Armut, Rente, Arbeitszeit
Der Herbst der Reformen
Der deutsche Kanzler ist unzufrieden mit denen, die er regiert: Von seinen Deutschen arbeiten zu viele nicht, sondern leben im Luxus des staatlich bereitgestellten Existenzminimums; diejenigen, die arbeiten, tun das viel zu kurz – pro Woche und überhaupt gemessen an ihrer überbordenden Lebensdauer; und sie bestehen unter dem Slogan ‚work-life-balance‘ auch noch darauf, dass ihre Arbeit sich irgendwie für sie lohnt. Des Kanzlers ‚Herbst der Reformen‘ soll ihnen solchen Unfug austreiben.
Aus der Zeitschrift
Artikel anhören
Teilen
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Armut, Rente, Arbeitszeit
Der Herbst der Reformen
„Ich werde mich durch Worte wie Sozialabbau und Kahlschlag und was da alles kommt nicht irritieren lassen. Der Sozialstaat, wie wir ihn heute haben, ist mit dem, was wir volkswirtschaftlich leisten, nicht mehr finanzierbar.“ (Merz auf dem CDU-Parteitag, 23.8.25)
Warum eigentlich nicht? Offensichtlich produziert das schöne System der Volkswirtschaft, dem der Kanzler sich verpflichtet weiß, nicht nur einen immer weiter wachsenden Geldreichtum, sondern mit ihm eine ebenso wachsende Masse an Sozialfällen, die staatliche Betreuung braucht, weil sie für die Erwirtschaftung dieses Reichtums nicht mehr nützlich ist. Diese Armut ist laut Merz zu einer unerträglichen Last geworden – nicht etwa für die Betroffenen, sondern für die Volkswirtschaft, die man mit ihren sozialen Unkosten nicht behelligen darf. In diesem Sinne ruft er einen „Herbst der Reformen“ aus und stellt dazu klar:
„Es geht dabei um nicht weniger als um Gerechtigkeit, um einen neuen Konsens darüber, was Gerechtigkeit in unserer Zeit heute eigentlich heißt.“ (Ders. im Bundestag, 17.9.25)
Die fällige Reform umfasst also nicht nur die Entlastung des staatlichen Haushalts, sondern schließt einen grundsätzlichen politischen Klarstellungsbedarf darüber ein, wer wann warum und in welchem Maße überhaupt die Unterstützung des Sozialstaates verdient.
Die neue Grundsicherung für Arbeitsuchende: ein gerechter Sozialstaat fürs hart arbeitende Volk
Worin der neue Geist der Gerechtigkeit besteht, führt die unionsgeführte Regierung an einer gemessen am finanziellen Einsparpotenzial untergeordneten Abteilung des Sozialstaats vor: Beim Bürgergeld beschließt sie, neben einer zweiten Nullrunde bei der Anpassung der Regelsätze an die Inflation und der Streichung der Karenzzeit beim Schonvermögen, eine deutliche Verschärfung der Sanktionen bis hin zur kompletten Streichung der Gelder, inklusive der Kosten für Unterkunft und Heizung. [1] Die Kritik, die sie sich mit diesem Vorstoß prompt einhandelt, dass all das den Staat letztlich gar nicht so sehr von den sozialen Unkosten entlastet, wie im Vorfeld ausgemalt, ist zwar sehr konstruktiv gemeint, geht an der Klarstellung, auf die es der Unionsmannschaft damit ankommt, aber komplett vorbei. Der leuchtet nämlich demonstrativ überhaupt nicht mehr ein, dass es innerhalb der sozialen Betreuung des untersten Rands der deutschen Arbeitsgesellschaft möglich oder überhaupt denkbar ist, dass Leute vom Staat nicht einfach eine Unterstützung kriegen, die ihnen bei ihrer Jobsuche Beine macht, sondern eine, die es für die Betroffenen irgendwie zulässt, sich damit zu arrangieren. Dann wird nämlich Nicht-Arbeit belohnt, anstatt Arbeit zu fördern, indem man sie fordert. Wie häufig der Lebensentwurf des „Totalverweigerers“, der sich ins Fäustchen lacht und es sich mit seinen 563 Euro gemütlich macht, innerhalb des Millionenheers an sozial Bedürftigen überhaupt vorkommt, ist dafür völlig gleichgültig, da geht es eben ums Prinzip. Damit unmissverständlich deutlich wird, dass durch die Maßnahmen gleich der ganze verkehrte Geist des Respekts vor den Empfängern staatlicher Almosen aus der Welt geschafft wird, entledigt die Union sich auch des bisherigen Namens der Einrichtung und verkündet: „Das Bürgergeld ist jetzt Geschichte!“ (Söder, 9.10.25)
