Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Deutschland erinnert die Türkei an ihr Massaker an den Armeniern
Zeit für das V-Wort
Die Geschichte der modernen Staaten, nicht anders als die ihrer mittel- und ganz alten Vorgänger, ist nicht gerade arm an Gemetzeln jeder Größenordnung. Nun ist aber die Logik ihrer unterschiedlich begründeten, in jüngerer Zeit konsequent nationalistisch inspirierten Gewalttätigkeiten weit und breit nirgendwo Gegenstand rationeller rückblickender Erklärung. Vielmehr sind die Opfer dieser weltweiten Barbareien der öffentlichen Hand einerseits zum Material geschichtswissenschaftlicher Sinngebung, andererseits zu Objekten einer weltweiten politischen Erinnerungswirtschaft geworden, die die Ereignisse interessiert sortiert, moralisch und rechtlich kategorisiert und zu passenden Gelegenheiten – mit Vorliebe zu runden Jahrestagen, aber gerne auch mal dazwischen – auf den Tisch bringt.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Deutschland erinnert die Türkei an
ihr Massaker an den Armeniern
Zeit für das V-Wort
Die Geschichte der modernen Staaten, nicht anders als die ihrer mittel- und ganz alten Vorgänger, ist nicht gerade arm an Gemetzeln jeder Größenordnung. Nun ist aber die Logik ihrer unterschiedlich begründeten, in jüngerer Zeit konsequent nationalistisch inspirierten Gewalttätigkeiten weit und breit nirgendwo Gegenstand rationeller rückblickender Erklärung. Vielmehr sind die Opfer dieser weltweiten Barbareien der öffentlichen Hand einerseits zum Material geschichtswissenschaftlicher Sinngebung, andererseits zu Objekten einer weltweiten politischen Erinnerungswirtschaft geworden, die die Ereignisse interessiert sortiert, moralisch und rechtlich kategorisiert und zu passenden Gelegenheiten – mit Vorliebe zu runden Jahrestagen, aber gerne auch mal dazwischen – auf den Tisch bringt.
Das ist auch den Armeniern nicht erspart geblieben, die um 1915 das Pech hatten, auf damals osmanischem Gebiet zu Opfern ethnischer Säuberungen des kriegführenden Staates zu werden. Auch sie, längst verblichen, wurden von der „Völkergemeinschaft“ warm gehalten und anlässlich des hundertjährigen Gedenkens der Missetat der „modernen Türkei“ einmal mehr zum gewissenhaften Gedenken empfohlen: Die wurde zwar erst 1923 gegründet, will aber „Erbin“ des osmanischen Reiches sein – und steht damit für maßgebliche Interpreten der internationalen Staatsmoral in Geschichte und Gegenwart zweifelsfrei in der ungebrochenen Tradition ihres Gemeinwesens als „Täternation“. Die feierliche Vergegenwärtigung bis heute unbewältigter türkischer Schuld findet diesmal unter Beteiligung höchster Staatsorgane Deutschlands statt.
Die, das Parlament und der Bundespräsident, haben mittels eines längeren Für und Wider in öffentlicher Diskussion Vorbereitungen dafür getroffen, den Türken zum runden Geburtstag ihrer Untaten endlich unmissverständlich und ohne falsche Rücksichten zu sagen, worum es sich dabei nach neuester Auffassung Deutschlands schon immer gehandelt hat: um einen Fall von Völkermord. Das tun sie dann auch, der Bundestag in seiner einschlägigen Sitzung und der Präsident in einer Rede, mutig wie sie sind und ohne Rücksicht auf diplomatische Verluste im Verhältnis zur Türkei, die die moralische ebenso wie die völkerrechtliche Qualifikation zurückweist, und die deutschen Äußerungen als den Affront nimmt, als der sie gemeint waren.
1.
Dabei richtet sich die moralische Empörung über völkermörderische Großtaten entschieden und ausdrücklich nicht gegen das wechselseitige Sich-Abschlachten von Völkern im Allgemeinen; exemplarisch Gauck:
„Im Schatten von Kriegen wurden diese Verbrechen begangen. Der Krieg diente auch als Legitimation für die Untaten.“
Wer Krieg als Bedingung für die inkriminierten Untaten bespricht und als Rechtfertigungsvorwand entlarvt, also da, wo Krieg stattfindet, allerlei Missbräuche entdeckt, für den ist dieser selbst ein den Staaten der zivilisierten Moderne im Prinzip zugestandenes Mittel ihres Verkehrs. Wenn die Regierenden ihre wehrfähigen Regierten gegen die Mannschaften des Gegners hetzen, so unterfällt dieses Geschehen sogar einem ganzen eigenen, eben dem Kriegsrecht, das von der förmlichen Kriegserklärung über diverse Durchführungsfragen bis hin zu einem ordnungsgemäßen Ende alles detailliert regelt, also in erlaubte und nicht erlaubte Tatbestände scheidet.
