Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Fernfahrerstreik in Frankreich
Europa rollt wieder

Die sozialistische Regierung stellt die streikenden Fernfahrer ohne große Zugeständnisse ruhig. Weil der Streik das Geschäft aller EU-Staaten schädigt, bestehen diese auf dem europäischen Recht auf „freien Warenverkehr“ und stellen klar, dass so ein Streik nicht allein in die Zuständigkeit der französischen Hoheit fällt.

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Fernfahrerstreik in Frankreich
Europa rollt wieder

Eine knappe Woche läuft in Frankreich nichts mehr: Ein Jahr nach ihrem letzten Streik legen die Fernfahrer noch einmal sämtliche Hauptverkehrsadern lahm. Schaut man sich ihre Forderungen an, fällt auf: Es sind ziemlich genau dieselben wie im letzten Jahr. Sie streiken zum einen, um die Erfüllung einer Vereinbarung (eine einmalige Prämie von 3000 Francs und die Senkung des Rentenalters) zu erzwingen, die die Transportunternehmer schon vor einem Jahr unterschrieben, zumeist jedoch nie erfüllt haben, und deren Erfüllung der französische Staat nicht erzwingen wollte. Auch die Forderungen nach Mindestlohn und monatlicher Höchstarbeitszeit stammen noch aus dem letzten Jahr. Mit diesen Forderungen versuchen die Fernfahrer, sich gegen die besonderen Belastungen in ihrer Branche zu wehren. Das tun sie branchengemäß, indem sie die Autobahnen gegen Streikbrecher verrammeln.

Das hauptsächliche Mittel, mit dem die Transportunternehmer ihre Konkurrenz austragen, ist die möglichst ununterbrochene Auslastung ihrer Lkw, damit ihr im Fuhrpark angelegtes Kapital möglichst schnell umschlägt. Daher dehnen sie die Fahrzeiten der Fernfahrer aus, rücksichtslos gegen deren Arbeitskraft, möglichst rund um die Uhr. So gibt es in dieser Branche kaum eine Trennung von Arbeit und Privatleben; tendenziell verwandelt sich der gesamte Tag in bezahlte Arbeitszeit am Lenkrad und in unbezahlte Bereitschaftszeit während der Ladetätigkeit und anderer Transportpausen. Diese Wartezeiten behandeln die Transportunternehmer als „Freizeit“ ihrer Fahrer, obwohl sie nichts anderes sind als durch die Kalkulation der Transportunternehmen bestimmte Nicht-Fahrzeiten. Das Problem einer „sinnvollen Freizeitgestaltung“ ist jedermanns Privatsache – so auch bei den Truckern. Für dieses Leben bekommen sie einen Lohn, der rein durch die Konkurrenzbedürfnisse und -nöte der Lkw-Eigentümer bestimmt ist, die sich in der Konkurrenz mit wechselseitiger Unterbietung der Frachtraten durchzusetzen suchen.

Der Streik hat deutlich eine politische Schlagseite. Die konservative Regierung, die noch im letzten Jahr am Ruder war, hatte mit der Verweigerung einer Umsetzung der getroffenen Vereinbarungen den Transportkapitalisten ein ganzes Jahr „Luft“ in Form von nicht zu zahlenden Löhnen und nicht einzuhaltenden Vorschriften verschafft. Von der neuen, der sozialistischen Regierung erhoffen sich die Fernfahrer mehr Entgegenkommen. Die Blockade der Fernstraßen ist nicht zuletzt ein Appell an sie, ihren „sozialen Charakter“ – mit dem sie sich angeblich vom „Ring der neoliberalen Nationen“ um Frankreich herum unterscheiden will – zu beweisen. Die Regierung Jospin versteht das als Prüfstein für sozialdemokratisch-reformkommunistische Befriedungskunst und sie versteht damit umzugehen. Ihr Befriedungs- und zugleich Druckmittel ist die ungeklärte rechtliche Lage, aufgrund derer die Fahrer sich ja genötigt sahen, den gleichen Streik ein zweites Mal zu veranstalten. Sie stellt eine Verrechtung der Verhältnisse auf Frankreichs Straßen in Aussicht, also das Gültigmachen eines Vertrages, und übt „fair“ auf beide Seiten, Unternehmer und Gewerkschaften, Druck aus mit der Ankündigung, jede Abmachung zwischen irgendeiner der beteiligten Gewerkschaften und einem der Unternehmerverbände sofort rechtlich verbindlich für alle anderen machen. Künftig sollen die Beschäftigten Vertragsbrüche ihrer Arbeitgeber als Verstoß gegen staatlich gesetztes Recht anzeigen dürfen. Außerdem verspricht die Regierung Maßnahmen zur Kontrolle der Fahrzeiten. Die „der Regierung nahestehende“ sozialistische Gewerkschaft CFDT, bei der die Mehrzahl der Fernfahrer organisiert ist, ergreift die Gelegenheit beim Schopf und unterschreibt als erste. Die materiellen Forderungen müssen im Lichte dieser einmaligen „Chance“ großzügig gekappt werden oder gleich in den Papierkorb wandern. Die im letzten Jahr ausgemachte Prämie wird tatsächlich bezahlt; der für sofort geforderte Mindestlohn von umgerechnet 3000 DM für alle bei einer monatlichen Höchstarbeitszeit von 200 Std. wird auf das Jahr 2000 verschoben; selbst diese Erhöhung in drei Schritten gilt nur für einen kleinen Teil der Fernfahrer; die Forderung, das Rentenalter auf 55 Jahre zu senken, wird nicht mehr erwähnt. Mit der Unterschrift der CFDT erledigt sich der Streik ganz ohne den Einsatz staatlicher Zwangsmittel, eine nicht unbedeutende Minderheit der Unzufriedenen resigniert angesichts dieser Front – „Europa atmet auf“.