Die „Grundsicherung für Arbeitsuchende“ soll es ab sofort „nur noch für die geben, die wirklich auf Hilfe angewiesen sind – nicht für die, die nicht arbeiten wollen“ (CDU-Politiker Kuban, 4.8.25). Die Union stellt also endlich wieder das richtige Verhältnis in Sachen Hilfebedürftigkeit her. Existenzielle Notlagen und Bedürfnisse materieller Art sind für sich genommen überhaupt kein Grund, irgendetwas verlangen zu können. Die Leistungen des Sozialstaats zu nutzen, um von ihnen zu leben, widerspricht deren Sinn und Zweck und ist deshalb ein einziger Missbrauch, den der Staat sich nicht gefallen lassen darf. Hilfe gibt es nur als Unterstützung derer, die alles dafür tun, ohne sie zurechtzukommen, weil Arbeit die Grundvoraussetzung dafür ist, überhaupt Ansprüche erheben zu können. Auf dieser Gleichung besteht die Kanzlerpartei in aller Konsequenz, wenn sie es den Empfängern der sozialstaatlichen Hilfen ab sofort unmöglich macht, sich der Unterordnung unter den Zwang zur Arbeit zu entziehen und trotzdem was zu kriegen.
Diesen hoheitlichen Standpunkt will die CDU als Dienst am ureigenen Bedürfnis ihrer hart arbeitenden Bürger verstanden wissen:
„Gerade das Bürgergeld beschäftigt und verärgert viele Menschen, da müssen wir die Kritik auch von den Mitarbeitern aus den Jobcentern ernst nehmen. Es ist letztlich eine Frage der Gerechtigkeit, dass diejenigen, die arbeiten, mehr haben als diejenigen, die arbeiten könnten, es aber nicht tun.“ (CDU-Politiker Bilger, Interview mit merkur.de, 8.10.25)
Wenn die CDU verspricht, in Zukunft für den gebotenen Unterschied zwischen den Einkommen zu sorgen, landet dadurch zwar kein Cent mehr auf dem Konto der Fleißigen. Die dürfen sich damit aber von ihrer Obrigkeit hochoffiziell bescheinigen lassen, dass sie auf jeden Fall alles richtig machen. Wer arbeiten geht, gehört zu den Anständigen – und hat als solcher ein Recht auf eine zupackende Politik, die jede Abweichung davon bestraft.
Auch der kleine sozialdemokratische Koalitionspartner kann sich mit der Dauerkritik der Kanzlerpartei an seiner großen sozialen Errungenschaft aus der vergangenen Legislatur inzwischen anfreunden und die Rückabwicklung seiner ‚Jahrhundertreform‘ daher mittragen. [2] Das tut diese Partei mal wieder explizit im Namen ihrer minderbemittelten Klientel und demonstrativ selbstkritisch mit Blick auf Versäumnisse bei der gepflegten Selbstdarstellung:
„Die große Mehrheit der Bürgergeld-Empfänger wolle aus der Arbeitslosigkeit herauskommen, sagte Wiese [Parlamentarischer Geschäftsführer der SPD]. Viele Menschen müssten aufstocken, weil sie trotz Arbeit nicht genug verdienten, um über die Runden zu kommen. Wiese räumte zugleich ein, viele Menschen hätten das Gefühl gehabt, dass sich die SPD fast mehr um diejenigen kümmere, die nicht arbeiten, als um die, ‚die täglich malochen‘.“ (tagesschau.de, 4.8.25)
Die Sozialdemokraten wissen, wie schwer das Leben der Leute ist, die vom Lohn leben müssen: dass die es nämlich mit all ihrer Mühe und Anstrengung einfach nicht in der Hand haben, sich einen Lohn zu verdienen, der irgendwie auch zum Leben reicht, geschweige denn überhaupt jemanden zu finden, der ihnen Arbeit gibt, weil er damit etwas Nützliches für sich anzufangen weiß. Sie wissen daher auch, dass zu dieser Einkommensquelle die Existenz als dauerhafter Betreuungsfall des Sozialstaats untrennbar dazugehört. Die SPD spricht die Arbeiter in ihrer Armut und sozialstaatlichen Abhängigkeit an – um klarzustellen, dass sie doch die Partei ist, die sich um genau diese Lebenslage