Amerikas Feinde
Usama Bin Ladin und sein Aufstand gegen Amerika: im Namen der Idee einer islamischen Nation ein unerbittlicher Kampf gegen das Böse. Die amerikanische Antwort auf Bin Ladins Fanal: Die Taliban in Afghanistan, einst von Amerika als nützliche Verbündete im Kampf gegen die SU unterstützt, werden als feindlicher, weil Terroristen Unterschlupf gewährender Herrschaft definiert und entsprechend behandelt.
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Amerikas Feinde
Usama Bin Ladin
ist ein Feind Amerikas. Dazu bekennt er sich. Mit offen zur Schau gestellter Genugtuung über den Schlag, der die USA getroffen hat, teilt er der Welt mit, warum das nur gerecht ist:
„Da ist Amerika, von Gott getroffen an einer seiner empfindlichsten Stellen. Seine größten Gebäude wurden zerstört. Gott sei Dank dafür… Was Amerika jetzt erfährt, ist unbedeutend im Vergleich zu dem, was wir seit etlichen Jahren erfahren. Unsere Gemeinschaft erfährt diese Erniedrigung und diese Entwürdigung seit mehr als 80 Jahren. Ihre Söhne werden getötet, ihr Blut wird vergossen, ihre Heiligtümer werden angegriffen, und niemand hört es und niemand nimmt Notiz… Während ich spreche, werden Millionen unschuldiger Kinder getötet. Sie werden im Irak getötet… Dieser Tage suchen israelische Panzer Palästina heim … und wir hören niemanden, der seine Stimme erhebt oder sich einen Schritt bewegt. Wenn das Schwert niedergeht, nach 80 Jahren, richtet die Heuchelei ihr hässliches Haupt auf… Nach diesem Ereignis … sind sie mit Macht mit ihren Männer angetreten und haben sogar die Länder, die zum Islam gehören, zu diesem Verrat bewogen… Als Menschen am Ende der Welt, in Japan, zu Hunderttausenden getötet wurden, Junge und Alte, wurde das nicht als Kriegsverbrechen betrachtet, sondern es gilt als etwas, das gerechtfertigt ist. Millionen Kinder im Irak, auch das ist etwas, das gerechtfertigt ist. Aber wenn sie Dutzende Menschen in Nairobi und Daressalam verlieren, wird Irak angegriffen und wird Afghanistan angegriffen… Diese Ereignisse haben die ganze Welt in zwei Lager geteilt: das Lager der Gläubigen und das Lager der Ungläubigen… Weder Amerika noch die Menschen die dort leben, werden von Sicherheit träumen, bevor wir diese in Palästina erleben und bevor alle ungläubigen Armeen das Land Mohammeds verlassen. Gott ist groß, möge der Stolz mit dem Islam sein. Möge Frieden und Gottes Gnade mit euch sein.“ (Auszüge aus dem Aufruf von Bin Ladin, FAZ, 9.10.)
Der Mann denkt und argumentiert staatsmännisch, als stellvertretender Führer eines Herrschaftsanliegens, das er, wie jeder Politiker, für abgrundtief gerechtfertigt ansieht. Dass da ein überzeugter Nationalist unterwegs ist, kann nur übersehen, wer diesem Nationalismus theoretisch jede für politische Gemüter ansonsten nur allzu geläufige Berechtigung bestreiten will, weil die USA das praktisch tun.
