8. Mai 1995
Vom Weltkriegsverlierer zum unverschämten (Mit-)Sieger Das feierliche Ende der „Vergangenheitsbewältigung“

Die deutsche Nation feiert ihre „Befreiung“ vom Nationalsozialismus und verschafft sich ein Stück Freiheit für die Ansprüche eines „neuen“ Deutschlands im Kreis der imperialistischen Mächte. Die deutschen Intellektuellen und ihre Interpretation des neuen „Zeitgeistes“.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

8. Mai 1995
Vom Weltkriegsverlierer zum unverschämten (Mit-)Sieger – Das feierliche Ende der „Vergangenheitsbewältigung“

An den nationalen Gedenktagen steht als Subjekt im Mittelpunkt: der Staat selbst. Sein Lebenslauf heißt: Geschichte. Diese ist, wie jeder weiß, keine Ansammlung von Ereignissen und Jahreszahlen, sondern selbst ein Subjekt, das sogar über dem Staat steht.[1] Er hat aus ihr „Lehren“ zu ziehen, und sie erteilt ihm Aufträge. Und wenn ein Staat sich von der Geschichte einen Auftrag erteilen läßt, dann unterliegt er einem nicht mehr hinterfragbaren Sachzwang – damit streicht er pur ideologisch aber um so nachdrücklicher die Festigkeit seines Willens heraus: eben dieses Anliegen zu verfolgen = „dem Auftrag nachzukommen“. An Gedenktagen – das macht sie so unverzichtbar – muß Rechenschaft über diesen Stand der Dinge abgelegt werden.

Aufgeklärte Geister mokieren sich manchmal über den Pomp und das gestelzte Gehabe, aber auch sie wissen und anerkennen, in welchem übertragenen Sinne die „Besinnung“, „die Verneigung vor unseren Großen“, „das schmerzliche Gedenken“ gemeint sind. Bewußt wird von der Alltäglichkeit von Geschäft und Gewalt Abstand genommen, um einmal das Staatswesen im Lichte einer höheren Moral zu betrachten. Die Liste der geleisteten Arbeitsstunden, Büroflächen, Schulstunden, Waffenarsenale, Autobahnkilometer, nationalen Bilanzen usw., wie man sie beim Statistischen Bundesamt abfragen kann, ist dafür höchstens Materialgrundlage. Für sich befriedigen Erfolge beim Bruttosozialprodukt aber nicht das Bedürfnis, dem vom Staat gesetzten Recht und den von ihm erhobenen Ansprüchen den Charakter des Unabdingbaren, Schicksalhaften zu verleihen. An derlei unabdingbaren Aufträgen der Nationalgeschichte mißt der Staat dann sich und prüft, inwiefern und inwieweit er seiner „Verantwortung“ gerecht geworden ist, und ein hervorgehobenes Resümee muß her: Wie steht es um die nationale Größe? Absicht und Stoßrichtung dieses Popanz’ sind wuchtig und unübersehbar: Aus der Selbstverpflichtung des Staates folgt Verpflichtung der ihm Gegenüberstehenden – eigene Bürger und fremde Staaten – auf die hochstehenden Aufträge der Nation.

Im Durchgehen des Fragenkatalogs – was hat die Nation geleistet im Verhältnis zu ihrer Ausgangslage; welchen Aufschluß gibt das über ihre allgemeine und speziell ihre Zukunftskraft; welche „dunklen Punkte“ sind bis heute Stachel oder Bürde für ihre „Vitalität“; welche offenen Rechnungen sind noch zu dulden oder stehen zur Bereinigung an; welche neuen Perspektiven und Vorhaben erscheinen aufgrund vergangener Leistung „machbar“? – bilanziert das Subjekt Staat also selbstbewundernd und selbstkritisch und in einer zu Recht feierlichen und mystischen Art – ein Subjekt dieser Art ist ja innerhalb einer Nation einmalig – sich, bilanziert seine Reifung, Stärke, angemessene Aggressivität.

In dem ganzen feierlichen Brimborium geht es um einen knallharten Vergleich: Wie steht das Subjekt Staat zu seinesgleichen, welche Einschränkungen durch sie muß es (noch) hinnehmen, welche Einschränkungen kann es ihnen auferlegen bzw. welche Freiheiten hat es sich gegen sie erobert? Der Staat kann gar nicht anders, als Maß an anderen Staaten zu nehmen, wenn er sich Gewißheit darüber verschafft, was er ist: Wieviel Glückseligkeit oder Trübsinn unter seinen Untertanen herrscht, ist ja eine ganz und gar uninteressante Auskunft und sagt nichts über seinen Stand; „Auftrag“ und „Auftragserfüllung“ beziehen sich auf seine Stellung in der Staatenwelt. Darum sind diese Gedenktage so voller Bedeutung: Hier führt der Staat in konzentrierter, verhimmelter und zugleich ernstester Form vor, was er sich zutraut, was er beabsichtigt, was er nicht mehr duldet. Das tut er aber nicht in der Form vorgetragener Forderungen, sondern indem er mit Erinnerungen aus seiner Geschichte und durch Berufung auf seine Kultur ein Bild von sich und seiner historischen Mission zeichnet, für das er von aller Welt Anerkennung und Respekt erwartet. Mögen die eigenen Bürger auch nicht alle Einzelheiten und Konstruktionsprinzipien des Nationalgemäldes durchschauen, sein Sinn erschließt sich ihnen auf jeden Fall: Sie bekommen ein eingängiges und würdiges Bild der nationalen Ehre geboten, an dem sie sich selbst erhöht fühlen und an das sie ihren eigenen Stolz anhängen dürfen. Am zeitgemäßen Bild der nationalen Identität können sie die gerechten Ansprüche der eigenen Führung ebenso abmessen wie unverschämte Frechheiten fremder. Die angesprochene Staatenwelt versteht dafür um so präziser jede Nuance des nationalen Selbstbildes und registriert noch dessen feinste Veränderung gegenüber früher; sie weiß, daß jede Änderung im Ton der nationalen Selbstsicherheit, jede historische Färbung und jede angerufene ideelle Berufungsinstanz in einem weitreichenden Sinn praktisch sind.[2]

Den Willen eines Staates bei Verhandlungen über Fischerei- oder Investitionsschutzabkommen zu spüren zu kriegen, ist die eine Sache; eine andere ist es, ihn als zusammengefaßtes, überschaubares Selbstverständnis vor sich zu haben, also als Zusammenfassung all seiner Rechte: solcher, in deren sicherem Besitz er sich weiß, und solcher, die er sich noch anzueignen gedenkt.

Somit zeigt die umfängliche Diskussion über den 8.Mai 1995, daß dieser Tag ganz schön bedeutungsträchtig ist.

Der 8.Mai: Kein Fall für einen Kniefall

Als deutscher Gedenktag erscheint der 8.Mai, die Besiegelung einer Niederlage, denkbar ungeeignet,[3] handelt es sich dabei doch um die ureigenste Angelegenheit der Sieger: Sie würdigen sich und ihre einmal überlegene Gewalt, die einen gefährlichen Gegner niedergeworfen hat – das spricht für eine Nation, für ihre Größe, und trägt ihr den Respekt anderer Nationen ein. Der Verlierer hat auf solchen Feiern nichts verloren. Und wenn er seinen eigenen Gedenktag abhält, so ist dessen Inhalt allemal Revanchismus – gleichgültig, ob die Revision der nationalen Schande nun offen angekündigt, in Termini des Völkerrechts eingekleidet oder als Wiedergutmachung eines Unrechts an einer besonderen Volksgruppe, den Vertriebenen, hingestellt wird. Nationen tun dabei gerne so, als müßten sie sich vor Vergeßlichkeit warnen, in Wirklichkeit deuten sie darauf, wie tief der Stachel sitzt und daß er heraus muß. Die Bedeutungen solcher Gedenktage, die nicht aufs selbe Datum fallen müssen, aber inhaltlich aufeinander bezogen sind, sind bei Siegern und Verlierer also genau entgegengesetzt.

Deutschland will dies im Jahre 1995 aber – endgültig – nicht mehr so sehen. Die Debatte darüber, was man sich unter Befreiung vorstellen soll, wirft darauf ein Licht:

Eine offizielle Variante will den Deutschen ans Herz legen, sie sollten sich über die Niederlage freuen, da sie die „Befreiung von…“ bedeute, nämlich von „Unterdrückung und Terror des Nazi-Regimes“. Dabei handelt es sich sachlich betrachtet um eine offene Lüge: Das deutsche Volk war sich einig mit seiner damaligen Herrschaft, litt keineswegs unter deren „Terror“ und wollte auch nicht „befreit“ werden, sondern siegen.[4] Das ist es aber nicht, was diese Variante nicht so recht beliebt werden läßt. Ihr Mangel steckt vielmehr darin, daß Nationalisten Partei ergreifen sollen für ihre Nation auf dem „Umweg“ der Parteinahme für die Opfer dieser Nation, also mit einem dazwischengeschobenen Schuldeingeständnis. Das Befremdliche dieses Antrags ist jedoch auch für einen Nationalisten aushaltbar, weiß er doch spätestens 1995, wie der heuchlerische Auftakt mit den Opfern gemeint ist. Hervorgehoben werden soll ja der Kontrast zwischen dem damaligen und dem dann beginnenden Deutschland, wobei die Betonung der „dunklen Zeit“ den Nachfolgestaat um so lichter erscheinen läßt. Im Lichte der heutigen Mission Deutschlands kann man dieser „Zäsur“ also genug positive Aspekte abgewinnen, wenngleich die Erinnerung an das Vorher, die in dem „von“ steckt, das Bild ein wenig trübt. Es bleibt jedoch stehen, daß mit diesem Datum auf jeden Fall das andere, das bessere Deutschland stand.

