Die EU schlägt sich mit den Folgen ihres Wirtschaftskriegs gegen Russland herum

Im September 2022 sieht sich die EZB als Hüterin des Euro genötigt, die amerikanische Zinswende nachzuvollziehen. Die Begründungen, die sie für ihren Schritt anführt, sind denen der Fed zunächst sehr ähnlich.

Wie die Fed beobachtet auch die EZB in ihrer Währungszone seit längerem steigende Preise für Waren, Dienstleistungen und Kapitalgüter, die sie als den Fortgang der Wirtschaft gefährdende Geldentwertung identifiziert und zu bekämpfen hat. Wie diese weiß auch die europäische Zentralbank gute Gründe für die „überreichliche Geldversorgung“ der Gesellschaft, zu der sie durch ihre „Politik des leichten Geldes“ maßgeblich beigetragen hat. Auch sie hat durch die Pandemie hindurch den Unternehmen und Staaten mit Kredit zu niedrigsten und sogar negativen Zinsen und durch den Aufkauf von Anleihen dazu verholfen, die Zahlungsfähigkeit zum Weiterbetrieb der Wirtschaft zu erhalten, die die phasenweise stillgestellte Wirtschaft selbst nicht mehr erzeugt. Mit ihren sehr „akkommodierenden“ Zinssätzen hat die EZB geholfen, die Wirtschaftstätigkeit in der Eurozone immerhin wieder auf das Vor-Corona-Niveau zu bringen. Das unerwünschte, aber kapitalistisch notwendige Ergebnis heißt eben Inflation, die schon vor dem Ukraine-Krieg angezogen hat.

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Die EU schlägt sich mit den Folgen ihres Wirtschaftskriegs gegen Russland herum

Die EZB steuert Europa von der Inflation in die Rezession

Im September 2022 sieht sich die EZB als Hüterin des Euro genötigt, die amerikanische Zinswende nachzuvollziehen. Die Begründungen, die sie für ihren Schritt anführt, sind denen der Fed zunächst sehr ähnlich:

„Der EZB-Rat hat heute beschlossen, die drei Leitzinssätze der EZB um jeweils 75 Basispunkte anzuheben. Dieser große Schritt sorgt für einen früheren Übergang von dem derzeitigen, stark akkommodierenden Leitzinsniveau auf ein Niveau, das eine zeitnahe Rückkehr der Inflation auf das mittelfristige 2 %-Ziel gewährleistet. Wir gehen auf Grundlage unserer aktuellen Einschätzung davon aus, dass wir die Zinsen in den nächsten Sitzungen weiter erhöhen werden, um die Nachfrage zu dämpfen und dem Risiko einer andauernden Aufwärtsverschiebung der Inflationserwartungen vorzubeugen.“ (Pressekonferenz der EZB-Präsidentin Christine Lagarde am 8.9.22)

Wie die Fed beobachtet auch die EZB in ihrer Währungszone seit längerem steigende Preise für Waren, Dienstleistungen und Kapitalgüter, die sie als den Fortgang der Wirtschaft gefährdende Geldentwertung identifiziert und zu bekämpfen hat. Wie diese weiß auch die europäische Zentralbank gute Gründe für die „überreichliche Geldversorgung“ der Gesellschaft, zu der sie durch ihre „Politik des leichten Geldes“ maßgeblich beigetragen hat. Auch sie hat durch die Pandemie hindurch den Unternehmen und Staaten mit Kredit zu niedrigsten und sogar negativen Zinsen und durch den Aufkauf von Anleihen dazu verholfen, die Zahlungsfähigkeit zum Weiterbetrieb der Wirtschaft zu erhalten, die die phasenweise stillgestellte Wirtschaft selbst nicht mehr erzeugt. Mit ihren sehr „akkommodierenden“ Zinssätzen hat die EZB geholfen, die Wirtschaftstätigkeit in der Eurozone immerhin wieder auf das Vor-Corona-Niveau zu bringen. Das unerwünschte, aber kapitalistisch notwendige Ergebnis heißt eben Inflation, die schon vor dem Ukraine-Krieg angezogen hat.

