Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Denkmalstreit in Estland:
Europa diskutiert seine „Geschichte“ – Anträge zur Umwandlung des sowjetischen Siegs über den Faschismus in eine russische Niederlage
Die estnische Regierung räumt ein sowjetisches Kriegerdenkmal nebst sterblichen Überresten von Gefallenen der Roten Armee aus dem Zentrum ihrer Hauptstadt weg; in Estland ansässige Russen und die in Moskau protestieren und intervenieren. Und wieder wird das Bild vom kleinen freiheitsliebenden Völkchen verbreitet, das vom übermächtigen Russland zerdrückt zu werden droht.
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Systematischer Katalog
Denkmalstreit in Estland:
Europa diskutiert seine „Geschichte“ – Anträge zur Umwandlung des
sowjetischen Siegs über den Faschismus in eine russische
Niederlage
Die estnische Regierung räumt ein sowjetisches Kriegerdenkmal nebst sterblichen Überresten von Gefallenen der Roten Armee aus dem Zentrum ihrer Hauptstadt weg; in Estland ansässige Russen und die in Moskau protestieren und intervenieren. Und wieder wird das Bild vom kleinen freiheitsliebenden Völkchen verbreitet, das vom übermächtigen Russland zerdrückt zu werden droht.
1.
Aber so unbekannt ist es ja nun auch wieder nicht, was sich dieses Völkchen da geleistet hat.
Kriegsdenkmäler und Soldatenfriedhöfe sind für sich schon eine heikle Angelegenheit; nicht umsonst finden sich Bestimmungen über den Umgang mit derlei Erinnerungsstücken in der Genfer Konvention, in der sich die Nationen über das Zeremoniell ihres wechselseitigen Respekts im Krieg und unter allen Umständen, die damit zusammenhängen, verständigt haben. In solchen Bauwerken ist nun einmal die Ehre der Nation aufgepflanzt, durch die Erinnerung an außergewöhnliche Bluttaten der Vergangenheit offensichtlich ganz angemessen repräsentiert. Auch für Analphabeten ist also klar verständlich, dass beim Umtopfen eines Bronzesoldaten kein städtebaulicher Gesichtspunkt vorliegt, sondern an der Ehre der betreffenden Nation Korrekturen vorgenommen werden sollen.
Als Zusatz und anderen guten Grund für ihre
Aufräumarbeiten hat die estnische Politik die leidvollen
Gefühle der daran vorbeigehen-müssenden Esten in Anschlag
gebracht, die sie denen keinesfalls länger zumuten
wollte. Wobei sich diese Fürsorge für das seelische
Wohlbefinden ihrer Untergebenen mit ihrem eigenen Bedarf
an einer Umdefinition der Historie deckt:
Anstelle eines Verdienstes und der denkbar
größten Leistung in der Staatsmoralskala, der Befreiung
der Völker vom Faschismus, die Russland als
Rechtsnachfolger der Sowjetunion für sich in Anspruch
nimmt, möchte man nämlich Russland eine Schuld
anrechnen: die mit diesem Sieg eröffnete 50jährige
Okkupation
des Baltikums.[1]
Genau zu diesem Zweck, zur Bestreitung des Status Russlands als Siegermacht, hat die estnische Führung den Aufruhr um das Denkmal entfacht.
Es ist wiederum auch niemandem ein Geheimnis, dass der
Antrag auf Umbewertung historischer Ereignisse
weniger auf eine Debatte unter Geschichtsprofessoren
abzielt als auf zeitgenössische Ansprüche und
Interessen eines benachbarten Staatswesen. Die Identität
ist beiden Seiten geläufig: Forderungen zur
Aufarbeitung
von Geschichte – hierzulande sofort
mit der Heuchelei unterstützt, dass aus der Geschichte
gelernt werden muss, damit sich die Völker dann endlich
besser verstehen können... – mögen noch so wolkig in der
Tonlage von Kirchentagen daherkommen; der harte Kern ist
die Eröffnung neuer Rechnungen zwischen Staaten, wer wem
auf dem Gebiet der heutigen Beziehungen etwas
schuldig ist. Mit der Forderung nach einem
russischen Schuldeingeständnis wird ein
Rechtsanspruch gegen das heutige Russland
etabliert. Da verstehen sich die Völker schon gut genug.