2.
Wo der Vorwurf Völkermord erhoben wird, da kapriziert sich die klagende Seite zunächst ganz auf die menschlichen Opfer:
„Unterschiedslos wurden Frauen und Männer, Kinder und Greise verschleppt, auf Todesmärsche geschickt, ohne jeden Schutz und ohne jede Nahrung in Steppe und in Wüste ausgesetzt, bei lebendigem Leibe verbrannt, zu Tode gehetzt, erschlagen und erschossen. Diese geplante und kalkulierte verbrecherische Tat traf die Armenier aus einem einzigen Grund: weil sie Armenier waren.“ (Gauck)
Die Empörung greift die Opfer einerseits als bloß menschliche Kreaturen auf, die, weil gar nicht als organisierte und bewaffnete Basis eines Staates aufgestellt, sondern bloß ‚Menschen‘, also schutzlos sind, was sich in der moralischen Betrachtung in die Eigenschaft schuldlos übersetzt. Als solche werden sie zum Leidtragenden der organisierten Barbarei einer mit überlegenen Gewaltmitteln ausgestatteten Truppe, die ihnen, unabhängig davon, wer sie sind und als was und wie sie sich betätigen, gnadenlos die politische Bestimmung zuschreibt, nichts als Mitglieder einer Volksgruppe zu sein, die als dieses Kollektiv zum Feind des Staates erklärt wird, für den die Soldateska da aktiv ist, denen deshalb das Lebensrecht bestritten – und an denen das auch blutig exekutiert wird.
3.
Andererseits will die Empörung dem brutalen Gegensatz, in
den die pure Existenz menschlicher Individuen zu der
ihnen zugeschriebenen Volkszugehörigkeit gerät, aber gar
nicht entnehmen, welcher politischen Qualität solche
Zugehörigkeit dann offenbar ist. Zwar zeugt die
Grausamkeit, auf die sich die Empörung richtet, davon,
wie wenig bekömmlich die Subsumtion unter den politischen
Gesichtspunkt ‚Volk‘ gerade dann ist, wenn gleich gar
nichts anderes mehr an den Leuten zählt, zu welch
radikalen Konsequenzen es führt, wenn ein Staat die
Bevölkerung in seinem Machtbereich nur noch unter der
abstrakten Bestimmung Volk in den Blick nimmt, wenn er an
ihr nur noch scheidet in ‚eigenes‘ und ‚fremdes‘, nicht
dazugehöriges und damit feindliches, das es zu bekämpfen
gilt. Aber der Vorwurf des Völkermordes richtet sich pur
auf das gewaltsame, feindselige Moment dieser Subsumtion,
lässt dagegen den Gesichtspunkt der Subsumtion,
der die blutig ernst gemachte staatliche Sortierung der
‚Menschen‘ in ein nicht dazugehöriges ‚Fremdvolk‘ und das
eigene Volk, dessen bewaffnete Mitglieder zu Ausmerzung
des falschen Kollektivs beauftragt werden, vollständig
und ausdrücklich unkritisiert. Wenn beklagt wird,
Menschen seien wegen ihrer volksmäßigen
Kollektiveigenschaft als einzigem Grund
zum Opfer
der Völkermörder geworden, werden die Opfer auch von den
Anklägern nicht mehr als die ermordeten ‘Menschen‘,
sondern ganz ihrer politischen: ihrer Volks-‚Natur‘ nach
genommen. Verurteilt wird, dass diese
Kollektiveigenschaft nicht respektiert, sondern zum Grund
für eine Vernichtungsaktion gemacht wird, obwohl sie
gemäß dieser Sichtweise dem Menschen nicht nur so
untrennbar anhaftet wie seine wirkliche Natur, sondern
eine sogar weit ehrenwertere Angelegenheit als
jene ist.
4.