Der Mann versteht sich auf das bei Nationalisten übliche Aufrechnen von Opfern und weist darauf hin, dass, wenn man sich schon empören will, dann die Völker das Mitgefühl der Welt verdienen, die unter amerikanischer und israelischer Gewalt leiden. Er führt die Leistungen der Weltmacht Amerika und ihres Verbündeten Israel ins Feld: Zerstörung staatlicher Verhältnisse, militärische Gewalt, Flüchtlingselend: überall Opfer gewaltsamen amerikanischen Eingreifens sowie israelischen Staatsterrors. Diese Opfer bebildern die gute Sache, in deren Namen er sich aufstellt: Opfer sind sie in ihrer Eigenschaft als Angehörige einer sittlichen Gemeinschaft, in der alle Muslime unterschiedslos geeint sind, die in ihrem Glauben verbürgt ist und die nach politischer Verwirklichung verlangt. Das Wirken der amerikanischen Weltmacht erschließt sich Bin Ladin von einem Standpunkt, den er mit jedem unzufriedenen Nationalisten teilt: vom enttäuschten Anspruch auf eine eigene Herrschaft aus, der – wie immer bei überzeugten Anhängern eines ideellen oder wirklichen Staatsprogramms – nicht als solcher daherkommt, sondern als allerhöchstes Recht, als Verwirklichung einer gemeinsamen Staatsnatur der Beherrschten und als Dienst an Werten, die Volk und Führung einen und sie vorm Rest der Staatenwelt auszeichnen. Allerdings ist das politische Kollektiv, in dessen Namen er sich meldet, ideeller Art: Es ist die Idee einer eigentlichen islamischen Nation, die die konkurrierenden islamisch-arabischen Staaten umfasst, in der die Angehörigen der verschiedenen Staaten aufgehoben sind, in der also nicht nur, wie bei jeder nationalen Idee, die gesellschaftlichen Gegensätze sondern auch die politischen Gegensätze zwischen den verschiedenen Ländern verschwunden sind. Im religiösen Bekenntnis als dem einigenden Band über alle wirklich existierenden Gegensätze hinweg soll dieses nationale ‚wir‘ verbürgt sein.
Dieses politische Bedürfnis nach einer ‚eigenen‘ islamischen Herrschaft, das nach Bin Ladins Auffassung im Kampf der Palästinenser gegen Israel ebenso seinen heroischen Ausdruck findet wie in den Leichen des amerikanischen Dauerkriegs gegen den Irak, sieht er durch Amerika verletzt und durch die arabischen Staaten, die sich berechnend an der Macht der USA ausrichten, verraten. Alles, was Amerika im Nahen und weiteren Osten an Machtansprüchen geltend macht, an geschäftlichen Interessen betätigt und zur strategischer Kontrolle des Öls unternimmt, ist so gesehen, ein einziger Anschlag gegen dieses fundamentale Recht auf Verwirklichung eines alle arabischen Moslems umfassenden politischen Wollens nach einer Herrschaft, die sie als die ihnen angemessene anerkennen können, die sich diesen Völkern und ihren moralischen, politischen und sozialen Belangen verpflichtet weiß, die deshalb diese Völker auch gerechterweise für ihre Herrschaftsinteressen beanspruchen kann. Als radikaler Anwalt eines machtvollen und respektierten Herrschaftsrechts, das in den von Amerika gewaltsam betreuten arabischen Staatsverhältnissen nicht zum Zuge kommt, stellt er nicht die Systemfrage, sondern die imperialistischen Machtverhältnisse in Frage und tritt gegen Amerika an.
Die Auffassung, dass die arabischen Völker das gemeinsame Schicksal politischer Erniedrigung eint, teilt er mit vielen. Aber er belässt es nicht bei der Propagierung seiner politischen Idee, sondern setzt sich auch praktisch für das ein, was in seinen Augen eigentlich Pflicht der arabisch-islamischen Staaten ist: den Kampf gegen deren Feind, die Weltmacht Amerika, auf- und mit allen zur Verfügung stehenden Gewaltmitteln in die Hand zu nehmen. Weil die arabischen Führer in seinen Augen mehrheitlich versagen, organisiert er auf eigene Verantwortung die Gegenwehr gegen das Ursprungsland der ungerechten Verhältnisse. Dass es ihm dafür entscheidend an Macht fehlt, weiß er; dass er nicht ganz machtlos ist mit seinen opferbereiten Kämpfern, allerdings auch. Also versucht er, Fanale zu setzen.
