidwerten möglichst alle externen und internen
Einflussgrößen, Bedingungen und ‚Faktoren‘) erhebt die
Epidemiologie und setzt sie ins Verhältnis zu den im Land
auftretenden Krankheits- und Todesfällen eben dafür, das
relative Risiko, aufgrund von Feinstaub und
Stickoxiden vorzeitig abzuleben, unter realen
Bedingungen wissenschaftlich exakt berechnen zu können.
Das Ergebnis ist eine Zahl über 1 – dem
Durchschnittsrisiko – mit mehreren Stellen hinterm Komma,
die sich mit sämtlichen möglichen anderen
Erkrankungswahrscheinlichkeiten, die sich als andere
Zahlenwerte darstellen, vergleichen lässt. So kann man
schon rechnen; die ermittelten Quanta sind so gesehen
mathematisch exakt, immanent objektiv. Nur: Alle diese
sog. ‚Einflussgrößen‘, die von industriell produzierten
Luftschadstoffen über sog. moderne ‚Volkskrankheiten‘ wie
Bluthochdruck, persönliche Vorlieben wie Rauchen bis zu
individuellen körperlichen Voraussetzungen wie Alter und
Genen reichen – also ein Sammelsurium an qualitativ
verschiedenem, disparatem Zeug – stellt sie auf eine
logische Ebene, sowohl Defekte am
Individuum als auch Effekte auf das Individuum,
indem sie sie alle gleichermaßen bloß unter dem
Gesichtspunkt ihrer möglichen, rein quantitativ gefassten
Wirkung auf die Volksgesundheit ins Auge fasst. Im
begriffslosen Resultat taucht so mancher Faktor gar
doppelt auf, beispielsweise figuriert Bluthochdruck
einerseits als eine mögliche durch Feinstaub und
Stickoxide verursachte Krankheit, andererseits als für
sich existierender Risikofaktor, der daher aus dem
relativen Risiko, an Feinstaub und Stickoxiden zu
erkranken, herausgerechnet gehört. Dass chronische
Vorerkrankungen eine schlechte Voraussetzung sind,
Schadstoffbelastungen wegzustecken – vor allem dann, wenn
man sie im Alter schon jahrzehntelang weggesteckt hat –,
dass sich Feinstaub schlechter aushalten lässt, wenn er
im Paket mit „Ultrafeinstaub, NO2 und Lärm“
auftritt, wird schon so sein. Das Wissen um andere
schädigende Faktoren relativiert die Schädlichkeit der
untersuchten Stoffe aber überhaupt nicht. Diese
Gleichmacherei ist ein Fehler. Der aber ist konsequent,
hat seinen sachlichen Grund nämlich in der
epidemiologischen Fragestellung, also darin, alle
möglichen Einflussgrößen auf dieselbe Größe
insgesamt beziehen, ihren quantitativen Beitrag dazu
ermitteln und diese Maßzahlen
gegeneinander
gewichten, niedrig- oder hochhängen zu wollen.
Das wissenschaftliche Ergebnis, der Risikofaktor als
Zahl, kommt zustande durch eine mathematisch monströse
Rechnung, die die hohen Anforderungen an die
Belastbarkeit des jeweiligen Wissensstandes
, die die
Epidemiologie ihrer wissenschaftlichen Vorgehensweise
selbst auferlegt hat, erfüllt, nämlich nicht nur in
mehreren, voneinander unabhängig durchgeführten Studien
nachgewiesen und reproduzierbar
war, sondern auch
mit unterschiedlichen Methoden
ermittelt wurde.
Wasserdicht ist das Ergebnis aber erst, wenn auch das
letzte ihrer strengen zentralen Kriterien
erfüllt
ist, sie nämlich ihrer hochkomplexen und superexakten
Statistik daneben das Attribut anheften kann,
biologisch plausibel
zu sein – sie also die
toxikologischen Befunde auch noch mit heranzieht, die
sich als weitere „Evidenz“ in ihre Korrelationen
einreihen und darin einen Beitrag zur „Belastbarkeit“ des
Gesamtergebnisses liefern. Dass sie ganz am Ende auf
ihren Ausgangspunkt zurückkommt und auf das
toxikologische Wissen über die Wirkmechanismen
zurückgreift, um sich davon ihre Rechnerei bestätigen zu
lassen: Das ist die abschließende Misstrauenserklärung
der Epidemiologie gegen ihr eigenes Verfahren, mit dem
sie alle ursächlichen Zusammenhänge in Korrelationen
verlegt hat und ihr „Beweis“ eines Zusammenhangs im
Sammeln von – bloßen, dafür aber möglichst vielen –
Indizien besteht.
