Günther Grass schreibt ein Israel-Gedicht
Lyrisches Leiden an einem Stück deutscher Staatsideologie
Der Autor, der schon viel für Deutschland gedichtet hat, sagt, was seiner Auffassung nach „gesagt werden muss“. In einem kurzen, von ihm selbst als Gedicht bezeichneten Text lässt Grass die Leser mehrerer großer europäischer Zeitungen, die dem Nobelpreisträger bereitwillig Raum geben, teilhaben an der künstlerisch-staatsbürgerlichen Drangsal eines prominenten Nicht-Länger-Schweigen-Könnens zu einem drohenden israelischen Angriff auf den Iran: Er beklagt das unkontrollierte „nukleare Potential“ des Staates Israel und befürchtet die „Auslöschung“ des von einem „Maulhelden“ „unterjochten iranischen Volkes“ durch einen „Erstschlag“ Jerusalems, geißelt deutsche U-Boot-Lieferungen an Israel und die „Heuchelei des Westens“ gegenüber der Gefährdung des ohnehin „brüchigen Weltfriedens“ durch „das Land Israel“, dem der Dichter „verbunden“ ist und „bleiben will“. Genau genommen beklagt er aber weniger die Realität der kriegsträchtigen Lage, sondern die Drangsale seiner literarischen Seele, die Schmerzen seines lyrischen Ich.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Günther Grass schreibt ein
Israel-Gedicht
Lyrisches Leiden an einem Stück
deutscher Staatsideologie
Der Autor, der schon viel für Deutschland gedichtet hat,
sagt, was seiner Auffassung nach gesagt werden
muss
. In einem kurzen, von ihm selbst als Gedicht
bezeichneten Text lässt Grass die Leser mehrerer großer
europäischer Zeitungen, die dem Nobelpreisträger
bereitwillig Raum geben, teilhaben an der
künstlerisch-staatsbürgerlichen Drangsal eines
prominenten Nicht-Länger-Schweigen-Könnens zu einem
drohenden israelischen Angriff auf den Iran: Er beklagt
das unkontrollierte nukleare Potential
des Staates
Israel und befürchtet die Auslöschung
des von
einem Maulhelden
unterjochten iranischen
Volkes
durch einen Erstschlag
Jerusalems,
geißelt deutsche U-Boot-Lieferungen an Israel und die
Heuchelei des Westens
gegenüber der Gefährdung des
ohnehin brüchigen Weltfriedens
durch das Land
Israel
, dem der Dichter verbunden
ist und
bleiben will
. Genau genommen beklagt er aber
weniger die Realität der kriegsträchtigen Lage, sondern
die Drangsale seiner literarischen Seele, die Schmerzen
seines lyrischen Ich: Warum schweige ich, verschweige
zu lange ..., ... warum untersage ich mir, ... warum
schwieg ich bislang?..., ... warum sage ich jetzt erst
...
Mit dem Mittel eindringlicher Wiederholung
bespiegelt er die Zerrissenheit seines Innersten – und
erfüllt damit getreulich seinen Beruf als deutscher
Dichter, der in der Auseinandersetzung mit sich
in seinem Werk künstlerisch auch die Seelenlage seiner
Nation reflektieren will. So begründet er, dass seine
Wahrheit erst jetzt, mit letzter Tinte
aus ihm
heraus drängt, mit seiner deutschen Nationalität, die
von nie zu tilgendem Mangel behaftet
sei. Das
Verdikt ‚Antisemitismus‘
gegen seine
schriftstellerische Einmischung sieht er voraus und nimmt
es tapfer in Kauf, weil der Friede, der Weltfriede
zumal, den Einsatz wert sei. Und weil er nun mal nicht
mehr anders kann als sich einzumischen in die Debatte um
die Rechtfertigung eines auf der Agenda
stehenden Krieges; darum also, ob die Israelis das
dürfen, was sie da vorbereiten; und ob
Deutschland und der Westen
, die doch eigentlich
dem Guten in der Welt und dem recht verstandenen
Interesse Israels verpflichtet sind, gut daran tun, das
zu unterstützen. So leidet Grass öffentlich als ein durch
die Geschichte zur Solidarität verurteilter Patriot und
Literat an dem Sonderverhältnis zu dem Land, das ihm
gerade wieder einmal die Freundschaft so schwer macht.
Die sachliche Sicht auf die immer schärfere
Machtkonkurrenz Israels und seiner Verbündeten mit dem
Iran ist also nicht die des moralisch erregten Künstlers:
Der will keine imperialistischen Zwecke und Berechnungen
kennen, nimmt die Welt der ideologischen Kriegsgründe für
die wirkliche und greift in aller dichterischer Freiheit
zu mancher Übertreibung aus den alten
Atomkriegs-Szenarien des Kalten Krieges, um das Drama der
moralischen Rechtslage, die ihn so umtreibt, mit
kräftigen Farben auszumalen.