So stellt er sich auf mit der unerbittlichen Selbstgerechtigkeit eines überzeugten Nationalisten, der sich zur Gewalt gegen seine äußeren Gegner befugt sieht, weil er in deren Macht den Verstoß gegen seine eigene gute Sache ausgemacht hat. Für seinen Aufstand gegen Amerikas Weltordnung bringt er dieselben ‚Argumente‘ in Anschlag wie Amerika für deren Verteidigung: ein allerhöchstes nationales Recht, Gott und die Gewalt, zu der er fähig und willens ist:
- Wo die USA den Nahen Osten als ihr strategisches Vorfeld und die dortigen Souveräne als Statthalter ihrer Interessen beanspruchen, stellt er der amerikanischen Weltmachtpolitik seine Idee einer islamischen Nation entgegen, die sich keinen auswärtigen Ansprüchen beugen muss, sondern souverän ihre eigenen berechtigten Interessen in der Welt vertritt.
- Wo sich die USA als Hüter der Weltordnung die politische und militärische Kontrolle des wichtigsten Rohstoffs der Region vorbehalten, an dem das globale kapitalistische Geschäft hängt, beansprucht er diese Quellen als den ureigenen Besitzstand der arabischen Völker und bezichtigt Amerika des Raubs.
- Wo die USA als Schutzmacht den Kampf des israelischen Staates gegen palästinensische Ansprüche auf ‚gelobtes jüdisches Land‘ unterstützen, hält er das Recht der Palästinenser auf ‚ihr eigenes Land‘ hoch.
- Wo immer im Nahen und ferneren Osten die USA ihr Recht als Weltmacht geltend machen, beschuldigt er Amerika der Verletzung heiliger Rechte der Muslime.
- Wo für die USA die ‚unschuldigen Opfer‘ das Verbrechen gegen das gute Amerika beweisen, das mit rücksichtsloser militärischer Gewalt bestraft werden muss, da beweist er mit den massenhaften Opfern amerikanischen Terrors die verbrecherische Absicht Amerikas, die Gemeinschaft der Muslime zu zerstören; wogegen mit aller Gewalt anzugehen, nur recht und billig ist.
- Wo die USA mit ihren Weltmachtinteressen „die Grundwerte der Zivilisation“ verteidigen und im Namen „grenzenloser Gerechtigkeit“ bzw. „andauernder Freiheit“ einen „gerechten Krieg“ führen, da ruft er im Namen der mit Füßen getretenen islamischen Werte zum „heiligen Krieg“ gegen Amerika auf.
- Wo die USA für die Durchsetzung ihrer Weltordnung alle zivilen und militärischen Potenzen ihres Staates zum Einsatz bringen, da besinnt er sich auf gewaltsame Gegenwehr, um seine Vorstellungen einer gerechten Weltordnung zur Geltung zu bringen. Dass seine Mittel denen Amerikas nicht gewachsen sind, macht den Unterschied zwischen Krieg und terroristischem Kriegsersatz aus.
- Wo der US-Präsident den bedingungslosen Kampf Amerikas gegen seine Feinde im Namen des Allerhöchsten verkündet –
Jetzt werden die Taliban den Preis zahlen… Es gibt keinen Frieden in einer Welt, in der der Terror plötzlich ausbrechen kann. Angesichts der neuen Herausforderungen von heute ist der einzige Weg, Frieden zu suchen, die zu verfolgen, die ihn bedrohen… Wir verlangen denen, die unsere Uniform tragen, eine Menge ab. Wir verlangen von ihnen, sogar vorbereitet zu sein, mit ihrem Tod das letzte Opfer zu erbringen… Wir werden nicht wanken, wir werden nicht müde werden, wir werden nicht zögern, und wir werden nicht versagen. Frieden und Freiheit werden sich durchsetzen. Möge Gott Amerika weiter segnen.
(FAZ vom selben Tage) –, da beruft er sich auf seinen Gott, der den erbarmungslosen Kampf gegen Amerika gutheißt und die aufopferungsvollen Kämpfer segnet. Wie das bei Kriegserklärungen so üblich ist.