Im Resultat des Mortalitätsrankings liegen global
Feinstaub und Stickoxide auf Platz fünf, unmittelbar
hinter den allgemeinen Risikofaktoren erhöhter Blutdruck,
Rauchen sowie erhöhte Glukose- und Cholesterinwerte
,
in Deutschland ordnet die DGP der Luftverschmutzung als
wichtigstem umweltbezogenem Risikofaktor den zehnten
Platz zu.
*
Aber was heißt schon Platz fünf weltweit oder Platz zehn
in Deutschland? Dass dringend gegen Feinstaub vorgegangen
werden muss? Oder die Vergiftung vernachlässigbar ist
angesichts der statistisch deutlich schlimmeren Wirkungen
des Rauchens, einem sog. lebensstilassoziierten
Risikofaktor
? Diese statistisch exakte Bewertung und
sachlich absurde quantitative Vergleicherei
verschiedenster möglicher Einflussgrößen aufs Sterben
liefert im Gewand seriöser Wissenschaftlichkeit auch dem
politischen Dienstherrn nicht mehr als eine Zahl, einen
Hinweis, dass da einige Leute seines Volks an
einer Nebenwirkung seines kapitalistischen Standorts
sterben.
4. Der wissenschaftliche Ertrag: gesundheitspolitische Empfehlungen für den Umgang mit Feinstaub und Stickoxid
Deswegen unternimmt die DGP eine eigene Anstrengung, aus
ihren ermittelten Maßzahlen überhaupt erst eine
Aussage
über die gesundheitspolitische
Bedeutung
der Gesundheitsbelastung durch Feinstaub
und Stickoxide zu machen. Ihren abstrakten, statistischen
Risikoziffern über den Zusammenhang zwischen Schadstoff
und Erkrankung bzw. Tod verleiht sie dafür in mehreren
Indizes
einen sehr konkreten Ausdruck. Mit den
Kategorien vorzeitige
oder verursachte
Todesfälle
, verlorene Lebensjahre
, sogenannte
Lebensjahre mit Einschränkung (disability-adjusted
life years, DALYs)
oder der Anzahl von
Krankenhauseinweisungen
wegen
luftschadstoffbedingter Erkrankungen übersetzt die
medizinische Wissenschaft ihre Risikoziffern in eine
theoretisch angenommene, abgeschätzte
Krankheitslast
, eine Größe, die so schön die Not
der Patienten mit ihrer Krankheit in die Kosten des
Staates mit den Kranken übersetzt:
„Ein zentraler Aspekt der Berechnung der Krankheitslast ist die Zielsetzung, die gesundheitliche Bedeutung von verschiedenen Umweltbelastungen für die Bevölkerung vergleichen zu können. Es geht bei diesem Ansatz darum, die Krankheitslast verschiedenster Risikofaktoren auf unterschiedlichste gesundheitliche Endpunkte mittels Maßzahlen vergleichbar zu machen, um Politik und Public Health eine Aussage über die Bedeutung einzelner Risikofaktoren für das Krankheitsgeschehen relativ zueinander zur Verfügung zu stellen.“
In derselben Logik wird neben der Krankheitslast auch
noch die Mortalität belastbar abgeschätzt
: Die
Luftverschmutzung durch Feinstaub und Stickoxide in
Deutschland kostet die Gesamtbevölkerung ca. 600 000
verlorene Lebensjahre pro Jahr
, oder an anderer
Stelle anders ausgedrückt eine Lebenszeitverkürzung
von 10,2 Monaten
. Am Ende leitet die Medizin aus all
ihren Rechenoperationen – ihr zentrales
Leitprinzip
ist schließlich das
Vorsorgeprinzip
– ihren medizinisch
definierten Richtwert
für eine
Schadstoffkonzentration ab, mit dem sie immerhin
behauptet haben will, dass – wie oben schon zitiert –
mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit
keine relevante Schädigung der Bevölkerung mehr zu
verzeichnen sei und der deswegen zum optimalen Schutz
der Bevölkerung
auch nicht überschritten werden