Die andere, eigentlich gemeinte Variante[5] der „Befreiung“, die „Befreiung zu…“, konzentriert sich denn auch auch gleich auf die mit diesem Startschuß eröffnete Karriere und auf das rundum gelungene Resultat – es herrscht der „Stolz auf das Erreichte“. Deutschland, Aggressor und Verlierer zweier Weltkriege, sieht sich nicht mehr als Verlierer und will sich auch von außen nicht mehr als Verlierer sehen lassen – es ist im Verlaufe seiner Nachkriegsgeschichte zur Siegermacht geworden:

„Zwei mörderische Kriege lehren uns, daß der Friede die wichtigste Aufgabe deutscher Politik bleiben muß. Wenn Deutschland heute zum ersten Mal in diesem Jahrhundert auf der Seite der Gewinner der Geschichte steht – ohne daß deswegen auch nur ein Schuß fiel –, dann dankt es dies verantwortungsbewußter Außenpolitik, die Aussöhnung mit dem ehemaligen Kriegsgegner und Zusammenarbeit zur Freundschaft und Partnerschaft entwickelte.“ [6]

Deutschland beansprucht und genießt in der aktuellen imperialistischen Weltordnung Gleichrangigkeit. Und nicht nur das: Seine Aufnahme in das System von „Marktwirtschaft & Demokratie“, sein Mithelfen bei dessen Erfolg, hat sich so sehr gelohnt, daß es seinen werten Partnern mittlerweile einiges an Vorschriften machen bzw. manche von deren Wünschen und Interessen einfach ignorieren kann. Deutschland ist eine bestimmende Kraft des siegreichen Imperialismus, in einer Art, wie sie z.B. Frankreich und Großbritannien – anfängliche Siegermächte – nicht (mehr) so einfach für sich beanspruchen können. Die Definition der Kapitulation als „Befreiung zu…“ weist – unter dem durchsichtigen Schleier „Demokratie, Menschenrechte, Frieden…“ – genau darauf hin: Diese Nation hat sich in der Rangfolge der Nationen sehr weit nach vorn gearbeitet und hält sich die überwundene Spanne, die umgedrehte „Fallhöhe“, zugute, was schönste Vergleiche mit anderen Nationen ermöglicht; der deutsche Staat schreibt sich dies als seine Leistung zu, er kehrt sie nach dem Motto „Der Erfolg gibt Recht“ demonstrativ heraus und er sieht sich dementsprechend berechtigt, anderen Staaten ihren Rang zuzuweisen, d.h. ihnen Handlungsmöglichkeiten und -grenzen vorzuschreiben. Die grassierenden Sorgen anderer Staaten nimmt er umgekehrt wieder als Bestätigung seines richtigen Weges und ignoriert absichtsvoll ein durchaus mögliches und wahrscheinliches Rückschlagen dieser Sorgen auf sich selbst; er legt Wert auf das Image des Fürchtenichts und eine angemessene Portion nicht nur diplomatischer Frechheit an den Tag, die untergeordneten Staaten auch mal mit dem Brechen des Rückgrats droht. Man weiß nicht recht zu sagen, ob ein solches Selbstverständnis zur Förderung künftigen Erfolgs eingenommen wird oder ob es sich aus dem heraus ergibt, was diese Nation mittlerweile darstellt. Beides wird es wohl sein – und die Rede vom „gewachsenen Deutschland, dem auch größere weltpolitische Verantwortung zufällt“ hat sich in einer Mischung aus methodischem Größenwahn und tatsächlicher Verschiebung der Kräfteverhältnisse voll bewahrheitet.

Die Aussagekraft der Feiern

Das sind aber bloß Tatsachen. An einem solchen Besinnungstag läuft der Test, ob dieser Stand Deutschlands von den „Partnern“ auch anerkannt und bestätigt wird. Der Rechtsnachfolger des 3.Reichs will die feierliche Demonstration und Dokumentation, daß ihm aus seiner Vergangenheit keine Vorhaltungen mehr gemacht werden, daß ausschließlich seine jetzige Stellung gilt. Das ist darum bedeutsam, weil sich aus solchen Vorhaltungen, „Schuldzuweisungen“, ja auf weiterhin bestehende Bedenken gegen den deutschen Erfolg und seinen künftigen Weg und auf weiterhin drohende Beschränkungen, praktische Gegenmaßnahmen schließen läßt.

Sieger unter Siegern

Der Test selbst besteht in einem Eingriff in die Siegesfeiern der Alliierten: Lassen sie sich auch in der Gestaltung dieser Feiern Vorschriften machen, und zwar so, daß in ihnen Deutschland als (Mit-)Siegermacht und ein bißchen mehr, keinesfalls aber als „vergangenheitsbelastet“ auftritt? So ist der Eingriff für sich schon die Demonstration des Willens, wie Deutschland gesehen werden will; und die entsprechende Ausgestaltung der Feiern ist dann die höchstförmliche und -moralische Absegnung eben dessen, ist die sinnfällige und anschauliche Bestätigung seiner Auffassung von sich selbst durch andere. Hier wird des Resultats eines Krieges im Sinne seiner Annullierung gedacht; eine „normale“ Siegesfeier, die auf die Gültigkeit des Resultats hinweist und säuberlich zwischen Siegern und Verlierern scheidet, ist das nicht. Vielmehr mischt sich der ehemalige Verlierer vehement in Ablauf und Protokoll der alliierten Feiern ein. Sie haben die erreichte Gleichrangigkeit Deutschlands vorzuzeigen, der Kanzler muß als gleichgewichtiges Staatsoberhaupt sein „Nie wieder!“ sagen können und es dürfen keine Schuldzuweisungen an ihn erfolgen – ausgerechnet und bezeichnenderweise da, wo die Sieger „normalerweise“ ihren gerechten Erfolg über das Böse hervorheben.

Veranstaltungen mit Kanzleranwesenheit, die die „Schuld Deutschlands“ thematisieren, wird es nicht geben. Er begibt sich ohne jeden Makel zwischen die Oberen dieser Welt. In Moskau verweigert er die Teilnahme an der Militärparade und weist statt dessen darauf hin, welches Unrecht dieses Militär in Tschetschenien anrichtet. Mit dieser moralischen Umkehrung ist die Umkehrung des Kräfteverhältnisses dokumentiert. Einen Kranz legt er auch nieder, aber nicht bei den „Opfern des Faschismus“, sondern zuerst beim „Unbekannten Soldaten“ und dann auf einem deutschen Soldatenfriedhof bei Moskau. „Überschattet“ wird sein Besuch von dem Streit um die „Beutekunst“ – eine der letzten Reminiszenzen daran, daß Rußland einmal zu den Siegern gehörte und sich auch Siegerrechte herausnahm.[7] Die Einladung auswärtiger Staatsmänner wird sorgfältig gecheckt. Mitterrands Wunsch nach einer großen „Versöhnungsgeste“ in Berlin wird nicht als Einmischung angesehen. Der polnische Wunsch, als erstes „Opfer“ gewürdigt zu werden, so herum noch einmal an „Schuld“ zu erinnern, ist aber eine Anspruchshaltung, die grundsätzlich abgelehnt wird, im Fall eines inferioren Staates erst recht – Integration in eine Bundestagsdebatte ist das höchste der Gefühle.

Das alles beweist:

Deutschland hat seinen revanchistischen Auftrag erfüllt – es demonstriert dies auf den Feiern derer, gegen die dieser Revanchismus gerichtet war – und keiner sagt etwas dagegen.[8]

Die Unrechtsfrage neu gestellt

Und es beweist noch mehr: Mit dem erfolgreichen Abschluß des revanchistischen Nachkriegsprogramms kann Deutschland nun behaupten, daß ihm Unrecht angetan wurde.

Zweifellos zieht eine Niederlage Bestrafung und Beschränkung nach sich, die Klein-Halten oder zumindest Unterordnung sicherstellen sollen. Wenn aber der Verlierer nach 50 Jahren seinen Bezwingern als mindestens gleichrangig gegenübertritt, dann mag das vordergründig, rein faktisch so aussehen, als ob Deutschland in den Beschränkungen recht günstige Bedingungen vorfand, so daß es sich ihrer Zug um Zug entledigen konnte, die Sieger es gewähren ließen und sogar noch dabei unterstützten – aber in Wirklichkeit, in der geschichtlichen nämlich, kämpfte Deutschland seinen gerechten, nun bewiesenen Erfolgsanspruch gegen die nun bewiesenermaßen ungerechten Hindernisse durch.[9] Da das gelungen ist, sind „alte Wunden“ – die sonst überall in der Welt so wunderbar als verschlossen diagnostiziert werden können – bei uns ganz und gar nicht verheilt, sondern tun logischerweise wieder weh:

„Vielfältige Erinnerungen werden wach, und bei manchen aus der älteren Generation beginnen Wunden wieder zu schmerzen, die schon ganz verheilt schienen.“ [10]

Die völlige Wiederherstellung der Souveränität erlaubt im Nachhinein, die frühere Einschränkung der Souveränität, das Siegerrecht, als willkürliches Vorenthalten eigentlich dieser Nation zustehender Rechte zu interpretieren. Wir erinnern uns zur Feier an die Vertreibung der Reichsdeutschen aus dem Osten, an Jalta, an die Teilung der Nation und Europas – lauter Unrecht gegen Deutschland.

Und auch diese aberwitzige und doch nur der „Veränderung des Kräfteverhältnisses“ abgeluchste Verlagerung und Revision der „Schuldfrage“ segnen die Alliierten in der Gestaltung dieser Feiern ab.

Und die Moral von der Geschicht(e): Die „Vergangenheit“ ist „bewältigt“

Wenn nun ausführlich klargestellt ist, daß niemand mehr Deutschland böse ist und niemand offiziell-feierlich Rache- und Erniedrigungsgelüste hegt, Deutschlands Erfolg bewundert und begrüßt – und gefürchtet – wird, dann, aber erst dann, stellt sich Deutschland seiner Schuld.