*
Das lässt man auch einem alten Nobelpreisträger nicht
durchgehen. So grotesk es ist, dessen literarische
Seelenarbeit als politische Stellungnahme aufzufassen:
Die offizielle israelische Politik will
keinerlei Zweifel an der Gerechtigkeit eines
möglichen israelischen Schlages gegen den Iran dulden und
deckt den deutschen Dichter mit einer einwöchigen
Breitseite gröberen Kalibers ein, die kaum eine Schönheit
des freiheitlichen Diskurses christlich-jüdischer
Tradition auslässt: Der solle doch nach drüben – in
diesem Fall in den Iran – gehen, sei eine Art
Hassprediger gegen den Staat Israel und seine
Menschen
, trage geistig immer noch die SS-Uniform,
die man ihm mit siebzehn Jahren angezogen habe, sei also
ein eingefleischter Antisemit, in der europäischen
Tradition ..., die Juden vor dem Pessachfest des
Ritualmordes anzuklagen
(Letzteres vom israelischen Botschafter in
Berlin). Im Geiste dieser kämpferischen Analyse
wird ein Einreiseverbot nach Israel gegen Grass
ausgesprochen, der als persona non grata ein
Land nicht mehr betreten soll, dessen
Existenzrecht er mit seiner dichterischen
Einmischung in Israels Recht auf Krieg so
skandalös in Frage stellt.
Den Umfang seiner Rechte einschließlich seines
Existenzrechtes hat Israel, wie jeder Staat, der es
vermag, von jeher gewaltsam selbst definiert, deshalb
vormals das Land den ortsansässigen Arabern weggenommen,
die notwendigen Grausamkeiten gegen die dort sesshafte
Bevölkerung begangen und auch nicht versäumt, beim
Rückblick auf seine Gräueltaten sich selbst als den
bedrohten Verteidiger seiner gerechten Ansprüche
darzustellen. Das alles ist nichts Besonderes: Kaum eine
bedeutende Nation der Moderne kam im Zug ihrer Gründung
oder ihres Weges zur Größe ohne größere Gemetzel
an störenden Bevölkerungsteilen aus – meistens mit
stillschweigender Duldung, wenn nicht gleich im Auftrag
des Allerhöchsten. Die heute mächtigste unter ihnen
rottete, damit sie Gottes eigenes Land werden
konnte, bis auf geringfügige Reste gleich die gesamte
unbrauchbare Urbevölkerung aus und konsumierte zugleich
ganze afrikanische Völkerschaften für den
kapitalistischen Aufbau des Landes, ohne sich auf
Grundlage ihres nationalen Erfolgsweges dafür
jemals zu mehr als einem halbgaren Sorry
aufraffen zu müssen. Das ist im Fall Israels, das nach
eigener Auskunft bis heute mit seiner Gründung nicht ganz
fertig ist, anders gelaufen: Der Staat war dann doch zu
klein und die umgebenden beleidigten Nachbarn doch zu
mächtig, um alle offenen Fragen, insbesondere die nach
Inhalt und Reichweite des eigenen Existenzrechts
auf Dauer zu erledigen. Das ist der Stoff, auf den sich
der zitierte Botschafter bezieht, wenn er beklagt, dass
das Existenzrecht
Israels schon seit dem Tag
seiner Gründung öffentlich angezweifelt wird, ... und so
ist es heute noch, obwohl wir in Frieden mit unseren
Nachbarn in der Region leben (wollen)
. (SZ,
5./6.4.2012)
Die halboffiziöse Öffentlichkeit des
Zentralrats der Juden, der Kultusgemeinden und der
Journalisten, die sich hauptberuflich auf die Beobachtung
der political correctness in Deutschland,
Abteilung Erfüllung deutsch-jüdisch-israelischer
Schuldigkeiten, und die Definition nebst Geißelung des
intellektuellen Antisemitismus sowie des
volkstümlichen, alt- und neufaschistischen Judenhasses
der deutschen Volksmassen spezialisiert haben, schlägt in
die gleiche Kerbe. Sie legt ebenfalls größten Wert auf
eine klare Entscheidung in der Frage, wer eigentlich mit
der Aggression angefangen habe, weil man an deren
Beantwortung leicht den Antisemiten erkennen kann. Die
Übersetzung aller imperialistischen
Interessenlagen in die kindische Frage danach, wer
eigentlich angefangen habe, ist bei diesen
Leuten in den besten Händen, die sich damit ein
todsicheres Kriterium für die Entlarvung rassistischer
Gesinnung erarbeitet haben. Im historischen Rückblick
muss jedenfalls klar sein: Sollte jemand meinen, dass
die Gründung Israels die eigentliche Aggression ist,
gegen die sich die Palästinenser und letztlich auch
Ahmadinedschad zu Recht wehren
– der muss sich von
einem Broder auf jeden Fall Judenfeindschaft nachsagen
lassen, wenn er nicht, wie Grass, sowieso der Prototyp
des gebildeten Antisemiten
(Der
Spiegel, 15/2012) ist. Und aktuell verbietet sich
sowieso jeder Zweifel: Nicht Israel, sondern der Iran
bedroht den Frieden. Der Text (des Grass-Gedichtes,
d.Verf.) ist unverantwortlich und eine Verdrehung der
Tatsachen ...