In diesem sieht die EZB den zweiten, wuchtigeren, nur für Europa gültigen Grund der Inflation, der nicht aus „überhitztem“ Wirtschaftswachstum hervorgeht, sondern aus einer Notlage: Die Kampfmaßnahmen im Wirtschaftskrieg, den die europäischen Staaten gegen die Energiemacht Russland führen, und die russische Antwort, auf die hin Gas und Öl gar nicht mehr nach Europa fließen, bewirken deren Verknappung und dadurch eine Vervielfachung der Preise, die eine bedeutende Bedingung europäischer Profitmacherei verdirbt. Die „Energiepreisinflation“ wird noch beschleunigt dadurch, dass die europäischen Staaten selbst Öl und Gas in aller Welt um jeden Preis zusammenkaufen, um eine drohende Unterversorgung ihres Kapitalismus abzuwenden.

Die innere Inflation nehmen die Hüter des soliden Euro als „vorübergehend“ hin, schon weil sie angesichts der prekären Lage der Wirtschaft weiterhin günstige Finanzierungsbedingungen in der Eurozone für nötig halten – bis sie eben mit der Beschädigung des Außenwerts des Euro konfrontiert werden, die die Fed mit ihrer Zinswende herbeiführt. Die Geldhändler in aller Welt machen aus der Verknappung der US-Liquidität eine Höherbewertung des Dollar und eine Abwertung des Euro: Sie verteuern so den mit den Weltmarktpreisen für fossile Brennstoffe ohnehin wachsenden Dollar-Bedarf europäischer Einkäufer, während amerikanische Käufer entweder gleich in den USA zahlen oder mit Landeswährung auf dem Weltenergiemarkt, auf dem in Dollar fakturiert wird. Und Geldanleger aller Welt „schichten in Dollar um“: Sie sichern sich nicht nur höhere Zinseinnahmen, sie setzen darauf, dass der US-Kapitalismus mit seiner Wachstumsfähigkeit in der Weltmarktkonkurrenz nicht nur höhere Zinsen verdaut, sondern verdient, und dass die US-Macht der sicherste Garant der privaten Bereicherung gerade in „schweren Zeiten“ ist; sie spekulieren dabei auch auf das schuldenfinanzierte Wirtschaftsförderungsprogramm, das Biden den Zinssteigerungen zur Inflationsbekämpfung zur Seite stellt. Mit ihrer Höherbewertung des US-Dollar und relativen Abwertung des Euro bezweifeln die Geldkapitalisten der Welt ganz praktisch eine gleiche ökonomische und politische Potenz beim europäischen Geld und seinen Garanten.

Dagegen nimmt die EZB den Kampf auf, wenn sie „die Inflation bekämpft“. Wenn sie das Gleiche tut wie die Fed und die Zentralbankzinsen erhöht, ist es eben etwas ganz anderes. Und das bekennt sie selbst, wenn sie in aller Treue zu ihrem geldpolitischen Dogma, dass sie einen „Geldüberhang“ zu beseitigen hat, Zweifel an der Wirksamkeit ihres Durchgreifens kommuniziert.

Erstens sei die europäische Inflation gar nicht Produkt ihrer lockeren Geldpolitik zur Rettung und Förderung des Kapitalwachstums, also nicht durch zu „viel Geld aufseiten der Nachfrage“, sondern „angebotsseitig“ durch einen „externen Preisschock“ bei Energie entstanden und deshalb schwer zu bekämpfen. Professionell borniert bezeichnen die Geldhüter als „extern“, was die Staaten Europas an Sanktionspolitik gegen Russland beschlossen und damit der eigenen Ökonomie an Schaden aufgeladen haben. Auch dass die EZB selbst mit dem „extern“ verursachten Übel so gar nichts zu tun hat, stimmt nicht: Immerhin müssen die „Mondpreise“ auch bezahlt werden, sonst gibt es sie nicht; und dafür, dass sie bezahlt werden können, die Käufer also an günstige Kredite herankommen, ist die EZB mit ihrer „akkommodierenden Geldpolitik“ hilfreich gewesen – und eigentlich wird sie auch weiterhin in dieser Rolle gebraucht. Das ist eben der Unterschied zu den USA: Auch dort trägt der globale Anstieg der Spritpreise zur nationalen Inflation und schlechten Stimmung bei, aber die Preise steigen international in US-Dollar und lassen dessen Kurs steigen; zugleich verdienen die USA als Standort großer nationaler Förderunternehmen fossiler Energieträger und der globalen Energiemultis an den steigenden Preisen und damit auch an den schuldenfinanzierten Sicherungseinkäufen ihrer europäischen Wirtschaftskriegspartner.