Denn die Anklage selbst will das menschliche Leiden gar
nicht als letzten Gegenstand und Grund moralischer bzw.
rechtlicher Verurteilung gelten lassen. Was im
Ausgangspunkt immerhin der gewusste und benannte
Grund für die Brutalitäten ist, die Menschen
angetan werden, das verwandelt sich in den
Gesichtspunkt der Verurteilung: Weder das
beschworene Leiden der menschlichen Kreatur, noch das
schiere Ausmaß der Gewalt berechtigt zum Vorwurf
„Völkermord!“, sondern das absichtsvoll-methodische
Vorgehen gegen die den wehrlosen Opfern als gemeinsam
zugeschriebenen Gattungseigenschaften, die ihnen eine
irgendwie „völkische“ Qualität verleihen. Erst dies macht
die jeweils in Rede stehenden Gemetzel so
einzigartig
, zum Verbrechen der Verbrechen
und zum schlimmsten Verbrechen im Völkerrecht
(so, stellvertretend für viele, ein
Urteil des Internationalen Strafgerichtshofs in Den
Haag). Womit die Sache endgültig auf den Kopf
gestellt ist, denn mit dieser Verwandlung der
Zuschreibung ‚Volk‘ vom Grund für die Grausamkeiten zum
Gesichtspunkt ihrer Verurteilung wird die den Opfern
zugeschriebene und gegen sie gewaltsaam in Anschlag
gebrachte Volksqualität zum eigentlichen Opfer
ernannt: Auf die individuellen Opfer, die der Gegenstand
aller diesbezüglichen amtlichen und nicht-amtlichen
Trauerreden sind und bleiben, kommt es nur insofern an,
als diese Opfer das moralische Beleg- und
rechtliche Beweismaterial für das Vergehen bilden, dessen
eigentliches geschädigtes Objekt die völkische
Gemeinschaft ist, die ganz oder teilweise zu
zerstören
den Tätern als Absicht
vorgeworfen
wird (UN-Konvention zum Völkermord vom 9.12.1948). Das
verschafft den volksmäßigen Nachfahren der Vertriebenen
und Getöteten die bekanntlich immer wieder gern
wahrgenommene Gelegenheit, über Jahrzehnte oder
Jahrhunderte zurückliegende Leiden und Opfer zu klagen,
die ihnen angetan worden sind – allen Ernstes in der 1.
Person Plural: als völkische Gemeinschaft.
5.
Als solches, die Zeiten und wirklichen Akteure überdauerndes Kollektiv werden dabei auch die Nachfahren der Täter ins Auge gefasst, worin ganz offensichtlich der eigentliche Reiz der Thematisierung von Opfern liegt:
„Eine Erinnerung an die Opfer wäre aber nur ein halbiertes Gedenken, wenn nicht auch von den Tätern gesprochen würde.“ (Gauck)
In Bezug auf letztere beweist der Völkermord-Vorwurf ein erstaunliches Differenzierungspotenzial: Staaten sind in dessen Logik offenbar so heilig, dass ihnen als den politischen Subjekten diese Schuld keinesfalls einfach so zugeschrieben wird. Stattdessen wird zum einen der Umstand, dass Völker Staatsangelegenheiten sind, in dieser Anklage so gewendet, dass das Volk, dessen Staat seine Gewalt laut Anklage völkermörderisch betätigt hat, analog zur Opferseite nun als kollektiver, wiederum überhistorisch verantwortlicher Täter gilt, der moralisch für die vormaligen Mordtaten haftet. Zum anderen und daneben bringt das die jeweiligen Exekutoren vor Ort bzw. ihre politischen Auftraggeber aber nicht aus der Schusslinie: Die werden gegebenenfalls ad personam namhaft und soweit möglich, dingfest gemacht, um sie als politische Verbrecher ordentlichen oder ad hoc einzurichtenden Gerichtsinstanzen zum Zwecke der förmlichen Verurteilung zuzuführen. Wie auf der einen oder anderen Ebene moralisch und/oder juristisch geklagt und gerichtet wird, hängt dabei weder von Art und Umfang der thematisierten Gräueltaten, noch von der nachweislichen Verstrickung kleinerer oder größerer Teile des ‚Tätervolks‘, sondern vollständig vom politischen Zweck ab, der mit der – mehr oder weniger offiziellen, auch da gibt es ja Abstufungen – Verurteilung einer kriegerischen Großtat als Völkermord verfolgt wird; und natürlich von dem Status und der Macht des Subjekts, das sich in die Rolle des Anklägers begibt. Moralisch brisant und politisch relevant wird das Ganze jedenfalls immer in dem Maße, wie Staaten sich einer solchen Sache annehmen. Das kommt dann vor, wenn die es nützlich finden, das ideologische Konstrukt umgekehrt zu verwenden, nämlich gegen hoch- oder niederrangige Funktionärsindividuen vorzugehen bzw. nationale Täter- bzw. Opferkollektive zu zitieren, weil und soweit sie in Wirklichkeit einen anderen Staat im Visier haben.