Die letzte Schönheit ist nämlich: Im selben Maße, wie allen Auswärtigen das Recht entzogen worden ist, Deutschland noch Vorhaltungen zu machen, entscheidet es, Deutschland, darüber, welche Vorwürfe, welche Erinnerung an „dunkle Punkte unserer Geschichte“ es noch für angemessen, tragbar hält. Es ist ja keineswegs so, daß nun „Verschweigen“ und „Unterdrücken des Schrecklichen“ angesagt wären – die Forderung nach diesem „Schlußstrich“ ist viel zu plump. Vielmehr beweist Deutschland seine überlegene moralische Qualität dadurch, daß es selber in die Feiern die Dosis „Schuldbekenntnis“ einbringt, die zu deren würdevoller Gestaltung beiträgt – daraus hat dann aber auch nichts anderes zu folgen als der allseitige Respekt vor einer moralisch dermaßen geläuterten Nation. Und daß aus dieser moralischen Überlegenheit heraus auch einiges anzumelden geht, steht auch schon fest…

Deutschland monopolisiert also die „Schuldfrage“, unterstellt sie seinem zweckdienlichen Gebrauch. Selbstverständlich sind aus der „Vergangenheit“ „Einsichten“ zu gewinnen – aber das besorgt bitteschön Deutschland. Selbstverständlich hat sich Deutschland des Faschismus schuldig gemacht, aber wie verwerflich das war, kann nur es selbst wirklich tief empfinden – andere haben so etwas ja gar nicht mitgemacht, ihrem Deuten auf das „Entsetzen“ fehlt das Innerliche. Deutschland trauert sozusagen endgültig aus eigenem Antrieb heraus – damit ist aber die „Vergangenheit“ ebenso endgültig in den nationalen Besitz übergangenen, d.h., sie geht niemanden sonst etwas an.[11] Die Vergangenheitsbewältigung ist damit auch beendet; letztlich war sie doch – mittlerweile jedermann offenkundig! – gar keine selbstbestimmte und selbstgewollte Angelegenheit, sondern das moralische Antlitz, das Deutschland der Welt bieten mußte. Der jahrzehntelange Streit, ob man die Sache mit der Buße nicht zu weit oder nicht weit genug treibt, ist sachlich überholt: Mit dem Ende der Abhängigkeit Deutschlands erübrigen sich auch die ewigen Querelen, ob man das Werk der Abschaffung dieser Abhängigkeit besser mit „zunehmend erhobenem Haupte“ oder mit ganz viel demonstrativer „Bescheidenheit“ begleiten und befördern könne.

Die Direktive des Kanzlers heißt also: Leute, verwechselt das viele Reden über „unsere Vergangenheit“ und „unsere Schuld“, das jetzt gerade wieder so heftig im Schwange ist, nicht mit einem tatsächlichen Anwurf an diese Nation; ganz im Gegenteil beweisen wir doch, indem wir alles auftischen und keine Meinung unterdrücken, unsere Souveränität. „Wir mahnen uns!“ – eine edlere Haltung kann es kaum geben.[12] Mit einer „Links-Rechts-Auseinandersetzung“ hat das alles nichts zu tun: Wenn man sich für das heutige Deutschland beglückwünscht und wenn man seine Geburt auf den 8.Mai 1945 legt, dann hat dieses Deutschland seit damals nicht nur alles richtig gemacht, sondern bestätigt damit auch, daß es sich von den „schlechten Seiten“ seiner Geschichte nicht hat tangieren lassen, andererseits aus ihr nur die „richtigen Lehren“ gezogen hat. „Leugnen“ oder „verdrängen“ tun nicht not, genauso wenig aber auch „bereuen“, „selbstanklagen“, geschweige denn: „sich zurücknehmen“.

Zwei Interpretationen der Kanzler-Direktive

„Unverkrampft“

Bundespräsident Herzog erläutert der Welt, was es heißt, wenn Deutschland die Untugend des „Sich-Zurücknehmens“ ablegt; er erläutert, daß und worin Deutschland – eben wegen seiner „Vergangenheit“ – Vorbild ist und warum es sich so benehmen muß, wie es sich benimmt.

Als erstes charakterisiert er die Fertigstellung Deutschlands mit einem Begriffspaar: Früher hatten wir es mit der „Bonner Republik“ zu tun, jetzt leben wir in der „Berliner Republik“ – das ist der Übergang vom „Provisorium“ zur geschichtlich vorgeschriebenen „Hauptstadt“ und „Mitte Europas“. In der „Bonner Republik“ betrieb Deutschland das Trittbrettfahren. Herzog setzt sich also kritisch mit der Phase der BRD-Geschichte auseinander, in der noch „Vergangenheitsbewältigung“ angesagt war.

Er spielt an auf eine angebliche imperialistische Zurückhaltung der „Bonner Republik“, bringt in Erinnerung, daß nationale Ansprüche des deutschen NATO-Mitglieds hinter Geboten des Menschen- und Völkerrechts und Aufträgen der westlichen Wertegemeinschaft versteckt wurden, und daß Deutschland insgesamt um das Bild einer Nation bemüht war, die dem Nationalen abgeschworen habe. Die Insignien nationaler Bescheidenheit, die früher zur deutschen Selbstdarstellung gehört haben, verwirft der Präsident für die Berliner Republik – und zwar gleich doppelt: In der Selbstbezichtigung als Trittbrettfahrer der Weltpolitik wird die angebliche freiwillige Zurückhaltung von früher für bare Münze genommen und als Schmarotzertum denunziert, als national eigensüchtiges und verantwortungsloses Ausnutzen einer Weltordnung, deren Last andere Nationen tragen. Die absurde Selbstanklage als Nutznießer, der seinen Beitrag verweigert, leuchtet dem deutschen Präsidenten wunderbar ein, weil dieses Bild die neue deutsche Frechheit im weltpolitischen Auftreten als Dienst erscheinen läßt, den Deutschland der Welt schuldet und nach dem die Welt ruft. Zweitens entlarvt der Redner Herzog die besagte Zurückhaltung als Sünde wider die deutsche Verantwortung für die Welt als eine Heuchelei, der also ohnehin nie eine Praxis entsprochen hat. Der Heuchelei setzt er die Tugend der Wahrhaftigkeit entgegen, die die Weltmacht schon wieder sich und der Welt schuldet:

„Deutschland dürfe seine unmittelbaren Interessen wie Sicherheit und Bewahrung des Wohlstands nicht verschweigen…Die Partner würden ohnehin nicht glauben, ‚daß wir nur internationalen Altruismus im Schilde führen‘. Die Wahrhaftigkeit erfordere es auch, daß man zugebe, im eigenen Interesse für die weltweite Freiheit des Handels einzutreten. Wenn man nicht zum Objekt der weltpolitischen Entwicklung werden wolle, müsse man als Subjekt der Weltinnenpolitik handeln.“ [13]

Das ist schön gesagt: Deutschland muß den Egoismus einer Großmacht an den Tag legen, weil anderes unsere Nachbarn sowieso nicht glauben würden. Wenn die Nachbarn darauf warten, dann kann Deutschland den Katalog seiner weltpolitischen Aufgaben auch präsentieren:

„Weder Einsätze der Bundeswehr noch ein Sitz im UNO-Sicherheitsrat dürften für Deutschland Statusfragen sein. Es müsse um die Substanz der Probleme gehen. Der wirtschaftspolitische und der moralische Einfluß Deutschlands im multilateralen Konzert werde immer stärker und wirksamer sein als das militärische Potential der Bundeswehr. Beides sei im Interesse des internationalen Friedens einzusetzen. Die Qualität des Engagements müsse dem gewachsenen Gewicht entsprechen, ‚sonst nimmt uns in der Welt auf Dauer niemand ernst‘. Dazu gehöre, die gegenwärtige Spannung zwischen Globalisierung und Fragmentierung, zwischen weltumspannenden Netzwerken und Anarchie aufzulösen und die Vereinten Nationen zu einem echten politischen System zu entwickeln, das Ziele definiere und durchsetzen könne.“ [14]

Wir lassen uns unser Drängen in den Sicherheitsrat und zu einer unserem „gewachsenen Gewicht entsprechenden“ militärischen Rolle nicht als Profilneurose madig machen; Deutschland unterliegt einem Sachzwang zur Größe und entspricht damit nur den Spannungen und Problemen der Welt, die an irgendwem ja schließlich genesen müssen. Wer sonst kann mit ähnlichem Nachdruck im Interesse des internationalen Friedens tätig werden? Überhaupt kann nicht oft genug gesagt werden, daß es die anderen sind, die das von uns erwarten. Tritt ein Staat nicht seinem Schwergewicht entsprechend auf, wird er zum Hampelmann der anderen; drückt er rücksichtslos seine Ansprüche durch, wird er geschätzt: Das Bekenntnis zur Macht stiftet das Ansehen, das dieser Macht alles unverschämt Rücksichtslose wiederum nimmt. Solchen Respekt – im doppelten Sinn – verlangt die „Berliner Republik“.

Verkrampft

„8.Mai 1945 – Gegen das Vergessen“ nennen die Dreggers, von Stahls und Brunners ihren Aufruf. Was man nicht vergessen soll: „Das Ende des Krieges war der Beginn der Teilung und des Vertreibungsterrors“. Diese Beschwerde – die, meistens etwas milder ausgedrückt, allen „Mahnungen“ zugrunde liegt, die an das „mit dem Kriegsende einsetzende Leiden“ erinnern und es auf keinen Fall vergessen können wollen – demonstriert eine rechtsbewußte Unverschämtheit, die bezeichnenderweise niemand so wahrhaben will. Deutschland überzieht die Welt mit Krieg, installiert in den eroberten Gebieten sein Recht, will die ganze Welt unter deutsches = Siegerrecht stellen, und verliert dann. Die Sieger bestrafen den Verlierer, d.h. sie wenden ihr Recht an, indem sie ihm Gebiete wegnehmen, Leute vertreiben, den Aufbau des neuen Staates unter ihre Kautelen setzen usw. Jetzt kommt dieser Aufruf daher und postuliert: Diese siegerrechtsmäßigen Folgen hätte die Niederlage nicht haben dürfen, es handelt sich um Unrecht. Die Verfasser konstruieren also allen Ernstes die Absurdität einer Niederlage ohne nachteilige Folgen – als ihr Recht.[15] Und sie überspitzen damit nur das, was der Kanzler mit seiner Anwesenheit auf den Feiern demonstriert: Mit der Revision des Kriegsergebnisses müssen auch alle Vorwürfe an Deutschland wegfallen und die Siegermächte müssen anerkennen, daß sie Deutschland zu Unrecht als Verlierer behandelt haben – und diese Idee darf ihnen auch nicht mehr kommen.