(D. Graumann,
Vorsitzender des Zentralrats der Juden, SZ, 5./
6.2012)
Darum, den verdrehten Tatsachen wieder den richtigen Dreh
zu geben, macht sich die gewöhnliche
Öffentlichkeit mit ihren vielfältigen Leitmedien
verdient. Sie brauchen für ihren festen Standpunkt an der
Seite Israels nicht die
religiös-kulturell-historisch-politische Verbundenheit
mit dem Staat der Juden, wie sie die deutschen jüdischen
Gemeinden pflegen. Sie versichern sich der Korrektheit
ihrer ebenfalls vorab feststehenden Parteilichkeit einmal
mehr durch eine faktengestützte politische Betrachtung
der Welt vom verantwortlichen Standpunkt des deutschen
Imperialismus und der westlichen Welt- und Werteordnung.
Die bestätigt den Ausgangspunkt, dass der Iran und der
verrückte Führer dort
(Der
Spiegel, ebd.), der diesen psychiatrischen Befund
verdient, weil er mit dem Holocaust Israels zentrale
Rechtfertigungsideologie in Frage stellt, die Aggressoren
sind. Das lässt die Bemühungen, den Iran in der
Atomfrage, letztlich auch um den Preis eines Krieges, zur
Kapitulation zu zwingen, als Gebot weltpolitischer
Vernunft erscheinen. Ob nun der Iran schon eine Bombe hat
oder sie bald bekommt oder kurz vor der Bombe innehält:
Jede Variante würde das Kräftegleichgewicht zwischen
dem Iran und seinen sunnitischen Nachbarstaaten
(SZ, 10.4.2012, stellvertretend für
viele) völlig außer Kontrolle
– gemeint ist
selbstredend unsere, die westliche Kontrolle –
geraten lassen, so dass vielleicht auch die Saudis und
die Türken bald Atomwaffen hätten, woran uns gar
nicht gelegen sein kann. Und ob die Muslime mit ihrer
religiös-ideologischen Überladung
mit dem
Gesetz der Abschreckung
so ideologiefrei umgehen
könnten wie wir damals im Kalten Krieg, darf
auch bezweifelt werden ...
So begegnet man dem dichterischen Gesinnungsethiker, der
die Frage nach Recht und Rechtfertigung im Vorfeld eines
Krieges wegen seiner nationalmoralischen
Bauchschmerzen aufgeworfen wissen wollte, mit einer
parteilichen, imperialistischen Lageeinschätzung, die die
Bedenken des greisen Wortkünstlers einfach nur weltfremd
aussehen lässt: Wegen jenes Kräftegleichgewichts
in der Region, der vom Iran ausgehenden Gefahr für die
Sicherheitsarchitektur der Welt
(Außenminister Westerwelle, SZ,
5./6.4.2012) und des gültigen atomaren
Non-Proliferation-Regimes muss Iran auf alle
Fälle gebremst werden. Was Israels aktuelle
Kriegsdrohungen betrifft, kann man zwar noch geteilter
Meinung über die Zweckmäßigkeit eines Überfalls sein.
Aber wenn man dem Iran die Absicht unterstellt, mit einem
Atomangriff auf die stärkste Militärmacht der Region und
den absoluten Schützling der Supermacht den eigenen
Untergang zu betreiben, dann kann man es Israel nicht
absprechen, diese Szenarien bis in die letzte Konsequenz
zu durchdenken – und nach einer Abwehr dagegen zu
suchen.
