Die STASI-Säuberung
Vom Nutzen des moralischen Fanatismus für den Rechtsstaat Deutschland
Die Aufgabe des Verfassungsschutzes: Der Kampf gegen die Feinde des Staates im Innern. Die Besonderheit der Staatssicherheit auf der Grundlage der realsozialistischen Lüge der „Einheit von Staat und Volk“ und des Sonderangebots des BRD-Revanchismus an die DDR-Bürger. „STASI“: Der Vorwurf an die „Brüder und Schwestern“, 40 Jahre dem Feind gedient zu haben, wird rigoros angesichts der bedingten Nützlichkeit der Anschlussbürger für die Rechnungen der BRD. Säuberungen und Schauprozesse: Die BRD nimmt Rache am alten System durch Exekution der alten Hauptamtler aller Ränge. Die Hetze der demokratischen Öffentlichkeit
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Die STASI-Säuberung
Vom Nutzen des moralischen
Fanatismus für den Rechtsstaat Deutschland.
I. Vorbemerkung zur Staatssicherheit im allgemeinen und zur STASI im besonderen
Jeder Staat, der auf sich hält, geht davon aus, daß er in seinem Inneren Feinde hat, die er erledigen muß. Zu solchen rechnet er ziemlich pauschal alle, bei denen er davon ausgehen kann, daß sie das Wirken seiner Gewalt nicht grundsätzlich für einen reinen Segen halten. Im Regelfall merkt er dies daran, daß die Betreffenden mit ihrer schlechten Meinung nicht bloß die affirmativen Auf- und Abregungen jener Streitkultur bereichern, die er als Opposition genehmigt, sondern daß sie ihn politisch kritisieren und mit ihrer Kritik auf praktische Veränderung sinnen. Gegen die trifft jeder Staat Vorkehrungen, indem er seine geheimen Dienste einrichtet.Die haben den Auftrag, dem Verdacht auf abweichende und unerlaubte politische Gesinnung in den Reihen seiner Bürger nachzugehen und die Betreffenden unschädlich zu machen. Arbeitsteilig kommen diese Dienste dem Interesse ihres Auftraggebers nach und betreiben politische Gesinnungsschnüffelei. Sie bespitzeln verdächtige Personen, notieren in ihren Dateien deren privateste Angelegenheiten und lassen nach Bedarf einiges an „gut informierte Kreise“ durchsickern, merken sich, wer mit ihnen sonst noch verkehrt, und stehen im übrigen ihrem Dienstherrn auch praktisch mit Rat und Tat zur Seite, wenn so ein falscher Fuffziger, der den Staat nur immer kritisiert, glatt auch noch einen Beruf ausüben will. Rechtsstaat und Menschenwürde sind dabei grundsätzlich gewahrt, weil erstens die Dienste bloß auf den jeweiligen Rechtsstaat aufpassen, der sie unterhält, und weil zweitens ja bekanntlich nur „Feinde der Freiheit“ etwas zu verbergen haben.
Auch das „Ministerium für Staatssicherheit“ der ehemaligen DDR hat Staatsfeinde gestellt und unschädlich gemacht, war also ein ordinärer Geheimdienst wie alle anderen auch. Der Staat jedoch, dem er dabei diente, verfügte über andere Kriterien, sein Volk in Freund und Feind zu scheiden, als man sie von einer „wehrhaften Demokratie“ so gewohnt ist, und das machte aus dem Geheimdienst der DDR die Besonderheit STASI.
Hinsichtlich der Bereitschaft seiner Untertanen, in ihm mitzumachen, hatte der realsozialistische Staat einen sehr anspruchsvollen moralischen Maßstab: Er verstand sich und sein Wirken ganz kategorisch als „Dienst am Volk“, das er gleichwohl kommandierte. Er hatte daher schlicht kein Verständnis dafür, wenn die von ihm Regierten da anderer Auffassung waren und das Herrschaftsverhältnis aus irgendwelchen Gründen nicht vom Standpunkt seiner Staatsmoral aus würdigen wollten. Daß dies öfter stattfand, als ihm lieb war, hat er gleichwohl hingenommen: Daß die von ihm gepflegte Lüge der „Einheit von Volk und Staat“ regelmäßig aufflog, hat den DDR-Staat an seiner schönen Auffassung von sich keineswegs irre werden lassen – damit hat er seinen herrschaftlichen Frieden schon gemacht. Umso mehr allerdings kam es ihm darauf an, daß er sich an dem Auffliegen seiner eigenen Lüge nicht offensichtlich blamierte: Den Schein, daß doch im Volk keiner Grund und Anlaß habe, mit ihm unzufrieden zu sein, hat er penibel gepflegt. Die Bequemlichkeit der Demokratie, dem Volk das Meckern zu erlauben und sich mit dem stolzen Verweis auf diese Freiheit jede Gegnerschaft zu verbitten, kannte und wollte dieser Staat nicht. Er ging ja davon aus, daß er bei allem, was er tat, immer nur im Interesse seiner Arbeiter und Bauern unterwegs war; also hatten die überhaupt keinen Grund, sich über ihn zu beschweren; und dafür, daß er keine Beschwerden zu hören bekam, hat er dann gesorgt.
Der „reaktionären“ Parteinahme für den „Klassenfeind“ und so der Staatsgegnerschaft verdächtig machten sich in der DDR infolgedessen nicht bloß die verdrossenen Staatsbürger, die sich mit einer abweichenden Meinung von der offiziellen Linie des glorreichen Arbeiter- und Bauernstaates entfernten. Verdächtig, Parteigänger des Feindes allen menschlichen Fortschrittes zu sein, den die offizielle Parteilehre im Staat des realen Sozialismus nun einmal verkörpert sah, war im Prinzip jeder, der einfach nur so mit dem Staat, in dem er lebte, seinen opportunistischen Frieden machte. Das kam zum einen daher, daß dieser sozialistische Staat wegen seiner Moral in dieser Reserviertheit ihm gegenüber eine tendenzielle Absage an ihn überhaupt witterte. Und das kam zweitens und insbesondere daher, daß dem Staat des realen Sozialismus, der immer das „bessere Deutschland“ sein wollte, sein menschlicher Bestand ganz grundsätzlich von seinem Nachbarstaat bestritten wurde. Dieser ging schlicht davon aus, daß er das einzige Deutschland ist – und nahm sich die Freiheit, schon mit seiner Gründung gleich alle Bürger der DDR als „Deutsche im Sinne des Grundgesetzes“ ideell bei sich einzugemeinden. Dieses Pauschalangebot an die Vorteilsrechnungen der DDR-Bürger, sich doch das bessere West-Deutschland als Staat auszusuchen, dem man dienen möchte, war die Quelle eines beständigen und grundsätzlichen Zweifels der DDR-Obrigkeit an der Loyalität ihres Staatsvolkes. Dieser Zweifel erhielt durch alle, die „rübermachten“ oder dies wollten, seine beständige Nahrung – und übersetzte sich entsprechend in den Auftrag an die Staatssicherheit, den Staat vor seiner inneren Zersetzung durch den Staatswechsel des Volkes zu schützen.
Entsprechend galt es für die STASI, das ganze Volk der DDR unter Kontrolle zu halten, und eben nicht bloß die paar Oppositionellen, die mit Parteinahmen für das Menschenrecht auf Beten oder freie Reimkunst störend auffielen. Die wurden vom Geheimdienst schon auch drangsaliert, weil eben der sozialistische Staat das Dichten immer als Beitrag zur Volksmoral und diese Moral furchtbar wichtig genommen hat. Aber im Prinzip erschienen der STASI alle privaten Umtriebe aus dem Bereich der unsozialistischen Staatsferne einer innerlichen Vorbereitung zur Republikflucht nach Westen verdächtig und fielen unter die flächendeckende Betreuung durch Lauscher und Greifer: Wo immer die realsozialistischen Privatmenschen es an konstruktiver Mitarbeit im organisierten Arbeits-, Partei- und Staatsleben missen ließen, witterte die STASI eine Art innerer Emigration und traf ihre Sorte von Vorkehrungen, damit dieser Bazillus niemanden sonst infizierte. Wie bei Behörden dieser Art üblich, hatten die, bei denen sich der Verdacht auf Abtrünnigkeit erhärten ließ, nichts zu lachen. Sie wurden schikaniert, verfolgt, und manche verschwanden im Kittchen.
Ihrerseits verstanden die übrigen, staatsfeindlicher Umtriebe bloß grundsätzlich verdächtigten Bürger ihre Vergnügungssucht bei Gebet, Singsang, Dichten und anderem Tiefsinn keineswegs immer gleich als Kampfansage an den realen Sozialismus. Gerade diejenigen, denen an politischen Veränderungen in der DDR lag und die für diese warben, waren im Regelfall nicht darauf aus, zum Feind überzulaufen, sondern wollten sich in der DDR von ihrer Obrigkeit Freiheiten genehmigen lassen. Folglich fand auch in den Reihen letzterer niemand groß etwas dabei, auf Nachfrage der STASI mitzuteilen, ob denn bei all den stattfindenden privaten Umtrieben und Vorhaben auch immer die von der Staatssicherheit gezogenen Grenzen für abweichendes Verhalten genügend respektiert seien. So waren dann beide Seiten auf ihre Art zufrieden: Die STASI hörte, wofür sie sich von Staats wegen ausschließlich interessierte; und die Bürger durften im großen und ganzen tun und lassen, wofür sie sich privat so interessierten, weil die STASI ja Bescheid wußte, daß hier keine Staatsfeinde unterwegs waren. Den Beweis, daß dies auch wirklich so war, konnten die Bürger auch gleich so antreten, daß sie zusammen mit der STASI darauf aufpaßten, daß auch sonst keiner die Grenzen des sicherheitsmäßig Erlaubten überschritt, an die sie selbst sich hielten. So kam es, daß beinahe jeder, der überhaupt nur mehr mit sich vorhatte als zu arbeiten und das Maul zu halten, seine privaten Kontakte mit der STASI pflegte. Und sich manchmal gleich sieben „inoffizielle Mitarbeiter“ derselben mit zwei offiziell ausgemachten konspirativen Umtrieblern an der Kirchen- oder Dichterfront trafen, um ihrem gemeinsamen Hobby nachzugehen. Danach produzierten sie dann die „Erkenntnisse“, auf die Behörden wie die STASI nun einmal scharf zu sein pflegen.
