„Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“? – Von wegen!

Kurzer Abriss der zerrütteten ökonomischen und politischen Lage in der zerfallenen SU 1992. Ebenso kurze Analyse der GUS: nicht Gemeinschaft, sondern ein „Staatenbund“ separatistischer, sich ausschließender Interessen; nicht unabhängig, sondern ein allseitig umstrittener Anspruch auf souveräne Macht; nicht Staaten, sondern, weil Aneignung von Teilen der alten SU, Zerstörung der ökonomischen Grundlagen und der Basis der Volkszustimmung, damit des Gewaltmonopols auch nach innen.

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„Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“? – Von wegen!

Ausführlich berichtet und kundig kommentiert wird alles, was sich auf dem nachsozialistischen Boden der alten Sowjetunion ereignet. Das lebhafte Interesse an der Entwicklung der Marktwirtschaft und an der Entfaltung demokratischer Ansätze stößt da auf manches, was Unverständnis hervorruft. Den Staatsnachfolgern des erledigten Hauptfeinds, die ihr Staatsleben nach westlichem Muster einrichten wollen, werden Probleme nachgesagt, die aus der Erblast ihrer Vergangenheit rühren. Die Einteilung in „schon“ oder „noch nicht“ – „marktwirtschaftlich“ und „demokratisch“ – hilft alle Ereignisse säuberlich zu sortieren.

Jelzin trifft Vorsorge für den kommenden Winter. Der Staat will den Kolchosen einen festen Teil der Ernte abnehmen – zu 10.000 Rubel pro Tonne Getreide –, die andere Hälfte sollen sie auf dem freien Markt verkaufen dürfen. Die Angesprochenen verweigern die staatliche Abgabe, und die russische Öffentlichkeit weiß Bescheid, daß der nächste Hungerwinter so garantiert kommt. Weder deckt der staatliche Einkaufspreis die Gestehungskosten, die jetzt die Kolchosen alleine tragen müssen, noch gibt es Transportgelegenheiten, zentrale Lagerstellen und Mühlen außerhalb der staatlichen Verwaltung. – Ist das ein Rückfall in die verfehlte Planung vergangener Zeiten oder der Beginn einer freien Bauernschaft, die munter konkurriert, statt mittellos und ohne Eigentumsinteresse vor sich hin zu pflügen?

Eine – gut erfundene – Annonce aus der Armeezeitung Krasnaja Zvezda: „Offizier russischer Herkunft, stationiert im Baltikum, mit ständigem Wohnsitz in Weißrußland, der Verwandte in Kasachstan hat, ist bereit, einen Loyalitätseid zu Ihren Bedingungen zu leisten“. – Kommt so die Aufteilung der Roten Armee in fünfzehn neue Nationaltruppen voran?

Die Republik Georgien und die Teilrepublik Abchasien zetteln den 35. Bürgerkrieg auf dem Boden der alten SU an. – Ein weiteres Beispiel für „nationalistische Umtriebe“, die Humanisten zutiefst verabscheuen und verständlich finden: „Wer sich an der Macht halten will, kann sich dem nationalistischen Sog nicht entziehen.“ (FAZ 17.8.) Oder ein Beispiel dafür, daß Autonomie und Minderheitenschutz nicht zu trennen sind?

Unter der Regie der neuen Staaten sind beträchtliche Zuwachsraten zu verzeichnen: an kleineren wie größeren Ordnungsverstößen, an lokalen wie nationalen Gehorsamsverweigerungen und an einem Geschäftsleben, das sich von staatlicher Gängelung befreit, um sich zur Mafia zu organisieren. Korrespondierend dazu wächst der Ordnungswille gleich in mehrfacher Gestalt. Staatliche Milizen, freiwillige Verbände und Anhänger konkurrierender nationaler Politiker schreiten zur Tat gegen die Ordnungsfeinde. Manchmal handelt es sich auch um „nationalistische Banden“. – Ist das der dornige Weg zu einem Rechtsstaat, in dem alle Bürger gesichert ihren Alltäglichkeiten nachgehen können?

Rentnerinnen verkaufen ihre letzte Habe auf den Straßen. Die erlösten Rubel verschaffen ihnen keinen Zugang zu den freien Märkten, auf denen alles höchstbietend zu haben ist, was halblegal beschafft werden kann und was der Schmuggel hergibt. – Zwei Fälle von freier Privatinitiative, die sich nur noch nicht wechselseitig ergänzen und befruchten?