Freunde des Gleichheitsgrundsatzes, die
Israels Feind dasselbe Recht auf die Bombe
zubilligen wollen, müssen sich einen allzu einfachen
Geist
bescheinigen lassen, der komplexe
strategische Szenarios
einfach nicht durchdringt,
obwohl es im vorliegenden Fall auf der Hand liegt, dass
von mehr Gleichbehandlung in Waffenfragen die
Welt
, wie wir sie wollen, nicht
sicherer
(SZ, ebd.) wird,
weil diese Sorte Sicherheit die Unsicherheit des Iran
erfordert.
Belehrungen dieser Art, die Grass‘ Äußerung als verkehrte
politische Lagebeurteilung nehmen, um beim
Publikum die korrekte Sicht der Dinge in Nahost sicher zu
stellen, gehören noch zum freundlicheren Umgang mit dem
moralischen Zwischenruf. Ein Teil der Öffentlichkeit, die
Grass nicht zu Unrecht wie gleichgeschaltet
vorkommt, weil er es mit Medien zu tun hat, die sich auf
ihre gemeinsame Parteilichkeit aus nationaler
Verantwortung frei verpflichten , hält sich nicht mit
sachlichen Fragen der korrekten Weltordnung auf. Die
gemeinsame Pflege des Feindbildes Iran, gerne auch vom
Standpunkt Israels aus, bringt im Vorfeld eines möglichen
Krieges ganz zwanglos einen Standpunkt hervor, der Grass
als ernsthaften Fall von Abweichlertum von einer
verbindlichen nationalen Position ins Visier nimmt und
auf Motivsuche in den Abgründen seiner Psyche und seines
dichterischen Handwerks geht: Wie kann man Israel und
Iran moralisch auf eine Stufe stellen! Erst
verschweigt er seine SS-Vergangenheit und jetzt
will er uns belehren! Ist er mit dieser
Vergangenheit vielleicht psychisch nicht fertig
geworden? Leidet er an Selbsthass, oder will er
Selbstrechtfertigung auf Kosten der Juden
betreiben? Trägt er seinen Antisemitismus als
Gedicht vor, weil er zu feige für einen Essay
ist, in dem er argumentieren müsste? Und dann
dichtet er auch noch so schlecht! Und so
perfide: mit Subtext, assoziativen Aufrufen,
lyrischem Etikettenschwindel und solchen Sachen: Er
raubt den Juden Wörter –
Überlebende, Fußnote der Geschichte –
und verwendet sie in seinem antijüdischen Dokument
der Rache! (Echt wahr: Schirrmacher, FAZ, 5.4.2012)
Dagegen sind die praktischen Sachwalter der deutschen
Solidarität mit Israel, die nationalen
Politiker, vergleichsweise geradezu ausgesucht
höflich im Umgang mit dem verdienten Künstler: Ein
mittelhoher FDP-Mann stellt fest, Grass sei schließlich
nur ein „Schriftsteller. Politisch habe ich
Grass schon immer für einen Trottel gehalten“ (SZ,
10.4.2012), während seine Partei bei ihrem
Bundesparteitag gleich ein Bekenntnis zum
Existenzrecht Israels
nachlegt, das eine
unverzichtbare Konstante liberaler Außenpolitik
(SZ, 23.4.2012) sei.
Irgendein SPDler nennt Grass‘ Einlassungen teilweise
Quatsch
, ein anderer will keine Wahlhilfe mehr von
ihm, während die Oberen, Nahles und Gabriel, in maßvollen
Worten ihre Distanz zu Grass, aber auch ihre fortdauernde
Wertschätzung für ihn ausdrücken: Wir haben Grass viel
zu verdanken...
(Gabriel,
Spiegel, 16/2012)
Die Regierung, insbesondere die Kanzlerin, schweigt. Sie
verweist durch ihren Sprecher auf die geltende
Freiheit der Kunst. Und die Freiheit der
Bundesregierung, sich nicht zu jeder Kunst äußern zu
müssen.
(SZ, 5./6.4.2012)
Warum sollte sie auch! Die freien Medien nehmen ihr ja
die ganze Arbeit ab!
*
Dass die öffentliche Aufregung um das kleine Dichtwerk in
Deutschland so groß ist, weil es an das Verhältnis mit
dem Staat der Juden rührt, und nicht, weil es
imperialistische Interessen der Nation in Frage
stellt, daran haben die Diskutanten aller Lager keinen
Zweifel gelassen. Dass ein Gedicht aus Spanien
dieselbe Aufmerksamkeit nicht gewonnen hätte
(SZ, 10.4.2012), ist wohl
wahr: Die Aufmerksamkeit
hat eben
deutsch-israelische Sonderbeziehungen
(SZ, ebd.) zur Grundlage, von denen der
gesamte erregte Diskurs ausgeht.