Solche Praktiken sind freilich übel: Unter aller Sau ist eine sozialistische Partei, die bei dem Volk, dem sie dienen will, jedes Drängen auf Überzeugung, auf eingesehene gute Gründe fürs Mitmachen im eigenen Laden aufgibt; die statt dessen mit jeder Sorte antikommunistischen Unfugs ihren Frieden schließt, wenn sie ihn nur geheimdienstlich unter Kontrolle und so ihr geliebtes Volk, das auf ihn scharf ist, bei der Stange hält. Und auch bei den Bürgern möchte es einem leicht schlecht werden, die mit freiwilliger Selbstkontrolle dem Sicherheitswahn ihrer Obrigkeit den abverlangten Respekt zollten und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst wegen der „Freiräume“ praktizierten, die sie gewährt bekamen.
Aber davon ist gar nicht die Rede, wenn hierzulande das Argument „STASI“ fällt und damit die Vergangenheit des „Gebildes“ DDR zur Aufarbeitung ansteht.
II. Die Dauerabrechnung mit dem Feindstaat von gestern
Über 40 Jahre lang bekamen die Bürger der DDR zu hören, was für unterdrückte Menschen sie seien. Und nicht wenige von ihnen haben ja dann selbst daran geglaubt, daß sie die deutschen Brüder und Schwestern seien, die unter der Knute eines „Unrechtssystems“ litten und in einem „Völkergefängnis“ eingesperrt wären, aus dem man sie zu „befreien“ habe. Nun sind sie ihren Staat los und endlich wirklich Bürger des freiheitlichsten Gemeinwesens, das es auf deutschem Boden je gab – und es stellt sich heraus, daß sich die völkische Bruder- und Schwesternliebe von gestern, die zu Weihnachten immer Kerzen ins Fenster gestellt hat zwecks stillem Gedenken, ziemlich rasant verflüchtigt hat. Von mitleidsvollen Bezeugungen gegenüber den „Menschen von drüben“, denen ein echt „lebenswertes Leben“ immerzu vorenthalten wurde, ist rein nichts mehr zu bemerken. Sehr viel dagegen von dem gar nicht verhohlenen Verdacht, als Mensch, der von „drüben“ kommt, selbst an dem „verbrecherischen Unternehmen“ beteiligt gewesen zu sein, das sich dort als Un-Staatswesen DDR aufgebaut hat. Das Prädikat wertvoll, weil „Opfer“ von Stalin, SED und STASI, wird den neu an Land gezogenen deutschen Bürgern längst nicht mehr verliehen; großzügig dagegen wird ihnen der Status des „Mittäters“ zubemessen, in dessen Ruch inzwischen jeder gerät, der nicht ein paar Jahre Bautzen oder eine Schändung durch die STASI nachweisen kann.
Genau besehen gibt es nämlich
„die tatsächlichen Opfer: die Menschen, die in Bautzen landeten, deren Karrieren vernichtet wurden – oder die im besten Falle zwar unbehelligt weiterleben konnten, aber im lockeren Würgegriff eines allwissenden Staates, der einem sofort die Luft abschneiden konnte.“ (J. Busche, SZ 18.1.92)
Denen ausschließlich gebührt unsere Anteilnahme. Alle anderen aber, die sich da als „Rädchen in einer totalitären Mechanik“ gedreht haben sollen, gehören sich auf ihre Mitschuld bei dem Verbrechen hin befragt, von dem die geschätzten „Opfer“ künden.
Wie dies? Warum gibt sich das siegreiche Deutschland mit der sang- und klanglosen Kapitulation des alten Feindes nicht zufrieden, freut sich über den so billigen Zugewinn von neuen Ländern und Leuten und geht zur Tagesordnung über? Warum fordern alle maßgeblichen Instanzen von Politik und Öffentlichkeit jetzt erst recht eine Abrechnung mit dem Feind von gestern und die „Aufarbeitung des SED-Unrechts“ – als hätte dessen Denunziation als „Perversion eines Staats- und Gesellschaftssystems schlechthin“ nicht schon eine ziemlich betagte Tradition und als gäbe es glatt irgendwo noch wen, der dem Sozialismus auf deutschem Boden ernsthaft nachweinte?
Offenbar sieht sich das neue ganze Deutschland zu dieser Sorte „Vergangenheitsbewältigung“ veranlaßt, weil es zwar den Staat DDR als seinen politischen Systemfeind ersatzlos erledigt und dessen Bürger requiriert hat. Mit genau diesen Bürgern aber hat das demokratische Gesamtdeutschland nunmehr Leute bei sich, mit denen vor kurzem noch sein geborener Feind Staat und Politik gemacht hat – und das wird diesen Leuten nachgetragen. Da haben sie stets brav und anständig ihre Pflicht getan und sich nach der Decke gestreckt, wie es sich gehört. Ihre Eltern haben sie geehrt und ihre Heimat geliebt, also all das gemacht, was gute Deutsche so auszuzeichnen pflegt. Aber sie haben es eben als DDR-Bürger gemacht. Sie haben ausgerechnet der Herrschaft treue Gefolgschaft geleistet, die sich als Hauptfeind der deutschen Demokratie hinter dem eisernen Vorhang verschanzt hat – und das stiftet hinlänglich Klarheit über die demokratisch-staatsbürgerliche Tugend der neuen Bürger: Sie, die nach dem Abgang der ersten deutschen Diktatur gleich unter die Fuchtel der nächsten gelangt sein sollen, haben keine vorzuweisen, das steht mit ihrer Herkunft und Vergangenheit fest. Genau das, was demokratische Politiker für einen untrüglichen Ausweis der Verläßlichkeit ihrer Bürger halten, die sie kommandieren – Gehorsam ein ganzes Leben lang, das verbürgt Loyalität! –, legen sie als Maßstab an ihre Neuerwerbung an und kassieren genau das Ergebnis, das sie haben wollen. Der politische Gesinnungs-TÜV, durch den jeder Ex-Bürger der DDR muß, fragt nämlich überhaupt nicht danach, wie man jetzt und in Zukunft zu seiner neuen Herrschaft steht. Der fragt überhaupt nicht, sondern konstatiert einfach, daß die großzügige Erlaubnis zum Mitmachen im neuen Staat im Grundsatz denen zu versagen ist, die im verkehrten alten mitgemacht haben. Und diesen Grundsatz kleidet ein politisch Verantwortlicher, der sein Volk auf demokratische Staatstauglichkeit hin durchmustert, in das „Problem“, ganz wenig brauchbares Material für die Kunst des Herrschens zu finden:
„Mit den wenigen wirklichen ‚Helden‘ des Herbstes 1989 und der Jahre davor, mit diesem eng begrenzten Personenkreis allein kann keine neue Gesellschaft aufgebaut werden.“ (Werner Münch, FR 17.12.91)
Nicht mit Schuld besudelt ist seinem Vernehmen nach ein ganz „eng begrenzter Personenkreis“; alle anderen müssen sich dagegen sagen lassen, daß sie als Untertanen eines „Unrechtssystems“ einfach „schuldig“ sind. Ausschluß von der Beteiligung am neuen Projekt Deutschland heißt im Prinzip die Strafe, die auf erbrachte Dienste für die falschen Herren steht, und der Ministerpräsident von Sachsen-Anhalt redet dabei nicht etwa davon, daß die deutsche Republik die erforderlichen Führungskader für ihren neuen Osten keinesfalls aus SED-Kreisen beziehen dürfe. Der redet einer Sortierung des annektierten Menschenmaterials das Wort, die den politischen Generalvorbehalt gegenüber den neuen Bürgern in die kleine Münze der moralischen Fehlbarkeit übersetzt und ihnen die Chance bietet, trotz der Erbsünde ihrer politischen Herkunft und Vergangenheit nach getätigter Reue doch mitmachen zu dürfen:
„Andere müssen „einbezogen“ werden, die in privaten Nischen lebten, sich anpaßten, und sogar diejenigen, die geringe Schuld auf sich geladen haben, sofern sie die Schuld einsehen und bereuen.“ (Ebd.)
An dieser Mildtätigkeit können sich die ehemaligen Zonenbewohner dann die Zähne ausbeißen. Wenn sie nicht ohnehin zu dem erlesenen Umkreis derer gehören, die früher in der DDR als Staatsfeinde behandelt wurden, gelingt ihnen der verlangte Loyalitätsbeweis nämlich nie und nimmer: Wenn sie ihre weiße Weste und ihr unbelastetes Schuldkonto herzeigen und vermelden, daß sie sich öffentlich „drüben“ niemals und nirgendwo haben blicken lassen, im übrigen aber immer, wenigstens heimlich, zumindest aber heute ganz offen und deutlich vollblütige Demokraten und Freunde der Marktwirtschaft sind, beweisen sie doch bloß, daß sie typische „Opportunisten“ und „Wendehälse“ sind – brav mitgemacht haben sie eben doch alles. Und wenn sie ihre „Schuld“ von ganzem Herzen bereuen, ihr Hemd zerreißen, Umkehr, Einsicht und jeden Eid darauf schwören, daß mit ihrer Verläßlichkeit absolut zu rechnen ist – dann beweisen sie schon wieder nur, was für widerliche „Wendehälse“ und „Opportunisten“ sie doch sind und Charakterschweine schon immer waren.
Vom Opportunismus der neuen Bürger selbst hängt es so gar nicht ab, ob sie von ihrer neuen Obrigkeit als vollwertige Bürger aufgenommen werden oder nicht. Die Sortierung vollzieht die demokratische Staatsgewalt an ihnen; und der negative Bescheid, den sie dabei erhalten, liest sich zwar wie ein moralisches Sündenregister, ist aber alles andere als das: Er ist die höchst offizielle Kundgabe, daß der demokratische Staat in ihnen noch immer so etwas wie Repräsentanten des Feindes sieht, den er fertiggemacht hat. Und auf Basis dieses grundsätzlichen Bescheides entfaltet dann die Moral ihre Wucht, die in diesem Fall wirklich eine ungeheuerliche ist.