Zweitens steht den Rettern des europäischen Geldes deshalb vor Augen, dass sie nicht wie die Fed womöglich durch ihre Zinspolitik eine Rezession auslösen, sondern dass ihre Aktion auf eine Lage trifft, in der ohnehin eine Rezession droht:

„Der EZB-Rat hat heute beschlossen, die drei Leitzinssätze der EZB um jeweils 75 Basispunkte anzuheben...Wir gehen aber davon aus, dass sich die Wirtschaftstätigkeit im weiteren Jahresverlauf erheblich verlangsamen wird. Dafür sprechen vier Gründe. Erstens: Die hohe Inflation dämpft die Ausgaben und die Produktion in der gesamten Wirtschaft, und diese widrigen Faktoren werden durch Störungen der Gasversorgung verstärkt. Zweitens: Die Nachfrage nach Dienstleistungen, die sich nach der Wiederöffnung der Wirtschaft deutlich erholt hatte, wird in den kommenden Monaten an Fahrt verlieren. Drittens: Durch die Abschwächung der weltweiten Nachfrage – auch vor dem Hintergrund der strafferen Geldpolitik in vielen großen Volkswirtschaften – und durch die Verschlechterung der Terms of Trade wird die Wirtschaft im Euroraum weniger Unterstützung erhalten. Viertens: Die Unsicherheit ist nach wie vor groß und das Vertrauen sinkt rapide... Infolge der konjunkturellen Abkühlung dürfte die Arbeitslosenquote künftig ansteigen.“ (Pressekonferenz der EZB-Präsidentin Christine Lagarde am 8.9.22)

„Die hohe Inflation“ verteuert und verunsichert das Geschäftemachen, und die „straffere Geldpolitik“, die eigene Aktion der EZB also, verstärkt den Effekt durch Erhöhung der Zinskosten der Unternehmen noch einmal. Zudem trifft die wegen des Außenwerts nötig gewordene Erhöhung der Zentralbankzinsen auf eine bereits geschwächte Kaufkraft. Unternehmen können sich gegen den „Energiepreisschock“ zwar erst mal schadlos halten durch die Erhöhung ihrer Verkaufspreise, nicht aber der „Endverbraucher“; der soll nach dem Willen der Politik den Preis für seine Arbeitsleistung auf keinen Fall steigern. Politiker wie Zentralbanker loben Gewerkschaften, die keine Lohnsteigerungen durchsetzen, die die Unternehmer schon wieder zu einer Preisspirale machen „müssten“. [1] Die andere Seite der begrüßten Befreiung von Lohnkosten melden Unternehmen aber von Tag zu Tag, von Branche zu Branche besorgter an, dass nämlich „Kaufkraftverluste“ ihrer Kundschaft ihnen eine „Rezession“ in Aussicht stellen. Auch beim Blick über Europas Grenzen hinaus entdeckt die EZB wenig kompensatorische „Unterstützung“, weil auf vielen angestammten Exportmärkten die US-Zinspolitik zum Nachziehen bei den nationalen Leitzinsen nötigt und die in teureren Dollars zu zahlenden, ohnehin steigenden Energiepreise Zahlungskraft okkupieren, die für Europas Exporteure dann schon mal nicht mehr abzugreifen ist.

Drittens stellt die EZB ihrer Inflationsbekämpfung durch höhere Zinsen ein neues Instrument zur Seite, das Einblick in die Natur des Gemeinschaftsgeldes verschafft:

„TPI steht für ‚Transmission Protection Instrument‘. Mit gezielten Käufen von Staatsanleihen einzelner Euro-Länder will die EZB unter bestimmten Bedingungen sicherstellen, dass ihre Geldpolitik in allen Regionen des Euro-Raums gleichermaßen wirksam wird.“ (Handelsblatt, 6.10.22)[2]