Diese offenbar hochsensiblen und schutzbedürftigen
politischen Beziehungen wurden von beiden Staaten nach
dem Zweiten Weltkrieg ideologisch komplementär definiert:
Deutschland tritt dabei zunächst auf als Rechtsnachfolger
des Kriegsverlierers und judenmörderischen
Faschistenstaates einerseits und als demokratisch
geläutertes Staatswesen und vom Rechtsvorgänger ganz
unterschiedenes, rundum positives Gegenmodell
andererseits. Israel schwingt sich vom zionistischen
Landnahmeprojekt und dessen biblischen Rechtsansprüchen
der Gründerzeit zum ideellen Gesamtrechtsnachfolger aller
jüdischen Naziopfer auf und beschlagnahmt ausgerechnet
die Massenvernichtung der Juden als Generalrechtfertigung
seines kriegerischen Fertigstellungsprogramms an der
imperialistischen Regionalbaustelle Eretz
Israel. Dass dieser Titel nach der Logik der
Schuldfrage kaum etwas anderes hätte
rechtfertigen können als vielleicht die
Abtretung eines Stücks Deutschland an die Überlebenden
und Nachkommen der Naziopfer, gewiss aber nicht die
Haftung der Palästinenser, stört die beteiligten Staaten
nicht. Schon gleich nicht Deutschland, das mit seinen
materiellen Wiedergutmachungsleistungen
, die es
aus der Portokasse des Wirtschaftswunders
zahlt,
und der demonstrativ beschämten Zerknirschung des auch
moralisch besiegten Kriegsverlierers, der aber als
freiheitlich-kapitalistischer Frontstaat im neuen
Ost-West-Gegensatz schnell wieder gebraucht wird,
ziemlich günstig aus der Sache herauskommt.
Der Nationalstolz der Deutschen hat freilich
wesentlich mehr unter der nachträglichen Ächtung des
faschistischen Ausrottungsunternehmens zu leiden.
Sich als Volk eine totale moralische
Verirrung zu attestieren: das ist für patriotische
Gemüter auf Dauer ein Unding. Da mussten erst eine
68er-Generation und ein Bundespräsident Weizsäcker kommen
und den Deutschen erklären, dass am Kriegsende eigentlich
nicht eine Niederlage, sondern eine Befreiung
Deutschlands stattgefunden habe; da mussten die Täter und
Mittäter erst ins Rentenalter kommen und der Nachwuchs
mit der Gnade der späten Geburt
die Erbschaft der
Geschichte antreten, bevor die Karriere vom Angeklagten
zum Richter über die eigene Geschichte beginnen konnte,
der so negativ über sich selber urteilt, dass er dadurch
ganz extra glaubwürdig rehabilitiert dasteht. So bekommt
es das Volk der Delinquenten hin, sich selbst seine
wunderbare demokratische Resozialisierung zu
bescheinigen, und empfiehlt Deutschland seither weltweit
als Paradigma und – in aller Bescheidenheit – sich selbst
als Vorbild für die Welt.
Die moralischen Altlasten der Nazi-Vergangenheit fungieren seither – bei Bedarf und zur optionalen Verwendung – als Rechtfertigung und Auftrag zu einer speziellen Verantwortung Deutschlands, das als demokratischer Nachlassverwalter des Dritten Reiches besonders kompetent für das demokratisch Wahre, Gute & Schöne weltweit und gegen Totalitarismus von rechts und links einzutreten hat und mit dieser nationalen Berufung in den Kreis der zeichnungsberechtigten Prokuristen der freiheitlichen Weltpolitik gehört.
*
In diesem Sinne pflegt Deutschland die Erinnerung an den großen Judenmord. Und diese spezielle deutsche Erinnerungskultur ist nicht einfach gleichzusetzen mit dem Antifaschismus, den etwa Linke im kritischen Andenken an Nazi-Deutschland hochhalten. Der offizielle, in Deutschland heimisch gemachte Antifaschismus konzentriert sich ganz pointiert auf die Absage an die Judenvernichtung: Der wesentliche und letztlich einzig wichtige Sinn und Zweck des zur Regierungsmacht gekommenen deutschen Rechtsradikalismus soll die Vernichtung der Juden gewesen sein. Am Krieg Deutschlands gegen den Rest der Welt bleibt – neben der vernichtenden Niederlage – vor allem der Mord an den Juden als kritikabel übrig. Die Betonung der Monströsität des Judenmordes, des Singulären des Verbrechens, des absoluten Ausnahmecharakters, den es auch wegen der Art seiner Begehung zugesprochen bekommt, definiert den deutschen Faschismus als einzigartige Schandtat, die nicht nur jeden Vergleich mit anderen historischen Missetaten verbietet, sondern ihn auch – letztlich – jeder Erklärung entzieht. Wer an die anderen Scheußlichkeiten der Nazis und deren politische Begründungen auch nur erinnert, macht sich der respektlosen Relativierung des Holocaust verdächtig, die von Demokraten, den Opfern und ihren Nachfolgern entschieden zu kritisieren ist. Denn derart sauber abgegrenzt und historisch eingeordnet stiftet dieser offiziell zertifizierte Faschismus den einzigen akzeptablen Antifaschismus: einen Anti-Antisemitismus als nicht verhandelbare demokratische Staatsdoktrin, deren Vertreter jeden, der sie nicht umstandslos teilt, folgerichtig als Antisemiten verdächtigt.