III. Weil die erste so schön war: „Vergangenheitsbewältigung II“
Den Spaß, ihre eigene Sichtung der Bürger aus den neuen Ländern als Erblast-Bewältigung eines traurigen Kapitels deutscher Vergangenheit darzustellen und sich an die Erfahrungen erinnern zu lassen, die man seinerzeit mit den menschlichen Beständen des verflossenen Dritten Reichs gemacht hatte, haben sich die Saubermänner der Demokratie einfach nicht nehmen lassen. Dieselben Spezialisten, die sich im Falle Hitlers auf die grundsätzliche Scheidung zwischen der „verbrecherischen“ Führung einerseits und dem im Prinzip guten, weil von der Führung nur „verführten“ deutschen Volk verstanden; dieselben unbeugsamen Kämpfer gegen Opportunismus gleich welcher Art, die sich bei den Filbingers und Carstens einleuchten ließen, daß ohne eine klitzekleine Karriere in der NSdAP die als Rechtsanwalt einfach nicht zu machen war – diese moralischen Edelleute klopfen sich nur zu gerne schuldbewußt auf die Brust und geloben entschieden Besserung: Das alles kommt in diesem Fall nicht in Frage. Für die Nachkriegsdemokraten der BRD steht eben fest, daß das deutsche Volk im Faschismus seine Tugenden hat mißbrauchen und in seiner Treue zu Hitler keineswegs seine Laster hat offenbar werden lassen: Die Massen, die mit ziemlich wenig innerer Distanz und ganz ohne GESTAPO ihrem faschistischen Führer nachgelaufen sind, stehen ihnen einfach näher als die ehemaligen Ostbürger, die einer sozialistischen Obrigkeit gehorcht haben. Deswegen werden letztere trotz ihrer – zuletzt mit dem glanzvollen Überlauf in die BRD – bewiesenen Distanz zu Honecker, STASI & CO. verfolgt, während den guten Deutschen des Dritten Reiches, die wie eine Eins hinter ihrem GRÖFAZ standen, schlechterdings nichts anzulasten ist. Als Auftrag, den man sich selbst erteilt, hört sich das dann so an:
„Ein abermaliges Verdrängen käme dem Eingeständnis gleich, aus der Geschichte nichts lernen zu wollen.“ (J. Limbach, SZ 1.12. 91)
Von „Verdrängen“ kann bei der gnädigen Frau Justizsenator wohl nicht die Rede sein, eher von abermaligem Verdrucksen. Denn ihr fällt ja genau der recht großzügige und überaus pragmatische Umgang ein, den der demokratische Rechtsnachfolger des faschistischen Deutschland mit all denen pflegte, die in diesem ihrem Vaterland dienten. Da wurde nicht groß entnazifiziert bei Richtern, Lehrern, Wissenschaftlern und anderen Staatsdienern, weil die Demokratie jede bewährte Führungskraft beim Wiederaufbau des Staatswesens brauchte. Und das Volk war erst recht über schwerwiegende Verdächtigungen erhaben, weil seine Dienste beim Aufräumen der Trümmer und danach in den Fabriken gebraucht wurden. So etwas – heißt es – käme heute auf keinen Fall in Frage. Nur warum das so sein muß, wird einem durch das Vermelden, eine „Lehre“ der „Geschichte“ geschnallt zu haben, auch nicht gerade einsichtig: Daß Deutschlands demokratischer Neuanfang mit den alten faschistischen „Funktionseliten“ und mit einem gut faschistisch erzogenen Volk grandios gescheitert wäre, will sie ja nicht behaupten.
Es ist auch keine „Doppelmoral“, die hier unter Berufung auf moralische Schwachstellen bei der Entnazifizierung die deutsche Verantwortung für eine gründliche Entstasifizierung ableitet. Es ist haarscharf dieselbe Moral, die unter Berufung auf angeblich versäumte Pflichten anno 45 den Ex-Bürgern der DDR unter Deuten auf deren schuldhafte Verstrickung „mit dem Bösen in seiner banalsten Form“ (FR, 30.1.92) heute die Aufnahme ins Paradies des demokratischen Staates so einfach nicht gewähren will. Und in beiden Fällen zeichnet diese Moral das Interesse nach, in dessen Namen sie sich zu Wort meldet. Im Unterschied zur menschlichen Erblast des Faschismus, die gerne genommen wurde, weil man sie brauchte, gibt es für die neu eingemeindeten Ostbürger nämlich einen akuten staatlichen Bedarf nicht. Und weil man sie nicht braucht, will und kann man es sich auch leisten, mit dem Hinweis auf ihr Mitmachertum im falschen, „verbrecherischen“ Staat die Brauchbarkeit der neuen Staatsbürger von der hohen Warte rein sittlich-moralischer Prinzipienfestigkeit aus ganz grundsätzlich in Zweifel zu ziehen: Weil kein nennenswertes und maßgebliches Interesse im vereinigten Deutschland eine praktisch ins Gewicht fallende Berechnung an die Neubürger aus dem Osten knüpft, kommt deren moralische Durchleuchtung so rigoros, so scheinbar berechnungslos und mit so feststehend negativem Ergebnis daher.
Es ist eben das historische Pech der Anschlußdeutschen, daß ihre prinzipielle Dienstbarkeit gegenüber ihrem neuen politischen Gemeinwesen, ihr grenzenloser Wille, sich für alle in diesem geltenden Benutzungsansprüche zur Verfügung zu stellen, in überhaupt keinem Verhältnis steht zu der Nachfrage, die die angesprochenen möglichen Interessenten an der Nutzung williger Menschen entwickeln. Denn ob als Akademiker, von denen man ohnehin schon genug hat, oder als Lohnarbeiter, deren Anwendung nach den geltenden Regeln der kapitalistischen Rechnungsführung für nicht rentabel befunden wird und deshalb unterbleibt: Ein dem deutschen Staat nützlicher Verwendungszweck für die 16 Mio. Ostdeutschen ist so bald nicht absehbar, und solange das so ist, verursachen sie ihm vornehmlich Kosten.
So wird ehemaligen Zonenbürgern die Gnade der einfachen späten demokratischen Wiedergeburt von Staats wegen endgültig versagt. Den Beweis, daß sie ihrem neuen politischen Herrn gegenüber loyal sind, können sie nicht erbringen, weil sie bis gestern noch den verkehrten Herren gedient haben. Und sie können ihn jetzt nicht erbringen, weil bloß sie willig und dienstbar sind, aber keiner sonst so recht scharf auf ihre Dienste ist. Deswegen geraten sie ins Schußfeld der demokratischen Rechtspflege und Öffentlichkeit, die sich bestens darauf verstehen, dem moralischen Unwerturteil die entsprechenden Taten folgen zu lassen.
IV. Die Rache des Rechtsstaats
Daß der Staat bei allen, die sich in seinen Diensten den Lebensunterhalt verdienen wollen, die politische Zuverlässigkeit überprüft, ist guter demokratischer Brauch: Erwiesene Verfassungstreue und eine blütenweiße politische Vergangenheit sind die Zulassungsvoraussetzung für den Einstieg in die diversen Laufbahnen, in denen man dem Gemeinwesen dienen kann. Umgekehrt bedeutet eine nachgewiesene Beteiligung an linken Umtrieben die Untauglichkeit des betreffenden Aspiranten für den Staatsdienst und für so manch andere Karrieren in der ordinären Berufswelt auch. Und jetzt trifft dieser Maßstab, der politische Linientreue zur Qualifikationsgrundlage des höheren Berufslebens macht, auf Leute aus dem System, das, als es noch bestand, gewissermaßen das Urbild aller demokratischen Verfassungsfeindlichkeit darstellte. Die haben in aller Regel zwar auch nur ihren normalen beruflichen Erfolg im Auge gehabt, hatten sich dafür aber – so wollte es ihre Obrigkeit eben von ihnen – im beruflichen und gesellschaftlichen Leben zu engagieren, für die Ziele des Sozialismus und des menschlichen Fortschrittes schlechthin stark zu machen und einiges mehr an Einsatz für ihren Staat an den Tag zu legen. Und das reicht: Weil sie als Schulmeister, Journalist, Richter oder Anwalt dem falschen System gedient haben, anstatt es, wie es der demokratische Verfassungsauftrag gebietet, zu zersetzen, sind sie für das demokratische Empfinden notorische Verfassungsfeinde und bekommen das zu spüren.
Säuberungen
Für eine mehr oder weniger lange Zeit durften sich manche Lehrer noch für die Umstellung der realsozialistischen Ordnung in ihrem alten Beruf nützlich machen. Dort haben sie zwar schon ihr Bestes gegeben, durch Weglassung der Weltanschauung von gestern die ideologische Bildung ihrer Zöglinge auf die neuen Erfordernisse umzustellen. Genutzt hat ihnen das aber nichts, weil die Rachsucht der Demokratie kein Bildungsideal verfolgt, sondern die Erledigung von Staatsverbrechern im Auge hat. So erzählt ein für die Schulaufsicht in Sachsen Zuständiger:
„Heraussortiert wurden alle, die hauptamtlich in der Partei oder in den Massenorganisationen gearbeitet haben, die ehrenamtlich politische Ämter innehatten, Sportfunktionäre waren, es in der Armee oder bei der Polizei bis zum Offizier gebracht hatten, in der Verwaltungshierarchie ein bißchen Verantwortung trugen (Schulräte und deren Vertreter), und natürlich die, die mit der Stasi kooperierten.“ (SZ 27.11.91)
Die Hälfte der ehemaligen Lehrer im neuen Freistaat Sachsen ist damit draußen, weil ihnen ihr außerpädagogisches Engagement im Staat DDR als verbrecherische Parteinahme für ihn zur Last gelegt wird. Nach derselben Logik wird im alten Freistaat Bayern keiner mehr Lehrer, der Mitglied im „Deutschen Turn- und Sportverein“ oder im „Kulturbund der DDR“ war.
Die Säuberung der Hochschulen ist gleichfalls erfolgreich abgeschlossen worden. Da hat es die Freiheit der Wissenschaft nämlich für unerläßlich gehalten, Schlüsselstellen des universitären Bildungslebens mit Denkern zu besetzen, die in Sachen Formung des intellektuellen Nachwuchses der Nation einschlägig bewandert sind. Das hat den Kadern für Indoktrination von Pluralismus, Demokratie und Marktwirtschaft aus den Warteschleifen des westlichen Wissenschaftsbetriebs jede Menge Arbeitsplätze freigeräumt. Und – wie jüngst im „Spiegel“ zu lesen war – auch so mancher miese Pedell, der im Westen eher polizeimäßig für die Freiheit der Wissenschaft von Kritik gesorgt hat, darf im eroberten Osten gleich Kanzler einer Hochschule spielen. Dort nimmt er dann den Forschungsauftrag wahr, STASI-Kontakter aufzuspüren und unschädlich zu machen.