Sosehr ihre Erinnerung an das Unrecht, das auch Deutschen angetan worden ist, in den Geist des offiziellen Niederlage-Jubiläums paßt, so wenig paßt ihre Wortmeldung zum Stil dieser Feier: Wo sich Deutschland gerade im Kreise der ehemaligen Sieger und Gegner als voll rehabilitierte Macht feiern läßt – und deshalb den Kapitulationstag ohne den bitteren Geschmack der nationalen Demütigung begehen kann –, fragt sich die „Stahlhelm-Fraktion“, warum es eine so durchgesetzte Macht überhaupt nötig hat, einer Niederlage den bitteren Geschmack zu nehmen. Wenn man es sich schon leisten kann, warum bekennt man sich nicht offen dazu, daß „wir“ jede Menge Unrecht seitens anderer Nationen in Erinnerung behalten und als eine verletzte Nation nach wie vor einige offene Rechnungen wissen? Die „ausgewogenen“ Töne Kohls klingen den „Nationalen“ immer noch viel zu sehr nach Buße und deutscher Selbstverleugnung. Sie werden mit dem Widerspruch nicht fertig, daß es gerade die ganz positive Erinnerung an die Niederlage und ihre Umwertung in den Anfang ihrer Revision ist, mit der die neue Zentralmacht des Kontinents die Sieger des alten Krieges und Verlierer der neueren Geschichte zum Bekenntnis zu ihrem Projekt Europa bewegt. Dafür ernten die Rechtskonservativen eine ernste Zurückweisung seitens aller staatstragenden Kräfte und werden an den Rand des politischen Spektrums gerückt.[16] Dregger muß sich korrigieren und seinen großen Auftritt streichen denn – die Süßmuth darf es verbindlich festlegen  : Aufrechnen gilt nicht!

Die anständigen deutschen Repräsentanten verzichten lauthals auf diese fragwürdige Methode der Selbstrechtfertigung. Eigene moralische Minuspunkte, die dadurch ja doch nicht ausgeräumt werden, gegen die anderer Nationen zu verrechnen und so Deutschlands Schuld nur zu relativieren, verharrt sozusagen in der alten Moral. Es macht Kampfpositionen auf, die auf moralische Gleichwertigkeit dringen. Viel passender ist es da vorzuführen, wieviel man „aufrechnen“ könnte – um es nach ausführlicher Erwähnung zu unterlassen. Damit ist zum einen diese schöne moralische Niederung nicht verschenkt worden, zum anderen vorgeführt, wie sehr sich Deutschland von den alten moralischen Gretchenfragen verabschiedet hat – hin eben zur überlegenen Moral eines Siegers. „Unser“ letztes Angebot geht dann etwa so: Hören wir doch auf mit den gegenseitigen Schuldzuweisungen, schließen wir uns zu einer weltweiten Trauergemeinde zusammen, stellen wir uns fassungslos zu dem Schlechten, das überall passiert, und geloben alle Besserung.[17]

Der Zeitgeist: Die Geistes- und Kulturschaffenden haben ihn erkannt

a)

Die breite Mehrheit der Intellektuellen ist der Versuchung der „Nestbeschmutzung“ endgültig entronnen. Früher einmal konnte man sich lustig machen über das verbissene Strebertum eines abhängigen und in seiner Souveränität beschränkten Staates, man konnte ihm Größenwahn und Kleingeisterei gleichzeitig vorwerfen – eine gewisse Bitterkeit über die Zweitrangigkeit, über den „unbelasteten Nationalismus“ der anderen war der beißenden Kritik unschwer zu entnehmen; man konnte sich auch, nur die andere Seite derselben Medaille, auf die Seite der großen Ideale werfen, zu deren Verfolgung diese „gebremste“ und „bescheidene“ Nation angeblich prädestiniert sein sollte und an deren Einlösung sie dann doch immer wieder versagte, was freilich den Glauben an diese Ideale nie erschütterte – der unbefriedigte Stolz auf die hart ins Gericht genommene, auf die besondere Nation war unübersehbar.

Jetzt aber, nachdem „die Birne“ als der letzte kindische Versuch, ein Manko der Nation als Widerspruch zwischen Anspruch und Repräsentant konstruieren zu wollen – der Macht fehlt der Geist, das kann nicht gutgehen! –, ausgedient hat, ist wenig mehr von den alten Klagen zu vernehmen. Statt dessen herrscht breite Einigkeit, erstens, daß man Deutschland nicht mehr mit den Augen der Nachkriegszeit betrachten kann, zweitens, daß es eine viel wesentlichere Kritik anzumelden gilt: Der deutsche Nationalcharakter ist mangelhaft. Die Intellektuellen diskutieren die Notwendigkeit eines neuen Bildes von Deutschland gleich ad personam, sie wenden sich dem deutschen Menschen zu.

Mit dem Ende der „Bonner Republik“ entdecken sie eine bedenkliche Unfertigkeit des Deutschen, die ihn für die neuen Herausforderungen schlecht gerüstet erscheinen läßt. Wider allen bekundeten Nationalismus der deutschen Volksgenossen machen sie sich Sorgen über Defizite der Nationalidentität und produzieren die zweite, nächsthöhere Methodenebene der Bewältigung der „Vergangenheitsbewältigung“. Enthielt Herzogs Charakterisierung der „Bonner Republik“ als „Trittbrettfahren“ noch einen deutlichen Hinweis auf den Status Deutschlands während dieser Zeit, steht hier die Entdeckung der „Bonner Republik“ als Un-Nation an: In ihrem Dauerbekenntnis zur „historischen Schuld“, komplementär dazu im Verzicht aufs Herausstreichen der nationalen Größe, hat sie ihren Untertanen nicht erlaubt, das notwendige „Selbstvertrauen“ zu entwickeln:

„…ist die Frage aufgeworfen, wer diese Gesellschaft ist und was sie will. Das ist besonders der Fall, wenn es sich um seine so sensible und mit geradezu verstörter Ungewißheit über sich selbst ausgestattete wie die deutsche handelt. Wo andere vieles an sich naiv nehmen, müssen wir uns stets in Frage stellen. Mit dem Selbst-Bewußtsein fehlt notwendig das Selbst-Vertrauen…Heute ist für das vereinte Deutschland fällig: ein Nation(neu)bildungsprozeß. Es geht um mehr als bloße Staatszugehörigkeit. Demokratie setzt voraus, daß der einzelne nicht nur Schützling, Nutznießer und zu gewissen Pflichten Herangezogener ist, sondern zu einer identifikatorischen Teilhabe am Gemeinwesen gelangt.“ [18]

Diese „identifikatorische Teilhabe“ ist den Deutschen lange, allzu lange verweigert worden – und das ist gefährlich, denn ohne „Identifikation“ zerfällt alles, der Mensch und die Nation, mit unvorhersehbaren Konsequenzen.[19] Was diese Denker also reklamieren: Deutschland bzw. die Deutschen haben die Pflicht zum Nationalstolz. Alle, die Deutschland immer an seine „Schuld“ erinnern und „Bescheidenheit“ anmahnen – und das sind doch im wesentlichen ausländische Kräfte, die „vieles an sich naiv nehmen“ –, sollten sich im eigenen Interesse einmal fragen, ob sie damit nicht einen Widerspruch befürworten, nämlich den zwischen „gewachsenem Gewicht“ und „fehlendem Selbst-Vertrauen“, den keine Nation auf der Welt auf Dauer aushält. Eine solche Argumentation ist natürlich weit entfernt von jedem Hurra-Patriotismus; sie verwandelt vielmehr die Berechnungen einer revanchistisch gesonnenen Nation feinsinnig in die Leistung der „Vergangenheitsbewältigung“, womit ein außergewöhnliches Volk lange Zeit einen widernatürlichen Zustand ausgehalten hat,[20] was irgendwann aber gebieterisch die Beseitigung der „defizitären“ Seite dieser „Leistung“ fordert. Die „Bonner Republik“ hat uns dazu angehalten, Demokratie und Nationalismus entgegenzustellen: Diese nationale Lebenslüge – notwendige Folge der gedrückten Lage der Nation mit deformierenden Wirkungen – kann mit Ableben dieser Republik endlich abgeschafft, die Deformation des Nationalcharakters kann repariert werden.

Die Weiterentwicklung des Herzog’schen „Sachzwangs der Größe“ ist also der Sachzwang der Menschennatur, die ohne „nationale Identifikation“ nicht leben kann. Der deutsche Nationalstolz muß zur Größe der Nation aufschließen; so kommt bei diesen Denkern Deutschlands Status als imperialistische Großmacht an und so drücken sie aus, daß sich dieses Deutschland von niemandem mehr Vorhaltungen machen läßt – indem es zu sich selbst kommt. Während in Herzogs „Trittbrettfahren“ der Souveränitäts„verzicht“ durchaus noch als aufgezwungener mitklingt, tun diese Denker so, als habe es sich dabei um eine freiwillige Angelegenheit gehandelt, die zunächst eine Chance darstellte – und zwar als eine, die andere Nationen mangels dieser „Vergangenheit“ nicht hatten! –, die sich nun aber zunehmend als Bürde herausstellt – die man aus eigenen freien Stücken dann aber auch abschütteln kann.

Und damit ist auch das leidige „Auschwitz“-Thema schon ziemlich „bewältigt“. Wenn nämlich ein Volk diese eigentlich unerträgliche Beleidigung seines Stolzes nicht zurückgewiesen, sondern – auf Kosten seiner „Identität“ – „angenommen“ hat, dann hat es dabei unvergleichliche Erfahrungen gemacht. Diese modernen Befürworter des Nationalstolzes schließen sich nicht den „Ewiggestrigen“ an, die „Genug gebüßt“ murren. Ganz im Sinne des fertigen Deutschland, das sein Bild von sich auf seine Erfolge gründet, ohne sich dabei vor seiner „Vergangenheit“ zu drücken, sagen sie: Besser geworden! Und zwar nicht bloß überhaupt, sondern besser als „die anderen“, die nicht diese unvergleichlichen Erfahrungen und diese unvergleichliche Karriere durchgemacht haben. Aufgrund dessen ist Deutschland nicht nur nicht mehr an den alten moralischen Kategorien zu messen, sondern prädestiniert, eine neue moralische Qualität – man erinnere sich an Herzogs Auflösung der weltweiten „Widersprüche“ durch das Einbringen des deutschen „gewachsenen Gewichts“ – in die Welt zu tragen. Noch einmal Christian Meier:

„Der Aufbau nach dem Krieg, auch der Demokratie, hätte nicht so gut verlaufen können, wenn nicht Voraussetzungen gegeben gewesen wären, die tief in der deutschen Geschichte angelegt sind…Nimmt man hinzu, daß schließlich auch die Arbeit an der NS-Vergangenheit beste Traditionen deutscher Geistesgeschichte aufnehmen konnte, so zeigt sich, wie sehr wir noch in der Kontinuität der deutschen Geschichte stehen, trotz und wegen (!) des tiefen Bruchs…Hier ließen sich Konsequenzen aus unserer Vergangenheit ziehen. Sie bestünden nicht nur in der Vermeidung von Fehlern, sondern auch in dem Versuch, der Welt, der wir auf besondere Weise geschadet haben, um so mehr zu nutzen, in Maßen und ohne Aufdringlichkeit. Nicht daß wir Musterschüler sein sollten: Aber zu zeigen, daß man etwas eingesehen hat, was auf der Hand liegt, ist kein Strebertum.“

Aber ein klarer moralischer Auftrag.

b)

Was den Intellektuellen die mangelnde „Nationalidentität“ des Volkes ist, ist den fortschrittlichen deutschen Künstlern des Volkes Seele. Da entdecken sie Blutleere und Kraftlosigkeit, „Entseelung“ sozusagen. Insbesondere die Jugend – „die Zukunft Deutschlands“ wollen sie so direkt nicht sagen –, aber nicht nur die, treibt sich in den Ecken und in niederstem Materialismus herum, Nintendo für die Kleinen und Game-Shows für die Großen, alles in allem eine Mischung aus „Warenhaus, Rentenversicherung und Schmerztablette“.[21] Die Aufzählung ließe sich ewig verlängern, denn ein jeder Künstler spürt ja berufsmäßig „Strömungen“ und „Stimmungen“ nach, deren „Objektivität“ sich dann in seiner kulturellen Äußerung niederschlägt, aber der Tenor ist sowieso immer eintönig gleich: Ein Volk von Spießbürgern, dem das Höhere, der Sinn, abhanden gekommen ist.

Diesen Befund gibt es, seit sich die bürgerliche Gesellschaft eine Bohème zugelegt hat. Und immer schon sind die Künstler erpicht darauf, diesem Befund mit der Lage der Nation zusammenzuschließen – und da sehen sie jetzt mal wieder schwarz. Es ist nicht so, daß sie gläubig Kohls (Scharpings, Kanthers…) Reden über die „neuen Herausforderungen“ und die notwendige „Wiederbelebung der Nachkriegstugenden“ nachbeten würden. Für sie stellt es sich vielmehr so dar, daß der Kanzler endlich – mehr schlecht als recht – mitkriegt, was sie schon seit einiger Zeit irgendwie spüren. So hören sie einerseits läuten, was sie andererseits längst innerlich bewegt. Ihnen ist es selbstverständlich – und darum auch einiges an dramatischer Überhöhung wert –, daß „uns“ „schwere Zeiten“, „ein Verhängnis“, „ein Kladderadatsch“ ins Haus stehen. Es fällt ihnen nicht im Traum ein, nach Möglichkeiten zu fragen, wie man sich vor dem kommenden „Kladderadatsch“ drücken kann, geschweige denn kritisieren sie ihn, vielmehr überfällt sie ihr kulturell-sinnstiftender Auftrag, die Lücke zwischen Zukunft der Nation und Beseelung des Volkes zu schließen. Volkes Seele muß gerüstet werden – und glücklicherweise kann man dies wiederum dem Volk als „Sehnsucht“ entnehmen. In jedem Spießbürger steckt ein Held, man muß ihn nur heraustreiben: Die Rede ist von „Überwindung des inneren Schweinehundes“ und „Stahlgewittern“, von einer „kleinen Apokalypse“, von „Hunnen“ und vom „Amazonas“, der über „uns“ hereinbrechen sollte.

Was sie also sagen, ist: Die Demokratie der „Bonner Republik“ hat das Volk verweichlicht, pardon, man muß es ja mehr künstlerisch sagen: es auf „kleinliche Alltagsgeschäfte“ festgelegt, es dem „Streben nach höheren Werten“ entfremdet, ihm den „Rückzug ins Ich und in die Isolation“ erlaubt, das „Schweigen zwischen den Menschen“ statt „Kommunikation auf Basis gemeinsamer Geschichte, Kultur und Sprache“ bewirkt – lauter Hochglanzausgaben von „Freizeitpark“ und „Vollkaskomentalität“. Was der Kanzler als Aufbruch der Nation avisiert, konfrontieren sie – dramatisch übertreibend, wie gesagt – mit einer Vereinseitigung der demokratischen Tugenden und der demokratischen Erziehung. Der „Altweibersommer“ hat die Leute einlullen und sie vergessen machen wollen, daß eine erfolgreiche Demokratie ohne Kampf nicht zu haben ist. Das drücken sie natürlich als ein Empfinden im Volk aus, das sie empfunden haben:

„Mich fasziniert nach wie vor die Sehnsucht nach Vitalität, nach Mut, nach Kraft, nach all den Sachen, die wahrscheinlich heutzutage im rechtsradikalen Fundus zu finden sind.“ [22]

Nicht daß dieser Regisseur sich nun bei den Wehrsportgruppen anmelden wollte – ihr kulturelles Niveau würde ihm wohl nach zwei Lagerfeuern nicht mehr reichen. Auch will er nicht den Faschismus als die passende Staatsform gegen die „Anything goes“-Gesellschaft anpreisen – er ist nur zuständig für die kulturell wertvollste Fassung von „Nationalidentät“, einer, die vor „Vitalität, Mut, Kraft“ birst. Als Opportunist des Zeitgeistes ist ihm klar, daß die alte Republik einen bedeutenden Teil ihres „Fundus“ weggesperrt und „den Menschen“ den Zugriff darauf vorenthalten hatte – dieses „Tabu“ muß nun „gebrochen“ werden.

Solche „Tabubrecher“ ziehen sich von denen unter ihnen, die noch nicht nachgezogen haben, dann gerne den Vorwurf zu, sie hätten sich, unter Verrat gemeinsamer Prinzipien, auf die Seite der „Rechtsradikalen“ geschlagen. Das ist nicht wahr – sie haben sich nur künstlerisch verhalten. Sie merken, wohin sich das in ihrem Kulturschaffen repräsentierte nationale Kollektiv hinbewegt: Da haben sie dabeizusein und sie haben ihm – wofür sind sie denn seine empfindsamsten Seelen? – beizustehen. Diesem Kollektiv sprechen sie ja ein ganz merkwürdiges Eigenleben zu: Den Gedanke, daß es sich da um eine Zwangsgemeinschaft anständiger Untertanen handelt, die sich von ihrer Führung kommandieren und einspannen und auch die passenden Ideologien eingeben lassen, kennen sie nicht; für sie ergibt sich das Voranschreiten der Nation aus dem Wollen des Kollektivs, aus dessen freien, aber auch sehr tiefgründig-mystischen Stücken. Da abseitszustehen, würde den Künstler außerhalb des Kollektivs stellen, wo sein Platz genau nicht ist. Sein Platz ist vielmehr am „Puls“ (des Volkes, der Zeit usw.): Den spürt er dann erstens genauestens, und zweitens ist ihm nur so die Möglichkeit gegeben, kulturell verfeinernd aufs Volk einzuwirken. Deshalb halten sich gerade diese Leute sehr viel zugute – und sie sind ja auch der Inbegriff davon – auf die Tätigkeit: „Man darf die Auseinandersetzung nicht den Rechten überlassen“.

P.S. Ernst Jünger wird 100

Warum verdient der Mann so viel Aufsehen? Seine literarischen Qualitäten kamen nicht so übermäßig gut weg, sogar von Selbstdarstellung, Opportunismus und etwas anrüchigem Geschäftssinn war die Rede. Machte aber alles nichts: Der Mann ist nämlich ein Held, ein lebender. Kein Feature, kein Artikel, wo die frühzeitige Erwähnung vergessen worden wäre: „Pour le mérite“… Er hat also den erlaubten individuellen Wahnsinn auf die Spitze getrieben und sich mit absoluter Todesverachtung für seine Nation geschlagen. Phantastischerweise hat er aber behauptet, er täte das gar nicht für die Nation, sondern für sich, um nämlich das Höchste und Heiligste seiner Individualität herausarbeiten zu können. Kriege werden glücklicherweise von Staaten zur Verfügung gestellt, um dem Individuum die Chance auf das große Abenteuer der Seele zu eröffnen; das wahre Individuum braucht Zerstörung und Erschütterung, um des „Großen“ gegen den „Alltag“ habhaft werden zu können. Also hat er diesen seinen Wahnsinn auch noch bedichtet und seine Dichtkunst in die Pflicht des Beweises gestellt, daß erst in diesem Wahnsinn der Mensch wirklich zu sich kommt – man muß sich das vorstellen: nicht nur ein dichtender, sondern sogar noch ein philosophierender Held. Solche Typen kann eine jede Nation gut leiden: Die real existierende Ausformung des moralmaximierenden Gesamtindividuums, nationales Vorbild und – jetzt kommt das mit den 100 Jahren – in einer Kontinuität, die über der jeweiligen Nation, über den jeweiligen „zeitgeschichtlichen Strömungen“ und „Gesellschaftsformen“ steht.

Gottseidank hat der den einen Fehler nicht gemacht, nämlich den Nazis außer seinen Gedanken auch noch seine Person zur Verfügung zu stellen. Es wäre sonst schwieriger gewesen, ihn als großen Sohn in die Gedenkfeierlichkeiten einzubauen.

Wie die anderen (ihren Sieg über) Deutschland feiern

Es wurde mir überall versichert, daß man sich freut, daß wir wieder da sind. (Kanzler Kohl, befragt, was ihn während dieser Tage am meisten gefreut habe)

Die Feiern in Paris, London und Moskau wurden von der deutschen Öffentlichkeit mit Argusaugen beobachtet: Läßt sich den Reden und dem Ablauf irgendetwas „Anti-Deutsches“ entnehmen? Die Sinne der Berichterstatter waren ganz besonders geschärft, da ihnen sehr wohl klar war, daß die deutsche Mitwirkung an den Feiern, das Hineinwirken in sie, einige Zumutungen enthielt, sogar eine Art Nagelprobe darstellte. Würden die anderen Staaten dem deutschen Drängen entsprechen, die deutsche (Selbst-)Sicht ohne kritische Anmerkungen zu der ihren zu machen?

Ein kurzer Überblick zeigt: Der Tag ist zur vollsten Zufriedenheit verlaufen.