Für die unmissverständliche Kundgabe dieses estnischen
Standpunkts und eine möglichst demonstrative Verletzung
der einschlägigen russischen Gefühle
hat man die
Verschönerungsarbeiten im Stadtzentrum von Tallinn
zeitlich zielgerichtet vor den 9. Mai platziert, an dem
Russland den Sieg über den Faschismus feiert. Eine
Inszenierung, die an die diplomatischen Provokationen vom
letzten Jahr anknüpft: Im Januar ‚06 verabschiedet die
parlamentarische Versammlung des Europa-Rats eine
Resolution, in der eine Verurteilung der kommunistischen
Repressalien und eine rechtliche Einschätzung der
Vergangenheit gefordert werden; dann verurteilt der
Ami-Präsident am 7. Mai in Riga die Besetzung und
kommunistische Unterdrückung
, eine Woche später
fordert der US-Senat:
„Die Regierung der Russischen Föderation muss die unrechtmäßige Okkupation und Annexion der baltischen Staaten Estland, Lettland und Litauen in den Jahren von 1940 bis 1991 durch die Sowjetunion klar und eindeutig anerkennen und verurteilen.“
Zur Steigerung des Effekts hat Estland dieses Jahr ein
Gesetz über den Schutz von Soldatengräbern
beschlossen, das sinnigerweise die Soldatengräber durch
ihre Entfernung aus dem öffentlichen Leben schützt,
pünktlich vor dem 9. Mai zur Anwendung kommt und, wie zu
erwarten, von empörten Protesten der russischen
Bevölkerungsteile beantwortet wird, so dass mit ein paar
Tagen Aufruhr in Tallinn auch das Interesse der
Weltöffentlichkeit auf die Szenerie gelenkt wird.
Die durch diese Inszenierung ins Bild gesetzte Botschaft der estnischen Führung besteht in zwei Gleichsetzungen. Die erste ist die traditionsreiche ‚rot gleich braun‘:
„Für viele bedeutet das Ende des Zweiten Weltkrieges den Sieg der Freiheit über die Tyrannei, aber für viele – den Tausch eines totalitären Regimes gegen ein anderes.“ (Gemeinsame Erklärung der estnischen Staatsspitze zum 8. Mai 2007)
Die russischen Proteste gegen den estnischen Staatsakt wiederum sollen nach estnischer Lesart die zweite Gleichung bestätigen, die zwischen Russland und der Sowjetunion:
„Das Soldatendenkmal war ein Mittel bei der Realisierung der geplanten Sowjetisierung Estlands gewesen... Selbst wenn das Soldatendenkmal für viele Russen in Estland wirklich ein Symbol des Respekts im Andenken an die Soldaten ist, so kann man auch nicht abstreiten, dass gerade dieses Denkmal im Stadtkern zu einem Ort gemacht wurde, an dem Feindseligkeit und Widerstand gegen den estnischen Staat entfacht wurden.“ (Der estnische Premier Andrus Ansip in der Zeitung „Postimees“)
Wer das was „entfacht“ hat, sei einmal dahingestellt. Klar ist jedenfalls die Botschaft: Dass Russen sich aufregen, wenn ein Erinnerungsstück an Stalins „Großen Vaterländischen Krieg“ abmontiert wird, ein Ding, das rückblickend die Esten schon immer unterdrückt und ihren Patriotismus beleidigt hat, ist der schlagende Beweis, dass sich das heutige Russland auf dem Weg zurück zur sowjetischen Unrechtsherrschaft befindet. Wer im anschließenden Streit zwischen der großen Russischen Föderation und der kleinen Baltenrepublik im Recht ist und wer Unrecht hat, das erkennt Europa im Übrigen erstens an der Zugehörigkeit Estlands zum Westen im Allgemeinen und zur EU im Besonderen. Zweitens klärt der Blick auf die Landkarte eindeutig darüber auf, dass da ein imperialistischer Riese ein winziges Opfer bedroht. In dem Fall gilt einmal der Grundsatz, dass der gröbste Nationalismus in Ordnung geht, wenn die Nation so niedlich klein ist – ganz entgegen den sonst üblichen Gepflogenheiten internationaler Ehrerbietung, die die wirklichen Kräfteverhältnisse widerspiegeln: Je größer die Nation, umso empfindlicher sind deren Ansprüche auf dem Gebiet der nationalen Ehre. So ist z.B. bisher noch nicht bekannt geworden, dass die USA sich nach dem Prinzip benehmen würden: Der Größere gibt nach. Wenn da Staatsgebilde von geringer Bedeutung ihrem großen Nachbarn die gebotene Ehrfurcht verweigern, ihn gar nach allen Regeln der diplomatischen Kunst provozieren, handelt es sich um eine ganz besondere Herausforderung. So etwas leisten sich die Balten – und können sich das auch leisten; nicht deswegen, weil sie so klein und unschuldig sind, sondern weil sie andere Mächte, vor allem eine Großmacht hinter sich wissen, der sie überhaupt ihre Gründung verdanken.
