Zuschrift zu ‚Die Psychologie des bürgerlichen Individuums‘

Ein Leser hat Einwände gegen die in unserem Verlag erschienene Schrift über die ‚Psychologie des bürgerlichen Individuums‘ und sieht sich zu ein paar Seiten ... Klarstellungen veranlasst. Sein Urteil über den dritten Teil dieser Abhandlung, in dem wir die fortgesetzten Bemühungen des bürgerlichen Subjekts, sich in der Welt der Konkurrenz zu bewähren, als Grund für die uns wie auch dem Verfasser der Zuschrift bekannten Formen selbstzerstörerischer Verstandes- und Willensbetätigung darlegen, fällt vernichtend aus.

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Zuschrift zu ‚Die Psychologie des bürgerlichen Individuums‘

Ein Leser hat Einwände gegen die in unserem Verlag erschienene Schrift über die ‚Psychologie des bürgerlichen Individuums‘[1] und sieht sich zu ein paar Seiten ... Klarstellungen veranlasst. Sein Urteil über den dritten Teil dieser Abhandlung, in dem wir die fortgesetzten Bemühungen des bürgerlichen Subjekts, sich in der Welt der Konkurrenz zu bewähren, als Grund für die uns wie auch dem Verfasser der Zuschrift bekannten Formen selbstzerstörerischer Verstandes- und Willensbetätigung darlegen, fällt vernichtend aus.

Unsere Erklärung von Neurosen sei völlig verkehrt, einfach nicht zutreffend. Bei ihr handle es sich um ein Wahnsystem, das „der eigenen Logik gegen die Realität [folge]“. Faktum, und im Übrigen allgemein bekannt, von uns aber völlig außer Acht gelassen, sei hingegen, dass Neurosen ihren Grund in der Kindheit haben. Damit, dass diese Tatsache von uns sträflicherweise einfach komplett ignoriert wurde, stehe das gesamte Buch ... gewissermaßen auf falscher Grundlage. Die normale subjektive Gestörtheit wird nicht in Betracht gezogen. Das Entscheidende in der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sei nämlich, inwiefern sie in einer Umgebung von wohlwollender Zuwendung aufwachsen; maßgebend sei, ob das Kind in seinen Regungen begrüßt werde und ihm angemessene Grenzen gesetzt werden oder ob ihm feindlich begegnet werde. Prägend seien die familiären Beziehungen deswegen, weil Kinder und Jugendliche von den Erwachsenen, die für sie zuständig sind, abhängig sind.

Daraus ergibt sich für den Verfasser der Zuschrift zwanglos folgende Erklärung von Neurosen: Wird dem Kind von denjenigen, die für es zuständig sind, die zu seiner Entwicklung nötige Zuwendung versagt, erfährt es dies als existenzielle Bedrohung seiner selbst. Es bekommt Angst. Das ist der Grund von Neurosen. Die Angst wird verstärkt, weil das Kind mit Wut auf seine Missachtung reagiert. Die Feindseligkeit, die verdrängt werden muß, beschleunigt Angstgefühle, weil Feindseligkeit gefährlich ist, wenn sie sich gegen jemand richtet, von dem man sich abhängig fühlt. (Hier zitiert der Verfasser die Psychoanalytikerin Karen Horney, Neue Wege in der Psychoanalyse, S. 61.) Die Neurose sei nichts anderes als ‚die Lösung‘ dieses Konflikts, der darin bestehe, dass das Kind in einer Abhängigkeit stehe, die Anpassung gebiete, diejenigen, von denen es abhängt, ihm aber als feindlich entgegentreten. Das Kind hat keinen bzw. nur eingeschränkten Raum, Vertrauen in die eigenen persönlichen Regungen, also Selbstvertrauen, zu entwickeln. Es ist in der fatalen Lage, mit den bedrohlichen Beziehungen in der Außenwelt umgehen zu müssen. Darauf reagiere es, indem es zu seiner eigenen Selbstbehauptung ein Ideal von sich entwickelt: Obwohl bzw. gerade weil der Umgang mit der feindlichen Welt selbstverleugnende Notlösung ist, phantasiert sich das Kind darin als großartig und überlegen. Der Mensch entrinne dem peinlichen Gefühl der Nichtigkeit, indem er sich in seiner Einbildung in etwas Hervorragendes verwandelt (hier nochmal Horney, S. 74). Und der Verfasser weiter: Sicherheit gewinnt das Kind über die Selbstidealisierung gegen die Realität. Insofern ist sie lebensrettend und wird fester Bestandteil der Persönlichkeit. Wenn sich die Umgebung des Kindes nicht ändert, versteinert das unrealistische Selbstbild. Neurotische Entwicklung ist keine temporäre Verstellung, die so lange dauert, wie das Kind von den Erwachsenen wirklich abhängig ist und von der es dann wieder lassen kann. Die Anpassung und die damit verbundene Selbstidealisierung ist kein reflektierter, sondern ein unbewusster Prozess zur Abwehr bzw. Bewältigung durchdringend empfundener Hilflosigkeit. Daher chronifizieren die dabei angenommenen Züge. So werden aus neurotischen Kindern neurotische Erwachsene.

Die bürgerlichen Verhältnisse seien im Zusammenhang mit der Entwicklung neurotischer Persönlichkeiten in einem ganz anderen Sinne von Bedeutung, als davon in ‚Psychologie des bürgerlichen Individuums‘ die Rede ist. Nämlich nicht darin, dass die Stellung gegenüber der Welt der Konkurrenz, die Kindern und Jugendlichen vermittelt wird, hierfür maßgebend wäre, sondern weil die für die Entwicklung des Kindes schädlichen Familienbeziehungen unter diesen Verhältnissen eher die Regel als die Ausnahme seien; es seien Familien-Beziehungen entsprechend der kapitalistisch verfassten Gesellschaft, die der Entwicklung der Kinder abträglich seien, entnimmt unser Kritiker den Studien, die der Psychologe Horst Eberhard Richter in seinem Buch Eltern, Kinder und Neurosen veröffentlicht hat. Neurotische Eltern machen neurotische Kinder, aber nicht [!] vermittels Inhalten zur Stellung in der bürgerlichen Welt, sondern indem die Kinder für die eigenen Bedürfnisse ausgenutzt werden. Mehrmals betont der Verfasser der Zuschrift uns gegenüber diese Negation: Wenn Kinder z.B. auf Erfolg getrimmt werden, dann sind in erster Linie nicht [!] die falschen Inhalte über das persönliche Bewähren in der Konkurrenz das Problem, sondern die Härte gegenüber dem Kind, insofern es dadurch mitbekommt, dass es mit Schwächen nicht erwünscht ist. Solche neurotischen Familienbeziehungen sind nach Ansicht des Verfassers, der sich darin als Kritiker der bürgerlichen Verhältnisse zu erkennen gibt, in diesen nicht zufällig verbreitet, vielmehr die Regel, weil die Konkurrenzgesellschaft einfach gut zu Neurotikern passt. Die Ideologien, wie sie in der ‚Psychologie des bürgerlichen Individuums‘ beschrieben sind, machen sich nicht nur, aber auch Neurotiker zu eigen. Sie stellen Wege dar, neurotische Bedürfnisse zu rechtfertigen und zu befriedigen, da sie gesellschaftlich verbreitet und durchgesetzt sind. Sie eignen sich sehr gut zur Rationalisierung, dazu, sich selbst und anderen was über die Begründetheit und Berechtigung des eigenen Handelns vorzumachen, indem es auf objektive Notwendigkeiten zurückgeführt wird.[2])