*

Eine völlig unangemessene Art, den Sieg über das faschistische Deutschland zu feiern, legt – das ist übereinstimmende Auffassung „in allen europäischen Hauptstädten“ – Rußland an den Tag. Es feiert nämlich den – Sieg. Boris Jelzin putzt seine Hauptstadt heraus, läßt die Veteranen sich versammeln – das alles ginge noch, obwohl doch die Frage gestellt werden muß, ob er sich das leisten kann –, und als Höhepunkt veranstaltet er eine klassische Militärparade, die ganz absichtsvoll im Stile der verflossenen Sowjetunion gehalten ist. Wo es die doch nicht mehr gibt.

Militärparaden gibt es auch in London und Paris, aber die sind zivil. Die Königin bettet die militärischen Demonstrationen in ein großes Kinder- und Musikfest ein, die Staatsoberhäupter lassen sich von Kinderhänden zu einem großen Globus führen, den Friedenssymbole schmücken und aus dem Friedenstauben herausfliegen. Präsident Mitterrand läßt ausgewählte, „friedliche“ Truppen – bis auf die Fremdenlegion – nicht die Champs Elysées hinunter-, sondern nur um den Arc de Triomphe herummarschieren, „Martialisches“ wird weitgehend vermieden.

In Berlin gibt es keine Militärparade, sondern nur Beethoven und Reden von Herzog, Tschernomyrdin, Gore und Mitterrand. Die Feier wird allgemein als „würdig“ empfunden; und: „Die Gegner von gestern kamen als Freunde von heute nach Berlin“.

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Nicht einmal in Moskau wird ein Zusammenhang hergestellt zwischen dem besiegten Feind und seinem Rechtsnachfolger. Präsident Jelzin beschwört den Kampf gegen den Faschismus, aber er gibt nicht den kleinsten Hinweis, daß von einem bestimmten Land Gefahren ausgehen könnten – ein paar klassische Anspielungen auf einen „Sumpf“ und eine „Saat“, die immer noch aufgehen kann, wären ja drin gewesen. Statt dessen küßt er Kohl. Eine gezielte Ausnahme macht der russische Botschafter in Bonn: Wer den 8.Mai 45 als „Zusammenbruch“ bezeichne, solidarisiere und identifiziere sich mit dem Nazi-Regime. Mehr als vor den bekannten „rechten Kreisen“ warnt der Botschafter damit auch nicht, aber immerhin meldet er damit offiziell Zweifel am deutschen Selbstbild an. Aufschlußreich daran ist: Von niemandem sonst ist eine solche Warnung zu vernehmen. Die bittersten Töne kommen aus Warschau, wo Präsident Walesa das Kriegsende nicht als Befreiung auffassen will und Polen bis heute unterdrückt sieht. In den Schuldzuweisungen kommt Deutschland aber auch kaum vor, vielmehr – in erster Linie – die Sowjetunion bzw. Rußland und – in zweiter Linie – „die Westmächte“.

In London wird ausdrücklich Versöhnung gefeiert, zwischen Deutschland und Großbritannien werde es nie wieder Krieg geben, man müsse nun gemeinsam „die Zukunft“ gestalten; nachgetragen wird nichts. In Paris ist sowieso nicht damit zu rechnen, daß „anti-deutsche Ressentiments“ in die Feierlichkeiten einfließen, wo doch Mitterrand tags darauf seine „Versöhnungsrede“ in Berlin halten will.[23] War früher einmal die Rede davon, daß Europa unter der deutschen Aggression gelitten hat, so kommen Major und Mitterrand nun zu einer interessanten Neubewertung der Geschichte: Europa habe sich selbst zerfleischt; die Formel dafür heißt – in Anspielung ans Mittelalter – „30-jähriger Krieg in Europa“. Jede Anklage an einen früheren Unruhestifter entfällt; Europa überhaupt hat sich wegen seiner Uneinigkeit in zwei Kriegen um seine weltpolitische Rolle gebracht. Mitterrand nennt das „Europa hat sich besiegt“, was doppelt gemeint ist: Die einmal selbstverursachte Schwächung ist nun überwunden, die alten Querelen sollen vergessen sein. Der Blick muß nun nach vorn gerichtet sein; welchen „Herausforderungen“ Europa sich gegenübersieht, muß nicht groß ausgebreitet werden – ebenso wenig, daß Deutschland dafür unverzichtbar ist.

In den USA finden kaum Feierlichkeiten statt; Clinton besucht den Soldatenfriedhof in Arlington und hält dort fest, daß die US-Boys auch weiterhin jede „finstere Macht“ besiegen können. Die Berichterstattung zum „VE Day“ beschränkt sich im wesentlichen auf die Mitteilung, daß in Europa einige „events“ stattfinden würden. Für London, Paris und Berlin reicht als Abgesandter der Vizepräsident aus; die Musik spielt in Moskau, wohin sich Clinton dann begibt. Seine Anliegen dort heißen nicht Erinnerung und Siegesfeier, sondern richten sich auch an die Zukunft: Tschetschenien, NATO-Osterweiterung und Iran; damit warnt er vor der Wiederbelebung einer ganz anderen schlechten Vergangenheit.

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Die Siegermächte lassen sich die Erinnerung an einen großen Sieg nicht entgehen. Sehr bemüht vermeiden aber insbesondere die westlichen jedes Deuten auf den Verlierer. Weder wird seine besondere Schrecklichkeit hervorgehoben, die den Sieg um so wertvoller macht, noch wird davor gewarnt, daß man vor ihm nicht ganz sicher sein könne. Die Kohl’sche Verlautbarung, genau am 5.Mai herausgegeben, die Opfer des 2.Weltkrieges wären gleichermaßen die Juden, die Jungs von der Wehrmacht und die Vertriebenen, wird offiziell ignoriert, also hingenommen. In Großbritannien dürfen sich ein paar Juden melden, „Le Monde“ hält die Bemerkung zwar für etwas abseitig, siedelt sie aber im allgemeinen „Willen zur Versöhnung“ an.

Die Erinnerung gestaltet sich – mit umgekehrten Vorzeichen – in Großbritannien und Rußland ziemlich nostalgisch, etwa nach dem Motto: Das waren noch Zeiten… Beidesmal werden die Veteranen in den Vordergrund gestellt,[24] beidesmal stehen sie für verlorene Größe der Nation. Großbritannien bekennt sich dazu fast schon abgeklärt, aber auch ein wenig trotzig,[25] die Veteranen dürfen und sollen unzählige Kriegsgeschichten erzählen, sie mahnen aber nicht zu immerwährender Wachsamkeit. In die Gestaltung der Feier im Hyde Park bildet sich das so ein, daß einerseits auf die ganz besondere Leistung des Königreichs aufmerksam gemacht wird – ein Jahr lang alleine gegen den Feind gestanden – ; andererseits gibt es sich aber auch betont bescheiden und reitet auf dem „zivilen“ Charakter der Feier richtiggehend herum, noch um einiges mehr als in Frankreich.[26] Rußland hingegen legt Wert auf die Demonstration militärischer Macht[27] und läßt die Veteranen mitparadieren, wenn auch ausgewählt und gebremst; es zeigt, auch im Namen der alten Kämpfer, vor, daß es sich manches nicht mehr gefallen lassen will – und gibt damit nur zu erkennen, erstens, wieviel es sich schon hat gefallen lassen, und zweitens, wie sehr seine Fähigkeit zum Sich-Wehren darunter gelitten hat: Allseits wird höhnisch auf den Kontrast zwischen Pomp der Parade und tatsächlichem Zustand der Roten Armee bzw. gleich des ganzen Landes hingewiesen. Allerdings weiß auch jeder, daß die Demonstration gerade deswegen nicht auf die leichte Schulter zu nehmen ist – Rußland bleibt/ist wieder „gefährlich und unberechenbar“.

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Die Siegesfeiern Großbritanniens, Frankreichs und Rußlands – die USA engagieren sich, wie gesagt, von vornherein nicht besonders – resümieren, wie es sich gehört, die Größe der Nation. Heutzutage ist sie nicht so besonders groß, auf jeden Fall nicht mehr so groß wie mal gewohnt – Frankreich sieht den Unterschied nicht so bedeutend, Großbritannien schon.[28] Rußland macht ein bißchen eine Ausnahme, aber es werden generell keine Beschwerden geäußert, insbesondere keine konkreten, auf bestimmte Staaten gerichtete, die Nationen beklagen nicht schmerzliche Defizite, die unbedingt ausgeräumt und der Nation als neue große Aufgaben gestellt werden müssen – das bewirkt den „zivilen“ Charakter der Feiern.

Die hingenommene Entmachtung sitzt in Gestalt von Kohl und Herzog in der zweiten Reihe; deren Staat hat an Macht hinzugewonnen. Sie werden sehr zuvorkommend behandelt. Waren in den Monaten zuvor Begriffe aufgekommen wie „4.Reich“ oder „großdeutsches Europa“, so werden die Feiern selbst von jedem Anflug in diese Richtung sorgfältig gereinigt. Nicht daß in der nach den Feiern wieder geltenden „Realpolitik“ Opposition gegen Deutschland oder auch solcherart Verdächtigungen aufhören würden, aber die „Realpolitik“ der nationalen Großtage gebietet, ein „objektives“ Bild zu entwerfen. D.h.: Wenn eine Nation an einem solchen Feiertag in eben seiner Gestaltung die objektiven Kräfteverhältnisse anzweifelt oder kritisiert, dann äußert sie damit auch ihren Willen, sich an eine praktische Umwälzung zu machen. So, wie die Feiertage gestaltet wurden, haben die beteiligten Nationen die eingerissenen Kräfteverhältnisse anerkannt. Damit sind sie nicht unverrückbar geworden, aber alle Nationen haben sich danach auszurichten.

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Noch einmal zu Rußland und seiner „martialischen“ Feier. Die gemeinsame Erinnerung an die siegreiche Kriegskoalition oder gar ihre Glorifizierung unterbleibt bzw. wird verweigert. Stattdessen die russische Feier zu demontieren: Eine Anerkennung des Sieges der damaligen Sowjetunion gibt es nicht.[29] Die Grade der Kritik am Ablauf der Moskauer Feier, also die diplomatischen Distanzierungen und Zurechtweisungen, sind unterschiedlich und selbst schon wieder Material und Ausdruck der Konkurrenz der Westler untereinander. Aber die unmögliche Art dieser Feier – die Russen demonstrieren eine Kraft und einen Selbstbehauptungswillen, die ihnen schon längst nicht mehr zustehen – schweißt schon wieder zusammen; die USA gehen voran und zeigen, worauf es – „Vergangenheit“ hin oder her – jetzt ankommt.