Freilich, der alles entscheidenden Unterschied zwischen ihm und Bush bleibt bestehen. Der eine ist Präsident einer Weltmacht und verfügt damit über die Gewalt, die aus den Rechtsansprüchen gegenüber der Staatenwelt eine anerkannte Weltordnung macht; er aber hat für seine beanspruchten nationalen Rechte nichts hinter sich außer seinen paar Kämpfern und der machtlosen Duldung durch die Taliban.
Die Taliban
werden von den USA zum Gegner erkoren. Der regierenden Mannschaft in Kabul wird erst gar nicht die Gelegenheit gegeben, sich diplomatisch zu dem amerikanischen Programm gegen den Terrorismus zu stellen. Sie wird ultimativ aufgefordert, Bin Ladin bedingungslos auszuliefern, seine Organisation zu zerschlagen und den USA zu diesem Zwecke militärischen Zugang ins Land zu eröffnen – also abzudanken. Ihre Weigerung, auf dieses Ultimatum einzugehen, wird als Beweis genommen, dass sie mit dem Hauptfeind Amerikas gemeinsame Sache machen, also in Kabul Feinde Amerikas an der Macht sind. Die Taliban-Herrschaft hat sich in den Augen der USA des Verbrechens schuldig gemacht, Amerika anzugreifen, also wird das Land mit Krieg überzogen. Ganz so, als ob es sich um einen Staat handelt, der sich gewaltsam gegen Amerikas Vorherrschaft aufgelehnt hat.
Dabei zeigt spätestens der Kriegsverlauf, dass diese Herrschaft einer derartigen ‚Definition‘ eigentlich gar nicht entspricht. Angeblich gehen den Bombern schon nach wenigen Tagen die lohnenden Ziele aus. Das Land lässt sich nicht „in die Steinzeit zurückbomben“, nach Auskunft der Beobachter befindet es sich schon seit längerem in diesem Zustand. Es verfügt über keine Kriegsmaschinerie, sondern nur über eine Kampfmannschaft, die Amerika vor Ort militärisch nichts Vergleichbares entgegenzusetzen hat und bestenfalls zum Guerilla-Krieg im unwegsamen Gelände fähig ist, wie der schlagartige Zusammenbruch erkennen lässt. Machtvolle staatliche Berechnungen, die gewaltsam zur ‚Vernunft‘ gebracht werden könnten, sind nicht erkennbar. Und die Bevölkerung lässt das Kriegsgeschehen mehr oder weniger teilnahmslos über sich ergehen bzw. flieht, weil sie außer ihrem Leben ohnehin nichts zu verlieren hat. Von einem geordneten Staatswesen, das sich mit all seiner Macht gegen die amerikanische Weltordnung stellt, kann gar keine Rede sein.
Die Taliban üben nämlich gar keine konsolidierte Herrschaft aus, die im Land durchgesetzt und allgemein anerkannt ist und auf Einfluss in der Staatenwelt oder nationale Ergreifung irgendwelcher Reichtumsquellen abzielt. Sie sind, seit sie den größten Teil des Landes erobert haben, vollauf damit beschäftigt, den Massen ihr islamisches Sittengesetz aufzunötigen, sie zu Gehorsam und Sittenstrenge im Namen des Allerhöchsten zu erziehen und anzuhalten:
„‚Die Taliban-Bewegung ist entstanden, um Chaos, Grausamkeit, Mord, Zerstörung, Plünderung, Raub, Ehebruch, Bosheit und alles Üble zu beseitigen. Ihr Ziel ist die Implementierung der Gesetze des Islam‘, heißt es in einer Erklärung von Mai 1996. … Im Ergebnis des Kampfes werden alle Formen des Übels ausgetilgt; die Erklärung nennt Grausamkeit, Mord, Raub, Singen und Musik, Fernsehen, Video, Satellitenantennen, Unkeuschheit – gemeint ist Kleidung, die nicht den Taliban-Vorschriften entspricht – Unterwegssein von Frauen ohne Begleitung eines männlichen Verwandten, der für sie ehetabu ist, ganzes oder teilweises Rasieren des Bartes, Bilder und Photographie sowie Zinsen.