immerzu kümmern will. Um etwas anderes ist es ihr zwar auch mit ihrer revolutionären Transformation von Hartz IV in das Bürgergeld nicht gegangen: Anstatt die Leute für ihre Arbeitslosigkeit zu verachten, wollte sie im Hilfebezieher lieber den aufrichtigen Willen, sich anzustrengen und wieder Arbeit zu finden, erkennen und anerkennen. So viel muss sie rückblickend aber schon eingestehen: Mit diesem Respekt vor dem hochanständigen Bürger im Sozialfall hat sie glatt den falschen Eindruck vermittelt, sie wäre tatsächlich für untätige Leistungsempfänger und nicht für die dauerhafte Betreuungsbedürftigkeit des Arbeiters da. Aber jetzt bietet sich ihr ja die Gelegenheit, diesen falschen Eindruck zu korrigieren. Die Arbeitsministerin verspricht: „Wir verschärfen die Sanktionen bis an die Grenze dessen, was verfassungsrechtlich zulässig ist“ (Bas, 9.10.25) – und das, ohne dabei die Anständigen innerhalb des Prekariats zu vergessen, denn „das [ist] auch eine Frage der Gerechtigkeit aus Sicht derjenigen, die mitwirken und alles auch korrekt machen“ (Dies., 30.9.25).
Die Rente: kaputt, aber immerhin aktiv
Wenn der wissenschaftliche Sachverstand und andere konstruktive Geister sich dem vom Kanzler ausgerufenen „Herbst der Reformen“ stellen und von da aus auf den Zustand des deutschen Sozialversicherungswesens blicken, dann können sie mit arithmetischen Einsichten der folgenden Art aufwarten:
„‚Die Erwerbstätigen finanzieren die Leistungen für die Älteren, speziell bei Rente, aber auch bei Kranken- und Pflegeversicherung.‘ Es gebe immer mehr ältere Menschen, die weniger oder nichts einzahlten, aber mehr Leistungen in Anspruch nähmen. ‚Das ist, als wollte man mit Verbrennungsmotoren den Klimawandel bewältigen: Umlage und demografische Alterung passen einfach nicht zusammen.‘“ (Wirtschaftsweiser Martin Werding, zit. n. Tagesschau, 3.9.25)
Von der fossilen Metapher kann man halten, was man will; das vorstellig gemachte Problem ist so klar wie unwidersprechlich. Wenn es mehr Alte gibt, die Gesellschaft insgesamt älter wird, dann ist das für die rüstige Generation und für uns alle nicht einfach nur schön, sondern dann gibt es auch mehr Leute, die nicht mehr arbeiten – also auch nichts mehr haben und deshalb zu einer Belastung werden. Das ist selbstverständlich. Denn wo das ganze Leben nicht einfach eine Frage materieller Mittel und damit der produktiven Leistungsfähigkeit einer modernen Gesellschaft ist, die sich gerne mit dem Fortschritt gerade auch in Sachen Lebenserwartung brüstet, sondern einzig eine Frage des privat verdienten Geldes, da ist es eben keineswegs ein vorbehaltloses Glück, wenn das Leben wesentlich über das Arbeitsleben hinausgeht. Denn da muss die Mehrheit der Leute sich ihr Geld durch eigene Arbeit in Diensten eines entsprechend beschäftigungsbereiten Arbeitgebers verdienen, der sich zu dieser sozialen Tat bereiterklärt, weil, insofern und solange die Anwendung fremder Arbeit seinen ökonomischen Nutzen zu mehren verspricht. Und da überlebt dann nicht selten der lohnabhängige Mensch seine eigene Einkommensquelle, die mit seinem altersbedingten Ausscheiden aus der Erwerbsarbeit erlischt, bevor bei ihm selbst final die Lichter ausgehen.
Wo es, wie bei uns, deswegen ein gigantisches Kompensationsunternehmen namens Altersrente gibt, welches die eherne Regel der Erwerbsgesellschaft, dass nur Arbeit zum materiellen Überleben berechtigt, gerade dadurch bestätigt, dass es sich mit deren Konsequenzen herumschlägt und eine punktuelle Korrektur an diesem Fundamentalismus anbringt, indem es all den nutzlosen, damit auch ziemlich unvermögenden Gestalten trotzdem ein Weiterleben organisiert, da will und muss ebendiese menschenfreundliche Sozialleistung auch irgendwie finanziert sein.