Bei Richtern und Staatsanwälten nimmt es der demokratische Staat den ostdeutschen Bewerbern für seinen Justizapparat übel, daß sie früher DDR-Recht gesprochen haben. Damit haben sie deutsche Bürger nach Maßstäben der sozialistischen Staatsgewalt in die Pflicht genommen, nach deren Interessen allfällige Streitigkeiten geregelt und Gewalt gegenüber politischen Abweichlern geltend gemacht – und das ist nach der hier überwiegenden Rechtsauffassung eindeutig Rechtsbeugung, denn sie sprachen kein BRD-Recht, also Unrecht. Mit jedem revisionssicheren Urteil, mit dem sie das Recht gemäß dem Willen ihrer Obrigkeit anwandten, legten sie Zeugnis davon ab, was für „rote Schergen“, „gewissenlose Handlanger des Unrechtsstaates“ und „furchtbare Juristen“ sie waren – und folglich heute im Prinzip noch genauso sind. Ein unterzeichneter Haftbefehl gegen einen „Republikflüchtling“; die Freigabe von Kindern Strafgefangener zur Adoption gemäß DDR-Familienrecht – das disqualifiziert gründlich für den Einstieg in den gesamtdeutschen Justizapparat. Denn im BRD-Recht, das ja schon immer für ganz Deutschland verbindlich war und nach ganz überwältigender Rechtsauffassung in etwa dem natürlichen Recht des Menschen entspricht, gibt es Regelungen dieser Art nicht. Also hätten Richter der DDR wissen müssen, daß sie auch nie und niemals rechtens sein können.
Wer als Richter oder Staatsanwalt der Fragebogenfahndung der Justizminister ausweichen wollte, selbst für sich die Konsequenzen zog und sich bloß als Anwalt niederließ, hat sich allerdings schwer mit der Prinzipientreue dieser Verfolgungswut des freiheitlichen Rechtsstaates verrechnet:
„Wie Bundesjustizminister Kinkel mitteilte, wird es demnächst einen Gesetzentwurf geben, der es ermöglicht, Anwälten ihre Konzession zu entziehen, wenn sie sich zu DDR-Zeiten etwas haben zuschulden kommen lassen.“ (FR 7.11.91)
„In der Begründung des Gesetzentwurfs wird es als ‚ärgerlich‘ bezeichnet, daß ehemalige Stasi-Mitarbeiter noch zu DDR-Zeiten in die Anwaltschaft aufgenommen wurden, ohne daß man sich über ihre Würdigkeit Gedanken gemacht habe.“ (SZ 8.11.91)
Diese Gedanken macht man sich jetzt natürlich. Wo
„berufliches Fehlverhalten oder Verstoß gegen die Menschlichkeit nachzuweisen ist“ (SZ 15/16.292),
sind sie demnächst ihre erschlichenen Roben los, wobei „Verstöße gegen die Menschlichkeit“ beispielsweise vorliegen bei der Ermöglichung einer legalen Ausreise aus der DDR – und gleichzeitiger Verunmöglichung, dabei auch das eigene Grundstück mitzunehmen.
Daß die Medien der ehemaligen DDR von allem „unwürdigen“ Gelichter zu säubern waren, versteht sich von selbst. Wer früher dem Volk die Entscheidungen einer verbrecherischen Staatsführung verklickert hat und den Staat, der das gar nicht verdiente, notorisch in ein schönes Licht getaucht hat, ist für die Aufgaben der hiesigen „vierten Gewalt“ natürlich diskreditiert. Er ist, selbst wenn er auch das ausgezeichnet könnte, schlicht ungeeignet dafür, das Volk mit den Nöten und Bedürfnissen der Demokratie vertraut zu machen. So etwas verlangt nach Mühlfenzels, Rosenbauers, Wolfs und anderen gestandenen Meinungsbildnern. Die haben ausreichend Erfahrung damit, wie man auf ganz vielen Kanälen – und nicht bloß auf einem „schwarzen“ – das Volk davon überzeugt, wie goldrichtig es liegt, sich allem zu fügen, was seine Herren zum Wohle Deutschlands für erforderlich halten.
Schauprozesse
Der bürgerliche Rechtsstaat hat sein Strafrecht, um seinem Gewaltmonopol, das die Gegensätze zwischen seinen Bürgern und zwischen ihm und seinen Bürgern verbindlich regelt, Geltung zu verschaffen: Wer die unbedingte Geltung seines Gewaltmonopols ankratzt, bekommt die Staatsgewalt in Form von Freiheitsentzug und Vermögensschmälerung zu spüren. Das Strafrecht ist so die stets präsente Gewalt des Staates, mit der er – per Drohung und Anwendung – die Unterwerfung der Bürger unter seine Rechtsordnung erzwingt, wenn sie nicht freiwillig erfolgt. Diesbezüglich erfreuen sich auch die neuen Bürger aus dem Osten der Gleichbehandlung, die dem Recht so eigen ist: Wenn sie gegen es verstoßen, werden sie verknackt wie alle anderen auch.
Nicht wenige von ihnen werden aber auch verknackt, wenn sie die rechtsstaatliche Ordnung nicht gebrochen haben. Die deutsche Demokratie hat sich nämlich auch hinsichtlich des Strafrechts zum Rechtsnachfolger der DDR gemacht, und zwar überhaupt nicht deshalb, um anhängige Verfahren gegen Diebe und Kinderschänder zu erben und penibel zu Ende zu führen. Gespechtet hat sie vielmehr auf die strafrechtliche Erledigung der „Täter“ im „Unrechtsstaat DDR“, und nach und nach zerrt sie diese vor bundesrepublikanische Gerichte.
Berghofer zum Beispiel, der mit Wahlfälschungen geholfen hat, das Legitimitätsbedürfnis der alten DDR-Führung nach innen zu befriedigen, wird verurteilt. „Prävention“, Vorsorge gegen Wiederholung, oder „Abschreckung“ anderer waren offenbar nicht die Leitideen der Urteilsfindung:
„Strafprozesse dieser Art, ob sie nun mit hohen Strafen enden oder nicht, delegitimieren das alte Regime in einer Weise, wie dies ein Tribunal niemals vermag.“ (SZ 8.1.92)
Die Demokratie will ihren Triumph über den feindlichen Staat moralisch so richtig auskosten. Deswegen lechzt sie nach „Tribunalen“, nach Ritualen, mit denen öffentlich und volksnah das Verbrechen und die Verbrecher dieses Staates an den Pranger gestellt und verdammt werden. Und Strafprozesse sind solche Tribunale der Extraklasse, weil sie nicht bloß moralische Verurteilungen sind, sondern mit der Autorität des Rechts, seiner „Objektivität“, „Überparteilichkeit“ und „Blindheit gegenüber Rache und persönlichen Gelüsten“ die Handlanger des alten Systems wirklich und damit dieses selbst nochmals ideell erledigen. „Strafprozesse dieser Art“ – das sind demokratische Schauprozesse, die ihrem stalinistischen Vorbild der Absicht nach ziemlich kongenial sind: Recht wird gesprochen und vollstreckt, um ausschließlich die schon feststehende moralische Unwertigkeit des politischen Feindes zu beweisen und seinen ehemaligen Dienern die fällige Sühne aufzuerlegen. Mit seiner Rechtsgewalt macht sich der Staat zum Diener an der moralischen Scheidung der Guten – das sind alle, die ihm dienen und schon immer gedient haben – von dem Bösen, das er in den Stellvertretern des ihm feindlichen Systems vor sich aufbaut und vertilgt.
Freilich werden die „Schergen“ des Feindes – anders als bei Stalin – nicht direkt vertilgt – wenn sie den Freitod wählen, so ist dies allein ihre Sache. Man ist ja Rechtsstaat und streng verpflichtet, auch in solchen Prozessen die zivilisierte Form zu wahren. Und da verlangt es hiesiges Brauchtum, daß, wenn einer bestraft werden soll, auch ein Rechtsgut da sein muß, das er verletzt hat. Auf diesem Wege erfährt dann z. B. der Wahlfälscher Berghofer endlich, was er genau genommen verbrochen hatte, als er Wahlergebnisse schönte: Auch wer falsche Wahlen nachmacht oder verfälscht oder nachgemachte oder verfälschte falsche Wahlen in Umlauf bringt, wird mit Freiheitsstrafe belohnt.
„Das Gericht gehe davon aus, daß man bei der DDR nicht pauschal von einem Unrechtsstaat sprechen könne. Und auch die Wahlen seien ungeachtet aller Fälschungen und Beeinträchtigungen tatsächlich Wahlen gewesen. …Die… geforderte Kontinuität der geschützten Rechtsgüter bestehe vor allem im ‚individuellen Gut‘ des Wählers, seinen Willen äußern zu können. Dieses geschützte Recht sei mit dem Ende der DDR nicht untergegangen.“ (SZ 8./9.2.92)
Nebenbei hört man auch noch, daß der „Unrechtsstaat“, der Wahlen fälscht, kein Unrechtsstaat war, sondern – ungefähr so wie der hiesige – immer nur die Rechte seiner Bürger geschützt hat. Das ist in diesem Fall so, weil wenn es so ist, kann man praktischerweise jeden der in ihm „Verantwortlichen“ nach Rechtsgrundsätzen in Haft nehmen, die schon im „Unrechtssystem“ gegolten und gegen die sich die Betreffenden folglich vergangen hätten.
Umgekehrt ist bei den Prozessen gegen Mauerschützen das Recht von „drüben“ alles andere als dies. In diesen Prozessen gilt es nämlich, mit ganz viel juristischem Feingefühl das himmelschreiende moralische Unrecht, „Republikflucht“ als Verbrechen zu verfolgen, justiziabel zu machen. Da sich die Übersetzung des politisch-moralischen Verdikts „Schandmauer“ in trockene §§ einigermaßen schwierig gestaltet, exekutiert man den fälligen Schuldspruch an denen, die an der Mauer geschossen haben:
„Es gilt durch die Strafe darzutun, daß an die rechtlichen Anstrengung des einzelnen, auch eines Endgliedes einer Kette hohe Anforderungen gestellt werden müssen, wenn Kernbereiche des Menschlichen berührt werden…die vier Angeklagten seien nicht durch die seinerzeit geltenden Gesetze vor Strafung geschützt. Zwar lasse sich der Schußwaffengebrauch formal mit den einschlägigen Bestimmungen des DDR-StGB und -Grenzgesetzes decken. Dabei handele es sich aber um Gummiparagraphen, die ‚einem Großteil eines Volkes sein Recht auf Freizügigkeit genommen‘, mithin ‚gegen die fundamentalen Grundsätze von Recht und Menschlichkeit verstoßen haben‘. Es dürfe jedoch einem Staat nicht gestattet sein, seinen Soldaten zu befehlen, auf Leute zu schießen, die ‚nichts anderes wollen als ausreisen‘. Daß ein solcher Befehl nicht rechtens war, sei auch den Angeklagten bewußt gewesen.“ (SZ 7.1.92)
Zwar will der Staatsanwalt schon zugestehen, daß die Schüsse durch DDR-Recht gerechtfertigt waren. Aber weil dieses Recht hier mal wieder Unrecht war, kam diese Rechtfertigung nicht wirksam zustande, und die Soldaten müssen sich eine total falsche Berufsauffassung vorhalten lassen:
„Das Gericht warf den Angeklagten vor, nicht genügend Zivilcourage besessen zu haben. Wenn sie sich nur einmal besonnen hätten, hätten sie das Unrecht ihres Tuns erkannt. Das habe nichts mit der Forderung nach Heldentum zu tun. Sie hätten sich dreimal entscheiden können: bei der Einberufung, bei der Abkommandierung an die Grenze, als sie gefragt wurden, ob sie bereit seien auf Menschen zu schießen, und in der Tatnacht, als sie hätten danebenschießen oder im gezielten Einzelfeuer auf die Füße halten können. Die Folgen wären für die Schützen dann zwar ärgerlich – Versetzung, Küchendienst und ähnliches – aber nicht gefährlich gewesen“. (Urteilsbegründung im 2. Mauerschützenprozeß, FR 6.2.92)
So gelingt juristisch der verlangte Nachweis persönlicher Schuld: Jeder anständige DDR-Bürger hätte zugesehen, wie er sich möglichst vor dem Staatsdienst, zumindest vor der Wahrnehmung der Pflichten und dem Gehorsam gegenüber Anordnungen in demselben, gedrückt hätte. Und wenn er sich unsicher gewesen wäre, was er bei seinem Dienst alles nicht tun darf, hätte er bloß bei der Erfassungsstelle in Salzgitter anrufen brauchen.
