Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Erdoğan vs. Özdemir – „verdorbenes Blut“ vs. „anatolischer Schwabe“
Unstimmigkeiten über den angemessenen Gebrauch nationaler Identität in der deutsch-türkischen Völkerfreundschaft
Einen Tag lang herrscht wirklich Empörung im politischen Deutschland. Nachdem der Deutsche Bundestag die Armenien-Resolution angenommen hat, meldet sich der türkische Staatspräsident Erdoğan zu Wort. Die Aufregung gilt dabei weniger den angedrohten politischen Gegenmaßnahmen des türkischen Staatspräsidenten, sondern vor allem seinem Angriff auf das knappe Dutzend türkischstämmiger Abgeordneter, die für die Aufnahme der Türken in die Galerie der Tätervölker in Sachen Völkermord gestimmt haben: Das Blut
der Abgeordneten müsse verdorben
sein – so Erdoğan – und bedürfe wohl einer Laboruntersuchung
, wenn sie sich derart für eine antitürkische Sache starkmachen. Türken können sie jedenfalls nicht sein, sondern eher so etwas wie PKK-Terroristen, sagt er.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Erdoğan vs. Özdemir – „verdorbenes
Blut“ vs. „anatolischer Schwabe“
Unstimmigkeiten über den angemessenen
Gebrauch nationaler Identität in der deutsch-türkischen
Völkerfreundschaft
Einen Tag lang herrscht wirklich Empörung im politischen
Deutschland. Nachdem der Deutsche Bundestag die
Armenien-Resolution angenommen hat, meldet sich der
türkische Staatspräsident Erdoğan zu Wort. Die Aufregung
gilt dabei weniger den angedrohten politischen
Gegenmaßnahmen des türkischen Staatspräsidenten, sondern
vor allem seinem Angriff auf das knappe Dutzend
türkischstämmiger Abgeordneter, die für die Aufnahme der
Türken in die Galerie der Tätervölker in Sachen
Völkermord gestimmt haben: Das Blut
der
Abgeordneten müsse verdorben
sein – so Erdoğan –
und bedürfe wohl einer Laboruntersuchung
, wenn sie
sich derart für eine antitürkische Sache starkmachen.
Türken können sie jedenfalls nicht sein, sondern eher so
etwas wie PKK-Terroristen, sagt er.
Völlig klar: Erdoğan fordert mit seiner Tirade der Sache
nach bedingungslose Loyalität gegenüber ihm und
seinem Staatsprogramm ein, und zwar auch – das
macht ja erst den Skandal – von türkischstämmigen
Deutschen, die seit Jahrzehnten deutsche Staatsangehörige
sind und im Bundestag für Deutschland Politik machen.
Erdoğan definiert sie nämlich als seine
Türken, beansprucht sie als sein Bataillon, so
in etwa nach dem Motto ‚einmal Türke, immer Türke!‘ Und
wenn die dem Anspruch nicht nachkommen, dann fällt
Erdoğan sein Bild vom ‚verdorbenen Blut‘ der Abgeordneten
ein. Mit dem besteht er darauf, dass die von ihm
eingeforderte Parteilichkeit für Staat und Nation viel
mehr sein soll als die zeitlebens geschulte und
praktizierte Gewohnheit, wie sie Staatsbürgern
tatsächlich so sehr eigen ist, dass sie ihnen sozusagen
‚in Fleisch und Blut übergegangen‘, ihnen also zu ihrer
‚zweiten Natur‘ geworden ist. Als nähme er die Redensart
bitterernst, stilisiert er die von ihm beanspruchte
staatsbürgerliche Nibelungentreue zur Türkei zur quasi
ersten, biologischen Natur eines
Türkischstämmigen, der man überhaupt nicht auskommen
kann, ganz egal, ob man türkischer Staatsbürger
ist: zum Blut
aller Türken eben, das bei den von
der Fahne gegangenen deutschen Abgeordneten nur
verdorben
sein kann, wenn sie so votieren. Die
sind untürkische Elemente und müssen aus dem gesunden
Volkskörper aller Türken entfernt werden...