In der modernen Fortschrittsgesellschaft kommt dafür – zunächst – das Anzapfen einer ganz bestimmten Einkommensquelle in Betracht, nämlich genau der, die ihren Inhabern im Alter so zuverlässig den Dienst versagt und die auch in den Zeiten ihres Funktionierens für sie in aller Regel nie so ertragreich gesprudelt ist, dass sie die Bildung ausreichender Rücklagen für die Zeit nach dem Arbeitsleben gestattet hätte. Das liegt wiederum daran, dass sie ja überhaupt nur existiert, weil, insofern und solange sie ihren Einrichtern von der Arbeitgeberfraktion ökonomische Erträge garantiert, die es ihrerseits an sich haben, umso lohnender auszufallen, je niedriger die Kosten für die dafür zu bezahlende Arbeit sind. Weil das so und nicht anders sein soll, zwackt die politische Hoheit in Gestalt der gesetzlichen Rentenversicherung den aktiv Beschäftigten für die komplette Dauer ihres aktiven Erwerbsbürgerlebens maßgebliche Teile ihres verdienten Geldes ab, bevor die es überhaupt in die Finger kriegen, um damit ihre Rentenkasse zu finanzieren. Was Freunde der Harmonie inmitten der Klassengesellschaft als „Generationenvertrag“ kennen und würdigen, macht der Wirtschaftsweise ganz sachlich-nüchtern mit dem Schlagwort ‚Umlage‘ vorstellig, die doch leider zur heutigen Demografie nicht mehr passt. Damit ist für ihn schon alles über das Überalterungsproblem gesagt. Damit macht er sich nur deshalb nicht lächerlich, weil der staatliche Sachzwang, der dieses Problem erzeugt, so alternativlos gültig ist: Die Hoheit über das kapitalistische Gemeinwesen besteht eben darauf, dass die gesellschaftliche Gesamtsumme der durch Erwerbsarbeit verdienten Löhne gefälligst leisten muss, was dieser Lohn erklärtermaßen in keinem Einzelfall leistet, nämlich auch über das Erwerbsende hinaus das Leben zu finanzieren. Durch die Kollektivierung dieser Unzulänglichkeit mittels eines gigantischen Umverteilungsverfahrens, welches keineswegs ‚die Generationen‘ untereinander ausgemacht haben, sondern mit dem der Sozialstaat alle Generationen als Einzahler und Leistungsempfänger auf sich bezieht und sie damit untereinander in den Gegensatz stellt, den er ihnen verordnet, soll dieses Kunststück gelingen. [3]
Dass es das immer weniger tut, kann der Einrichter dieser Verhältnisse an dem seit Jahrzehnten alljährlich anwachsenden Zuschuss an Haushaltsmitteln ablesen, den er seiner gesetzlichen Rentenversicherung als zweite Finanzierungsquelle neben dem Umlageverfahren spendieren muss, damit die überhaupt weiterwirtschaften kann. Diese notorisch zu stopfende Finanzierungslücke behandelt die Hoheit sachgemäß nicht als den Offenbarungseid über den Widerspruch des Erwerbsmittels, das sie dem Großteil ihres fleißigen Volkes verordnet, sondern als ein Problem, welches einer Lösung durch immer neue, auch mal „tiefgreifende“ Reformen bedarf. In jedem Fall bleibt es dabei, dass die erwerbsabhängigen Generationen jüngeren Alters die Seite am Widerspruch des Lohns auszuhalten haben, dass dieser zwar durch allerhand staatliche Abzüge kräftig beansprucht wird, aber dabei keineswegs zu teuer werden darf für diejenigen, die ihn bezahlen und die durch steigende „Lohnnebenkosten“ von ihrer sozialen Tat der Schaffung von Arbeitsplätzen abgeschreckt würden. Und dieselben erwerbsabhängigen Gestalten älteren Semesters haben auszubaden, dass die für ihren Lebensabend abgezwackten Teile der notorisch beschränkten Löhne bloß nicht zu groß ausfallen dürfen, damit diese für die Jüngeren überhaupt noch als Lebensmittel reichen. Auch mit Rente bleiben die Lebensnotwendigkeiten des Alters eben eine Kost, die der Lohn weder hergibt noch verkraftet.