Die Taliban scheinen kein Programm des ‚Exports‘ ihrer Auffassung von Islam zu verfolgen. … Maximen der Außenpolitik können aus der Erklärung nicht leicht herausgelesen werden. Die Gegner sieht man eher in der Region selbst (vor allem geht es um die vorige Mujaheddin-Regierung). Aufrufe, westliche Länder oder Einrichtungen anzugreifen, enthält die Abhandlung nicht. … Die Taliban sind nicht zu vergleichen mit den ägyptischen Muslimbrüdern, den iranischen Ajatollahs und anderen … islamistischen Strömungen. So haben sie keine islamische Republik, sondern eben ein Emirat begründet. Ihr kultureller Hintergrund ist rural, regional, antiurban.“ (FAZ, 17.9.)
Die Glaubenskrieger, die in Afghanistan die Herrschaft erobert haben, haben sich der Idee einer gläubigen Volksgemeinschaft verschrieben, die im gemeinsamen Gebet und in der Befolgung der strengen Vorschriften eines gottgefälligen Lebens unter Leitung ihrer religiösen Führer geeint ist und ansonsten in ihren armseligen Umständen ihr gerechtes Dasein fristen. Das ist es auch schon, ihr ganzes Programm einer afghanischen Herrschaft, die die Bevölkerung über die Stammes- und Clanbeziehungen hinweg einen soll. Sicher, sie haben in den westlichen Sitten und Gebräuchen, die bis in ihr Land vorgedrungen sind, die Bedrohung einer sittenstrengen Lebensführung der Massen entdeckt, vor der die mit Verboten und Gewalt bewahrt werden müssen. Aber diese mit moralischen Geboten und Strafe durchgesetzte Volkserziehung ist keine praktische Kampfansage gegen den Westen, sondern läuft auf Entzug, auf lokale Beschränkung und Abschottung gegenüber den für schädlich befundenen Einflüssen einer moralisch verderbten Welt hinaus. Eine schöner Kampf gegen Amerika, der gar nicht mehr will, als die Armutsgestalten im Land vor den falschen Einflüssen zu bewahren und zu einem selbstgenügsamen Leben in den eigenen trostlosen Umständen und nach dem eigenen Sittenkodex anzuhalten.
Mit ihrem von den aufgeklärten Kriegsbegutachtern monierten ‚rückständigen religiösen Fanatismus‘ bringen die Taliban im Land nicht einmal viel durcheinander. Rücksichten auf staatliche ‚Strukturen‘ oder irgendwelche Verhältnisse, in denen die Bevölkerung herrschaftsnützlich tätig ist, erübrigen sich nämlich. Sie existieren nicht. Was es an Lebensgrundlagen gibt, oder gab, ist bzw. war nicht staatlich organisiert und ist, so armselig es gewesen sein mag, gründlich zerstört. Der islamische Sittenterror, mit dem die Taliban das Land überziehen, ist von daher das einzig einigende Band der Herrschaft, soweit ihre Macht überhaupt reicht. Damit ist es aber auch keine Grundlage, auf der sich irgendeine nennenswerte staatliche Macht aufbauen und entfalten könnte. Die Gewalt, die die Koran-Schüler ausüben, ist von daher schon nach innen mehr als beschränkt, was den Kennern und Liebhabern demokratischer Staatsgewalt nicht verborgen geblieben ist:
„Sie haben nie den Versuch unternommen, den Staatsapparat wiederherzustellen. Ja, es gibt, streng genommen, nicht einmal eine Verwaltung. Die Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben durch die Taliban beschränkt sich im Wesentlichen auf Sittenpolizei, auf das Kassieren von Zöllen und auf die Scharia-Strafjustiz… Mit einem bürokratischen Polizeistaat oder einer Diktatur im üblichen Sinne sollte man das System nicht verwechseln.“ (SZ, 21.9.)