Genau dieses blutsmäßig daherkommende Bild von
der türkischen Identität bringt den deutschen
Politikbetrieb so auf die Palme: Dass ein demokratisch
gewählter Staatspräsident im 21. Jahrhundert seine Kritik
an demokratisch gewählten Abgeordneten des Deutschen
Bundestages mit Zweifeln an deren türkischer Abstammung
verbindet, ihr Blut als verdorben bezeichnet, hätte ich
nicht für möglich gehalten
, sagt Bundestagspräsident
Lammert. Blut und Gesinnung, biologische Abstammung und
politisch-nationale Loyalität so rassistisch in
eins zu setzen, so wie es die Nazis im 20. Jahrhundert
getan haben, das geht im globalisierten, modernen
Deutschland natürlich gar nicht. Einerseits. Andererseits
heißt das noch lange nicht, dass im toleranten
Deutschland des 21. Jahrhunderts die Abstammung als
Argument im politischen Diskurs out wäre. Lammert selbst
macht sich ja im selben Atemzug an die Ehrenrettung
dieser Gleichung von ‚Woher stamme ich?‘ und ‚Wer bin ich
also, was macht mich aus?‘, wenn er Erdoğans Zweifel
an der Abstammung
für die größtmögliche Beleidigung
hält, die jener den neudeutschen Abgeordneten antun kann.
Sich über die Abstammung von Eltern einem Volkskollektiv
innerlich zurechnen zu dürfen, das hält offenbar auch der
Chef des deutschen Parlaments für den unveräußerlichen
Wesenskern eines Menschen, ohne den man allenfalls noch
ein halber ist... Und der deutsche Initiator der
Armenien-Resolution und Exponent der türkischstämmigen
Abgeordneten, Cem Özdemir, führt dann auf eine etwas
andere Art als der türkische Staatspräsident mit seinem
primitiv-völkischen ‚Bluttest‘ vor, was im politischen
Streit mit dem ‚Argument‘ der nationalen Identität alles
geht.
Der schwäbische Bundestagsabgeordnete, Bundesvorsitzender
der Grünen und nach öffentlicher Selbstauskunft
anatolischer Schwabe
, präsentiert sich nämlich bei
der Rechtfertigung seines politischen Anliegens, den
türkischen Staat durch eine offizielle deutsche
Völkermord-Resolution politmoralisch zu ächten, gleich
mit mehreren nationalen Identitäten. Seinen
Antrag, den scharfmacherischen Vorbehalt gegenüber dem
türkischen Staat zur Sache des ganzen deutschen
Parlaments und damit zum Besitzstand der deutschen
Türkei-Politik zu machen, begründet Özdemir erstens in
seiner Eigenschaft als deutscher
Abgeordneter, der er durch mustergültige
Integration geworden ist:
„Unseren türkischen Freunden möchte ich sagen: Es geht nicht um Fingerzeigen, es geht nicht darum, dass wir moralische Hoheit für uns beanspruchen. Denn wir bringen diesen Antrag ja gerade nicht ein, weil wir uns moralisch überlegen fühlen oder uns in fremde Angelegenheiten einmischen wollen, sondern weil es hier eben auch um ein Stück deutscher Geschichte geht. Die Aufarbeitung der Schoah ist die Grundlage unseres demokratischen Deutschlands. Deshalb ist es Zeit, dass wir nun auch andere Verbrechen von früheren Vorläuferstaaten der Bundesrepublik Deutschland aufarbeiten. Darum will auch ich ausdrücklich den Völkermord an den Herero und Nama erwähnen.“ (Dieses und die folgenden Zitate: Cem Özdemir im Bundestag am 2.6.16)
Özdemir weiß schon, wie er seine deutsche Identität, die
er auf dem Standesamt in Bad Urach erworben hat,
politisch einzusetzen hat: Fünfmal identifiziert er sich
mit dem deutschen „Wir“ einer sich geläutert gebenden
Nation. Er bekennt sich offensiv zu deren Ex-Schandtaten,
nur um damit das Recht einzufordern, über andere Staaten
zu richten, und das noch mit dem schönen
Dementi, dabei könnte es sich um Bevormundung und
moralische Überheblichkeit handeln. Dafür zitiert er die
Judenvernichtung als den Musterfall einer durch
das kollektive Bekenntnis zur nationalen Verfehlung
gesühnten Schuld, um dieselbe Art, ‚Geschichte
aufzuarbeiten‘, für sein politisches Anliegen
der Ächtung der Türkei in Anschlag zu bringen und als
selbsternannter Richter von der heutigen Türkei ein
Schuldeingeständnis einzufordern. Deshalb übernimmt er,
der türkischstämmige Deutsche, quasi persönlich
Mitverantwortung für den Vorläuferstaat
der BRD,
das vor 100 Jahren erloschene Kaiserreich inklusive
seiner Verbrechen
: Er identifiziert sich – nicht
„blutsmäßig“, sondern frei moralisch – mit einem weder
freien noch moralischen, sondern durch politische Gewalt
konstituierten Volkskollektiv der Deutschen. Das macht er
als nationales „Wir“ vorstellig, als eine in die
Vergangenheit zurückreichende Schicksals- und
Verantwortungsgemeinschaft, der er naturwüchsig zugehört,
was ihn zur Anklage gegen die Türkei berechtigt, nein,
geradezu verpflichtet.