Das besondere Entgegenkommen Jelzins Deutschland gegenüber – ausdrücklich trennt er Faschismus und heutiges Deutschland, bezeichnet den Sieg als Auftakt für ein „gemeinsames Europa“, in dem er insbesondere mit Deutschland harmonischst zusammenarbeiten will – wird ihm nicht gelohnt: Schließlich habe ganz Europa gleich anschließend an Hitler und außerdem viel länger und ganz bestimmt nicht weniger schlimm unter der Sowjetmacht gelitten – von den Vertriebenen, über Lech Walesa bis hin zu Jelzin selbst lassen sich Zeugen genug dafür finden. Daß also Rußland, nachdem es die Sowjetunion besiegt hat, noch den Sieg über Deutschland feiert, ist mindestens ein Rückfall in altes Denken – und dann auch noch von der Balustrade des Lenin-Mausoleums herunter! Entschuldbar ist das höchstens vor dem Hintergrund, daß ein dermaßen heruntergekommenes Land einen Grundbedarf an Glanz & Gloria wohl befriedigen muß, sozusagen eine Sozialleistung an die Veteranen, die dann aber auch aussterben müssen.

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Rund um Deutschland herum Nationen, die ihren Nationalismus unter den Scheffel stellen. „Gelernt“ haben sie, daß all das, was einmal ganz allgemein unter dem Begriff „Siegermacht“ ihre Ehre ausmachte, nicht mehr haltbar ist; „gelernt“, also anerkannt haben sie das – und es dann auch gezeigt. Bildlich, feierlich zeigen sie Berechnungen vor, die das gegebene Kräfteverhältnis nachvollziehen und deren Inhalt unübersehbar ist: Wir können es uns nicht leisten, den deutschen Forderungen nicht nachzugeben; es ist für uns nicht machbar und nützlich, stur auf unserem Nationalstolz, auf der (früheren) Größe der Nation – also auch auf einer Überlegenheit gegenüber Deutschland – zu bestehen. Dem steht ein Deutschland gegenüber, das demonstrativ alle Berechnungen gerade an einem solchen Tag beiseite schiebt und pur seine gewachsene Ehre herausstreicht. Ihm wird in jeder Hinsicht konziliant begegnet, so daß als Gesamtertrag des 8.Mai 1995 festgehalten werden kann: Die neue Führungsmacht Europas heißt Deutschland, und an ihr hat sich der Nationalismus der anderen höflich zu relativieren. Ein Bedürfnis auf diesem Felde, gewissen Anfängen zu wehren, scheint nicht zu existieren.

[1] Ohne Staat, auch das weiß jeder, kann kein Mensch leben. Schäuble weiß noch mehr: Ohne Geschichte kann kein Staat leben: „Schlimmer als alle materiellen Verwüstungen war die Hinterlassenschaft des Nationalsozialismus auf geistig-moralischem Gebiet. Unter den Trümmern des nationalsozialistischen Reiches waren auch verbindliche Normen menschlicher Würde und der bessere Teil der nationalen Geschichte begraben worden…Das deutsche Selbstbewußtsein war gebrochen, Deutschland der Sicherheit über seine Tradition beraubt… In einem Land ohne Geschichte ist alles möglich. Niemand kann sich aus der Verantwortung für die deutsche Geschichte davonstehlen.“ (W.Schäuble, Trauma und Chance, Der 8. Mai 1945 in der deutschen Geschichte, SZ 4.5.95)

[2] Die „nationale Ehre“ spielt eine interessante Doppelrolle im Leben der Staaten. Der einfache Bürger, der von Politik und schon gleich von Außenpolitik keine Ahnung haben muß, „versteht“ durch sie alle Gegensätze zu anderen Nationen. Er muß nur wissen, daß vom großen „Wir“ die Rede ist, dem vom Ausland Respekt erwiesen oder verweigert wird. In der Kategorie der verletzten Nationalehre bekommt er mitgeteilt, daß „Wir alle“ betroffen sind und unser Recht in der Welt verteidigen müssen. Worein die nationale Ehre jeweils gelegt wird, was ein verhandelbarer, was ein unverzichtbarer Anspruch ist, tut wenig zur Sache; die Regierung gibt ihren nationalen Ehrenmännern das Nötige rechtzeitig bekannt. Im diplomatischen Verkehr kommt es umgekehrt ganz auf den Inhalt der Ansprüche an, die zur Sache der nationalen Ehre erklärt, ultimativ vorgetragen werden. So ist die Ehre der Nation, die an Festtagen so feierlich und getrennt von allen bestimmten zwischenstaatlichen Gegensätzen beschworen und respektiert wird, in ihrer doppelten Bedeutung doch ein und dasselbe: nämlich keineswegs ein altmodischer Idealismus, wegen dem kein moderner Staat mehr Krieg führen würde, sondern für den Bürger daheim wie für die Regierungen auswärts die Zusammenfassung der Ansprüche, auf die die Nation so sehr ein Recht beansprucht, daß Verzicht Verrat wäre.

[3] Etwa vierzig Jahre lang wurde auch nicht viel Aufhebens davon gemacht. Erst 1985 nahm sich Richard v. Weizsäcker der Sache an und hielt eine vielgelobte Rede, in der er diese Niederlage explizit in die deutsche Geschichte aufnahm und den Deutschen empfahl, sich bekennend mit ihr auseinanderzusetzen, und zwar affirmativ: Sie sollten sie als ihr „Schicksal“ „annehmen“. Wie als Gegengewicht dazu, so als ob er diesen Schandfleck leugnen wollte, verpflichtete der Kanzler – vielgescholten – Ronald Reagan auf einen Besuch des Soldatenfriedhofs in Bitburg, so daß auch SS-Kämpfern Anerkennung zuteil wurde. 1995 ist klar, daß diese zwei Aktionen schon damals nicht im Widerspruch zueinander standen.

[4] Diejenigen, die tatsächlich litten, sind nicht Gegenstand dieser Feiern, in denen sich Nationen bespiegeln; sie werden als Staffage und Symbole mißbraucht oder lassen sich mißbrauchen.

[5] Es ist eben das Schöne an der Demokratie, daß der Bürger bei solchen fundamentalen Auseinandersetzungen von den Parteien nicht im Stich gelassen wird: Sie verteilen die zwei Varianten unter sich, vertreten sie dann tatsächlich auch und stiften Verhaltenssicherheit. Schließlich gibt es noch welche – hier insbesondere Schäuble –, die auf die Unnotwendigkeit von Streit und auf die Notwendigkeit der „Einheit der Demokraten“ hinweisen.

[6] Theo Waigel, SZ 21.4.95

[7] Der Verfassungsschutz beweist ein Gefühl für richtiges Timing und fordert die Ausweisung von 160 enttarnten russischen Spionen. Verteidigungsminister Rühe „distanziert sich“ von Kohl und Kinkel und fordert rücksichtsloses Vorgehen bei der NATO-Osterweiterung – das „überschattet“ das feierliche Beisammensein ein weiteres Mal.

[8] Auch nicht der Außenminister des brüsk zurückgesetzten Polen in seiner Rede vor dem Bundestag. In schon peinlicher Art und Weise deutet er auf das „gemeinsame Leiden“ von Polen und Deutschen und beschwört die „gemeinsame Zukunft im Rahmen Europas“ als „riesige Chance“. Polen weiß sich also abhängig von Deutschland, weiß, daß es aussichtslos ist, Zurückhaltung und Rücksichtnahme von Deutschland zu fordern – und bekennt sich bittend dazu. Der Außenminister versuchte die Ehre seiner Nation dann so zu retten, daß er nur „als Außenminister“ sprechen wollte und „nicht als Repräsentant des polnischen Volkes“. Weil sein Präsident nicht dasselbe im Kreise der Großen sagen durfte, soll die bewegende Versöhnungsrede nur polnische Politik und nicht der herzlichste Ausdruck der Seelenlage seine Volkes sein. Dieser Rest von Distanzierung unterstreicht freilich erst recht, wie nötig Polen es hat, sich mit dem neuen Zentrum Europas zu dessen Bedingungen gut zu stellen. Der Bundestag hat’s ihm gedankt – und seine Distanzierung großzügig ignoriert.

[9] Die Besonderheit der Lage nach dem letzten Weltkrieg, die die USA auf „Morgenthau“ verzichten und zu dem Schluß kommen ließen, es sei besser, den Verlierer – außergewöhnlicherweise – gleich mit einer neuen Konzession zum Staatmachen auszustatten, wird in dieser Betrachtungsweise souverän ignoriert. Statt dessen wird die Ungehörigkeit herausgestrichen, daß diese Konzession nicht gleich alle Vollmachten, also die vollständige Revision des Kriegsergebnisses, enthielt, die nun so selbstverständlich wieder bei Deutschland versammelt sind. Die in den 50-er und 60-er Jahren offiziell verordnete „Dankbarkeit“ den USA gegenüber – wobei nicht wenigen Leuten gleichzeitig „Ami go home!“ einfiel – ist denn auch schon seit längerer Zeit bei den abgehalfterten Heucheleien gelandet.

[10] Erklärung von Bundeskanzler Kohl zum 50.Jahrestag des Kriegsendes.

[11] Auch die inneren Opfer des faschistischen Deutschland, allen voran die überlebenden Juden, sind in den nationalen Besitzstand eingegangen bzw. sind eifrig dabei, sich in diesen einzubringen. Als lebende Anklage gegen Deutschland und seine Verbrechen mögen sie nicht mehr auftreten, seitdem deutsche Verbrechen international so dramatisch an Kurswert verlieren. Die böse Ahnung, was aus dem deutschen Schoß noch alles kriechen könnte, haben diejenigen, die „nicht vergessen können“, vergessen. Mit ihren schlimmen Erfahrungen wissen sie nichts besseres anzustellen, als sie zum Persilschein für das heutige Deutschland umzumünzen. Wenn Kohl und Herzog ihnen die Ehre antun, sie als Staffage der Nationalfeiern einzuplanen und zum Befreiungstermin bei KZs vorbeizuschauen, dann setzen sie ihnen gerne ihre Hüte auf. Ignatz Bubis macht sich persönlich zum Kronzeugen dafür, daß Bedenken gegen den deutschen Koloß in Europas Mitte nur antideutschen Vorurteilen entspringen können und daß rassistische Anschläge auf dunkelhäutige Menschen und jüdische Symbole mit Deutschland und seinem Geist nichts zu tun haben. Er warnt davor, einzelne Unbelehrbare mit der Gesamtheit des deutschen Volkes gleichzusetzen.