*
Der politische Entschluss der Merz-Regierung, mit dem immer weiter angewachsenen Zuschussposten nicht einfach so wie bisher weiterwirtschaften zu wollen, sondern ihn zum Anlass für grundlegende Reformen zu erklären, sorgt für ein paar muntere Rezeptvorschläge, wie dem Problem nachhaltig beizukommen wäre.
Während der christdemokratische Nachwuchs – ganz kreativ – für eine weitere Absenkung des allgemeinen Rentenniveaus plädiert, hält die Regierung an der koalitionsvertraglich festgeschriebenen Haltelinie im Verhältnis zu den Jahresdurchschnittserträgen aus Erwerbsarbeit – im Alter braucht der Durchschnittsmensch bekanntlich knapp die Hälfte des gewohnten Durchschnittsverdienstes – einstweilen noch fest. [4]
Umso mehr kommt daher die Frage der Lebensarbeitszeit in die Diskussion. Der zitierte Wirtschaftsweise plädiert für den altbekannten Lösungsansatz, die Unmöglichkeit der Finanzierung ausreichender Renten aus dem Lohn schlicht dadurch zu beheben, dass diese erst später, also kürzer und für einige womöglich nie ausbezahlt werden müssen. Aber auch das wird von der Regierung ausgeschlossen: Zur weiteren Erhöhung des Renteneintrittsalters hat sie sich bislang jedenfalls auch nicht durchringen wollen.
Mit ihrer Einigung auf ein neues Gesetz konnte sie aber immerhin schon jetzt klarstellen, dass die für nötig befundene Neuaufstellung des Rentensystems durchaus in Richtung längeres Arbeiten weisen soll: Rüstigen Rentnern, die für sich selbst jedenfalls nicht meinen, mit den Anwartschaften, die sie sich erworben haben, gescheit über die Runden zu kommen, bietet die Regierung ab Januar 2026 eine Entlastung in Form eines steuerpolitischen Anreizes zum freiwilligen Weiterarbeiten an, indem sie die entsprechenden Freibeträge anhebt, sodass die die Lohnarbeiterkarriere prägende Dauerabwägung zwischen Geld und freier Zeit auch mit dem Renteneintritt nicht aufhören muss. [5] Diese nachdrückliche Ermunterung nennt die Regierung Aktivrente, auch wenn die weder an den Einzahlungen in noch an den Auszahlungen aus der Rentenkasse irgendetwas ändert und auch sonst mit so etwas wie einer Rente eigentlich nichts zu tun hat. Dass diese Maßnahme allein die „Strukturprobleme“ der Rente nicht zu lösen vermag, ist den Politikern schon klar. Dafür passt sie schön zu dem neuen Geist, mit dem die Regierung die Abteilung Arbeit und Soziales insgesamt in den Blick nimmt: Den altersbedingten Kostgängern des Sozialstaates wird eine Perspektive aufgezeigt, wie sie durch fleißiges Engagement etwas für sich selbst tun können – und irgendwie tun sie damit ja auch etwas für die Allgemeinheit, entlasten nämlich den Sozialstaat, dessen Rente dann weniger das zu leisten braucht, was sie schon jetzt nicht leistet.