Daneben beansprucht Özdemir noch ein zweites Mal seine
ganz besondere Zuständigkeit für die staatsmoralische
Zurechtweisung des türkischen Staates. Die steht ihm zu
wegen seines modern-aufgeklärten Türkentums, das
er als Sohn seiner türkischen Mutter, als „anatolischer
Schwabe“ eben, geerbt hat und bis in seine offizielle
Homepage hinein offensiv pflegt. Dafür muss und will
Özdemir gar nicht auf ‚türkisches Blut‘ oder ‚türkische
Gene‘ verweisen. Seine notorische Erinnerung, dass er
durch Abstammung eigentlich auch noch Türke ist,
reicht da schon, um der Menschheit mitzuteilen, dass er
ganz genau weiß
, wovon er spricht: Mit seiner
türkischen Hälfte spricht er sich ein quasi
naturgegebenes moralisches Anrecht zu, Erdoğan und den
Türken zu sagen, wo es in Sachen nationales Schämen,
richtiges Regieren und passender Umgang mit
Demonstranten, Religion usw. langgeht. Der deutsche
Grünenpolitiker geriert sich als befugter Mahner von
innen her, als Mitglied des türkischen Kollektivs; als
solches nimmt er den deutschen Forderungen an den
türkischen Staat den Ruch der illegitimen auswärtigen
Einmischung.
Damit ist aber noch lange nicht Schluss. Özdemir lässt uns wissen, dass er auch noch Sohn eines Vaters ist, und der war Angehöriger einer Völkerschaft, die man in der Propaganda für die vorliegende Armenien-Resolution schon wieder gut gebrauchen kann:
„Ich will an das Leid der Tscherkessen erinnern – darunter die Vorfahren meines Vaters –, von denen manche Experten sagen, dass das, was ihnen widerfuhr, auch als Völkermord beschrieben werden kann. Auch ihre Geschichten warten darauf, erzählt zu werden, damit künftige Generationen ein Bild der türkischen Geschichte vermittelt bekommen, das eben nicht schwarz und weiß ist, sondern bunt und komplex... Was vielleicht am bittersten ist: ‚Du Armenier‘ ist schon immer ein Schimpfwort in der Türkei gewesen. Aber es ist heute mehr denn je ein Schimpfwort. Auch ich werde als ‚Du Armenier‘ bezeichnet... Als jemand, der aus einer sunnitisch-muslimischen Familie stammt, bin ich in großer Sorge, wenn ich an das Ostchristentum denke. Christliche Gemeinschaften sind ausgerechnet an der Geburtsstätte des Christentums von der Ausrottung bedroht.“
Es ist schon interessant, was in einem Menschen des
20./21. Jahrhunderts so alles steckt: Er ist
Nachfahre eines Tscherkessen,
dessen Vorfahren im 19. Jahrhundert aus dem Nordkaukasus
im russischen Kaukasus-Krieg ins Osmanische Reich
zwangsumgesiedelt worden sind, – Özdemir lebt als
Angehöriger einer typischen Opfergruppe, weshalb
er in seiner Rede im Bundestag öffentlich mitteilt, dass
er „als Armenier“ beschimpft wird. Und diese
familiär-abstammungsmäßige Betroffenheit
schleppt ein moderner Grüner gerne noch nach mehreren
Generationen mit sich herum und führt sie für die
Legitimierung seines aktuellen politischen Anliegens
gegen die Türkei ins Feld. Für dessen Berechtigung bemüht
er schließlich noch eine weitere, ganz naturwüchsig
zustande gekommene Identität: Er ist Mitglied einer
sunnitisch-muslimischen
Familie, also – schon wieder – eines tief
verwurzelten sittlichen Kollektivverbunds, der ihn als
moralische Instanz ausweist. Als solcher ist er am Ende
auch noch der berufene Anwalt für verfolgte
Religionsgemeinschaften in der heutigen Türkei.
Auch so geht also ‚einmal Türke, immer Türke‘! Özdemir
führt exemplarisch vor, was politisch mit vier (oder
waren’s fünf?) nationalen Identitäten geht. Mit seinem
Strauß an ‚Naturen‘ reklamiert er, in einer Person
erstens zuständiger moralischer Ankläger, zweitens
Sachverständiger einer modernen Türkei, wie wir
sie wollen, drittens betroffener Kronzeuge in Sachen
Völkermord, also der befugte Richter über sämtliche
verflossenen wie heutigen Vergehen der Türkei zu sein.
Der anatolische Schwabe
steht so mit jeder seiner
Identitäten ad personam für stets dasselbe: die tiefe und
ganz authentische Berechtigung der deutschen
Einmischung in die türkische Politik. Cem Özdemir – ein
echter Glücksfall für die deutsche Politik.