Antwort der Redaktion

Der Rezensent unserer Broschüre hält unsere Erklärung von Neurosen für völlig verkehrt, eine kolossale Fehleinschätzung menschlicher Psychologie. Wir hätten da schon gerne gewusst, warum. Aber die Mühe darzulegen, welche Argumente ihm inwiefern nicht einleuchten, warum an welcher Stelle die Erklärung daneben liegt, erspart er sich und stellt einfach seine Sicht dagegen. Eine verbreitete, deswegen aber noch lange nicht zu akzeptierende Unart, Kritik zu üben: Der Kritiker erklärt die Theorie, gegen die er sich wendet, für krachfalsch und denkt gar nicht daran, seine Kritik auch durchzuführen. Für daneben und unmöglich erklärt er die damit einfach abservierte Argumentation auf eine andere Art – nämlich indem er unserer Theorie die seine als Gegenthese entgegenstellt; aber leider auch das nicht in der Form, dass er nun wenigstens für seine Erklärung von Neurosen argumentieren und damit um unsere Zustimmung werben würde, sondern unter Verweis darauf, dass die von ihm vertretene Auffassung allgemein anerkannt sei. Weil sie das ist, meint er, für sie gar nicht erst argumentieren zu müssen, sondern sie uns einfach als Faktum entgegenhalten zu können, dem wir unsere Anerkennung doch nicht verweigern dürfen. Seine Auffassung über das Zustandekommen einer Neurose präsentiert er uns in der Form einer Schilderung, die den Anschein erweckt, sie hätte den Ablauf eines vielerorten beobachtbaren und deswegen vernünftigerweise auch nicht zu bezweifelnden faktischen Geschehens zum Inhalt: Ein Kind erfährt von seinen Eltern oder seinen sonstigen Bezugspersonen, auf die es angewiesen ist, nicht die liebevolle Zuwendung und Anerkennung, die es für eine gesunde Entfaltung seines Selbst braucht, also kriegt es Angst bzw. Wut, die es in zerstörerischen Weise gegen sich selber richtet, weil es sie nicht gegen die richten kann, von denen es abhängt. Die Folge ist ein Defekt, den es als Erwachsener dann ein Leben lang mit sich herumträgt und der sich in der Weise äußert, dass sich die Person neurotisch benimmt – eben so, wie es im privaten wie im öffentlichen Leben, unter Kollegen, im Familienkreis, in der Schule usw. vielfach zu beobachten ist.

Ein Faktum in dem Sinne ist an der ganzen Schilderung allerdings bestenfalls eines – das Resultat: Die Welt ist von gar nicht so wenig Verrückten besiedelt, die wahlweise oder gerne auch abwechselnd von ihrer Nichtigkeit überzeugt sind bzw. davon, dass sie großartig und überlegen sind, dieses Selbstbewusstsein nicht nur mit sich herumschleppen, sondern rücksichtslos gegen die Sachzwänge, denen sie sich zu akkommodieren haben, und die Berechnungen, mit denen sie sich auf sie einlassen, praktisch ausleben, mehr oder weniger vollständig zum ganzen Inhalt ihrer Auseinandersetzung mit sich und der Welt machen und damit auffällig werden. Dieses Phänomen, um dessen Erklärung sich unser Kritiker, aber auch wir uns in unserer ‚Psychologie des bürgerlichen Individuums‘ bemühen, wird in der vermeintlichen Schilderung nicht einfach als solches wiedergegeben, sondern unter Zuhilfenahme der einschlägigen psychologischen Theorie interpretiert. Das Verhalten des Neurotikers wird erstens als Ausdruck oder Symptom einer ihm zugrundeliegenden psychischen Störung gefasst, und diese ihrerseits auf eine gestörte Persönlichkeitsentwicklung in der Kindheit zurückgeführt. Das sind immerhin zwei theoretische Schritte, die als solche gewürdigt sein wollen und nicht einfach als faktisch gegebene Zusammenhänge zu behandeln sind.

Bereits mit dem ersten erfährt das zu erklärende Phänomen eine Verwandlung. Der Neurotiker wird von vornherein gar nicht erst genommen als einer, der in besonderer Weise fühlt, seinen Verstand betätigt, sich die Welt und seine Lage erklärt, Entschlüsse fasst und die auch in die Tat umsetzt. Dass hier einer Willen und Bewusstsein in einer verrückten Weise betätigt, davon wird abstrahiert, indem sein Verhalten zur Äußerung einer Funktionsstörung der Seele erklärt wird, die der psychologischen Theorie zufolge im Normalfall so funktioniert, dass das Individuum mit einem intakten Selbstbewusstsein durchs Leben kommt, im Falle ihrer Störung aber die betreffende Person zum Neurotiker werden lässt. Nach dieser Theorie ist es gar nicht sie, die betreffende Person, die sich verrückt benimmt, sondern es ist der Seelendefekt, der ihr Denken und Tun determiniert und sie – ohne dass ihr selber dieser Zusammenhang bewusst wäre – zum Getriebenen der diagnostizierten Störung macht. Mit dieser Diagnose dokumentiert die Psychologie, auf deren Theorie unser Kritiker in seiner Schilderung zurückgreift, ihr Desinteresse an einer Erklärung, die den an den Gedanken und dem Verhalten eines Verrückten auffindbaren Bestimmungen nachgehen würde. Sie löst das zu erklärende Phänomen gedanklich auf in einen Zusammenhang, in dem beide Seiten – das neurotische Verhalten und der ihm zugrundeliegende psychische Defekt – tautologisch so aufeinander verweisen, dass jede für sich unbestimmt bleibt: Das verrückte Verhalten wird gar nicht für sich, sondern nur als Äußerung einer ihm zugrundeliegenden Persönlichkeitsstörung in Betracht gezogen, und diese ihrerseits geht darin auf, sich in dem gestörten Verhalten zu äußern.[3]