Vorbildlich wie immer dagegen die Jungs von unserem demokratischen Grenzschutzverein, die die ungleich ehrenwertere Aufgabe zu erfüllen haben, notfalls auf Leute von sonstwo zu schießen, die nichts anderes wollen als einzureisen. Und die bei unerlaubten Ausreiseversuchen dank ihrer Zivilcourage stets volles Rohr daneben ballern:
„Mehrere Autoschieber haben am Wochenende mit teilweise fabrikneuen Fahrzeugen die deutsch-polnische Grenze durchbrochen. Sie konnten auch durch Schüsse der Beamten nicht gestoppt werden, teilte das Grenzschutzamt Frankfurt/Oder mit. …“ (SZ 28.1.92)
Das einzig Spannende an diesen Prozessen ist, wie die jeweiligen Richter es hinkriegen, die zu dem moralischen Abrechnungswillen des Rechtsstaates jeweils passenden Rechtsparagraphen zu konstruieren und Urteilsbegründungen zu verfassen, die den hehren Rechtsstaatsprinzipien von „Rückwirkungsverbot“, „Vorwerfbarkeit“ usw. nicht offen widersprechen. Dem juristischen Sachverstand macht die Suche nach einem Recht, das bisher noch nicht erfunden wurde, überhaupt nichts aus. Vielmehr findet er – wie die zahlreichen veröffentlichten Exegesen der bisherigen Rechtsprechung bezeugen – ausgesprochen Vergnügen daran. Vermutlich liegt dies daran, daß selbst dann, wenn er beim besten Willen auf keine schon vorhandene Rechtsinterpretation stößt, die paßt, er um Antwort trotzdem nie verlegen ist. Er braucht sich bloß an die moralische Leitlinie zu halten, an der entlang er nach ihm gesucht hat – und schon ist es da, das Recht. Zum Beispiel dasjenige, welches das Unrecht von Spionen klarstellt, die aus dem Osten kommen, im Unterschied zu denen, die vom Westen aus losgeschickt werden. Das heißt in der für das altrömische Staatsrecht typischen Schlichtheit „non licet bovi“:
„Auch einen Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, wenn ehemalige DDR-Spione bestraft werden, ihre westdeutschen Kollegen hingegen nicht, mochte das Münchner Gericht nicht akzeptieren. „Es ist eben kein gleich zu behandelnder Sachverhalt“. Das Schutzbedürfnis der Bundesrepublik bestehe fort, das Schutzbedürfnis der ehemaligen DDR sei dagegen mit dem Beitritt gegenstandslos geworden. „Der Beitritt ist nicht eine Fusion, er ist im Grunde etwas anderes“.“ (Urteilsbegründung im Prozeß gegen Ex-Stasi-General Harry Schütt, FR 16.11.91)
„Die Kleinen hängt man…“
– ja klar doch. Aber daß deswegen ein „Großer“ davonkäme, ist wohl ein Witz. Kanzler Kohl höchstpersönlich forderte den Mauerbauer, den er schon mal mit allen Ehren in Bonn empfangen hat, auf, sich endlich einem „ordentlichen deutschen Gericht“ zu stellen. Vor denen räumt der Rechtsstaat nämlich gerade ordentlich mit den DDR-Verbrechern auf, und da gehört es doch wohl zum Fair-Play zwischen alten Sportsfreunden, wenn der Oberbefehlshaber der Mauerschützen mal vorbeischaut, um sich sein Lebenslänglich abzuholen. Daß der das nicht macht und sich statt dessen in einer chilenischen Botschaft eingräbt, spricht dann erst recht für sein Unrechtsbewußtsein und die tiefe Berechtigung der Rachsucht des Rechtsstaats, die ihn bis in sein Grab verfolgt:
„Wenn Honecker sicher sei, sich nichts vorwerfen zu müssen, solle er sich den gesamtdeutschen Behörden stellen… Es sei „wenig fair“, daß frühere DDR-Grenzsoldaten sich vor Gericht verantworten müßten, weil sie Befehle ausgeführt hätten, während sich Honecker seinem Prozeß entziehe.“ (FR 19/20.11.91)
Währenddessen befassen sich die „ordentlichen deutschen Gerichte“ mit ihrem Einfallsreichtum damit, weitere Haftbefehle für und Anklagen von „Regierungskriminellen“ zustande zu kriegen. STASI-Chef Mielke z. B. ist so ein Fall, aus dem unbedingt einer zu machen war. Die juristische Spitzfindigkeit fand in gewohnter Weise alsbald heraus, daß sich der STASI-General nach DDR-Recht unerlaubterweise staatliche Befugnisse angeeignet und im übrigen Volksvermögen veruntreut haben soll. Das fand das sensible Rechtsgefühl bei diesem Kaliber von Verbrecher dann doch etwas kleinkariert, genauso wie den Vorwurf der illegalen Telefonüberwachung: So einem muß man etwas anhängen, das in etwa der Dimension des Verbrechens entspricht, das es an ihm zu sühnen gilt. Viel besser paßt deswegen das Auftauchen einer von Nazi-Richtern schon perfekt aufbereiteten Mordanklage gegen ihn; weil nämlich Heimtücke und niederste Beweggründe bei einem, der die STASI kommandierte, ja in jedem Fall vorliegen müssen. Daß ihm
„ein Vorfall aus dem Jahre 1931, als an DDR und STASI noch gar nicht zu denken war“ (FR 11.2.92),
zur Last gelegt wird, macht so rein gar nichts. Leise aufkeimende Zweifel bezüglich der rechtsstaatlichen Güteklasse der deutschen Justiz im Faschismus dürfen sein, aber nur, damit man sie mit einem Handstreich aus der Welt schaffen kann:
„Nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten hatten diese vermutlich politischen Druck zur Intensivierung des Ermittlungsverfahrens ausgeübt… Diese Umstände erlauben es jedoch nicht, die Arbeit des damaligen Gerichts und seine Ergebnisse“ – solche Ergebnisse verbürgen die Quelle: deutsche Wertarbeit! - „pauschalen Zweifeln grundsätzlicher Art auszusetzen. Die Justiz wurde nach 1933 keineswegs so schnell und so rigoros in den Dienst der Diktatur genommen, wie man sich das im nachhinein vorstellen mag.“ (J. Busche, SZ 11.2.92)
Die Anklageschrift der braunen Richter paßt eben auf Mielke, deswegen ist sie gut und rechtens; daß die Mielke belastenden Aussagen von der GESTAPO mit Folter erpreßt wurden, ist kein beachtenswerter Einwand – sie belasten ja wohl keinen Falschen. Ein Wermutstropfen schwimmt trotzdem noch im Geifer:
„Daß er für das, was er in jahrzehntelanger blutiger Karriere anrichtete, offenbar nicht angemessen zu belangen ist, muß als bitter empfunden werden.“ (Ebd.)
Jedenfalls wird er auch so schon rechtsstaatlich angemessen belangt, wenn das ordentliche Gericht ihm notorische Verhandlungsfähigkeit bescheinigt und den Simulanten hinter Panzerglas der Öffentlichkeit zur Schau stellt. Eichmann und Demjanjuk lassen grüßen.
Rache ist eben süß, und daß der Rechtsstaat an Mielke und anderen lustvoll Rache nimmt, weiß irgendwie auch jeder. Umgekehrt aber schafft es auch nur ein Rechtsstaat, erst die Anteilnahme der Bevölkerung an der öffentlichen Aburteilung und Erniedrigung der ehemals Mächtigen in der DDR zu genießen – und sich hinterher dafür zu entschuldigen, daß er, wg. Rechtsstaat, so umständlich, ja nachgerade milde und halbherzig, mit diesen Kriminellen verfahren müsse. Der Präsident dieses Rechtsstaats drückt das in seiner bekannten Honigsüße so aus:
„Mit dem Strafrecht wird weder die Geschichte noch ein Herrschaftssystem angeklagt.“ Sondern nur alle, die für letzteres stehen. „Der Richter urteilt über die Frage, ob ein persönliches Verhalten nach dem Recht schuldhaft vorwerfbar ist, das zum Zeitpunkt und am Ort der Tat gültig war.“ Das ist bekanntlich keine Frage, sondern der feststehende Ausgangspunkt der fälligen Verurteilung. „Diese Selbstbindung kann moralisch auch für den Falschen von Nutzen sein.“ Das heißt, wir erwischen nicht gleich jeden Verbrecher mit dem Recht, von dem wir ganz ohne Recht wissen, daß er einer ist. „Sie kann es außerordentlich erschweren, eine sogenannte Regierungskriminalität zu ahnden“. Aber da tun wir unser Bestes. „Der Rechtsstaat ist Ausdruck der Erfahrung, daß wir Menschen keinen schlechthin endgültigen Zugang zur absoluten Gerechtigkeit besitzen.“ Amen. (Weizsäcker, Der Spiegel 51/91)
So genießt der Rechtsstaat seinen Endsieg über das feindliche System gleich doppelt. Das Selbstwertgefühl eines moralisch erstklassigen Staatswesens demonstriert seine Überlegenheit in Schauprozessen, die mit dem alten System abrechnen. Dann beseufzt es als Rechtsstaat die Opfer, die der schafft, als eigene „Ohnmacht“, wirklich mit den sozialistischen Verbrechern von ehedem fertig zu werden – und fügt sich mit dem abschließenden Verweis auf das Jüngste Gericht bescheiden in Schranken, die gar nicht vorhanden sind.