So steht diese Art des bürgerlichen Antifaschismus für
einen wichtigen Bestandteil der deutschen
Nationalideologie, die als politischer Modus des neuen
demokratischen Deutschland darauf angelegt war, dem
heimischen Patriotismus aus der Moralfalle der
Nachkriegszeit herauszuhelfen und der Nation ideologisch
den Weg zu weisen: zur Rolle eines Aktivisten
internationaler Politmoral, einer internationalen
Macht für eine bessere Welt
(
SZ, ebd.)
*
Diese nationale Selbstdeutung hat ihren Bezugspunkt in Israel. Die Solidarität mit Israel wird zum dauerhaften Bestandteil der nationalen Ideologiewirtschaft erklärt und in den Beziehungen zu Israel wird die Geschichte der deutschen Judenverfolgung als Grund einer deutschen Sonderzuständigkeit für Israel, seine politischen Umstände und seine staatliche Existenz festgehalten. Vor vier Jahren, bei einer Ansprache vor dem israelischen Parlament, verkündet die Bundeskanzlerin „die besondere Verantwortung Deutschlands für den jüdischen Staat. Diese historische Verantwortung Deutschlands ist Teil der Staatsräson meines Landes. Das heißt, die Sicherheit Israels ist für mich als deutsche Bundeskanzlerin niemals verhandelbar. Und wenn das so ist, dann dürfen das in der Stunde der Bewährung keine leeren Worte bleiben.“ (zit. nach SZ, 10.4.2012)
Dem Prinzip nach drückt die Kanzlerin damit –
Staatsräson
– eine wesentliche
Interessensidentität der beiden Staaten in der Frage der
staatlichen Sicherheit
aus: Das
Sicherheitsinteresse Israels soll für Deutschland
nicht verhandelbar
, also vorab jedem berechnenden
Schacher entzogen sein, der sonst ganz selbstverständlich
den gewöhnlichen Gehalt zwischenstaatlicher Verhältnisse
ausmacht. Die damit übernommene Einstandspflicht schließt
vielmehr unbedingte, vor jeder Verhandlung feststehende
Parteilichkeit ein, die schon Grundlage und Ausgangspunkt
für politische Interessensabwägungen sein soll. Mit der
ausdrücklich bedingungslosen Unterstützung eines
fremden Staates ist eine fundamentalistische Solidarität
ausgesprochen, die Nationalisten sonst nur im Verhältnis
zur eigenen Nation kennen: Wenn es um die geht, fragt man
nicht, welche Gewalttaten nötig sind, um ihr
Existenzrecht, also ihre Macht und ihren
Reichtum gegen ihre Konkurrenten sicher zu stellen, man
begeht sie als Staatsmann und Staatsbürger, in der
Hoffnung auf Erfolg. Vorhalten lassen muss man sie sich
erst – wie Deutschland – nach verlorenem Kampf.
Dass das damit verbundene parteiliche Sonderverhältnis zu
Israel und die übernommene Garantenstellung für sein
Existenzrecht
sachlich einem
Kriegsbündnis gleichkommt, macht die Kanzlerin
ganz ausdrücklich, wenn sie Wert darauf legt, ihre
Zusicherung fragloser Unterstützung für Israel habe auch
in der Stunde der Bewährung
Gültigkeit. Die
Israelis lassen sich diese Art der Sanierung des
deutschen Moralhaushaltes im Großen und Ganzen nach
ihren Bedingungen gefallen, die sich mit dem
hochtönenden Fundamentalismus der Deutschen ganz gut
vertragen: Sie betonen an der Zuständigkeit mehr die
Verantwortung und am freiwilligen Anerkenntnis mehr die
damit anerkannte Schuld; und günstige U-Boote kann man
immer brauchen. In der schönen Begründung, dass
Palästinenser und Iraner zurückzustecken hätten,
weil die Deutschen viele Juden
umgebracht haben, ist man sich ohnehin grundsätzlich
einig.