Der echte Wert des Rubel ist ein deutscher Pfennig. Davon trägt der noch beschäftigte Arbeiter monatlich 12 bis 13 Mark nach Hause. Etwas besser bezahlte Statistiker in Staatsdiensten haben ausgerechnet, daß dieser Betrag noch nicht einmal das Mindesteinkommen deckt. Wenn die Waggonladungen frisch gepreßter Rubel aus Moskau den Weg in ferne Provinzen nicht finden und die Lohnauszahlung entfällt, dann ist dem Arbeitsmann auch diese Sorge abgenommen. – Ist das ein „Lohnniveau“, um Investitionen anzuziehen, oder fehlende „Kaufkraft“?

Für ihre Lebensumstände wird den befreiten Völkern überall ein vollwertiger Ersatz geboten. Zwei Staatsnachfolger der Sowjetunion haben ihrer Nation einen Krieg um Berg-Karabach anzubieten, andere verschaffen ihrer Bevölkerung ein eigenes – türkisches – Alphabet, und noch andere machen ihren Bürgern die staatliche Auflage, möglichst viele kasachische Kinder in die Welt zu setzen. Umgekehrt wird der aserbeidschanische Präsident wegen seiner Unfähigkeit, Armenien drei Dörfer kriegerisch abzujagen, aus dem Amt verjagt. – Ist das nun die politische „Instabilität“, an der die alten Apparatschiks schuld sind, weil sie noch immer die „Reformkräfte“ nicht ungehindert walten lassen?

Schewardnadse, einst zweiter Liebling des Westens nach Gorbatschow und jetzt Staatschef in Georgien, kommt sein Vize abhanden. Anhänger seines frei gewählten und dann gestürzten Vorgängers haben ihn gekidnappt. Um ihn zu befreien, besetzt die georgische Nationalgarde gleich das ganze Gebiet der abtrünnigen Abchasen. – Die Geburtswehen einer sauberen Scheidung von Regierung und Opposition?

Der oberste Reformer in Moskau erläßt einen Ukas nach dem anderen für die Probleme Rußlands, die einer so dringlichen Lösung bedürfen, daß dabei die Kompetenzen von Parlament und Regierung übergangen und ausgeschaltet werden müssen. – „Gehabe eines starken Mannes“ oder die Rettung der Gewaltenteilung vor einem nicht frei gewählten Parlament und vor unfähigen Ministern?

Rußland und die Ukraine machen sich die Schwarzmeerflotte streitig, die zu unseligen Zeiten der Mittelmeerflotte der USA Paroli geboten hat. Die Mannschaften werden auf neue Staaten und wechselnde Oberbefehlshaber vereidigt, die der alten Feindschaft entsagt haben und militärisch nur noch kleinere Brötchen backen wollen. – Ein Fall von „Rüstungskonversion“?

Eine russische Zeitung berichtet: „Zahlreiche hohe Offiziere haben sich am Zerfall der Sowjetunion bereichert, indem sie heimlich Armeebestände und Gelder veruntreuten und Mittel der Armee in Aktiengesellschaften investierten. Der stellvertretende Kommandant der GUS-Flotte hat Geld der Schwarzmeerflotte in die Aktiengesellschaft Navikom gesteckt, dessen Vorsitzender er ist… Über die militärische Börsenabteilung würden die illegalen Waffenverkäufe der Armee abgewickelt… Schaposchnikow hat zugegeben, 49 Kriegsschiffe über eine Aktiengesellschaft verkauft zu haben, die der Marschall gemeinsam mit Freunden eigens zu diesem Zweck gegründet hat.“(Komsomolskaja Pravda 2.4.) – Ist das alles mehr „Perestroika“, oder zeugen solche Berichte von mehr „Glasnost“ im Osten, wo Börsen und Aktiengesellschaften Aufschwung nehmen, die nicht mehr von der Partei zensierte Presse sich ungezügelt äußert und die Abrüstung hemmungslos vorankommt?

Wer parteilich danach fragt, ob die neuen Staaten es uns recht machen, bekommt eben nur dumme Antworten. Für alle, denen es zu blöd ist, verlogene öffentliche Hoffnungen und Befürchtungen zu teilen, hier die Auskunft, was sie ist, die „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten“.

Gemeinschaft

Die GUS ist überhaupt nicht zu verwechseln mit einem Bündnis, in dem sich die Interessen teilweise decken, so daß vorteilhafte Kooperation stattfindet. Vielmehr handelt es sich um haargenau die gleichen Interessen – von Regierungen. Und zwar an der Verfügung über die Hinterlassenschaft der SU. Diese besteht aus Land und Leuten, Produktivkräften und Waffen, verschiedenen Kassen mit Rubeln & Schulden drin, und manchem mehr, was Staaten als Quelle ihrer Macht benötigen und schätzen.