Währenddessen sorgen andere Abteilungen in der demokratischen Kultur dafür, daß von allen anderen, um die sich die Gerichte nicht kümmern, möglichst kein „Täter“ ungeschoren davonkommt.
V. Der übrige öffentliche Verfolgungswahn
Die demokratische Öffentlichkeit hat bei der Verfolgung des „Bösen“ den Part von Staatsanwalt, Verteidigung und Richter in einer Person übernommen. Die Anklage lautet auf „Täterschaft“, Verteidigung ist zwecklos, und das Urteil steht fest: Wer bei der
Jagd auf die „Inoffiziellen Mitarbeiter“
erwischt wird, hat seine bürgerlich-demokratischen Ehrenrechte und auch sonst einiges andere an Lebenschancen gründlich verwirkt. Da hat der Rechtsstaat in seiner Güte nämlich dafür gesorgt, daß das Recht auf „Vergangenheitsbewältigung“ nicht nur von ihm selbst, sondern auch von seinen neuen Ostbürgern wahrgenommen wird. Seine Aneignung aller Durchleuchtungsleistungen der ehemaligen DDR-Staatssicherheit hat er als Akt der „Befreiung“ des Volkes vom alten Unrechtsstaat organisiert und ihm dafür eine eigene Behörde spendiert. In dieser präsidiert ein ehemaliger Pfarrer, also ein Profi in Sachen herrschaftsfreier Gerechtigkeit, den „ungeheuerlichen Aktenbergen“, die nach Auswertung der STASI-Hinterlassenschaft durch die demokratischen Geheimdienste übriggeblieben sind, und gewährt jedem, der sie will, Einsichtnahme in die ihn betreffenden Dossiers. Natürlich will jeder sich nach seinem privaten Spitzel erkundigen, gewissermaßen persönlich nacherleben, in welche geheimnisvollen Netze seine Biographie eingesponnen war. Wie man hört, wollen sich bald eine halbe Million von Ostbürgern en detail mit den Leistungen jener sozialistischen Einrichtung beschäftigen, der von ihren Umtrieben einfach nichts verborgen blieb – die dieselben Umtriebe aber auch in dem Maße zu legalisieren pflegte, in dem sie über sie Bescheid wußte. Daher kommt es auch, daß kaum einer von diesen Wissensdurstigen nach Lektüre seiner Akte auf Nachfrage den Schaden groß anzugeben wüßte, der ihm von dem Kontrollwesen der Staatssicherheit zugefügt worden wäre. Auch dürfte er – bei unvoreingenommener Betrachtung der Sache – dem STASI-Kontrollbedürfnis selbst recht wenig Entsetzliches abgewinnen können: Was er seit seinem Einzug in die freiheitliche Demokratie den diversen staatlichen, kommunalen, halb-öffentlichen und betrieblichen Bürokraten an Auskünften hat erteilen müssen, um den hier üblichen Wissensdurst nach Biographien von Personen und Appetit auf Personalakten zu stillen, zeugt ja auch nicht gerade von heiligem Respekt vor der Privatsphäre. Aber unvoreingenommen geht man ja nicht hin zur Firma Gauck. Vielmehr möchte man sich selbst als Verdacht bestätigen, was die öffentlich zirkulierte Ideologie von der „Krake“ namens STASI suggerieren will: Es gibt einfach kein richtiges Leben – im falschen System. Also vergegenwärtigt man sich in den Akten, wie wenig es recht eigentlich das „eigene Leben“ war, das man „drüben“ gelebt hatte. Und dieser Verdacht soll sich – dafür steht die Behörde – einstellen, der soll beständig genährt werden: Jeder soll sich vor Augen führen, wie groß sein Leiden und abgrundtief das Unrecht war, in dem er ein Leben lang gelebt hatte; und zwar gerade je weniger er davon gemerkt, je weniger es ihn berührt hat. Das befördert nämlich das authentische Volksbedürfnis nach Abrechnung mit den alten Herren und heizt den Rachedurst an.
Selber zur Tat schreiten darf der Erniedrigte und Beleidigte allerdings nicht. Der ist nur dazu gut, daß der Rechtsstaat mit seinem Ausrottungs- und Verfolgungsinteresse sich auf ihn berufen kann: Das Monopol in Sachen praktischer Sühne und Verfolgung des Bösen teilt er mit niemandem von den „Opfern“, die er durch seine Gauck-Behörde vorher über den Namen des „Täters“ informiert hat:
„Wer das allerdings für eine Pogromstimmung ausnutzt, handelt töricht und gefährlich. Selbstjustiz ist außerdem ungesetzlich. Wichtig sind heilsame Diskussionen. Es wird nicht ausbleiben, daß Freundschaften zu Bruch gehen.“ (Gauck-Pressesprecher Gill, SZ 15./16.2.92)
Wenn der Rechtsstaat dem so arg mißhandelten Ostvolk also leihweise einige der Daten zurückgibt, die seine bösen Herren über es angefertigt haben, stehen seine guten Absichten fest. Er nämlich dient ausschließlich dem ganz natürlichen Gerechtigkeitssinn des Volkes. Daß und wie dieses Sühneverlangen sich dann, nachdem es der Rechtsstaat angefacht und mit Nahrung versorgt hat, auch noch ganz außerhalb aller rechtsstaatlichen Bahnen austobt, ist ihm freilich auch recht: Auch so wird seinem Drang nach Gerechtigkeit gedient.
Denn diese von ihm inszenierte „Bewältigung der DDR-Vergangenheit“ hat die schöne Konsequenz, daß das Volk, das bei ihr die Hauptrolle spielt, bei seiner Suche nach den Handlangern des Bösen auf ganz viele gute Bekannte trifft, Freunde, Nachbarn, Ehegatten. „Unheimlich“ viele haben der STASI „zugearbeitet“, bei nicht wenigen „Opfern“ stellt sich heraus, daß sie (Mit-)„Täter“ waren, so manche „Täter“ waren selbst „Opfer“ und so weiter. So wird – datenmäßig verbürgt – offenbar, daß das Volk von drüben schon ziemlich von dem Bösen durchseucht ist, unter dem es angeblich bloß gelitten haben soll. Und mit dieser tiefen Einsicht bewaffnet schlägt der Fanatismus des Guten los – nach der Devise: das Böse ist immer und überall, DDR-Verbrecher sind mitten unter uns, und die Reihe der Täter ist endlos. Einer, der es wissen muß, berichtet leicht angewidert von den Techniken der öffentlich-rechtlichen und journalistischen Hatz:
„Jetzt gilt nicht mehr die Unschuldsvermutung, jetzt gehen wir von der Schuldvermutung aus. Jetzt wird freiheraus verdächtigt. Vorsorgliche Verurteilung. Sollen doch diejenigen, denen das Kainsmal des Stasi-IM aufgedrückt wurde, öffentlich ihre Unschuld beweisen. …Stalinismus mit stalinistischen Methoden austreiben, Stasi-Denunzianten mit den Mitteln der Denunziation bekämpfen,…“ (Stern 6.2.92)
Der Mann vom „Stern“ hält dies allerdings für schlechten Journalismus. Er läßt dabei nur den fälligen Rückschluß auf den guten Zweck weg, dem genau so gedient wird und anders gar nicht gedient werden kann. Das allerdings widerfährt ihm überhaupt nicht aus Versehen. Denn nachdem er sich ein bißchen ausgekotzt hat, verrät er, wie es zu verstehen war:
„Gegen die Schreibtischtäter des Unterdrückungsapparats ermittelt niemand. Wer hat beispielsweise die Internierungslager geplant, in die ‚im Spannungsfall‘ die DDR-Opposition gesperrt werden sollte? Wer hat die Namenlisten dafür erstellt? Wer hat den Plan ausgeheckt, den widerborstigen Studentenpfarrer Heinz Eggert, heute sächsischer Innenminister, in die Psychiatrie zu schaffen und durch Medikamente gesundheitlich zu ruinieren? Wer sind die wirklichen Täter? Sollen sie Sieger bleiben?“ (ebd.)
Das sind die Schreibtischtäter eines moralischen Fanatismus, wie ihn die Demokratie schätzt: Man gibt sich mit seinem Geschmacksempfinden von den Methoden betroffen, mit denen die STASI-Verfolgung läuft, und kritisiert an der, daß sie nicht perfekt genug, bloß auf vordergründige „Enthüllungen“ erpicht ist und die wahren Dunkelmänner verschont.
Das ehrenwerte Gewerbe, das sich da an die Fahndung nach Untergetauchten macht, um denen Kollaboration mit dem Feind vorzuhalten und entsprechend abzurechnen, ist kein Geheimdienst. Es handelt auch überhaupt nicht im Staatsauftrag, sondern dient der Öffentlichkeit, indem es sie macht. Keiner hat den Leuten von Presse, Funk und Fernsehen den Auftrag erteilt, jeden zu greifen, der in einer Akte vermerkt ist – oder der als Verdächtiger das Pech hat, nicht als „IM“ in den Listen geführt zu werden, obwohl er in denen doch eigentlich stehen müßte. Das machen die Diener einer Öffentlichkeit, die sich selbst zu einer einzigen Vereinigung höchst offizieller Mitarbeiter erklärt hat, aus ganz freiem Antrieb heraus. Sie mußten dazu auch gar nicht bei einschlägigen Profis in die Lehre gehen, um zu wissen, wie man dieses STASI-Gesindel stellt – aufs Ausspähen, Schnüffeln und Bloßstellen verstehen sie sich einfach so und haben dabei auch noch den Vorteil, daß sie sich gar nicht zu verbergen brauchen: Wer in so hohem Auftrag unterwegs ist, den adelt es, wenn er sich ungefähr derselben Methoden bedient, auf die sich auch das „Böse“, das es auszumerzen gilt, so gut verstanden hatte. Und so wird’s gemacht: Berufungsinstanz ist ein „Opfer“ der DDR-Zeit, das man erfolgreich ausgeforscht hat. Mit diesem getretenen menschlichen Schicksal bewaffnet geht man als Journalist auf den – vom „Opfer“ beschuldigten – „Täter“ los, dessen nähere und weitere Lebensumwelt man voher schon systematisch überwacht hatte. Die Öffentlichkeit bekommt haarklein beschrieben, wo er wohnt, pardon: sich versteckt hält. Dort wird der Menschenfeind aufgesucht und durch „Opfer“ und Berichterstatter bei laufender Kamera gestellt und überführt – „Grüß Gott, wir sind vom deutschen Fernsehen und Sie hier sind wohl der Verbrecher. Wollen Sie dazu was sagen?“ Sollte der „Täter“ die Dreistigkeit haben, sich zu verteidigen oder auf seine „demokratischen Rechte“ zu berufen, ist das so gut wie ein Geständnis und beflügelt die Inquisitoren, weiter Eingeständnisse seiner Niedertracht einzufordern. Gelingt es schließlich dem Beschuldigten, sich doch noch dem Verhör zu entziehen, wird er noch eine Weile in seinem Unterschlupf tyrannisiert, die Kamera läuft noch immer. Ist endgültig bei ihm nichts mehr zu holen, werden Nachbarn und Bekannte als IMs der bundesdeutschen Öffentlichkeit angeworben und nach weiteren Informationen abgeschöpft, bis auch diese Quelle versiegt ist und das Rollkommando zum nächsten „Fall“ weiterzieht.