Das Ende des 8-Stunden-Tages: mehr Work statt Life-Balance
Nein, einfach abgeschafft wird die altehrwürdige Errungenschaft der deutschen sozialen Marktwirtschaft erstmal nicht. Aber die hoheitliche Fundamentalkritik, gehörig aus der Zeit gefallen zu sein, muss sie sich schon gefallen lassen:
„Wir müssen in diesem Land wieder mehr und vor allem effizienter arbeiten. Mit 4-Tage-Woche und Work-Life-Balance werden wir den Wohlstand unseres Landes nicht erhalten können.“ (Merz auf dem CDU-Wirtschaftstag, 13.5.25)
In diese Richtung ist die programmatische Feststellung des Bundeskanzlers über die falschen sozialen Standards, die unser Wohlstand nicht mehr hergibt, eben auch gemeint: Letzterer gebietet nicht nur, dass am Sozialen gespart, sondern auch, dass wieder mehr für ihn malocht werden muss. In diesem Sinne plant die Regierung eine Revision des Arbeitszeitgesetzes. Anstelle des 8-Stunden-Normalarbeitstages soll es bald eine wöchentliche Höchstarbeitszeit von 48 Stunden als Richtlinie geben, unter der auch deutlich längere Arbeitstage möglich sind. Unternehmen sollen die Wochenarbeit künftig bedarfsgerechter verteilen können und dabei nicht an allzu starre Grenzen stoßen, die sie bislang an der freien Verteilung der Arbeitszeit gehindert haben. Und selbstverständlich verzichten die Vertreter von mehr Flexibilität nicht auf den Hinweis, dass die Entschränkung ja auch im Sinne der nun schrankenloser anwendbaren Leute ist, die ja schließlich ebenfalls durchaus ein Interesse daran haben könnten, ihre Arbeit länger am Stück abzureißen, anstatt sich durch lauter gesetzliche Bevormundung in ein „starres Acht-Stunden-Korsett quetschen“ (CDU-Politikerin Carstensen, zit. n. bundestag.de) zu lassen, das sie daran hindert, anschließend mehr Zeit am Stück für die Erledigung ihrer sonstigen Alltagsaufgaben zu haben.
Als würde die Kanzlerpartei dieser Win-Win-Ideologie, die immer dann bemüht wird, wenn der Staat seine gesetzlichen Schutzregelungen selbstkritisch als Wachstumshindernisse in den Blick nimmt, selber nicht ganz über den Weg trauen, belässt sie es nicht bei diesem Argument. Darunter, dass sich auch das Volk ein wenig Kritik an seiner Einstellung zur Arbeit anhören muss, will sie diese Reform nicht auf den Weg bringen:
„Work-Life-Balance ist nichts Verwerfliches. Aber man hat manchmal den Eindruck, dass es nicht mehr um Work-Life-Balance geht, sondern um Life-Life-Balance.“ (Carsten Linnemann im rnd-Interview, 25.5.25) „Wir alle müssen aufpassen, dass wir vor lauter Work-Life-Balance nicht die Arbeit aus dem Blick verlieren.“ (Thorsten Frei im Bild-Interview, 18.5.25)
Moderne Buzzwords sind schön und gut, den Blick auf das Wesentliche dürfen sie aber nicht verstellen: Arbeit – das hat schließlich die Hauptsache im Leben zu sein, um die herum der Rest sich sortiert. Und der Kanzler selbst will den angeblichen Gegensatz zwischen Work und Life ohnehin nicht gelten lassen:
„Arbeit ist doch keine unangenehme Unterbrechung unserer Freizeit!“ (Merz, zit. n. SZ, 1.5.25) „Arbeit ist ein Teil unserer Lebenserfüllung, Arbeit ist ein Teil unserer Lebensgrundlagen. Damit verdienen wir den Lebensunterhalt und den Wohlstand unserer Familien. Wir müssen wieder eine andere Beziehung zur Arbeit haben. Es kann doch auch Spaß machen!“ (Ders. auf X, 5.2.25)
Um klarzustellen, dass der Mensch – jedenfalls die übergroße Mehrheit der Exemplare dieses Gattungswesens, die einer abhängigen Erwerbsarbeit nachgeht – durchaus lebt und leben soll, um zu arbeiten, erinnert Merz ihn daran, dass er doch arbeitet, um zu leben, sich durch die Arbeit nämlich den Lebensunterhalt für sich und seine Familie verdient. Dass darin allemal die fundamentale Abhängigkeit von berechnenden Subjekten unterstellt ist, die zuallererst dafür sorgen, dass diese Arbeit ihren Bereicherungsinteressen dient, und die überhaupt nur aus diesem Grund die Möglichkeit zum Verdienst eines Lebensunterhalts stiften, dass die Menschen also überhaupt nicht von sich aus und für sich selbst und ihre Liebsten produktiv tätig werden können, spielt für Merz an dieser Stelle keine Rolle, weil solche Unterschiede allesamt im großen „Wir“ eingeebnet sind. So kann er die kapitalistische Wirklichkeit des Systems der Lohnarbeit ganz in das Binnenverhältnis der inneren Einstellung des Menschen zu seiner Arbeit auflösen und die Arbeit und ihr subjektives „Um-Zu“ hin- und herwenden, bis beides nicht mehr unterscheidbar ist.