Die Gewissheit, dass die Gründe der Verrücktheit in der Kindheit des Verrückten zu suchen sind, erarbeitet sich die Psychologie – und mit ihr unser Kritiker – mittels eines zweiten, für sich genommen nicht minder tautologischen, sich ebenfalls zirkulär begründenden ‚Schlusses‘; nämlich von der gestörten Persönlichkeit auf eine Persönlichkeitsentwicklung, die ihrerseits gestört verlaufen sein muss – sonst wäre ihr Resultat ja eine normale und keine gestörte Persönlichkeit, die sich in einem entsprechend gestörten Verhalten äußert. Mit ihm gelangt man überhaupt erst an den Ausgangspunkt der Schilderung, mit der uns unser Kritiker das Zustandekommen einer Neurose verständlich machen will. Die Leistung dieses ‚Schlusses‘ besteht darin, dass mit ihm ein Begründungszusammenhang zwischen zwei sehr verschiedenen Sachverhalten postuliert wird, der dem Inhalt nach alles andere als auf der Hand liegt: Zwischen der Kindheit, in der der Mensch manche Unbill erlitten haben mag, und dem Phänomen, dass derselbe Mensch Jahre und Jahrzehnte später unter ganz anderen Voraussetzungen und Umständen mit sich und seiner Umwelt nicht mehr zurechtkommt.

Allerdings ist das Kind, das unser Kritiker an den Anfang seiner Erklärung stellt, nicht einfach Kind: ein unselbständiges, in vielerlei Hinsicht noch unfertiges Menschenwesen, das seine Subjektivität überhaupt erst noch ausbilden und sich mit dieser in die Welt hineinfinden muss. Es wird als ein Individuum vorstellig gemacht, das von vornherein mit einem ausgeprägten Selbstbewusstsein ausgestattet ist und dieses in eindeutigem Sinn betätigt: Es ist ganz und gar dadurch bestimmt, dass es in seinen Regungen begrüßt sein will, und subsumiert alles, was ihm von Seiten seiner Eltern oder seines sonstigen menschlichen Umfeldes widerfährt, der Frage, ob ihm wohlwollende Zuwendung zuteil wird. In seiner Schilderung geht unser Kritiker von der Voraussetzung aus, dass die Frage der Anerkennung, mit der sich der Verrückte verrückt macht, bereits im Kopf des Kindes den Verstand vollständig besetzt und jeden Gedanken bestimmt. So, wie er das Kind fasst, denkt dieses in nuce bereits so wie der Verrückte, der sich durch seine Persönlichkeit zum Versager verurteilt oder zum einzigartigen Genie geboren wähnt. Mit dieser Unterstellung löst sich der ‚Schluss‘ vom Verhalten des Verrückten auf dessen Kindheit, in der die Gründe seiner Verrücktheit zu suchen sind, vollends in eine Tautologie auf, weil mit ihr das, was zu erklären wäre – eben der Standpunkt, mit dem der Verrückte praktisch Ernst macht –, nur vom Verrückten aufs Kind verschoben wird.

Dass ein Individuum alles, was ihm begegnet, auf sich bezieht und zwar in der einsinnigen Weise, dass es darin nach einer Bestätigung seiner selbst sucht, dem Gelingen dieser Veranstaltung so viel Bedeutung zumisst, dass es in allem, was es tut und womit es zu tun kriegt, immer nur mit sich befasst ist und sich die ganze Welt ganz um sein ureigenes Ich zu drehen scheint, versteht sich für unseren Kritiker so sehr von selbst, dass er Willensinhalte und Maßstäbe der Wahrnehmung und der Beurteilung, die ihm von den Insassen der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft her vertraut sind, in das Kind hineinverlegt. Liebevoll erläutert er uns Techniken und Strategien, mit denen das anerkennungssüchtige Wesen, als das er das Kind vorstellig macht, seinen Seelenhaushalt bewirtschaftet, dessen Bemühungen, Vertrauen in die eigenen persönlichen Regungen, also Selbstvertrauen, zu entwickeln, sowie die Schwierigkeiten, die es im Ringen um seine Selbstbehauptung und bei der Ausbildung einer Ich-Stärke zu bewältigen hat – und bestreitet uns gegenüber mehrmals ganz entschieden, was eigentlich kaum zu übersehen ist: dass hier – in verfremdeter Form, schließlich redet er über das Kind – von den eigentümlichen Anstrengungen eines Konkurrenzsubjekts die Rede ist, das in einer ganz abstrakten Weise von der Überzeugung beherrscht ist, sich bewähren und durchsetzen zu müssen. Keinen Moment lang fragt er sich, was für Geistesleistungen ein Subjekt hinter sich hat und welche es vollbringt, wenn es die Frage, was ihm das Leben schwer macht, weit hinter sich lässt und sich zu dem Standpunkt vorarbeitet, dass es einzig und allein darauf ankommt, Stärke zu zeigen und sich erfolgreich als Person zu präsentieren, die sich behaupten kann und als dem Leben gewachsen erweist.