Der Kampf um den (Außen-)Wert des Euro durch höhere Zentralbankzinsen wirft für die konkurrierenden Euro-Nationen die Frage neu auf, was ihre jeweiligen Wirtschaftsstandorte an Zinsen verkraften und was sie ihre national spezifische Staatsverschuldung kostet, und das in einer Situation, in der die Ökonomien mit den Folgen des Wirtschaftskriegs und die Staaten mit Schadensbekämpfung befasst sind. Das, mitsamt der EZB-Zinserhöhung, schlägt sich nieder in der kritisch vergleichenden Beurteilung ihrer nationalen Konkurrenzlage und ihrer jeweiligen Kreditpapiere durch die internationalen Geldanleger, die sich mit Aufschlägen, „Spreads“, ihre differenzierte Risikobereitschaft bezahlen lassen. Akut wird damit nichts Geringeres als der Grundwiderspruch des Euro: Das Gemeinschaftsgeld wird von konkurrierenden Nationen bewirtschaftet, die es zu einer Scheidung in international höchst kreditwürdige Staaten wie insbesondere Deutschland und in hoch verschuldete gebracht haben, die von ihrer Benutzung als europäischer Kapitalstandort weniger profitieren. Bei ihrer Rettung des Gemeinschaftsgeldes vor Entwertung stellt die EZB diese Sprengkraft für die europäische Staatengemeinschaft in Rechnung, indem sie – sehr konstruktiv – den Widerspruch ihres Schutzobjekts als handhabbares Problem der „einheitlichen Umsetzung“ ihrer Geldpolitik ins Auge fasst: Sie muss bei der Verteidigung des Werts des Euro zugleich darauf achten, dass die Kreditwürdigkeit der Eurozone als ganzer keinen Schaden nimmt. In der Praxis läuft dieser Widerspruch auf eine notwendige Inkonsequenz hinaus: Die EZB ergänzt die Verteuerung und Verknappung von Liquidität um die Stiftung von zusätzlicher Liquidität – für den unproduktiven Zweck, zersetzende Spekulationen gegen europäische Staatsschulden aufzukaufen.

Die Option, wie die USA auf der einen Seite die für schädlich erachteten „überschäumenden“ Kredite durch die Geldpolitik kontrahieren zu lassen, auf der anderen mit beeindruckenden Regierungskrediten die Geschäftswelt zur Eroberung der „Zukunftsmärkte“ aufzurüsten, steht Euroland schließlich nicht zu Gebote. Im Gegenteil: Noch ehe entsprechende Projekte das Planungsstadium verlassen, wird das revolutionäre 750-Mrd.-Investitionsprogramm „Next Generation EU“, für das die Brüsseler Kommission zum ersten Mal als eigenständiger Schuldner auftreten darf und mit dem die EU aus der Corona-Krise herauswachsen und sich neue industrielle Konkurrenzfähigkeit auf dem Feld der CO2-freien Energietechniken erschließen wollte, schon umgewidmet und unter Aufgabe seiner innovativen Zielsetzungen den klammen Mitgliedsstaaten zur Bewältigung ihrer aktuellen Nöte freigegeben. [3] Von ihrer Seite hat die EZB weniger eine Entlastung bei ihrem Rezessionsproblem zu erwarten als einen weiteren Angriffspunkt auf den internationalen Wert des Euro durch die Finanzwelt. Da den richtigen, „neutralen“ Zinssatz zu finden, „mit dem die Wirtschaft weder angeschoben noch gebremst wird“ (Lagarde), der also den Geldwert verteidigt, ohne die Rezession zu vertiefen, erscheint den Geldpolitikern in Frankfurt wie eine Quadratur des Kreises. Sie ergänzen ihre Politik der Zinserhöhungen daher mit dem wohlfeilen, den Aufwendungen zur Schadensbekämpfung direkt widersprechenden Appell an die Mitgliedsländer, durch Sparsamkeit und den Abbau von Staatsschulden zur Solidität der Gemeinschaftswährung beizutragen. [4]

Deutschland leistet sich die Finanzierung seiner Kriegslasten

In diese europäische Konkurrenzlage hinein platziert die Berliner Regierung ihren „Doppelwumms“. Die Angebersprache ist gewollt. Die ökonomische Führungsmacht von Euroland scheut den Vergleich mit der Dollarmacht nicht: In Analogie zu ihr genehmigt sich Deutschland mitten hinein in die Kreditverknappungspolitik der beiden Notenbanken eine gigantische Ausweitung der staatlichen Schuldenwirtschaft und damit die Demo, dass man sich alles leisten kann, was man für nötig hält. Deutschland stellt seine Kreditmacht ins Schaufenster als Vertrauensstifter für Geschäfte auf dem Standort und präsentiert seine nächste 200-Mrd.-Schuldenermächtigung der Finanzwelt als Investitionsgelegenheit.