6.
So hat auch die Tatsache, dass sich jüngst gleich zwei deutsche Verfassungsorgane zu anklägerischem ‚Klartext‘ in Sachen Armenier-Massakern durch die Armee des sich auflösenden osmanischen Reiches gedrängt fühlten, nur als äußerer Anlass damit zu tun, dass die Gräuel gemäß christlichem Kalender eine schöne runde Zahl von Jahren zurückliegen; und auch die – freilich gern zitierte – historische Wissenschaft hat nichts Neues an Fakten ans Licht gebracht, die nun endgültig dazu nötigten, die bisher offiziellen ‚Einschätzungen‘ des 1915er Geschehens zu revidieren.
Dass die Gründe für den ein paar Tage lang andauernden
Gedenk- und Verurteilungs-Furor im politischen Hier und
Jetzt liegen, ist einer Öffentlichkeit denn auch
vollständig bewusst, die schon Wochen vor den offiziellen
Reden gefordert hat, von den politischen Vertretern der
Nation endlich das V-Wort
zu hören zu bekommen.
Sie hat dabei kein Geheimnis daraus gemacht, worum es ihr
bei dieser Sache geht, also den Politikern zu gehen hat:
Mit der Forderung an die deutsche Politik, sie dürfe
nicht aus Rücksicht auf vorweggenommene empörte
Reaktionen der Erdogan-Regierung und mögliche Schäden für
die deutsch-türkischen Beziehungen verschweigen, was nun
einmal die historische Wahrheit
sei, tippt sie
immerhin an, dass sie eher am türkischen Führer von 2015
und seiner Politik als an der Erinnerung an osmanische
Mordbrennerei von 1915 leidet. Wenn sie vorauseilend
davor warnt, dass Deutschland sich womöglich der
Erinnerungspolitik
des wildgewordenen neuen
Sultans
und seiner großtürkischen Halbstarkenmanier
beuge, dann passt ihr in Wahrheit dieser Mann nicht, weil
sie an ihm als Person festhält, woran sich
Deutschland in der Sache stört: an dem Willen
und der viel zu weit reichenden Potenz der Türkei als
Nation, sich deutsch-europäischen
Unterordnungsansprüchen zu widersetzen.
Da kommt das Jubiläum der Armenier-Massaker und -Vertreibungen gerade recht; und für die geforderte ‚Erinnerungskultur‘ wie gerufen kommt auch ein Bundespräsident, der wie kein zweiter das Handwerk kultiviert hat, politische Gegensätze zwischen Staaten auf der Ebene der menschlichen und staatsbürgerlichen Moral zu verhandeln, die jedem zugänglich, aber auch für jeden verbindlich ist, und der mustergültig vorführt, was die angemessene Nutzanwendung der Kategorien von Opfern und Tätern, Schuld und Sühne zwischen den Völkern für den Umgang zwischen den Staaten ist.
7.
„Im Fall der Armenier folgen wir also keinem anderen Prinzip als der tiefen menschlichen Erfahrung: Wir können uns von Schuld befreien, wenn wir sie bekennen, und wir können uns nicht von Schuld befreien, wenn wir leugnen, verdrängen oder bagatellisieren. Wir in Deutschland haben mühevoll und teilweise mit beschämender Verzögerung gelernt, der Verbrechen in der Zeit des Nationalsozialismus zu gedenken, vor allem der Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden. Und wir haben dabei auch zu unterscheiden gelernt, zwischen der Schuld der Täter, die vorbehaltlos anerkannt und benannt werden muss und der Verantwortung der Nachkommen für ein angemessenes Gedenken.“ (Gauck, 23.4.2015)
Vermittels eines denkbar einfachen Verfahrens beweist der
deutsche Präsident seine Fähigkeit und Befugnis zu
freundlich ermahnenden Handreichungen an die Türkei
bezüglich korrekter Vergangenheitsbewältigung: Durch
offensives Verurteilen der Taten der Vorläufer
distanziert sich das heutige Gemeinwesen von ihnen,
dementiert damit die Fortwirkung des politisch-moralisch
Bösen in der Gegenwart und stellt das heutige Deutschland
als Rechtsnachfolger der ‚Täternation‘ nicht nur frei von
Schuld, sondern heiligt das neue, schuldbefreite
Gemeinwesen gerade durch die vorbehaltlose Anerkennung
seiner heutigen Verantwortung für die Kontinuität
angemessenen Gedenkens
für alle Zukunft. Gauck
sagt selber noch dazu, wofür sein Bekenntnis zu den
Massenmorden von gestern gut ist: Durch die
Selbstbezichtigung ist die Nation, in deren Namen er
spricht, nicht nur Angeklagte, sondern reklamiert für
sich damit zugleich die Rolle der Klägerin und Richterin.