Auf diesen Standpunkt der ideellen Selbstbehauptung, mit dem sich das bürgerliche Konkurrenzsubjekt, lange bevor es im klinischen Sinne verrückt wird, die Verrücktheit leistet, komplett vom objektiven Gehalt dessen zu abstrahieren, woran es sich abarbeitet und womit es zu tun kriegt, wenn es arbeiten geht, mit dem Vermieter oder dem Nachbar in Streit gerät, mit der lieben Familie in Urlaub fährt oder zur Stimmabgabe bei der nächsten Bundestagswahl aufgerufen ist, bezieht sich unser Kritiker total konstruktiv. Seine ganze Betrachtung des Kindes, in das er diesen Standpunkt hineinverlegt, lebt von der Überzeugung, dass die Beziehung des Individuums zu sich überhaupt die Substanz ist, um die es im Leben der Individuen ganz allgemein, d.h. unabhängig von den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen es stattfindet, geht; das Selbstbewusstsein ist seiner Auffassung nach der Dreh- und Angelpunkt der Persönlichkeitsentwicklung; an ihm entscheidet sich nicht nur deren Ge- oder Misslingen, sondern mit ihr gleich auch noch das weitere Schicksal der Person in ihrem späteren Leben. Darin denkt er wie jeder Anhänger der psychologischen Weltsicht, und wenn so einer Kindern begegnet, die womöglich tatsächlich schon nichts anderes mehr im Kopf haben als ihr Ich, dessen Befinden, ihr Selbstbewusstsein oder beschädigtes Selbstwertgefühl und nur noch unter solchen Gesichtspunkten ihre Umwelt würdigen, sieht er sich nicht zu der Frage veranlasst, warum dies so ist und woher sie derlei Maßstäbe haben, sondern er sieht sich in seiner Auffassung bestätigt, dass es im Leben der Menschen darum geht, ein gelungenes Verhältnis zu sich hinzubekommen.

Die Entwicklung vom Kind, das um sein Selbstvertrauen ringt, zum Erwachsenen, der an einer Neurose leidet, geht in den Ausführungen unseres Kritikers auf dieser Grundlage ihren Gang. Dem Scheine nach jedenfalls, denn seine Schilderung der Abläufe, mit denen das Unglück scheinbar folgerichtig und zwangsläufig seinen Lauf nimmt, ist von A bis Z vom feststehenden Ergebnis her konstruiert. Sie lebt von Anfang an von der Unterstellung, dass sich in der Kindheit des an einer Neurose leidenden Menschen Dinge ereignet haben müssen, die die betreffende Person aus der Bahn geworfen haben – sonst hätte sich die ja normal entwickelt. Von dieser Unterstellung ausgehend werden Dinge, die sich so oder so ähnlich noch in jeder Kindheit auffinden ließen, zum Beginn einer fatalen Fehlentwicklung aufbereitet. Ein Mangel an Zuwendung, der das Kind daran gehindert hat, Vertrauen zu sich zu gewinnen, leistet da zur Begründung dasselbe wie ein Zuviel davon, welches dazu geführt hat, dass das Kind keine Ich-Stärke aufbauen konnte; zu viel Härte in der Erziehung, die das Kind als Missachtung seiner selbst oder als prinzipielle Feindseligkeit gegen sich missverstehen musste, lässt sich so genauso als bestimmendes Ereignis für die weitere Entwicklung des Kindes plausibel machen wie zu viel Freiheit, die man dem Kind – aus Gleichgültigkeit oder falsch verstandener Elternliebe – gelassen hat, so dass ihm die führende Hand gefehlt hat, die ihm durch das Ziehen angemessener Grenzen Sicherheit im Leben hätte geben können.[4]

Weil das Gefühl, das sich den Erläuterungen unseres Kritikers zufolge als Folge des Mangels (oder auch Übermaßes) an Liebe, Führung oder Zurechtweisung, den das Kind erfährt, einstellt – es bekommt Angst –, mit dem, was unser Kritiker mit Blick auf das Beweisziel, das er mit seiner Geschichte verfolgt, aus diesem Gefühl schon mal macht – Das ist der Grund von Neurosen – in überhaupt keinem erkennbaren Zusammenhang steht, schiebt er zur Plausibilisierung dieses Zusammenhangs, der keiner ist, Erläuterungen nach: Die Angst wird verstärkt, weil das Kind mit Wut auf seine Missachtung reagiert, diese Wut aber nicht gegen diejenigen richten kann, die ihm gebührende Beachtung schuldig bleiben, weil es von denen existenziell abhängig ist. Hier fließt in die Geschichte unter der Hand die bereits besprochene Unterstellung ein, dass das Kind seiner Umwelt in dem Bewusstsein entgegentritt, dass es ein Recht auf Anerkennung hat – dessen Missachtung macht es ja wütend. Es fällt unserem Kritiker aber überhaupt nicht ein, die Natur dieses Standpunkts zu ergründen, sondern stattdessen wird einem aus der Perspektive des Kindes, dem er diesen Rechtsstandpunkt unterjubelt, einfühlsam das Problem erklärt, das die Abhängigkeit von seinen Eltern für ein Wesen mit derart ausgeprägtem Rechtsbewusstsein darstellt: Die im Verhältnis zu den Eltern gebotene Anpassung wird ihm zum Problem, wenn es diese Leistung nicht im Bewusstsein der eigenen Freiheit erbringen kann, sondern – weil ihm die Anerkennung versagt bleibt – als Unterwerfung unter eine ihm feindlich gesonnene Umwelt begreifen muss. Dann, argumentiert unser Kritiker weiter, geht das Kind zur Selbstidealisierung über und phantasiert sich ... als großartig und überlegen, um dem Gefühl der Nichtigkeit zu entgehen und nicht an ihm verzweifeln zu müssen.

Hier zeigt sich: Unser Kritiker ist auf seine Weise mit der Psychologie des bürgerlichen Individuums durchaus vertraut. Er redet über eine Subjektivität, die ziemlich genau so tickt, wie wir es in den hinteren Paragraphen unserer ‚Psychologie des bürgerlichen Individuums‘, in denen unsere Erklärung derselben angeblich in ein Wahnsystem übergeht, erläutern: über ein Individuum, das Anpassungsleistungen erbringt, bis zum bitteren Ende sich selbst gegenüber darauf besteht, dass es diese aus freiem Willen erbringt, sich dafür Bestätigungen sucht und eben auch wahnhafte Auffassungen über sich und seine Auseinandersetzung mit der Welt zulegt. Er will nur nichts davon wissen, dass in diesen Bestimmungen, die sich alle in seinen Ausführungen finden, die besondere Weise in Erscheinung tritt, in der das bürgerliche Individuum seine Subjektivität betätigt; die Eigenart, die das bürgerliche Konkurrenzsubjekt im Zuge seiner fortgesetzten Bemühung, sich zum entscheidenden Erfolgsmittel in der Konkurrenz herzurichten, an sich ausbildet.