Herausgebildet hat sich das Projekt „Wirtschaftlicher Abwehrschirm gegen die Folgen des russischen Angriffskriegs“ aus geplanten und immer wieder als unzureichend verworfenen Finanzhilfen für Bürger und Unternehmen, die ihnen ermöglichen sollten, mit den stark gestiegenen Energiepreisen fertig zu werden und halbwegs unbeschadet, jedenfalls ohne allzu schlimmes Frieren und Geschäftseinbrüche über den Winter zu kommen. Begründet wird der große Schirm, wie der Name schon sagt, mit Putin, der für alle Schäden, die der westliche Wirtschaftskrieg gegen sein Land in dem unseren anrichtet, verantwortlich gemacht wird und gegen den die ganze Abwehr sich richten soll.

Dabei folgen die gerne mit der Fürsorge für Familien, Rentner und kleine Gewerbetreibende begründeten Gas- und Strompreisdeckel, die spendierten Abschlagszahlungen und sonstigen Nachhilfen einem über diese Betroffenen klar hinausweisenden Kalkül:

„Die durch Putins Angriffskrieg steigenden Energiekosten für fossile Energie führen nicht nur zu hohen Belastungen, sondern auch zu anhaltend hoher Inflation. Die Ampelkoalition hat auf die herausfordernde Situation immer wieder reagiert. Der Abwehrschirm ist nun eine konsequente Antwort auf die Gefahr, dass über sinkende Konsumausgaben der privaten Haushalte eine Abwärtsspirale für die deutsche Wirtschaft in Gang gesetzt werden wird.“ (gruene-bundestag.de, 21.10.22)

In ihrer Eigenschaft als billige Arbeitskräfte hochgeschätzt, sind die endverbrauchenden „Bürgerinnen und Bürger“ zugleich dafür vorgesehen, den Unternehmen einen nicht unbedeutenden Teil ihres Warenkapitals abzukaufen. Dass sie verarmen, mag für sie bitter und für den Staat ein soziales Problem sein. Das eigentliche, systemrelevante Problem aber besteht darin, dass, wenn ihnen die Konsumkraft ausgeht, der Wirtschaftskreislauf stockt. Dabei drückt die Sorge vor einer Abwärtsspirale schon mehr aus als den wirtschaftspolitisch üblichen Eingriffsbedarf in das periodische Auf und Ab der Konjunktur.

Die wirtschaftlichen Kriegsakte gegen Russland und die Schäden, die sie an der eigenen Ökonomie bewirken, führen zu einer neuen, offenbar ernsten Bedrohung der deutschen Wirtschaftsmacht, die tatsächlich aber aus einer ganz anderen Richtung als aus Osten kommt. Sie geben der Konkurrenz unter den verbündeten westlichen Russenfeinden, die davon betroffen sind bzw. die Betroffenheit anderer ausnutzen, eine ausschließende Note: Es geht um Ruinierung oder Behauptung der jeweiligen nationalen Position in der Weltwirtschaft.

„Wir müssen in der Tat sehr aufpassen, dass uns nicht wirtschaftliche Substanz verloren geht – und zwar auf Dauer, insbesondere in der Chemie und der Grundstoffindustrie. Dass gerade viel Energie gespart wird in den Unternehmen, muss beileibe nicht nur ein gutes Zeichen sein... Deindustrialisierung findet leise statt. Gerade Unternehmen mit ausländischen Müttern fahren hier runter und woanders wieder hoch.“ (Stephan Weil, Wirtschaftswoche, 23.9.22)

Die hohen Energiepreise bewirken eine im internationalen Vergleich dauerhaft verringerte Kapitalproduktivität, schaffen also für Unternehmen einen Grund, aus Deutschland abzuwandern oder zunächst „hier runter- und woanders hochzufahren“. Tesla entscheidet sich für den Ausbau der Batterieproduktion in Texas – zuungunsten des brandenburgischen Grünheide; BMW kündigt an, 1,7 Milliarden in die Produktion von Elektroautos und Batterien in South Carolina zu investieren. 369 Milliarden Dollar investiert die US-Regierung „in die bisher offensivsten Maßnahmen ... die wir je ergriffen haben, um der Klimakrise zu begegnen und unsere Energiesicherheit zu stärken“ (Biden, de.usembassy.gov, 31.8.22). Sie macht damit den US-Standort uneinholbar attraktiv für Investitionen in die neuen Energietechnologien. Zugleich treibt die Geldpolitik der Fed die Kreditkosten in die Höhe und sorgt darüber hinaus für ein Ansteigen des Dollarkurses, was die Energie für ausländische Käufer weiter verteuert. Die USA nutzen den Krieg in der Ukraine und seine Folgen doppelt: zur Deklassierung der russischen Macht und zur Sicherung der politischen und ökonomischen Dominanz über ihre Verbündeten. Deutschland droht ein Verlust „wirtschaftlicher Substanz“, ja sogar eine „Deindustrialisierung“. Es hat zu kämpfen um den Status eines Wirtschaftsstandorts, der bleibend in der Lage ist, global vergleichende Investoren an sich zu binden, also um die Bewahrung der ökonomischen Erfolge, die es gegen den Rest der Staatenwelt errungen hat.