Und wem die Rede vom „Spaß“ nicht zu blöde ist, der kann sich darin vom Kanzler die Bestätigung abholen, dass er mit ein bisschen reaktionär-launiger Überhöhung des stinknormalen proletarischen Realismus, dass Arbeit eben sein muss, weil man von ihr lebt, und dass man immerhin zu den Anständigen gehört, wenn man sich daran ordentlich bewährt, ganz richtig liegt – und kann darum seinen Kanzler gut finden, wenn der über die Auswüchse des Freizeitwahns den Kopf schüttelt.
*
Und die professionelle Interessenvertretung des stolzen Arbeitnehmerstandes? Die versteht in dieser Angelegenheit keinen Spaß, besteht jedenfalls energisch darauf, dass ihre Klientel die üble Nachrede der Kanzlerpartei nicht verdient hat. Die Ehre der Arbeitnehmerschaft verteidigt sie ganz entschieden:
„Schluss mit dem Gequatsche, dass die Menschen blaumachen, faul sind, dass sie einfach mehr arbeiten müssten. Und deshalb sagen wir auch ganz klar: Wir wollen Acht-Stunden-Tag statt Hamsterrad. Und deswegen: Hände weg vom Arbeitszeitgesetz.“ (Fahimi, Rede am 1. Mai 2025)
Die Lockerung des Arbeitszeitgesetzes sei nicht nur ein Angriff auf die „Errungenschaften, die wir hart erkämpft haben“ (ebd.), und damit eine Beleidigung der Gewerkschaften wie ihrer Klientel. Diese Maßnahme sei außerdem kein zweckmäßiges Vorgehen, um zu mehr „Wachstum und Wohlstand“, für den die „Beschäftigten mit ihren Leistungen sorgen“ (ebd.), zu kommen. Um dies klarzustellen, redet Frau Fahimi dann noch ein wenig anders über das schützenswerte Schutzgesetz, verweist nämlich darauf, was mit dem bisherigen Gesetz bereits alles an Überarbeit möglich ist und längst stattfindet:
„Schon jetzt ist es nach diesem Gesetz möglich, dass man bis zu 60 Stunden in der Woche arbeiten muss.“ (Ebd.) „Vollzeitbeschäftigte in Deutschland liegen mit mehr als 40 Stunden pro Woche im EU-Durchschnitt. Zuletzt haben die Deutschen 1,2 Milliarden Überstunden gemacht, davon mehr als die Hälfte unbezahlt... Die Daten aus dem DGB-Index Gute Arbeit zeigen, dass ein Drittel der weiblichen Teilzeitkräfte unfreiwillig in Teilzeit ist, etwa weil es keine ausreichende Kinderbetreuung oder Pflegeversorgung gibt. Und für viele Frauen lohnt es sich auch kaum, mehr zu arbeiten, weil nach Abzug der Steuern gar nicht viel mehr netto bleibt, hauptsächlich wegen des Ehegattensplittings.“ (Fahimi in der FAS, 27.4.25)
Als oberste Anwältin guter Arbeit weiß Fahimi, dass für den Wohlstand der Nationen und ihren Wettstreit gegeneinander möglichst viel gearbeitet werden muss; in akkumulierten Arbeitsstunden hat der nämlich überhaupt sein Maß. Und erst recht in solchen, die gar nicht bezahlt werden und die von Fahimis Deutschen auch massenhaft zu haben sind. In diesem Sinne gibt sie der Politik zu bedenken, dass aus den weiblichen Teilen der von ihr vertretenen Arbeiterschaft noch ganz viele national lohnende Arbeitsstunden herauszuholen wären, wenn denn die Rahmenbedingungen stimmen würden und nicht so viel Lebenszeit von Frauen in die Erfüllung familiärer Pflichten investiert werden müsste, die sich für den Kapitalstandort gar nicht rechnet. Dafür müsste die regierende Politik sich endlich von ihrem konservativen Familienbild verabschieden und die freie Entscheidung zu mehr Arbeit auch steuerpolitisch würdigen. Der Ausweitung guter Arbeit steht vonseiten des DGB insoweit jedenfalls nichts im Wege.
[1] Im Einzelnen:
Schonvermögen: Die Höhe des Schonvermögens soll künftig, nach Alter gestaffelt, 5 000 € bis 20 000 € betragen und fällt damit für die meisten geringer aus als bisher; die Karenzzeit (40 000 € Schonvermögen im ersten Jahr) wird ersatzlos gestrichen.