Auf die Bekanntschaft mit diesem Staatenbündnis, gegen das sie gar nicht angetreten waren, können die Fahrer nämlich auch zurückblicken. Dieses Europa zeigt sich von dem Streik äußerst betroffen und rückt bei der französischen Regierung mit den großen Kalibern „Freizügigkeit“ und „freier Warenverkehr“ an. In die inneren Angelegenheiten Frankreichs mischen sich die europäischen Staaten natürlich nicht ein und die soziale Lage der Fernfahrer ist ihnen keine Erwähnung wert – aber sie müssen Frankreich daran erinnern, daß die inneren Angelegenheiten eines Staates, der Teil des Standorts Europa ist, auch sehr relativ sein können. Die EU-Kommission und Frankreichs Nachbarländer werten den Arbeitskampf der französischen Fernfahrer als vertragswidrige Behinderung des freien Transitrechts und verlangen von Paris, es solle das verbriefte Recht der EU-Mitglieder auf Benutzung des französischen Territoriums für europaweite Transporte gegen die Blockade der Streikenden durchsetzen. Wie die spätere Zusicherung Frankreichs zeigt, an die Nachbarn Entschädigungen wegen des Streiks zu zahlen, macht es sich diesen Standpunkt sehr wohl zu eigen; es gibt ein Versäumnis zu und kündigt damit auch gleichzeitig an, wie es fortan mit solchen Streiks zu verfahren gedenkt. (Im übrigen steht auch schon fest, daß im nächsten Jahr das Transportgewerbe für die EU verbindlich geregelt wird und die jetzt in Frankreich getroffenen Abmachungen wieder hinfällig werden.)

Der französische Streik ist also eine internationale Angelegenheit, er betrifft alle europäischen Staaten: Er beschädigt ihr Geschäft, er fällt damit nicht mehr allein unter die französische Hoheit. Die Trucker können meinen, sie würden etwas gegen ihre miserable Lage unternehmen – in Wirklichkeit sind sie ein europäischer Rechtsfall. Die anderen Staaten bedingen sich das Recht aus, solche nationalen Angelegenheiten unter die kapitalistischen Sachnotwendigkeiten zu subsumieren, die wiederum europaübergreifendes Recht sind; das Streikrecht zählt da nicht dazu und der Lohn hat darin gleich gar nichts verloren. Wenn erfolgreiche Konkurrenz europäischer Konzerne z.B. von einer ausgetüftelten „just-in-time“-Produktion abhängig ist, dann müssen die Laster allzeit ungehindert rollen können. Im Lichte dieser Notwendigkeiten ist die soziale Lage der französischen Fernfahrer tatsächlich keine Erwähnung wert. Umgekehrt ist aber klar: Damit ist ein Streikverbot ausgesprochen. Die Trucker unterliegen einer besonders kritischen Beurteilung Europas: Ihre Macht, die Gegenseite zu schädigen, wäre sehr groß – das ergibt sich aus der Besonderheit ihrer Branche –, also haben sie es auch mit einer sehr großen, grenzüberschreitenden Gegnerschaft zu tun. In diese Front reihen sich die deutschen Fernfahrer – aber auch die anderer Nationen –, die gerade in Frankreich unterwegs waren, nebenbei gleich mit ein. Die Tatsache, daß ihre Lohn- und Arbeitsbedingungen mit denen ihrer französischen Kollegen ziemlich identisch sind, ignorieren sie großzügig, als kämen sie von einem anderen Planeten; eine unterstützenswerte Sache oder gar ein Vorbild können sie in diesem Streik nicht sehen. Statt dessen fällt ihnen der originelle Kampfruf „Nach Hause fahren“ ein, den man durchaus als kleinen theoretischen Beitrag zum Standort Europa nehmen kann: Die Klarstellung, daß die Staaten auf dem europäischen Recht des Kapitals bestehen, verstehen sie so, daß ihre Trucks in ihren Landesfarben angemalt sind und ihre Dienstbereitschaft fürs nationale Kapital auf keinen Fall unterbrochen werden darf. Also kommen sie doch nicht von einem anderen Planeten.