Und auch nach außen stellt die Taliban-Herrschaft kein durchgesetztes imperialistisches Interesse in Frage. Sie entzieht das Land nämlich keinen etablierten Benutzungsverhältnissen, stellt kein auswärtiges Geschäft oder weiterreichenden Einfluss in Frage, der im Land materiell etabliert wäre und von dem die Herrschaft in ihm lebt. Das alles gibt es nicht; und Angebote, das Land ökonomisch zu nutzen, sind nicht in Sicht. Das viel berufene Pipelineprojekt, mit dem die USA sich die Kontrolle über den Ölfluss sichern wollen, beansprucht – wenn überhaupt – Afghanistan lediglich als Transitland. Im übrigen haben die Gotteskrieger einfach genug damit zu tun, ihren Sittenkodex im Land zu etablieren und sich mit ihren beschränkten Machtmitteln gegen die konkurrierenden Stammes- und Kriegsführer der Nordallianz durchzusetzen, die ihnen einen Dauerkrieg bescheren.
Die ‚Koranschüler‘ stehen also von sich aus praktisch in einem gleichgültigen Verhältnis zu den imperialistischen Haupt- und Nebenmächten, weswegen ihnen die Anhänger weltoffener Unterordnungsverhältnisse als schlimmstes Vergehen auch ihre Selbstisolierung
vorwerfen:
„Doch die Zöglinge Pakistans, mit deren militärischer Förderung sich Islamabad die langfristige Sicherung des paschtunischen Einflusses in Kabul versprach, wurden rasch erwachsen, verfolgten immer rücksichtsloser ihr Ziel der Errichtung eines „reinen“ Gottesstaates und isolierten sich mit ihrer puritanisch-regressiven Auslegung des Korans zusehends vom Rest der Welt.“ (NZZ, 20.10.01)
Bei deren lokaler Ausübung bekommen die Taliban dann allerdings praktisch mitgeteilt, dass ihre Sorte Dschihad gleichwohl eine internationale Affäre ist, weil – nicht nur – die Anrainerstaaten konkurrierende Einflussinteressen im Hinblick auf das Land haben. So werden sie zum Adressaten positiver (Pakistan, Saudi-Arabien) und negativer (Iran, GUS-Republiken, Russland) auswärtiger Kalkulationen. Die Förderung und Behinderung ihres inneren Kampf, die sie darüber erfahren, bringt sie ihrerseits dazu, sich der Unterstützung durch auswärtige Staaten und zumindest der Anerkennung und Duldung der ‚internationalen Staatengemeinschaft‘ versichern zu wollen. Dafür wären sie angeblich sogar bereit gewesen, ihre wichtigste Einnahmequelle, das Opiumgeschäft, zu unterbinden. Es hat ihnen nichts genutzt, die Anerkennung ist mehrheitlich ausgeblieben; sie haben sich davon aber nicht beeindrucken lassen. Schließlich haben sie keinerlei Veranlassung, ihre moralischen Herrschaftsvorstellungen berechnend an irgendwelchen staatstragenden Beziehungen zu relativieren oder sich an der ihnen zugedachten Rolle eines bloßen strategischen Rückraums auswärtiger Mächte aus- und entsprechend einzurichten. Umgekehrt treten sie aber auch nicht mit eigenen Ansprüchen, die über das Verlangen hinausreichen, ihr Treiben als legitim anzuerkennen, an das Ausland heran:
„Bis zur Ankunft Bin Ladens standen die Taliban den USA oder dem Westen nicht besonders feindlich gegenüber, sondern verlangten die Anerkennung ihrer Regierung.“ (A.Raschid: Taliban, London/New York 2000, S.139)
Soweit sind die Taliban also eine weltpolitisch ziemlich bedeutungslose Altlast des von Amerika tatkräftig beförderten Kampfs gegen die Versuche der damaligen Sowjetunion, in Afghanistan eine Herrschaft zu stiften, die sich nicht bloß in einem unberechenbaren Stammes- und Clanwesen erschöpft, sondern über ein Volk und eine Zentrale verfügt, auf die die Sowjetunion Einfluss nehmen und rechnen kann. Die Torpedierung dieses gegen alle möglichen Widerstände mit Gewalt verfolgte russische Bemühen war den USA bekanntlich die Unterstützung und Aufrüstung der inneren Gegner wert. Der antisowjetische Einsatz war erfolgreich, so dass statt des russischen Vorhabens, so etwas wie eine ordentliche Staatlichkeit zu etablieren, schließlich das Taliban-Programm einer selbstgenügsamen Glaubensherrschaft in einem dauerhaft zerstörten Land zum Zuge gekommen ist.
