Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
2 Hinrichtungen und ein Freispruch
Deutsches Leiden an der Arroganz der Supermacht
Die Brüder LaGrand mit deutsch-amerikanischem Doppelpass töten bei einem Banküberfall einen Angestellten und werden hingerichtet. Am gleichen Tag wird der amerikanische Chef der Marine-Flieger-Crew des Nato-Stützpunkts Aviano, der bei einer Tiefflugübung den Tod von 20 Passagieren einer Seilbahn, darunter 8 Deutschen, verursacht hat, freigesprochen. Ziemlich ungerecht – und ein einziger Auftrag, zu einer Macht aufzusteigen, gegen die sich die Amis so etwas einfach nicht leisten können!
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
2 Hinrichtungen und ein
Freispruch
Deutsches Leiden an der Arroganz der
Supermacht
Die Brüder LaGrand mit deutsch-amerikanischem Doppelpaß
überfallen 1982 in Tucson/Arizona eine Bank und töten
dabei einen Bankangestellten mit 23 Messerstichen. Auf
den Tatbestand steht in diesem Bundesstaat der USA die
Todesstrafe, und 17 Jahre später, nachdem alle
zuständigen Berufungsgerichte die Strafe bestätigt haben,
werden die beiden gemäß amerikanischem Recht und Gesetz
hingerichtet. Mit heller „Empörung und scharfen Vorwürfen
gegen die USA“ reagieren hierzulande alle Parteien auf
die angekündigte und dann auch vollstreckte Exekution.
Deutsche Politiker sind abgestoßen
von einer
derartigen Zelebrierung der Todesstrafe
(Däubler-Gmelin), die
hauptsächlich darin bestand, daß sie ihr soviel
Aufmerksamkeit gewidmet haben. Ein so barbarisches
oder archaisches
, eines modernen Rechtsstaates
gänzlich unwürdiges Strafprinzip wie Blutrache
komme da in der amerikanischen Justiz zur Anwendung.
Am gleichen Tag wird Captain Ashby freigesprochen, Chef
einer Marineflieger-Crew des NATO-Stützpunktes Aviano,
der ein Jahr zuvor bei einer Tiefflugübung mit seinem
Jagdbomber bei Cavalese die Kabel einer Seilbahn
durchtrennt und dadurch den Tod der 20 Passagiere
verursacht hatte; darunter 8 Deutsche. Wieder eine Welle
der „Bestürzung und Empörung“ quer durch alle Parteien,
in diesem Fall jedoch wegen der „unbegreiflichen“
Milde der Urteils. Man ist „schockiert“, daß
die Katastrophe mit 20 Toten keine angemessene Antwort
und Strafe
(D’Alema) nach
sich zieht – mit Rache oder ähnlich archaischen
Strafprinzipien hat das Einfordern einer „angemessenen
Strafe“ da selbstverständlich nichts zu tun.
Purer Zufall?
, fragt sich nicht bloß die SZ,
daß am selben Tag, an dem ein Militärgericht in Camp
Lejeune, North Carolina, einen US-Piloten freisprach,
fahrlässig den Tod von 20 Menschen im italienischen
Cavalese verursacht zu haben, im US Bundesstaat Arizona
in einem Städtchen mit dem schönen Namen Florence ein
Mann in der Gaskammer sterben mußte
. Nein, natürlich
nicht, auch wenn die Zeitung einräumt, daß sich beide
Verfahren hinsichtlich ihrer juristischen Voraussetzungen
unterscheiden
. Jenseits ihrer juristischen Einordnung
verweisen die zwei „Fälle“ schon gleich auf ganz andere
und ziemlich inkommensurable „Voraussetzungen“: Das eine
Mal wollen sich 2 Typen auf illegale Art und Weise das
Geld beschaffen, zu dem sie es aufgrund der bürgerlichen
Eigentumsordnung ehrlicherweise nicht bringen, sind dem
Streß der Raubsituation nicht gewachsen und bringen den
Bankchef um. Das andere Mal genießt ein ehrgeiziger
Militärpilot ein wenig zu sehr den Streß der Übung für
eine Kriegssituation und schafft dabei 20 zivile Leichen
– nicht viel in Anbetracht des Zerstörungspotentials,
dessen perfekte Beherrschung er trainiert. Dem
interessierten nationalen Blickwinkel jedoch drängt sich
der Vergleich der beiden Prozesse geradezu auf: Was beide
Fälle eint, ist die Tatsache, daß hier wie dort – sei es
als Täter oder Opfer – Leute in ihrer Eigenschaft als
deutsche Staatsbürger involviert sind, weswegen
die Prozesse unter hiesigen Beobachtern überhaupt die
„große Aufmerksamkeit“ gefunden haben. Ein
amerikanisches Gericht vollstreckt das gemäß den
Paragraphen des US-Strafgesetzbuches ergangene
Todesurteil an zwei deutschen Raubmördern, ein
anderes amerikanisches Gericht verneint die
Strafbarkeit eines Unfalls mit deutschem
Personenschaden. Diese Gemeinsamkeit, daß deutsche
Rechtssubjekte den Rechtsmaßstäben der US-Staatsgewalt
subsumiert werden, und zwar abweichend von deutschen
Rechtsvorstellungen und -ansprüchen, stellt beide Fälle
in eine Reihe und begründet bei deutschen Politikern und
in der deutschen Öffentlichkeit die nationale Empörung.