Die dem Verein namens GUS beigetretenen Vereine sind darauf aus, Teile dieser Erbmasse zum ausschließlichen Instrumentarium ihrer Herrschaft zuzurichten, wobei ihnen mehr eher zusagt als weniger. So wenig die da versammelten Regierungen etwas gegen den Nationalismus haben, der sich der Staatsgründung widmet – alle Beteiligten sind schließlich bekennende Separatisten im Verhältnis zur alten SU –, so gründlich sprechen sie sich deswegen die angemeldeten Rechte auf die Übernahme gewisser Portionen des sachlichen und lebenden Inventars ab. Sie liegen also wegen der ziemlich grundsätzlichen Frage der Ausstattung im Streit miteinander – und die offizielle Begründung für den Entschluß, man müsse sich zusammensetzen nach der vollzogenen Trennung, verrät eine Berechnung, die es in sich hat: Es gelte eine gewaltsame Abwicklung der Auseinandersetzungen zu vermeiden und deshalb die Teilungen aller Art durch Verhandlungen zu organisieren.

Das ist sie also, die Gemeinschaft der Erben, die eifersüchtig darüber wachen, daß sich der jeweils andere nicht über Gebühr bedient. Ihre Verhandlungen und Vereinbarungen drehen sich um den Zugriff auf elementare Machtmittel der neuen Herren, die damit den Verzicht der Partner auf substantielle Instrumente ihrer politischen Ambitionen durchsetzen wollen. Deshalb kommt manche Unterschrift gar nicht erst zustande, und an die höchst vorläufigen Übereinkünfte hält sich keiner.

Unabhängig

sind die Staaten der GUS ebensowenig wie alle anderen auf der Welt. Aber sie gefallen sich enorm in der einzigen Leistung, auf die sie in ihrer kurzen Geschichte zurückblicken können. Da haben sich nationale Führungsmannschaften zum politischen Herren über ein Gebiet und ein Volk ausgerufen und – auch ein Beleg für den zweifelhaften Sinn der Rede von der „Unabhängigkeit“ – sich von anderen als solche anerkennen lassen. Seitdem zählt in der Staatenwelt ihr Anspruch darauf, daß ein Gewaltmonopol über einen Teil des Erdballs respektive der ehemaligen SU ausgeübt wird. Wohlklingende Namen mit Abkürzungen sowie Staatssysmbole sind vorhanden.

Der Genuß dieser Unabhängigkeit – mehr als dieser dürftige Gehalt kommt dem großen und bei Politikern so verehrten Wort nicht zu – ist kein übermäßiger. Die frisch inaugurierten Führer verzeichnen erhebliche Probleme, was die Bestimmung des Objekts ihres Regierens betrifft. Einerseits ist die Umschreibung des Gebiets, auf das sich ihre Herrschaft erstreckt, noch gar nicht fertig – die Grenzen sind in vielen Fällen nicht ordentlich abgesteckt. Auf einige Stücke Land bestehen verschiedene der neuen Souveräne – und wo Recht wider Recht steht, entscheidet bekanntlich immer ein bißchen die Gewalt, und nicht die sattsam bekannten Eigentums- und Heimattitel aus der „Geschichte“. Andererseits ist die Zugehörigkeit der Völker zu den schon auf der Weltbühne agierenden Repräsentanten der Nationen noch ungeklärt. Wie man hört, wird um die diesbezüglichen Rechte vielerorts entschieden gekämpft. Krieg wird geführt sowohl um die Einordnung in eine andere Republik als die, die man gerade bevölkert – als auch um die Entfernung von Völkern aus dem Gebiet, das als exklusive Heimat betrachtet wird.

So ist die von den GUS-Mitgliedern selbst und frei gewählte Bezeichnung „unabhängig“ ein grandioser Etikettenschwindel. In ihren Staatsnamen nehmen sie die Ausübung eines Gewaltmonopols vorweg, dessen Realität erst noch praktisch erstritten wird. Die schlichte Existenz einer geregelten staatlichen Herrschaft über ein fest umschriebenes Gebiet plus Volk ist keine Wirklichkeit, sondern der Wunsch der neuen Herren. Freilich einer, der nicht nur in ihrer Vorstellung existiert.

Denn sie haben mit den höchst ungemütlichen Anstrengungen, es zu einer Souveränität zu bringen, die den Namen verdient, kein abstraktes Ziel. Die „Unabhängigkeit“ ist auch bei despotischen Gemütern, die begriffen haben, daß echte Handlungsfreiheit bei Staatsführern „Demokratie“ heißt, Mittel, um Staat zu machen.