[12] Schulklassen werden also weiterhin durch KZs geschleust – es handelt sich dabei um ein positives Traditionselement garantiert nachgeborener, geläuterter, weil in einem Erfolgsstaat wohnender Deutscher.

[13] SZ 14.3.95

[14] Schäuble drückt das so aus: Aber Frieden gibt es nicht zum Nulltarif. Und auch das gehört zum Vermächtnis des 8.Mai: Deutschland darf seinen Beitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit nicht verweigern. (Ebd.)

[15] Die katholischen Bischöfe gehen eigentlich noch einen Schritt weiter. Nachdem sie sich positiv zur „Befreiung zu…“ geäußert haben, heißt es: Allerdings sei die Hoffnung auf eine neue Friedensordnung und ein gerechtes Zusammenleben der Völker durch die Spaltung Deutschlands und den Kalten Krieg sehr bald bitter enttäuscht worden. Und wie um das zu unterstreichen: Eine klare Absage erteilen die Bischöfe den Versuchen, Verantwortung und Schuld einseitig zu interpretieren oder historische Tatsachen zu leugnen. (SZ, 26.4.95) Aus der Niederlage Deutschlands erwächst der Anspruch auf eine „neue Friedensordnung“, in der Deutschland nichts, insbesondere keine „Spaltung“ widerfahren darf. Diese Chance, die Deutschland mit seiner Niederlage eröffnet hat, wurde von den Siegermächten „bitter enttäuscht“. Also ist auch sonnenklar, daß die „Schuld“ keinesfalls einseitig auf den Verlierer fallen kann.

[16] In ihrer Replik (FAZ, 28.4.95) beschweren sich die „Rechten“ über „Verfolgung“ und fordern Toleranz; als ob ihr Nationalstolz zufrieden wäre, halt auch irgendeine Stimme im Meinungskonzert zu sein: Eine pluralistische Demokratie kennt jedoch kein allgemeinverbindliches Geschichtsbild, zu dem sich alle Bürger bekennen müßten. Alle Demokraten – von links bis rechts – sind aufgerufen, dem Meinungsterror der ‚political correctness‘ entgegenzutreten und die geistige Freiheit zu verteidigen. Sie wissen sich um so sicherer als Opfer eines unechten, bloß verordneten politischen Anstands, als sie sich der Sympathie des „gesunden Volksempfindens“, das mit den offiziellen Definitionen und Sprachregelungen eines „zurückhaltenden und bescheidenen“ Deutschlands nie was Rechtes anfangen konnte, sicher sein können. Für den „kleinen Mann“ war doch von Anfang an klar, daß „die uns nie mehr hochkommen lassen wollen“, daß „die uns unseren Erfolg neiden“, daß „es denen doch ganz recht ist, wenn der Iwan unseren Osten besetzt“. Das ist die abgrundtief normale Reaktion eines Volkes, für das Niederlage und (persönlich-moralische) Demütigung von Natur aus dasselbe ist und das die ganzen Sprüche zu „Demokratie, Freiheit, Menschenrechte…“ zurecht immer bloß für Tünche hielt – offensichtlich von den Oberen für notwendig gehalten, aber entstellend für ein aufrichtiges Volk. Diese Kluft zwischen offizieller Sprachregelung und wirklichem Meinen Deutschlands ist es, die die kulturkämpferischen Verfasser, die nicht vergessen wollen, anprangern. Sie wollen endlich die offene Sprache, die Deutschland während langer Jahre verwehrt war.

[17] „Unsere Schuld an den Verbrechen der Nazi-Zeit wird nicht geringer, weil auch andere Verbrechen begangen haben…Kein anderes Verbrechen ist entschuldbar oder entschuldbarer, weil es Bergen-Belsen und Auschwitz gegeben hat oder Coventry und die Bombardierung Londons. Diese Feststellung kann man im Falle Dresdens auch den Engländern nicht ersparen…Trauern um die eigenen Toten ist keine Regung von Nationalismus und keine Rechtfertigung von Deutschen begangener Untaten. Wer um die eigenen Toten nicht trauern kann, kann auch um die Toten der anderen nicht trauern. Wir haben kein Recht zur Anklage oder zum Richten. Was Dresden angeht, so müssen die Briten mit sich selbst ins reine kommen…“ (SZ 11.2.95)

[18] Christian Meier im „Spiegel“ 5/1995: „Wir brauchen Vertrauen“ Den untauglichen Ersatz der „Bonner Republik“ für „identifikatorische Teilhabe“ stellt er folgendermaßen vor: „Diese Spannung (zwischen normalem Leben und den außergewöhnlichen historischen Umständen Deutschlands, d.V.) wurde, solange die großen Blöcke bestanden, gern dadurch überspielt, daß man sich gleichsam in vorderster Front einreihte in den Kampf um Entspannung, Frieden, Menschenrechte, Demokratie. Universalistische (!!) Ideale ließen sich, speziell in den achtziger Jahren, relativ gut in Politik übersetzen. Jetzt, nach dem Ende des ‚Altweibersommers‘, erweist es sich als mißlich, daß man bei uns seit Jahrzehnten nicht mehr über das Nationale weitergedacht und die Vorstellungen davon weitergebildet hat.“ Es ist doch interessant zu erfahren, welche schönen Dinge mit Nationalbewußtsein oder -identität rein gar nichts zu schaffen haben, ja, davon ablenken. Laut „Spiegel“ will Meier „die aktuelle Debatte nicht den Rechten überlassen“…

[19] Der Aufruf „Gegen das Vergessen“ drückt es so aus: „Ein Geschichtsbild, das diese Wahrheiten verschweigt (daß den Deutschen Böses angetan wurde, d.V.), verdrängt oder relativiert, kann nicht Grundlage für das Selbstverständnis einer selbstbewußten Nation sein, die wir Deutschen in der europäischen Völkerfamilie werden müssen, um vergleichbare Katastrophen künftig auszuschließen.“ (Herv.d.V.)

[20] …man darf nicht übersehen, wie ungemein schwierig – und wie unüblich in der Weltgeschichte – es ist, daß sich ein Volk nach einer Niederlage nicht in eigenem Stolz verschanzt, sondern sich nach relativ kurzer Zeit offen mit seiner Vergangenheit, mit seinen fürchterlichsten Verbrechen auseinandersetzt. So stellt diese Geschichte insgesamt eine beachtliche Leistung dar. (ebd.)

[21] Der Theaterregisseur Frank Castorf, SZ 20.2.1995

[22] Castorf im „Spiegel“ 3/1995, „Wir brauchen Stahlgewitter“

[23] Vor 20 Jahren hatte Giscard d’Estaing den 8.Mai als Siegesfeiertag extra abgeschafft – als freundschaftliches Zeichen Deutschland gegenüber. Jetzt wird er eben deswegen wiederbelebt: Damit Frankreich die Gelegenheit zur Hommage an Deutschland hat.

[24] In Großbritannien ergibt sich dabei als Nebeneffekt, die Verbundenheit mit dem Königshaus betonen zu können, gehört doch die „Queen Mum“ eindeutig zu den Vorzeigeveteranen – im Buckingham Palace ausgeharrt – und selbst die Queen hat irgendwie gedient.

[25] Wir haben getan, was wir tun mußten…Aber selbst, wenn die Revisionisten recht haben und der VE Day das Ende der britischen Weltmacht markierte, selbst wenn er uns zu einer dunklen Zukunft verdammte, so war es das trotzdem wert. Denn das, was Großbritannien tat, war – um ein altmodisches Wort zu gebrauchen – glorreich; und der Ruhm ist nicht trübe, sondern strahlt um so mehr, als sich die Patina der Melancholie darauf legt. (Sunday Telegraph, 30.4.95)

[26] Das Hauptaugenmerk der Parade am Arc de Triomphe richtete sich darauf, wie Mitterrand seinen Nachfolger Chirac anläßlich dieser Gelegenheit behandelte, eine innenpolitische Veränderung rückte also in den Vordergrund. Ein ganz wichtiges Ereignis in London war, daß sich Prince Charles neben Lady Di und seine Kinder setzte.

[27] Es tut dies nicht – zumindest nicht allein – aus „innenpolitischen Gründen“, wie die westlichen Kommentatoren immer behaupten, die sich solche Unbotmäßigkeiten gar nicht anders erklären können, sondern setzt damit bewußt ein Zeichen gegen das Vorgehen der NATO-Mächte, insbesondere was die „Ost-Erweiterung“ angeht.

[28] Während hierzulande gerne so getan wird, als ginge uns das alles nichts an, wird in einer französischen Zeitung wie „Le Monde“ das Problem, welchen „Rang“ eine Nation einnimmt bzw. verliert, in aller Offenheit und ausführlich verhandelt. Bevorzugtes Studienobjekt ist natürlich England – „mehr/weniger als wir“ – aber durchaus nicht gehässig, sondern als Problem, das Nationen eben so haben. Deutschland wird mit derselben Offenheit als – „zur Zeit“ – Nr.1 in Europa bezeichnet.

[29] Der Grundtenor ist: Für Rußland ist dieser Sieg und seine Feier eine Belastung. Es beschwört damit nämlich eine Größe seines Vorgängerstaates, statt sich von ihm zu distanzieren. Dieser Vorwurf trifft etwas Objektives: Es ist ja tatsächlich widersprüchlich, einerseits unbedingt die alte Sowjetunion kaputtmachen und verdammen zu wollen und sich dem Westen an den Hals zu werfen, und sich dabei andererseits auf den Ausweis sowjetischer Stärke und Widerstandskraft – so wie er auf Staaten Eindruck macht; leider auf die früheren Sowjet- und jetzt russischen Menschen offensichtlich auch – zu berufen, nämlich auf den „Großen vaterländischen Krieg“.