Unterkunft: Die Regelungen innerhalb der einjährigen Karenzzeit, in der bisher die vollen Mietkosten übernommen wurden, damit der Bezieher nicht sofort aus seiner Wohnung fliegt, werden deutlich verschärft: Künftig werden die Kosten im ersten Bezugsjahr nur bis zum Anderthalbfachen der örtlich festgelegten „Angemessenheitsgrenze“ übernommen, die ab dem zweiten Jahr ohnehin gilt und die Zuschüsse deckelt. Die Höhe der Miete darf außerdem nicht gegen die örtlich festgelegte Mietpreisbremse verstoßen; die Grundsicherungsbezieher werden ansonsten dazu verpflichtet, den Vermieter zu rügen und eine Mietsenkung zu verlangen.
Sanktionen: Wenn Leistungsempfänger unentschuldigt zwei aufeinanderfolgende Termine im Jobcenter verpassen, wird der Regelsatz zunächst um 30 % gekürzt; beim dritten Verstoß wird der Regelsatz vollständig gestrichen. Meldet sich der Empfänger dann nicht innerhalb eines Monats beim Jobcenter, entfallen auch die Zahlungen für die Miete. Sofern der ‚Kunde‘ Jobangebote ablehnt, kann künftig von Beginn an der gesamte Bezug gekürzt werden (was bislang nur möglich war, wenn bereits zuvor Sanktionen verhängt und dennoch weiterhin Angebote abgelehnt wurden).
[2] Inhalt und Geist der letzten großen Sozialreform behandelt der Artikel „Das Bürgergeld. Eine ‚Jahrhundertreform‘ für den staatlich betreuten Pauperismus, erschienen in GegenStandpunkt 2-23.
[3] Darüber hinaus beansprucht der deutsche Staat die von seiner Rentenkasse angeeigneten Lohnanteile noch für die Finanzierung von allerlei materiellen Rechtsansprüchen, denen keine entsprechenden Einzahlungen vorausgegangen sind: vom derzeitigen Herzensprojekt der Union, Deutschlands Müttern für ihren Beitrag zur Verjüngung des Volks zu danken, bis hin zur Abwicklung der finanziellen Nebenkosten der vergangenen politischen Großtat der Einverleibung der DDR, die den Sozialversicherungen als „DDR-Rentenaltlasten“ bekannt sind.
[4] Eine andere Idee, nämlich der Vorschlag von Ministerin Bas, die Finanzlücke der gesetzlichen Rentenversicherung durch die Einbeziehung zusätzlicher Einzahler aus dem pensionsverwöhnten Beamtenstand zu stopfen, ist mit dem Verweis, dass man damit ja auch neue Anspruchsberechtigte schafft, die in ein paar Jahrzehnten dann ihrerseits die Rentenkassen belasten, vom christdemokratischen Koalitionspartner schnell abgeräumt worden. Diese Idee war schon wieder in der Versenkung verschwunden, bis der SPD-Nachwuchs sie als Reaktion auf den Vorstoß der ‚Jungen Gruppe‘ von Abweichlern wieder ins Spiel gebracht hat. Die jungsozialistische Lösung innerhalb der bestehenden Verhältnisse liegt in der Ausweitung der staatlich orchestrierten Zwangssolidarität. Um niemanden aus dieser progressiven Volkssolidarität zu entlassen, müssten freilich Besitzstände wie die Beamtenpension oder die Beitragsbemessungsgrenze geschleift werden, was für die wirklichen politischen Sachwalter auf keinen Fall infrage kommt.
[5] Die Details: Während Rentner wie bislang ihre Renteneinkünfte versteuern müssen, sofern diese über den Grundfreibetrag von aktuell 12 000 Euro pro Jahr hinausgehen, werden Einkünfte aus daneben stattfindender nichtselbstständiger Arbeit künftig erst oberhalb von 24 000 Euro Jahreseinkommen versteuert. Zudem ist dieser neue Freibetrag vom Progressionsvorbehalt ausgenommen, sodass ein steigendes Gesamteinkommen nicht automatisch dazu führt, dass der Steuersatz auf die zu versteuernden Anteile der Rente oder des Arbeitseinkommens ansteigt. Die Steuerbefreiung befreit den Arbeitnehmer im Rentner allerdings nicht davon, dass Sozialabgaben wie Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge auf sein dazuverdientes Einkommen erhoben werden.