Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Frühling in Deutschland: Pandemie IV.
Die Regierung unterzieht die Nation einer harten Belastungsprobe
Die Kanzlerin macht ihrem Volk nichts vor. Demonstrativ unaufgeregt – die Melodramatik überlässt sie ihren Ministern und auswärtigen Kollegen – kündigt sie an: Ihre Regierung unterzieht die Nation einer harten Belastungsprobe.
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Frühling in Deutschland: Pandemie IV.
Die Kanzlerin macht ihrem Volk nichts vor. Demonstrativ unaufgeregt – die Melodramatik überlässt sie ihren Ministern und auswärtigen Kollegen – kündigt sie an: Ihre Regierung unterzieht die Nation einer harten
Belastungsprobe
1.
Auf die Probe gestellt wird „die Geduld der Bevölkerung“. Im Vordergrund steht dabei – einstweilen – nicht so sehr der Geldmangel, der in zahllosen Haushalten der Republik einreißt. „Verbraucherschützer“ rechnen zwar mit einer Welle von Privatinsolvenzen, wenn der Stillstand beim Geldverdienen über Ostern andauert – immerhin ein Indiz dafür, dass man hierzulande überwiegend „von der Hand in den Mund“ lebt. Soweit Armut offiziell überhaupt thematisiert wird, gilt sie aber als Problem von „Kurzarbeitern“, die mit ihrem Kurz-Lohn gar nicht mehr zurechtkommen, und von Honorarkräften, denen mit den Honoraren ihr Lebensunterhalt wegbricht; und da ist sie durchs Kurzarbeitergeld und durch Spenden für die Freischaffenden der Kunstszene optimal bewältigt. Nein: Durchhaltefähigkeit und Gutwilligkeit sind gefragt, weil das Volk nicht „ins Freie“ darf; was vielleicht auch – allerdings vor allem in anderen Ländern – wegen „beengter Wohnverhältnisse“ der großen Masse schlimm ist, hauptsächlich aber angesichts des schönen Frühlingswetters. Der wirkliche materielle Schaden findet jedenfalls an anderer Stelle statt. Der trifft die Wirtschaft und belastet wegen der notwendigen Kompensation die Finanzmacht des Staates; mit schwerwiegenden Folgen für zwischenstaatliche Konkurrenzverhältnisse unter den Alibi-Namen europäische Solidarität
und internationale Arbeitsteilung
.
2.
Um mit der Wirtschaft anzufangen:
Es ist Spargelzeit; und Deutschlands „postindustrielle Dienstleistungsgesellschaft“ erfährt auf einmal wieder exemplarisch, auf wie viel Proletariat im Ernährungssektor sie angewiesen ist für ihren Lebensstandard und wie klassenkämpferisch die nationale Staatsgewalt die nötigen Saisonkräfte rekrutiert und organisiert. Löhne, die den Menschen ernähren, erspart sie ihren Landwirten, indem sie die nationalen Grenzen für arme Osteuropäer öffnet; genauer: für ein Geschäft mit international mobilen Knechten und Mägden, die mit einer Arbeit, die sich mehr als ein paar Wochen ohnehin kaum durchhalten lässt, kaum mehr verdienen, als was ihr Dienstherr ihnen für Kost und Logis berechnet; ein Geschäft, an dem dubiose Arbeitskräftevermittler und die großen Aufkäufer der entsprechend billigen Agrarprodukte noch am meisten verdienen. Die Heimatländer dieser Sorte europäischer Wanderarbeiter – die mit ihren bei Gelegenheit bedauerten chinesischen Kollegen natürlich überhaupt nicht zu vergleichen sind – dürfen sich darum kümmern, wie dieser Teil des europäischen Proletariats ansonsten zurechtkommt: nach Gebrauch, außerhalb der jeweiligen Saison, mit Familie... Das fällt auf, oder wieder genauer: Nicht die spezielle politische Ökonomie dieses Geschäftszweigs, sondern das Ausmaß, in dem Deutschlands Lebensmittelwirtschaft auf national outgesourcte Tagelöhner angewiesen ist, wird bemerkt, weil der Innenminister im Dienst der nationalen Volksgesundheit die Grenzen für potentielle Virusträger fremder Staatsangehörigkeit hochzieht – und weil die Regierungen der Freunde, von denen das wiedervereinigte Deutschland seit einer Generation nur noch umgeben ist, Gleiches tun, Wanderarbeiter nicht mehr durch- oder nur unter Quarantäne-Auflagen zurückkommen lassen. Dagegen braucht es Abhilfe, notfalls sogar ein Flugticket für arme Leute, damit deren Benutzung weitergehen kann: zu den herrschenden Bedingungen, die man deutschen Landeskindern kaum zumuten kann, und höchstens aushilfsweise Flüchtlingen mit irgendeinem Aufenthaltsstatus, was kein Zynismus ist, sondern eine Gunst, mit der es sich Deutschlands Menschenverwalter ganz bestimmt nicht leicht machen.