So gesehen sind die Urteile zu den sachlich sehr
disparaten Fällen keinesfalls „Zufall“, vielmehr Ausdruck
einer systematischen „hyperpuissance“ Amerikas.
Nun sind Justizfälle, an denen ausländische Staatsbürger beteiligt sind, immer auch eine Affäre zwischen den beteiligten Staaten, die jeweils für sich und deswegen gegeneinander Anspruch auf Rechtszuständigkeit erheben. Da steht auf der einen Seite der Anspruch des Herkunftsstaates des Angeklagten oder Geschädigten auf ausschließlich ihm zustehende rechtliche Verfügungsgewalt über das seiner Hoheit unterstehende Menschenmaterial – oder, verkehrt herum und gemäß der normalen bürgerlichen Auffassung ausgedrückt: das Recht des Staatsbürgers auf Betreuung durch die eigene Staatsgewalt, bis hin zur eigenen Aburteilung durch sie. In der Tatsache, daß seine Insassen von einem fremden Souverän dessen Rechtsordnung unterworfen werden, sieht jeder Staat daher ganz grundsätzlich eine Relativierung seiner rechtlichen Alleinzuständigkeit. Daher entzieht Amerika seinen Piloten der italienischen Justiz und überstellt ihn seiner Militärgerichtsbarkeit, und aus demselben Grund besteht Deutschland auf einer Bestrafung der Brüder LaGrand nach deutschen Rechtsmaßstäben. Andererseits besteht jeder Staat selbstverständlich darauf, daß Angehörige einer ausländischen Macht, sofern sie sich in seinem Hoheitsbereich herumtreiben, seinen Gesetzen zu gehorchen haben. Daher besteht der Bundesstaat Arizona darauf, daß er über die deutschstämmigen Raubmörder zu urteilen hat, und im Fall Cavalese begründet dies das italienische Strafinteresse. Auf dieser Grundlage schließen die Staaten völkerrechtliche Verträge, die den Gegensatz regeln, aber nicht aus der Welt schaffen. Das sogenannte „Territorialprinzip“ anerkennt die prinzipielle Rechtshoheit der anderen Staatsgewalt, gleichzeitig will jeder Staat in allen Fällen, in denen seine Bürger mit dem ausländischen Gesetz zu tun bekommen, ein Wort mitreden und die Gerichtsbarkeit des fremden Souverän darauf verpflichten, so zu verfahren, wie es seine Rechtsordnung im entsprechenden Fall vorsieht. So steht Anspruch gegen Anspruch, und wieviel an Einmischung in seine rechtlichen Bestimmungen und Verfahrensweisen da der eine dem anderen gestattet bzw. untersagt, hängt sachgerechterweise davon ab, wie die Machtverhältnisse unter ihnen beschaffen sind. In dieser Hinsicht leidet Deutschland bzw. Europa ganz gehörig unter der „Arroganz und Selbstgerechtigkeit“ der USA, die sich von auswärtigen Protesten und Anträgen auf Einflußnahme überhaupt nicht beeindrucken lassen und ungerührt ihren Rechtsstandpunkt praktizieren.
Dies haben die beiden Fälle – und das ist eben ihr
gemeinsamer nationalistischer Nenner – nur zu deutlich
vor Augen geführt: Erst haben die USA den beiden Mördern
den ihnen nach dem Wiener Abkommen zustehenden
konsularischen Beistand wissentlich, von Anfang an und
über Jahre
(Auswärtiges
Amt) verweigert; dann haben Arizona und auch noch
der Supreme Court in Washington die Eilentscheidung von
Den Haag, die wegen der Verletzung des Wiener Abkommens
über konsularische Beziehungen einen Aufschub der
Exekution verlangt hatte, ohne große Prüfung zur
Makulatur erklärt und LaGrand stante pede vergasen
lassen
. (SZ) Im Fall des
„Unglückspiloten“ von Cavalese weisen die USA den Antrag
der Verbündeten auf Zuständigkeit als unstatthafte
Einmischung in ihre inneren Angelegenheiten zurück –
entgegen der sehr eindeutigen Beweislage und vor allem
gleichgültig gegen italienisches und deutsches
Strafbegehren schützt das zuständige amerikanische
Militärgericht „seine Soldaten“ und kann kein
schuldhaftes Verhalten feststellen; schließlich – so
stellt sich der Rechtsfall aus amerikanischer Sicht dar –
riskieren amerikanische Soldaten ihr Leben für die
Verteidigung der Freiheit
(Clinton); auch die der Europäer, die
dafür auch noch immer viel zu wenig beitragen, also
sollen sich die Verbündeten gefälligst nicht so
anstellen, wenn bei der ehrenvollen Aufgabe der US-boys
ein paar Späne auf ihrem Territorium fallen.