Uns hält er entgegen, wir würden die Wucht der ‚Lehre‘ einer Fremdbestimmung, die gegen das Kind gerichtet ist, nicht erkennen, welche ‚Lehre‘ eben darin besteht, dass sich das Kind in dem, was es zu tun und zu lassen hat, nicht als selbst-, sondern als fremdbestimmt begreift, und stattdessen in unserer Broschüre immerzu von der Welt der Konkurrenz und der Stellung zu ihr reden. Und er hält dies für unseren großen Fehler, weil wir damit die normale subjektive Gestörtheit außer Acht lassen würden, die seiner Auffassung nach darin ihren Grund hat, dass Kindern die für ihre Entwicklung nötige Zuwendung versagt bleibt. Dabei weigert er sich nur standhaft, zur Kenntnis zu nehmen, dass es die Insassen dieser Welt der Konkurrenz, aus der auch er sein Anschauungsmaterial bezieht, sind, die sich immerzu mit der für sie so ziemlich alles entscheidenden Frage herumschlagen, ob sie sich in dem, was sie in dieser ‚Welt‘ tatsächlich sind und tun, noch als selbstbestimmt begreifen können, und, wenn sie daran scheitern, an dem abschlägigen Urteil, das sie dann über sich fällen, verzweifeln. Und er weigert sich deswegen, dies zur Kenntnis zu nehmen, weil er sich dazu entschieden hat, es für normal – im Sinne von: verständlich, nur allzu menschlich, keiner weiteren Erklärung bedürftig – zu halten, dass sich ein Individuum mit dieser ‚Frage‘ herumschlägt.[5]

So scheitert er auch an der Erklärung des Übergangs von dem, was er normale Gestörtheit nennt, zur Neurose oder sonstigen klinischen Verrücktheit. Für ihn erklärt sich dieser Übergang damit, dass sich das, was er uns als lebensrettende Strategie des auf Anerkennung angewiesenen Kindes im Umgang mit einer von ihm als lebensbedrohlich empfundenen Lage verständlich gemacht hat – es imaginiert sich als toller Hecht –, verselbständigt. Seine Erklärung ist damit eigentlich auch schon fertig: Die Selbstidealisierung, mit der das Kind darauf reagiert, dass es den nötigen Zuspruch gerade von denjenigen nicht bekommt, von denen es existenziell abhängt, gewinnt irgendwie bleibenden Charakter. Sie

„wird fester Bestandteil der Persönlichkeit.“ „Wenn sich die Umgebung des Kindes nicht ändert, versteinert das unrealistische Selbstbild.“ „Neurotische Entwicklung ist keine temporäre Verstellung, die so lange dauert, wie das Kind von den Erwachsenen wirklich abhängig ist und von der es dann wieder lassen kann. Die Anpassung und die damit verbundene Selbstidealisierung ist kein reflektierter, sondern ein unbewusster Prozess zur Abwehr bzw. Bewältigung durchdringend empfundener Hilflosigkeit. Daher chronifizieren die dabei angenommenen Züge.“

Mit den Stichworten ‚Prägung‘, ‚Versteinerung‘ und ‚Chronifizierung‘ hangelt sich unser Kritiker – wie jeder Psychologe – erst einmal über den Widerspruch hinweg, den er mit seiner Theorie in die Welt setzt: Dieser Theorie zufolge bleibt der Mensch ja gestört, auch wenn die Gründe, die für seine Gestörtheit verantwortlich sein sollen, entfallen sind. Es sind Chiffren für den Gedanken, dass die Ursache des Leidens ihre Wirksamkeit behält, nachdem sie nicht mehr vorhanden ist. Und diesen Gedanken buchstabiert unser Kritiker weiter aus, indem er uns erläutert, wie man sich das zu denken hat. Er klärt uns auf, wieso das Kind, nachdem es die Abhängigkeit von seinen Eltern hinter sich gelassen hat, damit nicht auch von den Drangsalen befreit ist, die ihm in und wegen dieser Abhängigkeit widerfahren sind, und wieso es dann nicht mit einem gesunden Hass auf seine missratenen Eltern von seiner Selbstidealisierung Abstand nimmt: Diese Selbstidealisierung ist nichts, was das Kind dann wieder lassen kann, weil sie sich einem unbewussten Prozess verdankt, dessen Ausgangspunkt das Kind verdrängt. Hier gilt also einmal nicht die lebenspraktische Weisheit: ‚Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.‘ Vielmehr gilt genau umgekehrt, dass der Mensch mit der erfolgreichen Verdrängung des ursprünglich ursächlichen Konflikts – die zwar niemand anderer als er ins Werk gesetzt haben kann, von der er aber zugleich nichts mehr wissen darf – nicht mehr Herr seiner selbst ist, sondern – zwar in seinem Fühlen, Denken und Handeln, aber unbewusst – von pathologischen inneren, von seinem Willen unabhängigen, ihn determinierenden Kräften beherrscht wird, die sich einem Konflikt verdanken, der mit seiner Verdrängung nicht weg ist, sondern seine Wirkkraft umso mehr im Unbewussten entfaltet.

Mit seiner Erklärung, die ein ganzes Nest von solchen Widersprüchen enthält, leugnet unser Kritiker offensiv, dass sich auch der Übergang von der ‚Normalität‘, in der das bürgerliche Individuum seinen beruflichen und familiären Geschäften nachgeht, zur Verrücktheit, mit der es das nicht mehr hinbekommt und auffällig wird, den Verstandes- und Willensleistungen der betreffenden Person verdankt; nämlich ihrem Entschluss, die Berechnungen aufzugeben, mit denen sie sich bislang auf die Sachzwänge des ‚Lebens‘ eingelassen hat, und den Standpunkt der Selbstbehauptung zu der Sache zu machen, um die es ihr in ihrem Leben geht.[6]

*

Der kritische Rezensent unserer Schrift versteht sich mit der Theorie, die er uns entgegenhält, als Kritiker der gesellschaftlichen Verhältnisse, distanziert sich als solcher von der ‚naturalistischen‘ Instanzenlehre von Freud, und betont stattdessen die in den bürgerlichen Verhältnissen und Familienbeziehungen bzw. an anderer Stelle auch namentlich die in der kapitalistisch verfassten Gesellschaft liegenden Ursachen für Neurosen.[7]