Außerdem, apropos ausgelagertes Proletariat, enthält der deutsche Kapitalismus einen großen und wachsenden und gar nicht bloß saisonalen Dienstleistungssektor für die Alten-, Kranken- und sonstige Pflege, für den Europas Führungsmacht gleichfalls eine Zufuhr von Billigkräften aus dem Volksbestand der osteuropäischen Freundstaaten organisiert hat. Diese Kräfte muss man halten, auch wenn ein wiederhergestelltes Grenzregime ihnen das gewohnte Hin und Her zwischen Wohnort und Arbeitsplatz schwermacht; daran hängt nicht bloß der so stolz vermeldete gute Ruf des deutschen Pflege- und Gesundheitswesens, sondern, erst recht in Corona-Zeiten, das Überleben ganz vieler Patienten und Pflegefälle. An den dort herrschenden Arbeits- und Entlohnungsbedingungen – die für einheimische Kräfte natürlich ebenso gelten – wird deswegen natürlich gar nichts geändert. Ein Dankeschön in Form einer einmaligen steuerbefreiten Sonderzahlung gilt aber schon als angebracht, auch wenn es zunächst auf den Widerstand der einschlägigen Dienstleistungsunternehmen trifft, die auf gar keinen Fall die Beitragszahler der Pflichtkassen überfordern wollen, mit deren Geld sie ihr Geschäft machen.
Was da allenfalls an Geschäftsschädigung und Zusatzkosten anfällt, das sind freilich bloß Peanuts im Verhältnis zu der Rezession, die alle nationalen und internationalen Instanzen für die nationale und die Weltwirtschaft ansagen, die an den Börsen, also in der Sphäre des internationalen Finanzkapitals auch längst in Gang gekommen ist – und deren Abwendung, Bekämpfung und, wenn absehbarerweise beides nicht gelingt, deren Kompensation und anschließende Überwindung durch die Staatsgewalten eine Bewährungsprobe eigener Art und Größe für die Finanzmacht der Nationen darstellen.
3.
Deutschland wie alle mit Kapital und Lohnarbeit wirtschaftenden Nationen haben es mit einem Einbruch der Geschäftstätigkeit zu tun, den sie selbst mit ihrem gesundheitspolitischen Eingriff ins soziale, darin eingeschlossen das ökonomische Leben ihrer Völker verursacht haben. Was sie „Corona-Krise“ nennen, ist nicht der von vielen Experten seit längerem vorhergesagte Zusammenbruch eines „überhitzten“ Finanzmarkts, auch nicht ein plötzlicher Schub bei der Liquidation übermäßig gewachsener industrieller Kapazitäten in diversen Bereichen, die ohnehin seit längerem stattfindet; es ist überhaupt keine ökonomische Krise in dem Sinn, dass ausbleibendes Wachstum an einer Stelle den Fortgang kapitalistischer Geschäfte an vielen anderen Stellen verhindert. Es sind staatliche Verordnungen, die ganze Bereiche der alltäglichen Geldzirkulation, in der Folge auch Warenproduktion lahmlegen und darüber einiges an Kreditüberbau gefährden. Maßgeblicher Gesichtspunkt dafür ist Seuchenbekämpfung, um die Volksgesundheit, weil und soweit unerlässliche Bedingung fürs Wirtschafts- und das politische Leben überhaupt, zu sichern. Deswegen hängen Ausmaß und Dauer der „Krise“ von einer politischen Ermessensentscheidung zur Schadensvermeidung oder -minimierung ab, die sich bis auf Weiteres von einem unökonomischen, nämlich fachmedizinischen Urteil über die mutmaßliche Virulenz eines gefährlichen Krankheitserregers leiten lassen muss.