Eine derart brüskierende Mißachtung der Rechtsauffassung
der deutschen Souveränität bzw. – stellvertretend für
diese – des europäischen Partners Italien kann nicht
hingenommen werden
und verlangt nach einer
scharfen Auseinandersetzung mit den USA
(Claudia Roth, Grüne). Dabei ergeben sich
aus der Kreuzung von subimperialistischer Verärgerung und
sittlicher Überhöhung eigentümliche Allianzen: Da finden
sich Leute, die die Todesstrafe in Amerika als
archaisches Verständnis von Sühne als Rache
geißeln, in einer Reihe mit rachbegierigen sächsischen
Hinterbliebenen der toten Seilbahnpassagiere, die einfach
fassungslos sind angesichts der Ungerechtigkeit, daß
einer 20 Leute umbringt und dann straffrei
ausgeht
, und auf gebührender Vergeltung für die Tat
bestehen.
Doch unter dem Gesichtspunkt ihrer gemeinsamen nationalen
Betroffenheit liegen beide Parteien goldrichtig.
Unterschiedslos stehen sie beide für die Anklage, die USA
spielten sich auf der Welt als Anwalt von Recht,
Freiheit und Zivilisation auf, setzten sich selbst aber
über eben diese Grundsätze hinweg
, betrieben also
gegenüber anderen Staaten eine hemmungslose
Realpolitik, die die eigenen Interessen und Vorlieben zum
Gesetz der Welt erheben
(SZ). Angeklagt wird eben die
Selbstverständlichkeit und Leichtigkeit, mit der die
Supermacht eigene nationale Ansprüche in moralische
Gebote überhöht, sie damit anderen Staaten gegenüber für
verbindlich erklärt und sich umgekehrt über deren
Ansprüche und Interessen einfach hinwegsetzt. Deutschland
ist es sich und seinen Weltmachtansprüchen schuldig, dem
Seniorpartner in aller gebotenen diplomatischen Form
„unter Freunden“ mitzuteilen, daß das Amt des
„Gralshüters der Weltmoral“ kein Exklusivrecht Amerikas
darstellt. Europa sieht sich seinerseits dazu befugt,
unter Berufung auf die Menschenrechte über die
Rechtsprechung auswärtiger Souveräne, auch und sogar die
des übermächtigen Konkurrenten Amerika zu befinden.
So, wie das US-Außenministerium in seinem jährlichen
Menschenrechtsbericht die Europäer kritisiert,
–
bspw. die deutsche Ausweisung des 14 jährigen Mehmet in
die Türkei – sollte daher auch die EU handeln. Auch
die UN-Menschenrechtskonferenz ist ein geeignetes Forum
für einen koordinierten Vorstoß gegen die
Todesstrafe.
(Däubler-Gmelin) In diesem Sinne stellt
die an den deutschstämmigen Bankräubern vollzogene
Todesstrafe eine politische Herausforderung
dar,
vor der Europa sich nicht länger drücken darf.
(SZ)
Und so gesehen sind die beiden Hinrichtungen und der
Freispruch von Cavalese in eine beliebig verlängerbare
Liste unerträglicher Zumutungen einzuordnen, mit denen
Amerika die zweitrangigen Europäer seine Überlegenheit
provozierend spüren läßt
: Die von Washington im
Handelskonflikt mit der EU verhängten saftigen
Strafzölle, das Auftrumpfen der Weltmacht mit
Luftschlägen gegen den unbotmäßigen Irak oder
Bombendrohungen gegen Serbien
, überhaupt die kalte
Ausbeutung der überwältigenden US-Dominanz in Wirtschaft,
Militär, Außenpolitik und Kultur
(Spiegel)…
Und was lernen die unterlegenen europäischen Nationen aus
ihrer Demütigung? Es wird höchste Zeit: Soviel Arroganz
müssen sie sich auch leisten können. Dafür brauchen sie
eine den USA gleichwertige Macht: Europa muß
zu einer zweiten globalen Macht neben den USA
werden und mit Washigton Kosten und Opfer, Ehre und
Verantwortung
teilen. (D’Alema)