Nicht gegen Russland, das immer genannt wird, sondern gegen die Bedrohung durch die westliche Führungsmacht setzt die europäische ihren „Wumms“. Allein schon die Ankündigung des gewaltigen Finanzierungsprogramms – doppelt so groß wie der kürzlich aufgesetzte Sonderfonds für die Aufrüstung der Bundeswehr – soll Wirkung entfalten.

„Auf die Aggression Russlands reagieren wir entschlossen und stellen heute klar, dass es keinen Zweifel daran gibt, dass wir die notwendigen finanziellen Ressourcen aufbringen, um gegenzuhalten. Dafür stellen wir, auch als Signal an Russland und für die Planbarkeit der Verbraucherinnen und Verbraucher und Unternehmen, bereits heute ein so hohes Finanzvolumen zur Verfügung. Die Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen können darauf vertrauen, dass der Abwehrschirm mit ausreichenden finanziellen Ressourcen ausgestattet ist.“ (Beschlusspapier der Bundesregierung zum Abwehrschirm)

Die Präsentation der Riesensumme, noch bevor jemand ausgerechnet hat, welche Beträge wofür benötigt werden, ist schon die erste Leistung. Sie schafft „Vertrauen“ in staatliche Unterstützung, damit Unternehmen, Kreditgeber und Verbraucher die Rezession, die unterwegs ist, nicht auch noch verschärfen, indem sie vorsichtig werden und ihr Geld zusammenhalten. Wenn sie sich darauf verlassen, dass Geld fließen wird, müssen sie jetzt nicht auf Zahlung gegenüber Kunden und Kreditnehmern bestehen, können mit der Stornierung von Aufträgen warten und müssen als Endverbraucher in Erwartung horrender Energierechnungen ihre sonstigen Konsumausgaben nicht brachial nach unten fahren. So wird die von der Regierung angeregte Spekulation der verschiedenen Wirtschaftssubjekte auf eine Unterstützung, von der nicht bekannt ist, was sie dem Einzelnen tatsächlich bringt, zum ersten Krisenbekämpfungsmittel.

Das Selbstbewusstsein, mit dem die Regierung die außerordentliche Verschuldungsfreiheit des deutschen Staates mobilisiert, kontrastiert allerdings ein wenig mit dem Zweck, für den sie das tut: die Minderung der Schäden an der ökonomischen Basis, auf der diese Verschuldungsfähigkeit beruht. Sie legt Schulden auf, die nichts anderes finanzieren als das Aushalten der Krise. Mit ihnen erhält der Staat ein Stück Massenkaufkraft, also zahlungsfähige Nachfrage nach den Produkten der Wirtschaft; zudem hilft er ihr direkt mit der Subventionierung der Strom- und Gaspreise. Diese Leistungen für den Fortgang des Wirtschaftsprozesses, die der aus sich nicht mehr erbringt, ersetzt die Regierung mit ihrer Kreditmacht in der Absicht und Berechnung, dadurch die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft zu erhalten – im Unterschied und als Gegensatz zu anderen Staaten, die sich das Herauskaufen der Schäden nicht in gleichem Umfang leisten können. Länger durchhalten als andere ist ein Konkurrenzprogramm, das die Schäden der Krise auf andere nationale Kapitalstandorte abwälzt. Die weniger finanzkräftigen Partner in der EU, einschließlich Frankreichs, bemerken diese Stoßrichtung des Abwehrschirms denn auch sofort und verurteilen den deutschen Alleingang als einen arroganten, unsolidarischen und antieuropäischen Akt, da Europa ja als ganzes aus der Krise des Wirtschaftskrieges herauskommen und seinen Platz in der Welt behaupten müsse.