Tatsächlich weiß er manches über die Hässlichkeiten der bürgerlichen Gesellschaft und vor allem über die Familienbeziehungen in ihr zu berichten: Ihm ist geläufig, dass Erziehung in der Familie ein Zurichten, Vorbereiten des Kindes auf das Leben in der bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft ist. Er redet davon, dass sich in der Konkurrenzgesellschaft die Individuen bewähren müssen und sich dieses Sich-Bewähren selber zum Anliegen machen. Er führt an, dass Eltern ihre Kinder dafür mit Leistungsidealen traktieren, auf Erfolg trimmen, ihnen Disziplin beibringen usw. Aber was ist sein Urteil über die von ihm so titulierten bürgerlichen Verhältnisse? Was erfährt man von ihm über die Gesellschaft und die Familienbeziehungen, denen er negative Wirkungen auf die Entwicklung des Kindes nachsagt? Eben nur dies: Dass sie eine denkbar schlechte Bedingung für eine gesunde Entwicklung des Kindes sind; dass sie schädlich, gegen das Kind gerichtet sind, Härte für es bedeuten; vor allem dann, wenn sich die Eltern bei der Aufzucht ihrer Kinder falsch verhalten. Über die bürgerlichen Verhältnisse selber erfährt man damit genau genommen – nichts. Es nützt deswegen auch nichts, wenn er uns gegenüber ausdrücklich klarstellt, dass er ein gegen sich selbst unerbittlich verfolgtes Selbst-Ideal in eben diesem Sinne durchaus als bürgerliches Phänomen begreift. Für ihn sind die von ihm bürgerlich genannten Verhältnisse hinreichend gekennzeichnet mit Anspielungen auf die unschönen Verkehrsformen in der ‚Ellenbogengesellschaft‘, die bereits im Kindesalter der Psyche zu schaffen machen. Dieser zwischenmenschliche Umgang ist für ihn als Psychologen, der sich dem Gesichtspunkt der Entwicklung eines intakten Selbstbewusstsein verschrieben hat, die Substanz, die die gesellschaftlichen Verhältnisse und Beziehungen, welche er bürgerlich oder kapitalistisch nennt, ausmacht. Sie haben für ihn keinen anderen Inhalt als den, dass sie – insbesondere in Bezug auf die Kinder – schädlich sind für das seelische Gleichgewicht der Beteiligten, und die aus dem seelischen Gleichgewicht Gebrachten dann den verkorksten Umgang miteinander pflegen, der für die Entwicklung des Kindes keine gute Bedingung ist. Ganz im Sinne dieses, was die gesellschaftlichen Verhältnisse selber anbelangt, gänzlich unbestimmten Urteils, das er als Anhänger der psychologischen Betrachtungsweise über die von ihm so titulierte kapitalistisch verfasste Gesellschaft fällt, zitiert er den unter Psychologen zirkulierenden, fast schon selbstironisch klingenden Gemeinspruch: Neurotische Eltern machen neurotische Kinder. Man muss nur noch die erste Hälfte ergänzen, die sich als Summe aus seiner Erklärung des neurotischen Verhaltens aus einer gestörten Entwicklung der kindlichen Persönlichkeit ergeben hat: ‚Und aus neurotischen Kindern werden neurotische Erwachsene‘, dann steht einem die Leistung der Theorie, die uns unser Rezensent entgegenhält und auch der Gehalt der Bücher, die er zitiert, vollständig vor Augen.

Diese Theorie des neurotischen Verhaltens eignet sich gerade aufgrund ihrer Unbestimmtheit, was die ‚Beziehungen‘ anbelangt, über die Erklärung des Verrückten hinaus hervorragend dafür, sie zu einer ganzen Gesellschaftstheorie auszubauen, mit der sich der Anspruch verbinden lässt, dass mit ihr das eigentlich Wesentliche über Kapitalismus, Konkurrenzgesellschaft und bürgerliche Familie gesagt sei. Man muss sich dazu nur zu der Position entschließen, die uns unser Kritiker nahelegt, dass die bürgerlichen Verhältnisse im Zusammenhang mit der Entwicklung neurotischer Persönlichkeiten in ganz anderem Sinn von Bedeutung sind, als wir das in unserer Broschüre erläutern. Man braucht sich nur klarzumachen, dass Konkurrenzgesellschaft und Neurotiker auf alle Fälle gut zusammenpassen, dann lässt sich von diesem Ausgangspunkt aus die in gesellschaftskritischer Absicht angezettelte Reflexion auf die gesellschaftlichen Ursachen des neurotischen Treibens auch umkehren, und dann kann man sich die Konkurrenzgesellschaft, ihre Verkehrsformen, die in ihr herrschenden Anschauungen und sittlichen Maßstäbe aus den Bedürfnissen des Neurotikers verständlich machen:

„Sie [die Ideologien] stellen Wege dar, neurotische Bedürfnisse zu rechtfertigen und zu befriedigen, da sie gesellschaftlich verbreitet und durchgesetzt sind. Sie eignen sich sehr gut zur Rationalisierung“, indem „die Berechtigung des eigenen Handelns ... auf objektive Notwendigkeiten zurückgeführt wird.“

Das ist vielleicht eine Gesellschaftskritik! Zwar ist das Leben in der Konkurrenzgesellschaft zum Verrücktwerden, aber die Verrückten kommen mit ihr andererseits auch wieder gut zurecht, weil sie sich da auf lauter Maßstäbe berufen können, die ihren Bedürfnissen entgegenkommen. So gesehen ist diese Gesellschaft auf eine ganz verrückte Weise dann doch wieder menschengerecht.

Da bleiben wir bis auf weiteres doch lieber bei der Erklärung, die wir in unserer ‚Psychologie des bürgerlichen Individuums‘ aufgeschrieben haben. In diesem Buch finden sich übrigens bereits in der Einleitung jene Grundsätze des psychologischen Denkens auf den Begriff gebracht, denen unser Kritiker in seiner Argumentation uns gegenüber folgt und die, wie es dort heißt, so einfach wie verkehrt sind:

Die Psychologie abstrahiert vom objektiven Gehalt all dessen, womit sich der Mensch befasst, indem sie alles, was er denkt und tut in eine Befassung des Menschen mit sich auflöst:

„Das erste Prinzip besteht darin, den Bemühungen und Taten der Individuen ihren objektiven Inhalt und Zweck abzustreiten. Stets handelt es sich, ergreift ein Psychologe das Wort, um eine Auseinandersetzung der Leute mit sich selbst, mit ihrer Natur zugehörigen Kräften und Instanzen, die aber ihre Wirkung so tun, dass sie der Kontrolle des bewussten Willens ganz oder teilweise entzogen sind. So gegensätzliche Schulen wie die Psychoanalyse und die Verhaltenstheorie werden sich da lässig einig. Für einen Freud war es kein Problem, die literarischen Erzeugnisse eines Dostojewski aus seinem Seelenleben samt Kindheit zu deduzieren; ihm waren Liebe und Arbeit, Studium und Kommunismus gleichermaßen als Strategien zur Vermeidung von Unlust geläufig. Und einem Skinner erscheinen Denken und Sprechen, Staat und Religion als lauter Sonderfälle von durch allerlei Variable bedingtem Verhalten, von Prozessen und Mechanismen, die außer dem Verhaltenstheoretiker keiner kennt.“ (Die Psychologie des bürgerlichen Individuums; Einleitung, S. 9 ff.)