*
So ernst es den deutschen Staatsmännern mit der
deutsch-israelischen Freundschaft
ist, die als
routinemäßiger Bestandteil einschlägiger Staatsakte in
selbstbewusster Demut abgefeiert wird und vom
verantwortungsvollen und souveränen Umgang des modernen
Deutschland mit seiner Geschichte zeugt: Um zu wissen,
dass das feierlich beschworene Kriegsbündnis nach seiner
militärisch-sachlichen Seite hin keinesfalls die
ausgreifenden Sicherheitsbedürfnisse Israels und sein
anspruchsvolles Existenzrecht
in der Stunde der
Bewährung
verbürgen könnte, muss man kein
Militärexperte sein. Deutschland wäre schlicht
überfordert mit der praktischen Einlösung dieses Teils
seiner Staatsräson
, also einer Kriegsführung in der
Region, die die versprochene Garantie für den Freundstaat
wahr machen wollte. Die Verlogenheit der
praktischen Seite der deutsch-israelischen Solidarität
ist allen Beteiligten bekannt, die alle ohne Weiteres
davon ausgehen, dass Deutschland gewiss nicht den Einsatz
von Bundeswehrbataillonen oder Luftstreitkräften im Nahen
Osten plant, sollte es zum Krieg mit dem Iran kommen. Und
auch davon, dass Israel an der praktischen militärischen
Betätigung der zugesagten, unverbrüchlichen deutschen
Parteilichkeit über finanzielle, technische und
diplomatische Unterstützung hinaus kaum interessiert
wäre. Israel stützt sich bekanntlich hinsichtlich seiner
militärischen Vorhaben und Notwendigkeiten auf ein
wirkliches Kriegsbündnis mit der amerikanischen
Supermacht, in dem das gemeinsame Interesse am
Niederhalten des Iran und an der Aufrechterhaltung einer
amerikanisch-israelisch dominierten Regionalordnung,
anders als in den deutschen Garantiedeklarationen,
tatsächlich zur praktischen Geltendmachung im Krieg
vorgesehen ist.
Das bringt es mit sich, dass Deutschland auf der
ideellen Grundlage des fundamentalistischen
Freundschaftsbekenntnisses zum gefährdeten Judenstaat und
auf der real existierenden Grundlage der vom
israelisch-amerikanischen Militärbündnis gesetzten
Konditionen seinen Interessen und Berechnungen
in der Region nachgeht. Als europäische Führungs- und
deutsche Mittelmacht auf diesem wichtigen Schauplatz der
Weltordnung bringt Deutschland sich ins Spiel, mit dem
Angebot, auf Grundlage des besonderen Treueverhältnisses
zu Israel und der traditionell guten Beziehungen
zur arabischen Welt wertvolle
Vermittlerdienste leisten zu können.
Bedenklichkeiten gegenüber der Politik der
israelischen Freunde, die sich auf deutsche
Sorgen um wohlverstandene israelische Interessen
berufen, bleiben meistens unberücksichtigt, so dass der
deutschen Außenpolitik manchmal nicht viel mehr bleibt,
als die israelischen Vorgaben für den
Friedensprozess
im Nahen Osten von der Seitenlinie
aus zu verfolgen. Für Deutschland, immer wieder
ausgemischt durch die dominierenden Akteure auf dem
Schauplatz, die USA und Israel, doch stets aufs Neue auf
Einfluss bedacht, stellt sich das Sonderverhältnis
zu Israel im Zusammenhang seiner praktischen Politik dar
als eine Bedingung seiner Einmischungsversuche,
die es beim politischen Kampf um imperialistische
Positionen in der Region akzeptiert, in Rechnung stellt
und bei der Verfolgung seiner Politik vor Ort für sich zu
nutzen sucht.
*
Die hochkarätige ideelle Ausgestaltung der
deutschen Solidarität mit Israel
ist damit
keineswegs außer Kurs gesetzt. Das führt dann eben auch
dazu, dass die demokratischen Parteien und ihre
Öffentlichkeit selbst einen Beitrag wie den von Seiten
des alten Dichterlings Grass als Gemeinschaftsaufgabe der
nationalen Moral ziemlich kollektiv abschmettern. Der
wollte ausdrücklich auf Grundlage dieses
verbindlichen Konsenses seine sorgenvoll moralisierende
Kritik und seine höchstpersönliche Not damit loswerden,
dass unsere israelischen Freunde unsere Freundschaft
manchmal ziemlich strapazieren und damit unsere
bedingungslose Parteilichkeit, die ihnen natürlich
zusteht, gefährden könnten.