Aber daran, daß diese

Staaten

das ihnen unterstellte Volk und das von der SU ererbte Material benützen, zweifeln die Herrschaften mit den verwegenen Namen wohl selbst. Der Gebrauch ihrer Macht, den sie fast alle als obrigkeitliche Betreuung einer „Marktwirtschaft“ im Programm haben, findet nicht statt.

Erstens schon deswegen, weil es an der fertigen „Unabhängigkeit“ hapert und das mehr oder minder gewaltsame Ein- und Aussortieren des staatlichen Inventars, welches die Händel der „Gemeinschaft“ begleitet, nicht die nötige Ruhe und Ordnung einkehren läßt. In solchen Zeiten der Wirren unterbleiben einfach die nötigen Dienste an einer wie immer gearteten Wirtschaft.

Zweitens, weil die vorläufig endgültigen Staatsgründungen bei der Aneignung von Teilen der alten SU deren Reichtümer und Produktivkräfte eben geteilt haben. Mit der territorialen Trennung des Erbes und der Einführung der herrlichen Unterscheidung von „unserem“ und „eurem“ – Produkt, Produktionsmittel, Geld, Land, Korn… – ist ihnen ein entscheidender Schlag gelungen. Sie haben die Brauchbarkeit von Land und Leuten zerstört, die in der alten Arbeitsteilung, im Zusammenhang der regionalen Gewerbe, ihrer Ergänzung untereinander lag. (Vgl. GegenStandpunkt 2-92, S.61!) So hat die mehrfache Staatsgründung die Regierungen erst einmal außerstande gesetzt, das zu tun, was eines Staates Amt ist: Sie sind nicht in der Lage, den Dienst des Volkes am nationalen Reichtum zu organisieren.

Drittens läßt dieses unabhängigkeitsbeflissene Zerstörungswerk das interne republikanische Leben leicht aus den Fugen geraten. Weil die Separatisten ihre bemerkte Abhängigkeit in materiell- wirtschaftlicher Hinsicht höchstens in der „Gemeinschaft“ zu Gehör bringen – also je nach Stärke bitten und erpressen –, nicht aber zum Anlaß nehmen, etwas rückgängig zu machen, kriegen sie in ihrem eigenen Laden die Quittung. Das verehrte und unabhängige Volk, dem der schöne Markt versagt bleibt, verwandelt mit seinen berüchtigten Überlebenskünsten die ganze alte „Wirtschaft“ in einen gigantischen Schwarzmarkt, pfeift auf Gesetz und Ordnung und beweist täglich, daß das Gewaltmonopol der Befreier auch nach innen wenig taugt. Ob ein Regierungsapparat, der das Verschwinden „innerer Sicherheit“ herbeiregiert, zurecht „Staat“ heißt, können sie bei deutschen Innenministern erkunden.

Viertens treten die frischgebackenen Führer in außenpolitische Beziehungen ein, die beweisen, daß es ihren Reichen an einigem gebricht, was Staaten so attraktiv macht für ihre Verweser. Gestützt auf den abstrakten Akt der Anerkennung und einen Rest von Respekt vor unverschrotteten Waffen, legen sie den Offenbarungseid ab. Der besteht in dem Eingeständnis, daß ihre Wirtschaftslage mit nichts Interessantem für die Macher des Weltmarkts aufwarten kann – aber sie ein heftiges Interesse an „Hilfe“ haben.

Fünftens treten die GUS-Potentaten mit der Demonstration auf die Weltbühne, daß zwei Posten aus der Erbmasse der SU noch halbwegs funktionieren, wenn schon die rote Armee im Eimer ist. Sie organisieren Weltraumfahrten für Westtouristen und sind eine Sportnation.

PS.

Die unsoliden Verhältnisse und die jeder Staatsvernunft und jeder Sorte ‚Sachzwängen‘ der Wirtschaft hohnsprechenden Zustände haben einen wohlbekannten Grund. Was im Osten herbeiregiert wird, verdankt sich den ‚Reformanstrengungen‘ der neuen Politikergarde, die den Erfolg des Kapitalismus und der ihn verbürgenden Staatsgewalt imitieren und zur neuen Staatssache machen wollen. Kapitalistische Staaten aber benutzen ihre vorhandene ökonomische Basis gleichen Namens, um den nationalen Reichtum und die Reichweite ihrer Gewaltansprüche zu mehren. Die GUS-Staaten sind umgekehrt damit befaßt, sich um jeden Preis voneinander zu trennen, und sind dafür eine „Gemeinschaft“ eingegangen. Deswegen kommt dort außer der gründlichen Zerstörung der dabei störenden sozialistischen Lebens-, Arbeits- und Herrschaftsverhältnisse nichts Neues zustande.