Die Kritik der europäischen Partner weist der deutsche Finanzminister zurück – das 200-Mrd.-Programm sei der Größe der deutschen Wirtschaft angemessen – und streicht mit seinem „Wir können das!“ den Abstand zu den Partnerstaaten geradezu prahlerisch heraus:

„Wir setzen jetzt unsere wirtschaftliche Stärke ein: Wir borgen uns aus der Zukunft Geld, um heute diese ruinösen Preisspitzen abzufangen... So gut, wie Deutschland jetzt dasteht – die Staatsanleihen Deutschlands sind der Goldstandard –, das zeigt, dass gegenwärtig Deutschlands Finanzen in Ordnung sind.“ (Christian Lindner bei Maischberger, 19.10.22)

Lindner bekennt sich zum spekulativen Charakter des Manövers – „Wir borgen uns aus der Zukunft Geld“ – und behauptet zugleich, dass für Deutschland das damit verbundene Risiko keines ist. Das ist frech, denn worauf der Minister da als eine exklusiv deutsche Potenz setzt bzw. was er gegen die Partner einsetzt, ist die inzwischen erreichte Weltgeld-Qualität der EU-Gemeinschaftswährung, die auf der kapitalistischen Leistungsfähigkeit der gesamten Eurozone gründet und mit ihr auch steht und fällt. Die ausschließlich deutsche Verschuldungsfreiheit, die er reklamiert, macht die Konkurrenzerfolge Deutschlands zum Schaden der Partner im Euro zum Argument: Der Stand aufgelaufener Staatsschulden, die deutsche Regierungen für die Organisation der Konkurrenzfähigkeit des nationalen Standorts für nötig befunden haben, ist um einiges niedriger als der der Partner, die dabei weniger erfolgreich waren; Deutschland werden seine Schulden zu global niedrigsten Zinsen abgenommen. Der „Goldstandard“ deutscher Staatsanleihen beruht also auf dem internationalen Erfolg der Eurozone und zugleich auf der durch überlegene deutsche Konkurrenzmacht bewirkten Schädigung der Partner in ihr, deren Wachstum es dafür ebenfalls braucht.

Kabinettskollege Habeck belässt es nicht beim Lindner’schen Stolz auf die deutsche Kreditmacht, sondern erinnert daran, dass ihr Einsatz für ein Durchhalteprogramm, das seinen Nutzen vorwiegend gegen die europäischen Partner entfaltet, wenigstens unzureichend ist, um sie in die Zukunft fortzuschreiben und auszubauen. Zumal, Habeck spricht das offen an, der Angriff auf sie letztlich nicht von Russland und dem Wirtschaftskrieg ausgeht, sondern von den USA. Dagegen ist die exorbitante Beanspruchung der deutsch-europäischen Kreditwürdigkeit nicht nur nötig – nur als europäische Konkurrenzoffensive hat sie auch Perspektive.

„Gerade in dieser Lage ist es ... wichtig, über die Not des Tages hinauszublicken. Wir müssen uns neben akuter Krisenhilfe mit Wucht aus dieser Krise heraus investieren und den Weg zur Klimaneutralität konsequent beschreiten. Nur so sichern wir die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft. Der Inflation Reduction Act der USA sollte Europa Ansporn sein für ein europäisches Investitionsprogramm zu Transformation und Klimaneutralität.“ (Habeck, Herbstprojektion der Bundesregierung, 12.10.22)

Das amerikanische Investitions- und Subventionsprojekt ist als die Herausforderung europäischer Wirtschaftsmacht anzunehmen, die es ist, und – ein „Ansporn“ – auf gleicher Ebene zu beantworten. Dem Ausbau der erneuerbaren Energien, zuletzt von Habeck als Waffe gegen Putin angepriesen, gibt er eine weitere interessante Zweckbestimmung: die Selbstbehauptung Europas gegen die USA. Zukunftstechnologien aller Art müssen hier entwickelt und angewendet werden – und nicht dort. Die oder wir! Ausschließende Konkurrenz der Wirtschaftsräume ist die Zukunft.