Den Schaden, den er verursacht, will der Staat ungeschehen machen. Mit Geld – wie sonst –, das er nicht zuvor seiner geschädigten Gesellschaft abknöpft, sondern selbst schöpft und an die Stellen schleust, wo der Schaden entsteht: in die Geldzirkulation zwischen Verkäufer und Kundschaft, wo er sie unterbindet; in die Warenproduktion, wo es deswegen an Liquidität fehlt; in der sachlich angemessenen Form von Kreditgarantien in die Finanzwelt, weil der „realwirtschaftliche“ Schaden aufs spekulativ erzeugte Geldkapital zurückschlägt. Absicht und Ehrgeiz der Politik ist es, keine kapitalistisch produktive Existenz und kein kapitalistisch produktives Eigentum kaputtgehen zu lassen. Das kostet natürlich; Geldsummen, die – wo und mit welcher Konsequenz auch immer – als zusätzliche Staatsschuld verbucht werden.
Wie oft und wie viel Liquidität dafür geschaffen werden muss – das macht die staatliche Hilfe ziemlich speziell –, bleibt dabei nicht bloß offen, sondern bleibt unabhängig von ökonomischen Parametern, an denen die Politik im Fall normaler Wachstumskrisen abliest, wann „die Wirtschaft“ wieder „Tritt gefasst“ hat. Veranschlagt wird erst einmal eine halbe Billion Euro – mit Kreditgarantien für bedürftige Großunternehmen sogar mehr als eine ganze –, die gar nicht auf eine Steigerung der Produktivkraft des nationalen Kapitals zielt und sich durch gesteigertes Wachstum rechtfertigen soll, noch nicht einmal im Sinne der Merkel-Devise für die Bewältigung der Finanzkrise vor 13 Jahren: „... stärker herauskommen, als wir hineingegangen sind!“; mehr ein verlorener Zuschuss zur Aufrechterhaltung der Warenzirkulation, des Lohn- und des Kreditsystems. Gerechnet wird dabei mit einer Frist von erst einmal längstens drei Monaten. Nach der soll dann aber doch nicht nur das stornierte Geschäftsleben wieder aufleben wie gehabt, so als wäre nichts gewesen: Der größte Teil der staatlichen Liquiditätshilfe wird nicht bloß der Form nach als Kredit vergeben, sondern soll – soweit in Anspruch genommen – zurückgezahlt werden; zwar so gut wie ohne Zins, aber doch so, als ließe sich das befristet unterbundene Geschäft anschließend nachholen. Das finden die Banken, die dieses Geld in Form eines Kredits an ihre Kunden weiterreichen sollen, heikel, obwohl der Staat 80 bis 90 Prozent der Rückzahlung garantiert; sie kooperieren erst wunschgemäß, nachdem der Staat ihnen in ganz vielen Fällen auch noch das Restrisiko abnimmt – und damit klarstellt, dass er mit einer auch nur annähernd vollständigen Rückzahlung nicht wirklich rechnet, praktisch also eine gewaltige Geldspende auf seine Kosten für den Fortbestand des Kapitalismus im Land leistet. Und er geht auch nicht sicher davon aus, dass nach längstens drei Monaten die „Krise“ vorbei und das Geschäftsleben wieder voll in Schwung gekommen ist, die veranschlagte Riesensumme also ausreicht.
Wie auch immer: Die Staatsgewalt strapaziert in großem und noch gar nicht feststehendem Ausmaß ihre Finanzmacht. Das muss sie – sich – leisten können. Fest steht dabei auf alle Fälle, dass diese Bewährungsprobe im internationalen Vergleich abgewickelt und entschieden wird.