dürfte – ein Wert, der im Falle von Feinstaub
und Co eigentlich sogar gegen Null gehen sollte, weil
nach eigenen Aussagen der DGP keine
Wirkungsschwelle
nach unten festgestellt werden
konnte. Denn obwohl
die DGP Feinstaub und
Stickoxiden ein relativ geringes
Risiko
bescheinigt – schließlich in Deutschland doch
nur Platz zehn der beliebtesten Todesursachen –,
besteht sie auf der überaus hohen Bedeutung
dieses
Gesundheitsrisikos aufgrund der Tatsache, dass
praktisch die gesamte Bevölkerung davon betroffen
ist
; ganz im Unterschied zu anderen,
lebensstilassoziierten
Faktoren, die der Mensch
laut Medizin auch einfach vermeiden könnte, anstatt
lieber chronisch krank zu werden, gesteht die DGP ihm
beim Atmen zu, dass es sich nur schwerlich einstellen
lässt. Wenn es nach ihr ginge, sollte die politische
Realität ihrem medizinidealistischen Standpunkt folgen
und den Richtwert der WHO, der noch unter dem gültigen
Grenzwert der EU liegt, einhalten.
Die DGP ist realistisch genug, zur Kenntnis zu nehmen, dass die von ihr geforderte Risikoreduktion seit Jahr und Tag scheitert. Woran das liegt, warum die praktische Reichweite ihres medizinischen Sachverstands so beschränkt ist, das erklärt sie sich – wider besseres Wissen – allerdings mit soziologischem Gewäsch:
„Gesetzliche Grenzwerte sind dabei ein Kompromiss verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und stellen nicht unbedingt eine medizinisch wünschenswerte obere Belastungsgrenze dar.“
Die epidemiologische Medizin ist mit ihrem ‚Realismus‘
wirklich gut: Seit Jahrzehnten forscht sie an den
Konsequenzen systematischer kapitalistisch-industrieller
Luftverschmutzung herum – und will in der Frage, warum
sie mit ihren medizinischen Empfehlungen nicht
weiter durchdringt, von dem gesellschaftlichen Gegensatz
zwischen Schadensverursachern – machtvollen, politisch
garantierten unternehmerischen Interessen – und einer
Bevölkerung, der die schäbige Rolle des davon Betroffenen
zukommt, nichts weiter wissen, als dass da irgendwie
„verschiedene gesellschaftliche Gruppen“ am Werk seien,
denen sie dann offensiv als Quintessenz ihrer
Empfehlungen zur Schadensvermeidung ein gemeinsames,
interaktives und zielorientiertes Handeln
auf
allen Ebenen
vorschlägt.
Wem sie das empfiehlt, das ist der DGP aber
letztlich natürlich schon klar; schließlich sollen die
gesamtgesellschaftlich erhobenen „vorzeitigen
Todesfälle“, die „verlorenen Lebensjahre“ und die
„Lebensjahre mit Einschränkung“ nicht irgendwelche
verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen, sondern die
Politik ermahnen, dass ihr ein Teil der
brauchbaren Lebenszeit ihrer Basis „verloren“ geht. Und
die soll mit entsprechenden Regularien
dem
‚gesamtgesellschaftlichen Kompromiss‘ auf die Sprünge
helfen – und die „Verantwortung für [dessen]
Einhaltung ist von der Exekutive und Judikative
konsequent zu übernehmen“. Ihre medizinpolitische
Empfehlung übersetzt sie daher in einem letzten Schritt
in eine Summe Geld, was sie selbst offenbar als immer
noch bestes Argument begreift, mit dem sich die Politik
überzeugen lässt: Die Gesundheitsschäden sind nämlich
insofern ein nicht zu ignorierendes gesellschaftliches
Problem, als sie zu relevanten Kosten
führen,
die sowohl die Sozialsysteme, z.B. durch mehr
Arztbesuche, Medikation oder Fehltage, als auch die
Individuen belasten.