3.
So billig wie die Balten haben kaum jemals Nationen ihre Unabhängigkeit bekommen; sie haben dafür noch nicht mal eine Freiheitsbewegung und Bombenleger benötigt. Vielmehr haben die USA vorsorglich den Rechtstitel der widerrechtlichen Annexion des Baltikums durch die Sowjetunion über die Jahre aufbewahrt; in Jalta, wo man die Rote Armee noch brauchte, zwar nicht eingebracht, 1975 bei der Unterzeichnung der Schlussakte der KSZE in Helsinki aber wieder einmal aus der Tasche gezogen und 1990 im Zuge der Selbstauflösung der Sowjetunion nachdrücklich angemeldet. Nachdem die Obersten Sowjets der baltischen Sowjetrepubliken den Austritt aus der UdSSR beschlossen hatten, wurde die bis dahin in Amerika wohnende oder bei den amerikanischen Sendern zur Beschallung des Ostblocks beschäftigte Freiheitsbewegung dann zum Regieren ins Baltikum zurücktransportiert.
An diesen Kleinststaaten ist Amerika wegen ihrer strategischen Dienste interessiert; es ist ihr Platz auf der Landkarte, der sie so sympathisch macht. Mit ihrer Küstenlage taugen sie zur Beschränkung und Kontrolle des russischen Zugangs zur Ostsee. Als Vorposten der NATO vor der russischen Grenze werden sie mit allerlei Horch- und Überwachungseinrichtungen bestückt. NATO-Flieger üben die Luftkontrolle aus. Mit der Blockade des Landwegs zu dem zur Exklave beförderten russischen Gebiet um Kaliningrad können sie auf Russland Druck ausüben. Wegen dieser strategischen Bedeutung sind sie auch durch Europa, federführend dabei die skandinavischen Staaten und Ostseenachbarn, zu Schutzobjekten erklärt und, so schnell es irgend ging, in den westlichen Bündnissen verstaut worden. Da leisten sie weitere Dienste, wo immer sich eine Gelegenheit dafür ergibt und Amerika ihre Mitwirkung brauchen kann: mit 30 Leuten im Irak; bei Feiern, zu denen Amerika Ostsee- und Schwarzmeerstaaten unter dem Firmenschild ‚Bündnis für Demokratie‘ einbestellt, um an seiner Gefolgschaft vorzuführen, wie sehr sich die Völker, die noch in der GUS eingesperrt sind, nach dem Zugriff der amerikanischen Herrschaft sehnen müssen; ganz praktisch als Hilfskräfte bei der „Westorientierung“ der Ukraine. Und im Verein mit den USA und anderen skandinavischen Freiheitsliebhabern nutzen die baltischen Staaten aktuell ihre strategische Lage, um dem deutsch-russischen Projekt einer Gaspipeline durch die Ostsee möglichst viel Hindernisse entgegenzusetzen.[2]
4.
Die neugegründeten baltischen Staaten machen sich die Sicherung der eigenen Staatlichkeit per Absetzung und Abgrenzung von der alten Staatszugehörigkeit zu ihrem nationalen Hauptanliegen – noch so ein Fall, analog zu den balkanischen, an dem sich die zivilisierenden Wirkungen der freiheitlichen Weltordnung studieren lassen: Mit der Entlassung in die Unabhängigkeit ist nicht etwa eine Konfliktlage bereinigt; umgekehrt eröffnet die neue Herrschaft mit ihrem Bedarf, sich als total eigene zu etablieren, lauter neue Fronten. Die Subsumtion der kleinen Völker unter das Reglement von EU und Nato, die Vasallendienste im amerikanischen Programm tangieren die kostbare Unabhängigkeit offenkundig nicht im geringsten; dagegen wird all das, was im Land aus der Vergangenheit herumsteht, als möglicher Hebel für russischen Einfluss und eine einzige Ansammlung von Risiken für die nationale Wiedergeburt behandelt und bekämpft.