Die Psychologie abstrahiert außerdem auch noch davon, dass der Mensch das, was er tut (auch wenn er sich nur noch mit sich selbst befasst), mit Willen und Bewusstsein tut, indem sie das, was er mit Willen und Bewusstsein tut, als durch ein ihm unbewusstes Eigenleben seiner Seele determiniert erklärt:

„Das zweite Prinzip ist damit schon benannt. Der Mensch mag meinen, er hätte eine Vorstellung von sich und der Welt, würde sich Zwecke setzen und dafür Mittel suchen und schaffen; er mag sich einbilden, einen Verstand nicht nur zu haben, sondern ihn auch ständig zu gebrauchen – die Psychologie belehrt ihn eines anderen: Der freie Wille ist eine Fiktion, es gibt ihn nicht. Aus den in der Tat recht widersprüchlichen bis idiotischen Leistungen des freien Willens verfertigt ein Psychologe genüsslich die Warnung, man solle die ‚Rolle des Bewussten‘ nicht überschätzen – so Freud –, und ‚erklärt‘ das gesamte Treiben der Menschheit als unkontrollierte Äußerung von ‚unbewussten‘ und ‚unterbewussten‘ Kräften. Dabei stört ihn auch nicht die Logik; dem ‚Unbewussten‘ unterschiebt er ohne große Umstände Leistungen des Urteilens, Schließens und der Verstellung, die den bewusst-berechnenden Umgang eines denkenden Subjekts mit der Welt auszeichnen. Die Verhaltenstheorie ist gleich so frei, explizit gegen ‚mentale Konzepte‘ zu Felde zu ziehen und einen ‚Willen‘ per Anführungszeichen für nicht existent zu erklären, weil eine ‚wissenschaftliche Betrachtung des Menschen‘ eben voraussetze, dass ‚Verhalten gesetzmäßig und determiniert‘ sei. Womit ein Skinner sehr direkt auf das Ergebnis zusteuert, das sich auch am anderen Ende des Spektrums psychologischen Denkens einstellt: Ein psychologisch geschulter Kopf und nur er allein kennt die wahren Gründe und geheimnisvollen Hintergründe dafür, dass die Leute arbeiten und essen, spielen und lieben, gehorchen und Verbrechen begehen – während die übrige Menschheit meint und darin irrt, sie würde eben all den bestimmten Tätigkeiten nachgehen, die ihr den lieben langen Tag obliegen oder fällig scheinen.“ (Ebd.)

Die Psychologie bezieht sich auf die Wirklichkeit in der Weise, dass sie diese unter ihre beiden Abstraktionen subsumiert. Darin ist sie Weltanschauung. Sie zieht keine Schlüsse aus der Erfahrung, auch keine verkehrten, sondern wendet ihre fertigen Prinzipien auf sie an und steht damit polemisch gegen jede rationelle Erklärung der Subjektivität:

„Das dritte Prinzip besteht ganz einfach darin, dass die Psychologen ganz offiziell gegen jede Erklärung von Empfindungen und Gefühlen, von Bewusstsein und Sprache, eben des freien Willens vorgehen. Das Dogma der psychologischen Weltsicht, in den – noch nicht einmal bewusst vollzogenen – Techniken der Selbstkontrolle, auf die immerzu verwiesen wird, läge der Schlüssel für die Erkenntnis der ‚eigentlichen‘ Zwecke sämtlicher Taten und Untaten, leugnet eben nicht nur den objektiven Zweck dieser Tätigkeiten; auch die psychologischen Formen, in denen die Menschheit ihre Geschäfte abwickelt, werden dabei mit dem größten Desinteresse betrachtet. Die Bestimmungen der Subjektivität, die allgemeinen wie ihre spezielle Betätigung in der bürgerlichen Gesellschaft, interessieren einen Psychologen stets als das, was sie nicht sind – als ‚Motiv‘ und darum auch schon als Grund für alles und jedes. Einerseits macht es den Vertretern des Faches gar nichts aus, wenn sie bekennen, über die Intelligenz, das Bewusstsein, über Sprechen und Denken etc. nur ‚hypothetische Modelle‘ bieten zu können, und öffentlich verkünden, dass sie womöglich gar keinen bestimmten Gegenstand zu beurteilen haben. Andererseits befriedigen die Instanzenlehre eines Freud und die konditionierten Reflexe eines Skinner durchaus die Bedürfnisse moderner Gelehrter nach einem Weltbild: Sie betrachten eben das Kauf-, Arbeits-, Sexual- und politische Verhalten als psychologisch erklärbar. Manche kommen sich dabei sogar ziemlich kritisch vor, wenn sie in der Werbung Manipulation – raffinierte Konditionierung oder Vereinnahmung des Unterbewussten – entdecken; oder wenn sie den unterlassenen Klassenkampf, faschistisches Mitläufertum etc. aus der Hilflosigkeit von Individuen ableiten, die mangels Ich-Stärke und so Zeug gar nicht anders können.“ (Ebd.)

Literatur

  • Karen Horney: Neue Wege in der Psychoanalyse, München 1977
  • Horst-Eberhard Richter: Eltern, Kinder und Neurosen, Hamburg 1969

[1] Hg. Karl Held, GegenStandpunkt Verlag, München 2002

[2] In Gänze ist die Zuschrift im Anhang nachlesbar.