Und umgekehrt wäre
„eine Reduktion der Luftschadstoffbelastung ... mit einem erheblichen Gesundheitsgewinn verbunden. So wurde für 25 europäische Städte ab 70 000 Einwohnern bei Einhaltung der von der WHO derzeit noch empfohlenen Richtwerte eine Lebenszeitverlängerung um ca. sechs Monate berechnet und der potentielle ökonomische Gesundheitsnutzen in Europa auf 31 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt.“
Umso dringlicher ist eine deutliche Reduktion
der
Vergiftung durch Absenkung der gesetzlichen
Grenzwerte
, weil die Medizin hier ihr praktisches
Interesse, die Betroffenen gegen die Vergiftung zu
immunisieren, bzw. die Schäden therapeutisch ungeschehen
zu machen, nicht erfüllen kann:
„Da die Optionen für eine kausale Therapie in vielen Fällen derzeit noch limitiert sind, kommt der Vermeidung einer Entstehung und Progression von Atemwegserkrankungen mittels präventiver Maßnahmen eine herausragende Bedeutung zu.“ [6]
Die schädlichen Lebensbedingungen in Deutschland haben sich der gesundheitlichen Belastbarkeit der Bevölkerung anzupassen; so viel Idealismus hält die DGP – bei allen damit verbundenen Konsequenzen – für politisch realistisch und landet am Ende bei einem konstruktiven, alltagstauglichen Mobilitätskonzept, wie es in jedem Parteiprogramm auch stehen könnte.
5. Köhlers Polemik: Medizinisch schlecht zu belegende Argumente für eine politisch sehr belastbare Konsequenz
Dieses Positionspapier der DGP hält Prof. Dr. med.
Köhler, seines Zeichens kritischer Rationalist
,
dagegen für eine einzige große Seifenblase
. Für
das Mögliche hält er das, was realistisch ist – und in
seinem ersten TV-Auftritt stellt er hinreichend klar, was
das bedeutet: Die gesundheitspolitische Bedeutung der
existierenden Grenzwerte sei im Verhältnis zu dem
volkswirtschaftlichen Schaden zu bewerten, die sie
anrichten, und der sei angesichts des Gewichts der
deutschen Automobilindustrie gar nicht zu überschätzen.
Bei diesem Klartext, dass sich die Gesundheit
prinzipiell an den marktwirtschaftlichen Interessen zu
relativieren hat, belässt es Köhler nicht, er
argumentiert für seinen Standpunkt zu den Grenzwerten auf
derselben Ebene wie seine Kollegen von der DGP – nämlich
medizinisch.
Einen Feinstaub-Toten
habe er jedenfalls noch nie
gesehen. Das stimmt bestimmt, es ist ja auch auf keinem
Totenschein jemals die Krankheitsursache Feinstaub zu
lesen gewesen, zu Recht: An keinem Todesfall, sei der
Mensch an Herzinfarkt, Lungenkrebs, Demenz, Diabetes oder
an allem zugleich gestorben, ist ex post notwendig und
eindeutig abzulesen, welcher ‚Risikofaktor‘ letztlich bei
ihm den Ausschlag gegeben hat. Diese medizinische
Uneindeutigkeit aber macht Köhler zum Argument
gegen die Schädlichkeit von Feinstaub und
Stickoxid überhaupt, erklärt sie zum Grund dafür, dass
sie letztlich nur ungiftig sein können – was nicht sehr
redlich ist. Auch, dass NOx in physiologischen
Vorgängen des menschlichen Körpers eine Rolle spielen
mag, ist kein sehr stichhaltiges Argument dafür, dass
deswegen das, was aus dem Diesel kommt
,
ein harmloser
, weil körpereigener
Naturstoff
sei. Das weiß bestimmt auch
Lungenfacharzt Professor Dr. Köhler selbst besser, sieht
solche medizinisch kaum ‚belastbaren‘ Argumente aber
offensichtlich in der demokratisch-aufgeklärten
Öffentlichkeit gut aufgehoben.
In einer etwas wissenschaftlicheren Fassung argumentiert
er genauso gegenüber seinen Fachkollegen und ihren
willkürlichen
Ergebnissen, wo Statistiker doch in
jedem Grundkurs
lernen würden, dass Korrelation
nicht Kausalität bedeutet
. [7] Dass das nun ausgerechnet
gegen die redlichen Epidemiologen kein Einwand ist, weil
die sich selber enorm viel Mühe geben, bekannte Ursachen
in prinzipiell anfechtbare Korrelationen zu übersetzen,
interessiert Köhler nicht weiter; er denkt ja selbst so.