Der amtlichen Einheitsfront, die schon in derart solidarischen Bedenklichkeiten die Relativierung eines Kernstücks der prosemitisch-deutschen Staatsmoral sieht, steht ein offenbar wachsendes Unverständnis gegenüber, das sich außerhalb der staatstragenden Zeitungen breit macht, aber von diesen anlässlich der Grass-Affäre auf den Leserbriefseiten dokumentiert wird: Ein staatsbürgerliches Unverständnis gegenüber der nationalistischen Anomalie eines bedingungslosen Solidaritäts-Bonus gegenüber einem anderen Staat, ohne dass irgendein Vorteil für Deutschland daraus ersichtlich wäre. Dieses erwachsen gewordene, imperialistische Staatsbürgerbewusstsein kommt gar nicht her von einer alt- oder neofaschistischen Judenfeindschaft, wüsste auch gar nicht recht, warum es eigentlich antisemitisch sein sollte, aber auch nicht, warum sich eine Nation wie die deutsche mit ihren weltweiten Interessen wegen Hitler und der alten Geschichten durch eine bindende Voreingenommenheit für Israel in seinen machtpolitischen Optionen einschränken lassen sollte. Das passt für ein modernes, an die Qualitätszeitungen des Landes leserbriefschreibendes Publikum überhaupt nicht zusammen mit der Rolle, die Deutschland inzwischen als kompetenter Mit-Schiedsrichter über Gut und Böse in der internationalen Politik einnimmt und die nur beschädigt werden kann, wenn mit dem Staat Israel eine Ausnahme gilt, auf die die Kriterien des zwischenstaatlichen Wohlverhaltens ausdrücklich nicht anwendbar sein sollen. Und dieses Publikum will auch nicht verstehen, warum man eine so verfehlte, rückwärtsgewandte und für Deutschlands Macht und Interessen schädliche fundamentalistische Festlegung nicht kritisieren dürfen und die Selbstrechtfertigungen der offiziellen Politik zur deutschen Vergangenheit für alle Zeit als Bremse deutscher Weltpolitik gelten lassen soll.
Ein wissenschaftlicher Erforscher der Außenpolitik macht
in einem Beitrag zum 67. Kapitulationstag einen gut
gemeinten Vorschlag: Damit Deutschland sich nicht länger
der Vergangenheit wegen seiner Verantwortung bei
künftigen Kriegen entzieht, sondern – so wie es die Welt
angeblich von ihm erwartet – durch tätiges Eintreten
für die Werte, an denen wir uns selbst nach 1945
aufgerichtet haben
glänzen kann, sich bei den
großen Sicherheitsdebatten nicht länger wegduckt
, und
künftig für das Gute auch Risiken eingeht
, sollen
die Deutschen ihr Misstrauen gegen sich selbst sein
lassen
und sich selbst vergeben.
(SZ, 8.5.2012) So richtig auf Gegenliebe
scheint die Idee bislang nirgends zu stoßen: Die deutsche
Politik und Öffentlichkeit halten jedenfalls derzeit
ihren offiziellen demokratischen Antifaschismus in Form
des gültigen Anti-Antisemitismus, auch angesichts
notorischer Neigungen der Volksmassen, keineswegs für
überflüssig als Leitstern am nationalen Wertehimmel einer
europäisch-deutschen Weltmacht. Und die gebildeten
Leserbriefschreiber in SZ, FAZ und Spiegel haben sich und Deutschland
sowieso schon lange alles vergeben. Ob Grass das alles
wollte?
*
Auch dieses Publikum, das Grass’ Gedicht zum Anlass nimmt, von Deutschland mehr imperialistischen Ehrgeiz ohne anachronistische Skrupel einzufordern, und ihn deshalb verteidigt, hat letztlich den großen Dichter und sein kleines Werk als Beitrag zur aktuellen Nahost-Politik im Besonderen und zum Lauf der Weltpolitik im Allgemeinen missverstanden. Das ist wohl, Grass wird es wissen, ein Schicksal, das beim künstlerischen Schaffen manchmal unvermeidlich ist: Er wollte ja, wie schon gesagt, eigentlich in erster Linie über sich reden und seine hübsche Sorge, ob er stellvertretend für seine Landsleute angesichts der nach seiner Ansicht von Israel ausgehenden Gefahr der Auslöschung des iranischen Volkes dann eigentlich auch weiterhin noch bedingungslos für den Judenstaat sein könne. Das ist, ob sich’s nun reimt oder nicht, weniger ein politischer Beitrag in dem Sinn, sondern durchaus eine Kunst, einen ganzen völkervernichtenden Krieg auf die eigene zarte Moralität zu beziehen – und dann, wenn man es gar nicht mehr aushält, einfach ein Gedicht rauszuhauen.