So z.B. die russophone
Bevölkerung, die mit der
Staatsgründung in den ungemütlichen Status einer
Minderheit
versetzt worden ist. Nicht zuletzt
wegen der beträchtlichen Ausmaße dieser Minderheit – in
Lettland stellen Russen ein Drittel, in Estland ein
Viertel der Bevölkerung, in den Städten teilweise über
60 % – wird sie von den nationalen Regierungen als enorme
Gefahrenquelle, als 5. Kolonne Moskaus definiert und
behandelt; mit dem klaren Ziel, sie entweder mit Hilfe
vielfältiger Schikanen aus dem Land zu ekeln oder zur
Unterordnung unter die nunmehr baltische Leitkultur zu
bewegen. Verlangt ist ein Wille zur bedingungslosen
Eingliederung, der sich in Einbürgerungsverfahren vor
allem am Bestehen von Sprachprüfungen zu beweisen hat.
Wer nicht besteht, verbleibt in einem neugeschaffenen
Status von Staatenlosigkeit, ist vom Zugang zu
staatlichen Arbeitsplätzen und vielem anderen
ausgeschlossen. Dass die „Russophonen“ die Kosten für
Sprachkurse oder Übersetzungsdienste, die sie auf Ämtern
benötigen, selber zu tragen haben, schließt sie auch noch
ein wenig vom sozialen Leben aus. Dank solcher Praktiken
ist die Zahl von 450 000 Staatenlosen, die es in Estland
vor 12 Jahren gab, heute auf 100 000 geschrumpft. Denen,
die mit ihren Papieren nicht weit kommen, hat Estland
seit Anfang des Jahres sogar das Recht geschenkt, Visa
für die EU beantragen zu dürfen. Auch das ist ja ein Weg,
sie loszuwerden.
Auf dem Gebiet der Wirtschaft führen die
baltischen Regierungen einen Abwehrkampf gegen
Abhängigkeit
, nämlich gegen Aktivitäten russischer
Unternehmen, um mögliche Erpressungsmittel zu minimieren
und einen unerwünschten Einfluss auszubremsen. Das ist
eine einigermaßen komplexe Aufgabe, da die baltischen
Nationalökonomien nicht zuletzt von russischen
Transporten und dem Handel mit Russland leben. Russische
Versuche, sich „strategische“ Teile der Wirtschaft
anzueignen, werden unter Inkaufnahme von größeren
Verlusten und Kosten verhindert; umgekehrt bestehen die
tapferen kleinen Ländern darauf, darauf, dass russische
Pipelines weiterhin über ihr Territorium führen oder
verlegt werden, damit sie erstens daran verdienen und
zweitens ihrerseits einen „strategischen“ Hebel in der
Hand behalten, nämlich im Bedarfsfall einmal den Gashahn
zudrehen können. Die entsprechenden Handelskriegsmanöver
laufen schon: Wenn Russland Öllieferungen nach und durch
Litauen und Estland drosselt oder gar unterbricht,
antworten die mit Blockaden der Transporte nach
Kaliningrad – und umgekehrt.[3] Der Vorwurf, mit Energie
Politik zu machen, gilt aber natürlich nur für Russland.
Die Konfrontationspolitik der baltischen Regierungen bringt schon auch Zweifel hervor, wie zuträglich diese Linie für ihr Staatswesen ist, ob nicht manchmal mit mehr Zurückhaltung auch nützliche Arrangements mit Russland zu erreichen wären. Auch das Interesse an freundlicheren Beziehungen, um die Grenzlage zu Russland geschäftlich besser auszunützen, ist in der Parteienkonkurrenz präsent. Solche Streitigkeiten werden aber eher einseitig entschieden, nicht zuletzt durch Wahlkampfhilfen aus dem demokratischen Amerika, so dass die Wirtschaftsrepräsentanten mit den guten Geschäftsbeziehungen nach Russland auch schon gleich Oligarchen heißen. Durch die Gegensätze, die die Regierenden gegen den Nachbarn eröffnen, die Russland seinerseits mit Repressalien beantwortet, erhält wiederum der Russen-feindliche Nationalismus immer wieder neuen Stoff und Auftrieb. Lange vor der Wirtschaft erlebt daher der Geist der neuen Nationen einen Aufschwung: Was die Völker nicht schon aus Sowjetzeiten an Russenhass mitgebracht haben, das bringt ihnen jetzt die Konfrontationspolitik ihrer Herrschaften bei.