Demokratische Kulturkämpfer
können bei diesem Wahn natürlich nicht fehlen. Ihre berufsbedingte Borniertheit, ihr mehr oder weniger gelungenes Schaffen an den Musen pausenlos mit einem Dienst am Guten & Wahren überhaupt zu verwechseln, drängt ja von selbst dazu, sich auch für das jeweilige Staatswesen, in dem sie sich wichtig machen, sehr wichtig vorzukommen. Den Staat pflegen sie nämlich auch mit einer Idee von Sittlichkeit zu verwechseln, zu der es sie gleichfalls drängt.
So kam es, daß nicht wenige Poeten im ehemaligen Osten ihre gereimten Werke als furchtbar kritisch verstanden. Zur wechselseitigen Erbauung an dieser Gesinnung trafen sie sich dann öfter zu Wein und Kerzenlicht und lasen sich vor. STASI natürlich dabei, weil die Verwechslung von Moral mit Staatszersetzung genau andersherum ja seine Domäne war. Also griff die STASI sich ein Arschloch von den versammelten und ließ sich erzählen, was sich in der fröhlichen Runde so alles erzählt wird.
Die Sache fliegt auf, weil Biermann, ein enorm kritischer Dichter im Westen, den Betreffenden öffentlich denunziert. Biermann ist zwar auch nur ein Dichter, der sich wichtig macht, dabei aber doch von nicht wenigen für sehr wichtig genommen wird. Das kommt daher, daß aus seiner sensiblen poetischen Seele in diesem Fall der gemeine Verfolgungswahn aller anderen mit den Insignien allerhöchster Betroffenheit trieft. Dieser Saubermann denunziert also – und die einzige Frage, die den demokratischen Kulturgeist bewegt, heißt: Durfte der das auch? Hat er Beweise? Welche? Quer durch die Feuilletons und „Spiegel“ problematisiert man die Methode des Fertigmachens pro –
„Durfte Biermann Sascha Anderson als Arschloch beschimpfen? Ja, selbstverständlich, weil er auf den Skandal aus war. Durfte er ihn ohne Beweise beschuldigen? Wenn er sie in der Nase hatte und sich nur noch nicht schneuzen konnte, gewiß doch.“ (R. Augstein, „Spiegel“ 4/92)
– und contra:
„Denunziation ist kein Mittel zur Bekämpfung der Denunziation und kein Heilmittel für Verletzungen, die durch Denunziation entstanden sind.“ (SZ 17.1.92)
Und in beiden Fällen ist man sich grundsätzlich einig:
„Die Dichter und die STASI – dieses Kapitel in der deutschen Geschichte muß möglichst unter Vermeidung der Irrtümer der Zeit aufgeschrieben werden“ (Ebd.)
– also wird die Kultur unter Nennung der richtigen Namen, Quellen und Beweise gesäubert, damit da keine Irrtümer passieren und nicht die falschen Dichter weiterdichten dürfen. Und die Literaturwissenschaft sucht selbstkritisch nach den undichten Stellen ihres ästhetischen Sensoriums, durch welche die als „wertvolle deutsche Dichtung“ getarnte STASI-Prosa hat schlüpfen könne.
Manchmal passieren beim fröhlichen Denunzieren aber doch auch Irrtümer, und es werden die Falschen der STASI-Liebschaft verdächtigt. Das ist regelmäßig dann der Fall, wenn der Verdacht auf jemanden trifft, für den wiederum sich andere, die über jeden Verdacht erhaben sind, stark machen. Dann sind
mäßigende Stimmen
zu vernehmen. Beispielsweise im Fall des Kirchen- und Staatsmannes Stolpe. Der gehört zu den informellen Mitarbeitern, die einfach keine IM waren. Der ist zwar – wie man so hört – zum Zwecke einer erfolgreichen Kumpanei von heiligem Geist und weltlicher Macht bei nicht wenigen Mitgliedern der DDR-Nomenklatura ein- und ausgegangen; aber dem wird abgenommen, daß er dabei immer in höherem Auftrag unterwegs war. Bei ihm war der Opportunismus des Sich-Einrichtens, der allen anderen zur Last gelegt wird, so etwas wie tragische Verstrickung; ihm will man schon zugutehalten, daß er an den so schnellen Untergang der DDR einfach nicht glauben konnte und deswegen das Beste aus und mit dem Staat machen wollte, den es nun einmal gab. Offenbar kommt ihm bei seiner erfolgreichen Verteidigung schwer der Amtsbonus eines Trägers kirchlicher Würden zu Hilfe. Denn offenbar ist der Respekt, den die Institution Kirche genießt, einfach so unanfechtbar, daß er ihr auch dort gezollt wird, wo sie ihn nach allen Maßstäben der demokratischen Verfolgungskunst selbst gar nicht verdiente. Denn es mag ja sein, daß Stolpe irgendwann doch noch über die STASI fällt. Daß aber deswegen mit dem Argument „STASI!“ gleich die „Abwicklung“ der evangelischen Kirche ansteht, darf schon bezweifelt werden. Vorerst aber hat der rührige Diener des Herrn seine irdischen Fürsprecher noch, weil denen an seiner Partei- und Staatskarriere liegt. Solange er die hat, ist die ihn betreffende Beweislage so überhaupt gar nicht eindeutig, und solange das so ist, hört das Volk die folgenden besinnlichen Worte:
„Die Bürger in der alten Bundesrepublik dürften sich nicht zu Richtern über Landsleute im anderen Teil Deutschlands aufwerfen, ‚die sich unter schwierigeren Bedingungen als bei uns im Westen um ihre Existenz und Würde zu kümmern und zu sorgen hatten.‘… An die Menschen in den neuen Ländern appellierten Brandt und Schmidt: ‚Laßt euch nicht in eine Psychose hineinreden, als wäret ihr ein Volk von Stasi-Knechten und Denunzianten gewesen.‘ Wer sich an anderen vergangen habe, müsse dafür geradestehen. Aber ‚Selbstgerechtigkeit, Vorverurteilung und Ketzerrichterei‘ gehörten nicht zu den Eigenschaften eines mündigen Volkes.“ (Erklärung von Brandt und Schmidt, FR 22.1.92)
Mitten hinein in den tobenden deutschen Verfolgungswahn, dem schon längst die kleinliche Unterscheidung von „Vorverurteilung“ und „berechtigter Bezichtigung“ abhanden gekommen ist, ergeht die Ermunterung an die Ostbürger, sie sollten sich nicht in das auch noch selbst „hineinreden“, was als Urteil an ihnen gerade vollstreckt wird. Und das Volk Abteilung West erfährt aus gleichem Mund, daß seine Mündigkeit darin besteht, ganz ohne „Selbstgerechtigkeit“ die „Täter“ aus ihren Löchern zu holen. Wie dieses geht, demonstriert die Bildungsministerin des Landes Brandenburg:
„Wir alle müssen uns die Frage stellen, wie sich das Bildungswesen, wie es in der DDR bestand, überhaupt entwickeln konnte, wie es kommen konnte, daß so viele es mitgetragen haben, wie es auch kommen konnte – und hier muß ich die Eltern fragen –, daß so viele ohne Widerspruch akzeptiert haben, was dort in den Schulen mit den Kindern geschah. Bei allem Verständnis, das ich für manche Eltern habe, müssen sie sich auch fragen lassen, ob nicht auch sie zu häufig in ihren Betrieben oder in den Elternversammlungen geschwiegen haben, ganz parallel zum Verhalten vieler Lehrer.“ (M. Birthler, Bündnis 90, FR 5.9.91)
Erst stellt sie „uns allen“ eine Frage. Dann wartet sie überhaupt nicht auf Antwort, sondern „muß“ selbst jemanden fragen, der sich dann gleich von ihr „fragen lassen muß“. Und das einzige, was sie wissen will, ist dann, warum sie bloß Berufsverbote für Lehrer ausspricht und die Eltern ungeschoren davonkommen.
Wenn dann einer das Prinzip dieser über alle Maßen selbstgerechten Abrechnungen verrät -
„Von den Bewohnern der ehemaligen DDR wird im nachhinein verlangt, sie hätten immerzu oppositionell sein müssen, anderenfalls sie sich mitschuldig gemacht haben. Nur wenn sie Opfer waren, dürfen sie heute respektabel gelten.“ (SZ 31.1.92) –,
dann ganz bestimmt nicht deshalb, um für Innehalten zu plädieren. Die sanfte Anspielung auf eine möglicherweise doch leicht übersteigerte Verfolgungslust versteht sich als Auftakt, noch mehr Konsequenz bei dem praktizierten Wahn zu fordern:
„Hier werden unterschiedliche Maßstäbe angelegt:… Mit den Tätern von ehedem sind indes viele Westdeutsche über Jahrzehnte bestens zurechtgekommen. Das soll ganz vergessen sein? Das geht nicht.“ (Ebd.)
Richtig, da fällt uns ja noch manches ein, was an Vergangenem zu bewältigen ist.