Zunächst zwar nur in eigener Sache, aber das hat immerhin
schon den Nutzen, sich keine Richtsprüche anderer mehr
bieten lassen zu müssen. Und darüber hinaus verleiht dies
der Nation einen unbezweifelbaren, über alles erhabenen
moralischen Adel, der – noblesse oblige – sie quasi
automatisch in die Position des Mahners und Wächters in
Sachen zwischenvölkischen Mordens und Brandschatzens
hievt, von der aus sie mit scharfem Kennerblick und allem
Recht ehrenwerte Kriegs- von Untaten bei anderen scheidet
und über das diesbezügliche Unrechtsbewusstsein der
Nationen dieser Erde urteilt.
8.
Folgerichtig, das ist die für die Türken bittere Seite von Gaucks deutscher Selbststilisierung, die er im Tonfall des Angebots zur Nachahmung vorträgt, müssen sie zur Kenntnis nehmen, dass bei ihnen die historische und rechtliche Kontinuität ihres Staatswesens leider immer noch, ganz anders als bei den Deutschen, mit der Kontinuität ihrer kollektiven Schuld zusammenfällt; dass sie also bislang in ihrer Verstocktheit den entscheidenden Fortschritt von der Schuld der Täter zur frei handhabbaren Gedenkverantwortung der Nachkommen noch nicht hinbekommen haben, und ihnen das auch nicht gelingen kann, wenn sie weiterhin das fällige Geständnis verweigern, nur um die Legende von der unbefleckten Empfängnis ihres nachosmanischen Staatswesens weiter zu pflegen. Das will ihnen Deutschland nicht länger durchgehen lassen. Die Türken entnehmen dieser Attitüde der Hilfestellung in Sachen vorwärtsweisender Selbstbezichtigung denn auch vor allem und ganz zurecht das Gegenteil eines gutgemeinten Ratschlags unter befreundeten Tätervölkern, nämlich die moralische Herabstufung ihrer Nation. Die Amtsträger der Türkei entdecken in Gaucks gutem Zureden den Anspruch auf Unterwerfung der Türkei unter einen ausländischen Staatsmoralismus, der darauf berechnet ist, das Recht aller Türken auf historische Größe und eine glänzende nationale Zukunft mit einem Generalvorbehalt gegenüber ihrem Rechtsvorgänger und ihrer eigenen Gründergeneration zu beschmutzen. Und alle türkischen Politiker bemerken auch unschwer in dieser historisierend-moralische Fassung die wirkliche imperialistische Unzufriedenheit, die Deutschland zunehmend gegenüber der Verfolgung türkischer Machtambitionen hegt. Die Verlagerung zwischenstaatlicher Machtkonkurrenz auf die Ebene der Moral und der Verkehrssitten zwischen den Völkern beherrschen sie genauso wie ihre deutschen Amtskollegen. Also erklärt Erdogan das türkische Volk zum Opfer übler Nachrede durch einen ausländischen Politiker, nimmt es als solches in Schutz und verkündet in seinem Namen, dass das nicht ohne Konsequenzen bleiben wird:
„Das türkische Volk wird dem deutschen Präsidenten Gauck seine Aussage nicht vergessen und nicht verzeihen.“ (Erdogan, tagesschau.de, 25.4.15)
*
Es ist davon auszugehen, dass der Dialog über Recht und Unrecht von Mord und Totschlag im Jahre 1915 auch nach seinem einstweiligen Höhepunkt im Frühjahr 2015 alle Chancen auf eine große Zukunft hat. Nicht weil das deutsche Volk von nun an nicht mehr anders kann, als darauf aufzupassen, dass der Türke als solcher irgendwann einknickt und zugibt, dass er etwas zu sühnen hat; und auch nicht wegen des von Erdogan beschworenen Stolzes des türkischen Volkes, der durch den Pfaffen im deutschen Präsidentenamt verletzt worden ist und seinerseits nach Sühne ruft. Sondern weil nach Lage der Dinge der wirkliche deutsch-türkische Gegensatz das Zeug zu allerhand Fortsetzungen und Eskalationen hat, bei dem diese unsägliche völkische Moralhuberei ihre ideologische und diplomatische Rolle spielt, soweit die politischen Protagonisten beider Seiten das für angebracht halten.