Mit diesem Argument zieht er nämlich in Zweifel, dass
die Korrelation besteht, die seine Kollegen
statistisch lege artis begründen:
„Die in den Studien zum Feinstaub und zum NO2 gefundene Risikoerhöhung ist einfach dadurch zu widerlegen, dass man die inhalierten Dosen mit denen der Raucher vergleicht. Die vielen Millionen Inhalationsraucher stellen sozusagen einen inhalationstoxischen Großversuch dar... Vergleicht man lebenslang inhalierten Feinstaub und NO2 mit den inhalierten Dosen der Raucher, so müssten diese nach wenigen Wochen alle sterben, was offensichtlich nicht der Fall ist. Zudem ist der Zigarettenrauch noch ungleich toxischer. Damit ist die These einer Risikoerhöhung von Feinstaub und NO2 in den Grenzwertdosen falsifiziert.“
„Offensichtlich“ laufen in Deutschland lebende Raucher
rum, also können die Ergebnisse der DGP und daher die
statistischen Methoden, mit denen sie ermittelt wurden,
nur verkehrt sein. Köhler hat aber recht besehen gar
nichts gegen die Statistik – mit der sich, wie er als
Statistiker weiß, ursächliche Zusammenhänge nicht
begründen lassen –, er hat etwas gegen diese
Statistik. Viel übrig hat er hingegen für eine andere,
ihm genehme Gewichtung der typischen
Risikofaktoren
: Verglichen mit Passivrauchen,
aktivem Rauchen und Hypertonie
würden die
Feinstaubrisiken verschwinden
. Wenn schon ein
Zusammenhang zwischen Städtern und Landbevölkerung
bezüglich ihrer gesundheitlichen Konstitution gezogen
werden soll, dann hält er eine andere Einschätzung der
„Maßzahlen“ für viel angebrachter, nämlich die,
„dass geringste Unterschiede in der Lebensführung beziehungsweise im Gesundheitsbewusstsein zwischen staubbelasteten und weniger staubbelasteten Gebieten die ganzen Effekte des Feinstaubs und des NO2 erklären.“
Von ‚Erklären‘ redet wie gesagt der Mann, der darauf
besteht, dass man mit Statistik keine ursächlichen
Zusammenhänge begründen kann. Ihm, der mit seinem
realistischen Expertenblick im deutschen Städter vor
allem einen Raucher, Säufer, Fastfood-Junkie und
Bewegungsmuffel sieht, leuchtet jedenfalls gar nicht ein,
warum ausgerechnet der Feinstaub da so gefährlich sein
soll
. Mit dieser eher robusten Einschätzung wendet
Köhler sich – zwar etwas grob in der Argumentation, aber
in der selben medizinischen Logik – gegen den Standpunkt
des absoluten
Gesundheitsschutzes der DGP und
gegen die Konsequenzen für den Automobilstandort, für die
die DGP sich ausgesprochen hat.
Dass Köhler letztlich seine alten Kollegen für schlicht
wissenschaftlich unseriös
erklärt (und die
umgekehrt ihn), ist konsequent. Die vorhandenen
Studien müssten durch neutrale Wissenschaftler neu
ausgewertet werden
, dann würde das Kartenhaus
,
das die DGP in ihrer ideologischen Verblendung
aufgestellt hat, in sich zusammenfallen.
Sein
objektiv-wissenschaftlicher Beitrag zur Versachlichung
der Debatte
lautet dagegen: Ich würde die
Grenzwerte einfach hochsetzen, dann ist die Diskussion
weg.
Das Schnellste wäre, die Messstellen
vernünftig zu platzieren
, also vernünftigerweise
vielleicht nicht gerade da, wo pro Tag 70 000
Fahrzeuge und 200 schwere Nutzfahrzeuge vorbeifahren
.
Wenn sich selbst das Rauchen mitunter jahre- und jahrzehntelang aushalten lässt, dann kann das deutsche Volk das bisschen Feinstaub locker wegstecken, damit das Geschäft mit den Autos und der dieselbetriebene Autoverkehr so weitergehen können wie bisher.