Zu ihrem Kampf um die Herstellung eines astreinen, in den lokalen Idiomen bewanderten Volkskörpers und um die Immunisierung ihrer Volkswirtschaft gegen russischen Einfluss leisten sich die Baltenstaaten schließlich auch noch die Abteilung Politik, in der sie genau den Geist der Nation in Reinform kultivieren. Alle Beziehungen werden noch einmal eigens auf die Frage der Anerkennung pur zugespitzt: Mit dem Stichwort „Okkupation“ wird die Feindseligkeit gegenüber Russland in eine gewisse Rechtsförmlichkeit gebracht, eine russische Schuld zurechtkonstruiert, deren Begleichung eigentlich anstünde. Periodisch werden Forderungen nach Wiedergutmachung aufgebracht. Estland und Lettland haben probiert, in den Verhandlungen über Grenzverträge rechtliche Kautelen unterzubringen, die es erlauben würden, dem übermächtigen Nachbarn mit Gebietsforderungen zu kommen. Und schließlich bekommen die „Gefühle“ der Völker, für die die deutschen Feuilletons so viel Verständnis bekunden, auf dem Gebiet der sinnfälligen Umbewertung von Geschichte viel Anschauungsunterricht. Unter Anwesenheit führender Politiker feiern SS-Veteranen, die ja schließlich unter Hitler nur für die baltische Freiheit gekämpft haben, ihre Feiertage; das Aufstellen von deren Denkmälern wechselt sich ab mit Prozessen gegen hochbetagte russische Partisanen wg. Kriegsverbrechen und der Entsorgung russischer Kriegerdenkmäler und Soldatengräber. Mit dem Austausch der falschen Staatsfetische durch die eigenen, der damit beabsichtigten Provokation der russischen Minderheiten und der russischen Staatsmacht haben die unschuldigen kleinen Staatswesen alle Hände voll zu tun.
5.
Russland hat verstanden: Wollen Sie, dass wir uns
jedes Jahr entschuldigen?
(Putin
im letzten Jahr zum 9.Mai)
Das neue Russland besteht darauf, selber zu unterscheiden und zu entscheiden, was es an seinem Rechtsvorgänger verurteilt und in welche von dessen Traditionen es sich stellen will. Die berechtigte Kritik an Stalin soll mit Chruschtschow und seiner Abrechnung auf dem Parteitag von 1956 bzw. mit der Verurteilung der Geheimprotokolle zum Molotow-Ribbentrop-Abkommen noch durch den Obersten Sowjet 1989 erledigt sein; der Sieg über den Faschismus aber ist und bleibt die Leistung, auf die die Nation jenseits aller Systemfragen und sonstigen Differenzen ihren Stolz begründet, in deren Namen sie Respekt von all den Mächten verlangen kann, die den Faschismus als eines der größen Verbrechen gegen die Menschheit in ihren Büchern führen, insbesondere von den Nationen, deren staatliche Existenz von der deutschen Herrschaft ausgelöscht werden sollte. Wie die Sowjetunion versteht auch die heutige russische Herrschaft die damalige militärische Leistung als unwidersprechlich guten patriotischen Grund für das Bündnis der vom Faschismus befreiten Staaten und Nationen unter Führung der Sowjetunion.
Nachdem nun eine großformatige faktische Revision der Resultate des Zweiten Weltkrieges stattgefunden, die Sowjetunion erst ihre Bündnisse und dann sich selbst aufgelöst hat, hat der Rechtsnachfolger Russland an allen Fronten zu spüren bekommen, dass er damit in eine Konkurrenz um nützliche Beziehungen und Einfluss eingetreten ist, in der ihm keinerlei Besitzstände und gesicherte Interessen zugebilligt werden. Als geradezu logisch zwingende Konsequenz legen ihr die westlichen Nachbarn und deren imperialistische Schutzmächte nahe, die Änderung der machtpolitischen Landkarte auch noch durch eine Art staatsmoralischer Revision zu ergänzen: Mit der Verabschiedung des sowjetischen Systems hätte man sich doch schon zu einem Schuldeingeständnis in Sachen Okkupation fremder Völker etc. herbeigelassen; das müsste eigentlich nur noch in eine offizielle Fassung gebracht werden – gegenüber dem Baltikum wie gegenüber allen ehemaligen Opfern der Sowjetpolitik. Eine Art Kapitulationserklärung wie nach einem Krieg, ein Eingeständnis von Kriegsverbrechen, freiwillig abgeliefert, würde man sich von Russland wünschen, damit die Beziehungen zwischen den Völkern auf eine neue Grundlage gestellt werden können... Insbesondere die Deutschen kennen sich besonders gut darin aus, wie man sich als Nation durch eine Runde Schämen, Büßen und Wiedergutmachen weltweit Anerkennung und Einfluss verdient, und können Russland dieselben Exerzitien nur wärmsten Herzens empfehlen – zumal sie haargenau wissen, dass für sie der offizielle Nachkriegs-Antifaschismus Bedingung und Instrument des Wiedereinstiegs in die Staatenkonkurrenz gewesen ist, wohingegen Russland seine antistalinistische Läuterung nur durch Verzicht auf seine außenpolitische Selbstbehauptung so richtig glaubwürdig machen könnt. In diesem Sinn wird Moskau bei jedem einschlägigen Feiertag mit Nachdruck auf die noch ausstehende Bewältigung seiner Vergangenheit hingewiesen.