Genau diese Kombination aus gläubigem Rigorismus, weltpolitischer Abstinenz und staatlicher Zerrüttung ist es, die Afghanistan für diejenigen interessant macht, die im Namen einer ideellen islamischen, bzw. arabischen Gesamtnation den USA den Kampf angesagt haben. Deren Vaterländer beziehen sich mittlerweile ja entweder positiv auf die USA und behandeln deshalb antiamerikanische Opposition als eigenes inneres Ordnungsproblem; oder sie sehen sich als ‚Schurkenstaaten‘ selber von den USA bedroht und stehen unter deren besonderer Aufsicht und Kontrolle. Bis auf Afghanistan. Das qualifiziert das Land zum Refugium kampfbereiter islamischer Nationalisten, die in ihren Heimatländern wegen deren staatlicher Berechnungen nicht mehr geduldet werden. Die Taliban nehmen sie als Verbündete im Namen des gemeinsamen Glaubens auf, zumal wenn sie Waffen und Kämpfer mitbringen, die ihnen gegen ihre innerafghanischen Feinde zur Seite stehen. Mit Bin Ladin und anderen internationalen islamischen Kampfgenossen sind die Taliban ja auch schon seit den Tagen des gemeinsamen Kampfes gegen die sowjetischen Besatzer verbunden – auch das also eine Erbschaft des amerikanisch geförderten Afghanistankriegs gegen die SU, wie die Öffentlichkeit kritisch vermerkt, die den USA vorwirft, ihre imperialistischen Instrumente nicht richtig im Griff zu haben. Jetzt, wo sich das Engagement dieser Kämpfer gegen den Zugriff der amerikanischen Weltmacht richtet, haben sich die ehemaligen afghanischen ‚Freiheitskämpfer‘ zum ‚Weltterrorismus‘ gewandelt. Und das ‚Taliban-Regime‘ gerät darüber in den Rang eines ‚Horts des Terrorismus‘.
Erst die amerikanische Antwort auf den tätigen Antiamerikanismus Bin Ladins verschafft der schlecht und recht regierenden Taliban-Mannschaft, die einen Angriff auf Amerika weder vermag noch vorhat, also die zweifelhafte Ehre, in den Status einer veritablen Staatsführung erhoben zu werden, die sich an der Weltordnung und ihren allgemein anerkannten Geboten vergeht, mithin nichts anderes als Krieg verdient hat. Die Weltmacht definiert sie als feindlichen ‚Schurken‘-Staat, als würden sie wie das Serbien von Milošević oder der Irak über eine konsolidierte politische und militärische Macht verfügen, die gebrochen werden muss, weil sie von ihr ungebührlichen Gebrauch machen. Denn Washington will mit seinem überlegenen Gewalteinsatz ein Exempel statuieren: Wer immer seinen Feinden Zuflucht gewährt, wird getreu der Devise, zwischen „Terroristen und denjenigen, die ihnen Unterschlupf gewähren, keinen Unterschied zu machen“ (G. Bush), wie eine feindliche Staatsmacht behandelt, der mit der geballten Militärmacht Amerikas Einhalt geboten wird; wenn er es dazu gar nicht gebracht hat, umso schlimmer für ihn.