*
Dass Köhler, wie die taz ein paar Wochen später
herausfindet, kleinere Rechenfehler
, und zwar
um den Faktor 200 bis 1000
unterlaufen sind, und,
rechnete man seinen Vergleich richtig, herauskäme, dass
die Stickoxid-Belastung durch die Atemluft während eines
durchschnittlichen Großstadtlebens ungefähr der des 30
Jahre langen Kettenrauchens entspricht, ist der Auftakt
zum Ende der Debatte. Das öffentlich betreute Publikum
durfte sich mal wieder ein bisschen empören – sei es als
besorgter Feinstaub-Einatmer oder als nicht minder
besorgter Dieselfahrer – das war’s dann aber auch.
[1] Atmen: Luftschadstoffe und Gesundheit, Deutsche Gesellschaft für Pneumologie und Beatmungsmedizin e.V., Berlin 2018
[2] Dieses und die folgenden Zitate aus dem Positionspapier „Atmen ...“, sofern nicht anders angegeben.
[3] Wer das wissen will, kann es nachlesen in Predehl/Röhrig: Gesundheit – ein Gut und sein Preis, Gegenstandpunkt Verlag, München 2016
[4] Genuin (mikro)medizinisch geht die Wissenschaft zu Werke, indem sie die toxikologischen bzw. pathophysiologischen Mechanismen erforscht, mit denen Feinstaub bzw. Stickoxide auf den (individuellen) Organismus, seine Organe, seine Zellen usw. wirken. Ihre in den letzten Jahrzehnten erarbeiteten Detailkenntnisse haben sie nie zufriedengestellt, weil sich an jede gewonnene Erkenntnis die nächste Frage, wie genau dieser Mechanismus abläuft, anstrickt. In ihrem Bedürfnis, bestimmte Auswirkungen eines bestimmten Schadstoffs – wie, auf wen, unter welchen Umständen – immer genauer zu erforschen, ‚separiert‘ auch sie alle am Wirkmechanismus beteiligten ‚Einflussfaktoren‘ und kommt damit zu keinem Ende.
[5] Die DGP selbst
formuliert ihren wissenschaftlichen Auftrag so:
Anliegen war, das Ausmaß der Krankheitslast, das
einem Umweltrisikofaktor / einer Gruppe von
Umweltrisikofaktoren zuzuschreiben ist, für die
Bevölkerungsgesundheit abzuschätzen, zu quantifizieren
und im Hinblick auf erforderliche Entscheidungen und
die Priorisierung von Maßnahmen bewerten zu können.
[6] Sich selbst erteilt
sie, wie sie das seit jeher macht, den Auftrag, ihre
weiterhin substantiellen Wissenslücken
zu
schließen: Die Belastung mit weiteren Schadstoffen,
etwa ultrafeinen Partikeln (UFP, Ultrafeinstaub), ist
bislang weniger umfassend untersucht und hinsichtlich
ihrer Anzahlkonzentration in der Luft nicht gesetzlich
geregelt. Darüber hinaus sind die Differenzierung der
Effekte einzelner Komponenten des
Luftschadstoffgemisches sowie deren mögliche
Interaktionen bzw. synergistische Effekte für eine
gezielte gesetzliche Regulierung von Interesse. Eine
weitere offene Frage betrifft die untere
Wirkungsschwelle von Luftschadstoffen... Ebenso besteht
im Hinblick auf die Langzeitfolgen einer Exposition im
Kindesalter Forschungsbedarf, um die vorliegenden
Hinweise auf eine frühe Disposition für insbesondere
obstruktive Atemwegserkrankungen im Erwachsenenalter zu
substantiieren. Zur Frage der genetischen
Suszeptibilität im Hinblick auf gesundheitsschädliche
Effekte von Luftschadstoffen sowie möglicher
protektiver Wirkungen der Ernährung ist die
gegenwärtige Datenlage ebenfalls noch unbefriedigend.
Es wird daher empfohlen, gezielt die
Forschungsaktivitäten für diese Fragestellungen durch
Ausschreibungen europaweit zu fördern.
[7] Eine kritische Bewertung der aktuellen Risikodiskussion, D. Köhler, Ärzteblatt, 2018