Die russische Führung beantwortet diese Anträge auf
derselben Ebene. Sie legt Entrüstung an den Tag über
Versuche, die Geschichte umzuschreiben
; sie
versucht, Europa auf seine eigene Verurteilung der
Verwendung faschistischer Symbole und auf die russische
Deutung der baltischen Umtriebe als Wiederaufleben des
Faschismus festzulegen; sie fordert von Europa, im Sinne
dieses eigentlich unwidersprechlichen Titels Stellung zu
beziehen.[4]
Die Balten werden in diesem Fall wie schon vorher in
anderen Konflikten auf die Schwachstelle ihrer
Staatskonstruktionen aufmerksam gemacht: Ob sie das für
passend halten, russische Denkmäler zu stürzen, dem
Nachbarn eine Schuldfrage aufzuzwingen und gleichzeitig
von russischen Transporten, Energielieferungen etc. leben
zu wollen.[5]
Und zum 9. Mai versucht sich auch Putin einmal an einem
Hitler-Vergleich.
„Der russische Präsident Wladimir Putin hat vor dem Vergessen der Geschichte gewarnt... Die Zahl der gegenwärtigen Gefahren werde nicht geringer. Diese Gefahren würden bloß anders. In diesen Gefahren sind – wie in der Zeit des Dritten Reiches – dieselbe Verachtung des menschlichen Lebens und dieselben Ansprüche auf Ausschließlichkeit in der Welt und auf Diktat deutlich zu spüren.“ (RIA Nowosti)
Die russischen Proteste und Anträge laufen allerdings mehr oder weniger auf, da die Schutzmächte der Balten sich weigern, irgendeinen Missgriff auf estnischer Seite zu entdecken.
6.
Die USA erklären die Denkmalverlegung kategorisch zur
„inneren Angelegenheit“. Gleichzeitig verabschiedet der
Senat eine Resolution: Er respektiere alle Opfer,
darunter die Soldaten der Roten Armee, die ihre Leben im
Kampf gegen den Nazismus geben mussten.
An den
Diensten, die die Rote Armee damals bei der
Erledigung des Faschismus geleistet hat, hat man auch
heute noch nichts auszusetzen. Dass aber die Sowjetunion
daraus Rechte in Europa abgeleitet hat, dass sie
sich in Jalta von Amerika einen eigenen Einflussbereich
inkl. Baltikum hat unterschreiben lassen, das ist aus
heutiger Sicht ein Verbrechen:
„Der Senat ist der Auffassung, dass die brutale jahrzehntelange Besatzung Estlands durch die Sowjetunion ungesetzlich und illegitim war und die Souveränität und das Recht Estlands auf Selbstbestimmung offen verletzte... Der Senat versichert Estland als souveränen Staat und EU- und OSZE-Mitglied seiner entschiedenen Unterstützung, wenn es seine internen Angelegenheiten regelt.“ (4. Mai)
Deshalb will Amerika auch heutzutage in Europa keinen anderen Einfluss mehr neben dem eigenen dulden und beauftragt sich zur entschiedenen Unterstützung seiner Lakaienstaaten. Das ist ja auch das beste Mittel, dafür zu sorgen, dass es bei einer „inneren Angelegenheit“ bleibt.
7.
Europa antwortet ebenso einseitig.
Am gerade gegen Russland so vehement vertretenen
Menschenrecht auf Demonstrationsfreiheit dürfen die
Vorfälle in Tallinn nicht gemessen werden: 1 Toter, 44
Verletzte auf Seiten der russischen Demonstranten gehen
einzig auf das Konto von deren üblen Absichten; da hält
man sich ganz an die Definition der estnischen Obrigkeit:
alkoholisierte Randalierer, Plünderer
. Auch die
Auskünfte der estnischen Regierung, dass alles von der
russischen Botschaft organisiert worden sein soll, werden
ohne Kommentar weitergereicht. Im Unterschied zu Kasparow
und Genossen handelt es sich bei den Demonstrationen in
Estland einfach nicht um eine zu schützende
Meinungsfreiheit.