STASI-Machenschaften im Westen
Da erinnern wir uns z. B. nur zu gerne an einen Schriftsteller, der eine christliche Partei wegen ihrer Geldquellen schlecht machen wollte. Dafür bezog er Material aus der DDR, weil es bei der „Bundeszentrale für politische Bildung“ in Bonn offenbar nicht so recht erhältlich war. Daß der Mann die Unwahrheit gesagt habe, will keiner behaupten. Die Bezugsquelle seiner Information reicht für den Unwahrheitsbeweis seiner Schrift völlig aus, weil sie nämlich Bände über die Niedertracht seiner Absichten spricht:
„Die CDU/CSU-Fraktion forderte den Ausschluß von Bernt Engelmann aus dem Schriftstellerverband (VS) und dem PEN: Mit seinem offenen Eingeständnis, sich von der Stasi Material für seine Bücher (Wahlkampffinanzierung der CSU) habe zuspielen lassen, entpuppe er sich als ‚Kampagnenschreiber‘, dessen Themen wesentlich von der Abteilung ‚Desinformation‘ des Stasi gesteuert worden sei.“ (FR 29.1.92)
Dann baut sich mit derselben Logik ein Bluthund im Fernsehen auf, legt als seine astreine Quelle die Schnüffler- und Greifertrupps der Zeitung „Super“ dar und dann mit der Behauptung los, der „Enthüllungsjournalist“ Wallraff wäre ein STASI-Spitzel gewesen. Die Beweislage nimmt ihm der Umstand ab, daß Wallraff sich als Kritikaster einen Namen gemacht hat, und wer Nester beschmutzt, in denen er selber hockt, ist ein typischer Fall von „STASI“. Diskreditiert damit ist der Mann Wallraff – und mit ihm die Kritik, die – wie bescheuert auch immer sie war – er an einigen Gebräuchen von demokratischem Journalismus und modernem Arbeitsleben hatte. Und so wird’s gemacht, Originalton ARD-Tagesthemen:
„‚Er ist einer von zigtausend Erfüllungsgehilfen und Nutznießern des Systems der grenzenlosen Ausbeutung und Menschenverachtung.‘ Nicht über sich und den Stasi-Staat schrieb dies Wallraff“ – erstes Verbrechen, denn das wäre doch wohl fällig gewesen. „Es ist der Schlußsatz seines Buches ‚Ganz unten‘, des Bestsellers aller Bestseller, mit dem er Abermillionen schaudernder Leser in die ach so menschenverachtende Wirklichkeit des sozialen Rechtsstaats entließ“. Verbrechen Nr.2, denn in Wahrheit steht die BRD einfach über jeder Kritik und verdient nicht, daß man schlecht von ihr spricht. „Kein Autor hat soviel Suggestion und mediale Wirkung entfaltet wie Wallraff, keiner traf auf ein enthusiasmierteres Publikum, wenn er seine erschwindelten Einblicke in die Schattenseiten unserer Gesellschaft feilbot.“
Geben tut es diese also schon; aber sie zu dramatisieren, anstatt sie abzuhaken, und dafür noch die Unterhaltungslaune der Bürger zu mißbrauchen – die doch wohl nicht verdient haben, daß man ihnen den Frohsinn verdirbt, der sich in diesem lieblich-schattigen Gemeinwesen von allein einzustellen beliebt: Das macht das dritte Verbrechen. Und das vierte folgt sogleich: Er hat verheerend auf das Gemüt unschuldiger deutscher Pimpfe gewirkt, man konnte da aufklären wie man wollte, nichts half:
„Gegenaufklärung gegen die angeblich besonders dokumentarische, oft genug aber gefälschte oder plagiierte Ganz-unten-Wirklichkeit blieb weithin folgenlos. Ganze Generationen von Schülern etwa beziehen ihr Wissen über Wirtschaft und Gesellschaft aus Wallraff-Texten, von ihren Lehrern kaum zur kritischen Betrachtung angehalten. Denn wer wollte an dem martyrerhaften Aufklärerheros zweifeln?“
Der Spuk ist jetzt vorbei. Jetzt wird aufgeklärt, daß es kracht. Jetzt hört das Volk endlich, welchem miesen Rattenfänger es nachgelaufen ist und was es sich alles an falschem Zeug über die BRD hat einreden lassen:
„Nun lassen sich die Zweifel nicht länger wegschieben. Die Details über die Stasi-Kontakte Wallraffs, die die ostdeutsche Zeitung ‚super‘ ausbreitet, sind jedenfalls konkreter und nachprüfbarer als das meiste, was der Auflagenmacher je vorweisen konnte.“
Die liberale „Kritik“ an diesem klassischen Rufmord ließ nicht auf sich warten: So eine üble „Vorverurteilung“; so eine Ungeschicklichkeit „am falschen Ort und zur falschen Zeit“; so ein unseriöser Umgang mit der Journalisten heiligen „Beweispflicht“ bei ehrabschneidenden Denunziationen, einfach bäh. Wenn sich allerdings zeigt, daß Mertes schon den Richtigen hat auffliegen lassen, können und dürfen wir nicht nur, sondern sollen wir auch mit Dreck kübeln, daß uns schön schlecht wird von der Sau:
„In dieser Kritik geht es erst in zweiter Linie um Günter Wallraff. Wenn er für die STASI tätig war, muß das natürlich reportiert werden. Jeder kann, darf und sollte dann, wenn die Behauptungen sich als wahr herausstellen, seine Meinung draufsetzen, selbst wenn sie vernichtend ausfallen sollte.“ (FR,13.2.92)
Wer immer die famose Demokratie BRD für einen so paradiesischen Zustand nicht hielt – wir wissen Bescheid, was den in Wahrheit umgetrieben hat: Die STASI. Die steckte mit ihrer „connection“ nicht nur mit der RAF unter einer Decke, sondern auch hinter so ziemlich allen Skandalen, die jemals ein bißchen schlechtes Licht auf die Republik warfen. Die hat Lübke die Blaupausen gezeichnet, Barschel das Bad eingelassen und Wörner über Kießling „desorientiert“. Und umgekehrt geht es auch. Die ÖTV muß sich vorhalten lassen, mit ihren Kontakten zu DDR-Oberen sich zur Manövriermasse von deren finsteren Absichten gemacht zu haben:
„Es sei ‚erschreckend‘, sich vorzustellen, daß die ÖTV die DDR-Regierung um Unterstützung gebeten und ihrer Berlin-Politik ‚in die Hände gespielt‘ haben könnte.“ (Rüttgers, CDU, SZ 30.1.91)
Selbst die altgedienten ideologischen und politischen Zersetzer des DDR-Staats müssen sich bisweilen nachsagen lassen, daß sie doch zu oft und zu lange den Falschen die Hände geschüttelt hätten, bevor sie sie dann über den Tisch zu zogen. So heißt F. Pleitgen, auch nicht gerade ein Lobhudler des realen Sozialismus, inzwischen der „rote Fritz“, weil er mit dem Sicherheitsdienst um Dreherlaubnisse fürs Fernsehen feilschte. Und was aus den Lorbeerkränzen wird, die sich die großen Ostpolitiker von Bahr bis Strauß bei der ökonomischen und politischen Erledigung der DDR verdient haben, wird man vielleicht auch noch erfahren.
VI. Das Fazit
Ob mit oder ohne Recht: Der Verfolgungswahn unter der Kampfparole „STASI!“ macht den ostdeutschen Neubürgern den Prozeß, und zwar ziemlich unterschiedslos und umfassend.
Da büßen die einen, derer man strafrechtlich habhaft wird, weil werden will, gleich mit Knast dafür, ihrem verbrecherischen Staat gedient zu haben. Anderen wird wegen desselben Delikts höchstförmlich die weitere Berufsausübung in ihrem neuen Gemeinwesen verboten. Und über dem ganzen Rest des eroberten Volks – „Opfer“ hin, „Täter“ her – hängt das Damokles-Schwert mit der Aufschrift „IM“.
Dafür daß es herabsaust, sorgen schon die hiesigen Geheimdienste. Die wissen nämlich auf ihre Art auch, was sie an der STASI-Hinterlassenschaft haben, und greifen bei den allfälligen Überprüfungen der politischen Gesinnungstreue der Neubürger gerne auf die Fleißaufgaben ihrer verflossenen Konkurrenz zurück.
Und dafür sorgen die öffentlichen Organe von „Bild“-Zeitung bis „Tagesthemen“, die in der Demokratie sorgfältig auf die moralische Lauterkeit der Bevölkerung achten – gleichfalls unter Anwendung derselben Methoden und Techniken politischer Gesinnungsschnüffelei, die sie im Fall der STASI für so unerträglich halten.
Wo dann ein „IM“ gestellt wird, ist Schluß mit seiner bürgerlichen Laufbahn als Pförtner, Dichter, Briefträger oder sonstwas. Es ist nämlich nach richterlich besiegelter Auffassung weder einem öffentlichen noch einem privaten Arbeitgeber „zumutbar“, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Die Berufsverbote, die so auf dem Amtsweg erlassen werden oder sich ohne ihn einfach einfinden, sind durchaus beabsichtigt. Es soll keiner hier sein unbehelligtes Auskommen haben, der gestern noch dem Feindstaat mitgeholfen hat, sich am Leben zu halten. Er ist ein „Deutscher zweiter Klasse“, dem zwar die große Ehre gewährt wird, Bürger dieser schönen Republik zu sein, dem aber die Beteiligung an den normalen Wegen des Erwerbslebens verwehrt gehören. Geduldet wird er, weil er nun einmal Deutscher ist – obwohl er das gar nicht verdient hat.
Daß Freiheit und Marktwirtschaft nicht für ihn da sind; daß er jetzt gerade das Pech hat, von beiden nicht gebraucht zu werden, – das wäre zwar die Wahrheit. Aber genau die sagt ihm so ja keiner. Was man ihm statt dessen bis zum Überdruß und mit allen Instrumenten demokratischer Überzeugungskunst zu verstehen gibt, läuft darauf hinaus, daß er sich überhaupt nicht zu wundern braucht, wenn und daß aus ihm nichts mehr wird. Soll er doch bloß mal seine üble Vergangenheit anschauen, wo er herkommt, wem er gedient hat und wer alles seine Kumpane waren. Dann haben ihm zwar sein neuer Staat und alle in ihm praktisch geltenden Interessen seine Lebenschancen verwehrt. Aber gleichzeitig wird er sein Lebtag lang darauf festgelegt, daß er wegen Beihilfe zum Verbrechen DDR selbst daran schuld ist.
Ansonsten kann er natürlich, wenn ihm keiner was nachweist, tun und lassen, was immer er will. Er ist ja frei und niemand kommandiert ihn zu irgendwas. Mit der Schuld, die er in der Vergangenheit auf sich geladen hat, muß er allerdings auch alleine fertig werden. Zumindest solange, bis sie ihm von seinen neuen Herren vergeben wird, weil seine Dienste für Deutschland, mit denen er sich jetzt umsonst anbietet, auch tatsächlich wieder gefragt sind.