[1] „Eine Gefahr ist das Entstehen einer Lohn-Preis-Spirale. Wenn die Arbeitnehmer vor dem Hintergrund steigender Inflationserwartungen sehr hohe Lohnzuwächse fordern und Unternehmen diese dann durch noch höhere Preise weitergeben, können sich Löhne und Preise gegenseitig hochschaukeln... Bislang gilt: Die Lohnabschlüsse halten bei Weitem nicht mit der Inflation Schritt. Preisbereinigt fallen die Löhne – und damit die Kaufkraft.“ (Isabel Schnabel, Mitglied des EZB-Direktoriums, t-online, 22.9.22)

[2] „Das TPI soll eine effektive Transmission des geldpolitischen Kurses sicherstellen und eine einheitliche Geldpolitik in allen Ländern des Euroraums unterstützen. Die Einheitlichkeit der Geldpolitik ist eine Grundvoraussetzung zur Erfüllung des Primärmandats des Eurosystems: der Preisstabilität. Das TPI wird das Instrumentarium des Eurosystems ergänzen und kann aktiviert werden, um ungerechtfertigten, ungeordneten Marktentwicklungen entgegenzuwirken, sofern diese eine ernsthafte Bedrohung für die einheitliche Transmission der Geldpolitik im Euroraum darstellen. In diesem Fall könnte das Eurosystem Wertpapiere aus einzelnen Ländern ankaufen, um eine Verschlechterung der Finanzierungsbedingungen, die nicht durch länderspezifische Fundamentaldaten gerechtfertigt ist, zu bekämpfen. Die Ankäufe finden am Sekundärmarkt statt und sind auf Anleihen des öffentlichen Sektors fokussiert. Wertpapiere des Privatsektors können berücksichtigt werden, sofern dies angemessen erscheint.“ (Deutsche Bundesbank zu „Transmission Protection Instrument“, bundesbank.de)

[3] Der deutsche Kanzler, gefragt, ob es angesichts von Wirtschaftskrieg und Rezessionsgefahr nicht an der Zeit wäre, ein weiteres Kreditprogramm mit der EU als Schuldner aufzulegen, wehrt die Forderung ab mit der entwaffnenden Auskunft, so etwas habe man ja schon. Die Zweckentfremdung des „Next Generation EU“-Programms, die der Not folgt und die geplante europäische Konkurrenzoffensive erst mal vertagt, drückt er als den Vorteil aus, dass man diesmal schon vor und in der Krise über ein Programm verfügt, wie es üblicherweise erst hinterher zu haben ist:

„Was die konkrete Frage betrifft, ist es so, dass ich mich in der Tat sehr dafür eingesetzt habe, dass wir auf die Corona-Pandemie mit dem europäischen Wiederaufbaufonds reagieren. Der hat große Wirkung entfaltet, im Wesentlichen, wie ich einmal sagen will, durch die Bereitschaft zum Zusammenhalt, die wir damit gezeigt haben. Der größte Teil der Mittel ist ja bis heute nicht in Anspruch genommen worden, sondern wird in diesem, im nächsten und im übernächsten Jahr allmählich Stück für Stück ausgegeben. Deshalb haben wir jetzt die ganz besondere Situation, dass wir einen Recovery Fund konstruiert haben, einen Wiederaufbaufonds, der in der Krise greift... Das heißt, anders als sonst passiert es, dass das Investitionsprogramm nicht nach der Krise greift und seine Wirkung gewissermaßen als Hoffnung für die Zukunft erst entfalten muss, sondern durch das Unglück, dass auf die COVID-19-Pandemie eine neue Krise folgt – nämlich, dass die Fragen der Energiesicherung aufgerufen sind, weil Russland den Krieg gegen die Ukraine begonnen hat und damit die Energiesicherheit von uns allen gefährdet ist –, ist es so, dass das jetzt greift. Das muss auch im Mittelpunkt aller Aktivitäten stehen, dass wir sagen: Da haben wir ein riesiges Programm von zusammen 750 Milliarden Euro, von dem das allermeiste Geld überhaupt noch nicht in Anspruch genommen worden ist, aber gerade jetzt besonders wirksam sein kann. Das müssen wir dann bei den konkreten Dingen, die wir miteinander diskutieren, im Blick haben.“ (Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und dem Ministerpräsidenten Rutte anlässlich der Sitzung des deutsch-niederländischen Klimakabinetts am 4.10.22)

[4] „Lagarde rief die Regierungen der Eurozone dazu auf, sich auch weiterhin um einen Abbau ihrer Staatsschulden zu bemühen. Die Regierungen sollten eine Finanzpolitik verfolgen, ‚die zeigt, dass sie die hohen staatlichen Schulden schrittweise reduzieren wollen‘. Sie plädierte gleichzeitig aber auch für Hilfen für die ‚Schwachen‘ – wenn auch ‚befristet und gezielt‘.“ (Tagesschau, 27.10.22)