Nachdem sich aber Russland auf seinem Weg zur Demokratie einiges von den amerikanischen NGOs und deren medienwirksamem Auftreten im Rahmen der bunten Revolutionen abgeschaut hat, seine patriotischen Jugendvereine in Moskau in der Rolle der empörten Volksmassen auftreten, sich vor der estnischen Botschaft aufstellen, sogar noch einen Stander vom Auto der estnischen Botschafterin abknicken und in einer Pressekonferenz ihre ungefragte Meinung abgeben – fährt die europäische Seite schweres Geschütz auf: Das Europäische Parlament ruft die EU-Mitgliedsländer und -Institute dazu auf, Solidarität mit Estland zu bekunden. Russland dagegen wird abgemahnt und auf die Einhaltung der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen, die Sicherheit der ausländischen Diplomaten und den Betrieb von Botschaften verwiesen.
*
Das Freundbild, nach dem die kleinen baltischen Staaten, von Russland bedroht, unseren Schutz benötigen, stellt also die Sache gründlich auf den Kopf. USA, NATO und EU haben sich in den baltischen Staaten Instrumente geschaffen für ihre Politik des Containment gegenüber Russland. Dafür instrumentalisieren und ermutigen sie den Nationalismus der ortsansässigen Herrschaften, die sich dann, mit solchen Schutzmächten im Rücken, die Freiheit nehmen, Russland mit allen erdenklichen Mitteln auf dem Feld seiner nationalen Ehre und internationalen Anerkennung zu provozieren. Wenn Russland reagiert, so wie Staaten in solchen Fragen zu reagieren pflegen, bauen sich die mächtigen Nationen in der Rolle einer Schutzmacht für kleine bedrohte Völker auf. Echt rührend.
[1] Wie das bei der historischen Ableitung von Rechtstiteln so ist, kommt es sehr darauf an, wann man in die Geschichte einsteigt.
Aus guten Gründen reicht der Geschichtssinn der Balten
zur Erstellung eines Vorwurfs von wg. „Okkupation“
gerade einmal bis zum Ende des 1. Weltkriegs. Ginge man
nur ein bißchen weiter zurück, dann wäre wiederum
Rußland mit der Eingemeindung des Baltikums im Zweiten
Weltkrieg ein Stück Wiedervereinigung geglückt.
Schließlich sind Herrschaftdie Balten nach der
Niederlage des Zarismus und dem Sieg der Revolution vom
Zarenreich abgetrennt worden, indem sich das deutsche
Reich im Frieden von Brest-Litowsk die Abtretung
etlicher russischer Gebiete von den Bolschewisten
unterschreiben ließ. Die Überführung in ein Baltisches
Herzogtum unter Prinz Heinrich von Hohenzollern war nur
von kurzer Dauer; nach Versailles kamen sie dann als
eigene Staaten zur Welt, denen die Entente schleunigst
ein Militärbündnis gegen Rußland anempfahl, nach dem
Prinzip von Winston Churchill: Sowjet-Russland muss
von Westeuropa durch Staaten abgegrenzt werden, die den
Bolschewismus blindwütig hassen.
Die USA und
Großbritannien lieferten Waffen, britische und
finnische Truppen übernahmen die Verteidigung gegen den
Bolschewismus. Den Anläufen zum eigenen Staat in der
Zwischenkriegszeit werden laut Ploetz faschistische
Züge nachgesagt; danach werden sie erst von Stalin,
dann durch Hitler von Stalin und schließlich wieder aus
der anderen Himmelsrichtung befreit.
Der schwedische Initiator der Resolution des
Europa-Rats zur Verurteilung der kommunistischen
Verbrechen
, PACE-Abgeordneter Göran Lindblad,
vertritt die Auffassung, Russland könnte sein Image
verbessern, wenn es sich bei den Ländern Osteuropas
entschuldigen würde. Die UdSSR hat die demokratischen
Traditionen zerstört, die in Europa jahrhundertelang
existiert hatten.
Er denkt da wohl an die
Traditionslinie, die von der Herrschaft des Deutschen
Ordens und des livländischen Schwertbrüderordens über
den deutsch-baltischen und polnischen Adel bis zu
Gustav Wasa von Schweden führt, der die Gegend durch
mehrere schwedische Kriege mit Rußland und mit Polen
prägt; im 17. Jh. ist dann der namhafte Demokrat Gustav
Adolf II. zuständig, bis zum Ende des Ersten Nordischen
Kriegs, wonach dann der russische Zar drankommt. Das
europäische Demokratieverständnis ist offensichtlich
nicht nur in geographischer, sondern auch in
historischer Hinsicht sehr vereinnahmend.
[2] Russische Projekte
schärfen die estnische Sensibilität gegenüber
ökologischen Gefahren, was sich wiederum zwanglos mit
dem Streit ums Denkmal mischt. Auch ein ehemaliger
deutscher Bundeskanzler muss es sich da gefallen
lassen, dass der estnische Regierungschef Andrus
Ansip ein für 8. Mai geplantes Treffen mit dem
Aufsichtsratschef von Nord Stream, Gerhard Schröder,
abgesagt hatte. Grund für die Absage war die neuerliche
Äußerung des deutschen Ex-Kanzlers, dass die Verlegung
des Denkmals und des Massengrabs in Tallinn die Gefühle
der Russen beleidige, die gegen den Faschismus gekämpft
haben. Bei dem Treffen mit Ansip wollte Schröder um
eine Verlegung der Pipeline-Route aus den finnischen
Gewässern in die estnische Wirtschaftszone werben, wo
der Meeresgrund ebener und tiefer ist. Kurz davor hatte
Estland den russischen Antrag auf Forschungsarbeiten in
seinen Gewässern abgelehnt – unter dem Vorwand, dass
der Antrag falsch ausgefüllt sei. Die Einreichung eines
neuen Antrags und dessen Prüfung werden rund vier
Monate dauern – bis zum Ende der Sommerzeit, die für
die Erkundung des Meeresgrundes besonders geeignet ist.
Außerdem sieht Estland in dem Pipeline-Projekt eine
Bedrohung für die Umwelt der Ostsee. Estlands
Wirtschafts- und Kommunikationsminister Juhan Parts
setzt sich für alternative Trassen ein. Ihm zufolge
könnte die Pipeline auf dem Land gebaut werden, alle
EU-Staaten sollten das Projekt begutachten.
(7. Mai, RIA Nowosti)
[3] An diesen Kalamitäten ist im übrigen abzulesen, dass die Existenzweise einer Sowjetrepublik dann doch etwas anders ausgesehen hat, als es mit der Parole von 50jähriger Besetzung oder mit der Gleichsetzung mit dem Faschismus unter dem Titel ‚totalitäre Herrschaft‘ suggeriert wird. Aus der Zeit stammen schließlich nicht nur die Kriegerdenkmäler, deren Anblick den Balten nicht zuzumuten ist, sondern ebensogut Häfen, Eisenbahnen, der gesamte industrielle Aufbau samt Infrastruktur, den das sowjetische System hinterlassen hat.
[4] Russland erwarte
eine ‚objektive Stellungnahme von der EU und
europäischen Institutionen, die die gesamteuropäischen
Werte verteidigen müssen, um eine Wiedergeburt des
Neonazismus zu unterbinden.‘
(Außenamtssprecher Kamynin, RIA Nowosti, 14.
Mai)
Russland ist über die jüngsten Ereignisse in
Estland besorgt und erwartet von der Europäischen Union
ein größeres Verständnis für seine Sorgen... In Estland
und Lettland würden faktisch die Ergebnisse des Zweiten
Weltkrieges revidiert, äußerte Jastrschembski. Moskau
erwarte von der EU keine Maßnahmen mehr. ‚Wir hatten
mit einer Reaktion gerechnet, doch nun ist es schon zu
spät.‘ Das Vorgehen der estnischen Behörden sei ‚eine
direkte Herausforderung an Russland und die russische
öffentliche Meinung, aber auch an die europäischen
Werte und die europäische Kultur, auf der die EU
basiert‘, stellte Jastrschembski fest. Er verwies
darauf, dass die russische Minderheit in Estland bisher
noch nicht Vollmitglied der Europäischen Union sei. Die
Situation der Rechte der nationalen Minderheiten in
Lettland und Estland errege nach wie vor Besorgnis.
(RIA Novosti, 16. Mai).
[5] Für ein paar Tage werden die Eisenbahntransporte via Estland gedrosselt, dann aber wieder aufgenommen, da Rußland noch nicht über ausreichende eigene Kapazitäten für den Ölexport verfügt; ein eigens dafür bestimmter Hafen in Primorsk wird aber mit beschleunigtem Tempo aufgebaut, damit das estnische Sozialprodukt in Zukunft darauf verzichten muß.