[3] Auf beiden Seiten dieses Verhältnisses wird nur eine Bestimmung festgehalten: Es liegt eine Störung vor. Mit dieser Diagnose verrät die Psychologie einiges über den praktisch interessierten Standpunkt, mit dem sie sich der Erklärung von Neurosen zuwendet: Dieser Befund lebt nämlich von dem Maßstab, der an die betreffende Person angelegt wird. ‚Nicht normal‘, vielmehr gestört ist die darin, dass sie eine Leistung nicht bringt. Zum ‚Fall‘ wird der Neurotiker damit, dass er mit seinem Leben nicht (mehr) zurechtkommt und damit auffällt. Als normal gilt demnach, dass der Mensch sein ‚Leben‘ – worin immer es bestehen mag – irgendwie ‚meistert‘. Was der Sache nach heißt: dass er mit den Anforderungen, die das Berufs-, Familien- und sonstige Leben im Kapitalismus an ihn stellt, zurechtkommt. Das ist als Inbegriff einer ‚gesunden‘ psychischen Konstitution bei Laien wie Psychologen unterstellt.

[4] Von der Art sind auch die traumatischen Erlebnisse, von denen die von unserem Kritiker zitierten Psychoanalytiker Karen Horney und Horst Eberhard Richter in ihren Schriften aus ihrer psychoanalytischen Praxis berichten und mit denen sie ihre Theorie von der Entstehung der kindlichen Neurose untermauern. Und in der Weise hat auch bereits Freud seine psychoanalytische Theorie auf die ‚Erfahrungen‘ gestützt, die er im Gespräch zwischen Therapeut und Patienten hat sammeln können. Der Schluss von der Verrücktheit, die der Patient an den Tag legt, auf deren Ursachen in seiner Kindheit, findet in solchen Gesprächen wie von selbst das Material seiner Bestätigung. Und zwar unabhängig davon, ob der Patient den Befund, den ihm der Therapeut andient, nämlich die Diagnose einer Krankheit, die auf traumatische Erlebnisse in der Kindheit zurückzuführen ist, mitmacht und bereit ist, seine Gefühle und Gedanken als ein Leiden zu verstehen, von dem er geheilt werden soll. Wo das der Fall ist, steht mit der Diagnose im Prinzip auch schon fest, dass die Gründe des Leidens in der Vergangenheit des Patienten zu suchen sind – schließlich muss es ja irgendwo herkommen. Und der Therapeut kann damit rechnen, dass seine mehr oder minder gezielte Nachfrage, ob sich in der Kindheit nicht bemerkenswerte Dinge zugetragen haben, die sich als nachhaltig prägend für die weitere Entwicklung der Persönlichkeit verstehen lassen, beim Patienten auf fruchtbaren Boden fällt, weil der ja nicht nur seinen Defekt behoben sehen möchte, sondern sich in der Regel auch noch mit Selbstvorwürfen herumschlägt, dass er nur den nötigen Willen aufbringen müsste, um seine Lebensuntüchtigkeit hinter sich zu lassen und wieder normal funktionieren zu können. In der Lage nimmt der Patient die verständnisvolle Sicht auf seine verqueren Gefühle, Gedanken und Taten, die ihm sein Therapeut offeriert und mit der der ihm nahelegt, seine Verrücktheit in Ursachen begründet zu sehen, die jenseits seines Willens liegen, gerne als Angebot an, das ihn moralisch entlastet. Unter diesen Voraussetzungen kann eigentlich gar nichts mehr schief gehen. Von Seiten des Patienten gibt es da immer etwas über Ungerechtigkeiten und sonstige Drangsale zu berichten, die ihm widerfahren sind, der Therapeut erledigt den Rest, indem er die Geschehnisse aus der Vergangenheit, von denen der Patient berichtet, in Anwendung der einschlägigen psychologischen Theorien als ursächliche Faktoren in der Entwicklung des Seelendefekts interpretiert – und solche Diagnosen sind es dann, die von den Theoretikern des Fachs zur Bestätigung der Theorie an der ‚Erfahrung‘ herangezogen werden. Aber auch dann, wenn sich der Patient der Diagnose eines Defekts verweigert – es gibt ja auch gar nicht so wenige Verrückte, die von der Weltsicht, zu der sie ihre verqueren Gefühle und Gedanken ausgebaut haben, hartnäckig überzeugt sind, sich mit ihr absolut im Recht wissen und von der ‚Einsicht‘, dass sie gestört wären und es an ihnen etwas zu heilen gäbe, deswegen überhaupt nichts wissen wollen –, fällt es dem Psychologen nicht schwer, die Empirie für seine Theorie sprechen zu lassen. Dann dient ihm eben das Verhalten des Patienten als Material der Beglaubigung seiner Theorie. In dem Fall nimmt der Fachmann die Verweigerung der ‚Krankheitseinsicht‘ als Hinweis auf die besondere Schwere der seelischen Störung. Was dann ansteht, sind Anstrengungen, den Patienten zu dieser Einsicht zu bringen. Die diesbezügliche ‚Überzeugungsarbeit‘ des Psychologen besteht schlicht darin, dass er mit seiner Autorität als Arzt darauf besteht, dass es eine Tatsache ist, dass es sich um eine Krankheit handelt. So oder andersherum kommt der Schein der unmittelbaren Bestätigung der psychologischen Theorie durch die Erfahrung also über die Interpretation zustande, die der Psychologe den ‚empirischen Fakten‘ mit Hilfe seiner Theorie angedeihen lässt.

[5] In seiner Zuschrift zitiert uns unser Kritiker mit den Worten:

Das bürgerliche Subjekt würde kein Psychologe als seinen Gegenstand bezeichnen, obgleich er von nichts anderem handelt und seine Beispiele bezieht als von moralischen Individuen, die sich dem Ideal des Zurechtkommens in der verrückten, häufigen, daher auch ‚normalen‘ Form verpflichtet haben, mit sich zufrieden sein zu dürfen. (Die Psychologie des bürgerlichen Individuums, S. 118)

 Er nimmt diese Textstelle als Beleg dafür, dass wir in unserer ‚Psychologie des bürgerlichen Individuums‘ notorisch von der Annahme ausgehen, die verschiedensten subjektiven Regungen seien ausschließlich Resultat der freiwilligen Stellung des Individuums zur bürgerlichen Welt und dies sei das einzig Relevante zur Erklärung subjektiver Phänomene. Er merkt gar nicht, dass an dieser Stelle von Leuten wie ihm die Rede ist, die Geistesleistungen des bürgerlichen Konkurrenzsubjekts aufführen, diese aber nicht als solche thematisieren, sondern über sie so nachdenken, als wären sie mit dem Kindsein als solchem verbunden, d.h. in der Menschennatur angelegt.

[6] Was er hier leugnet, ist das, worauf in der Therapie des nicht mehr funktionierenden bürgerlichen Individuums dann wieder gesetzt wird. In der wird nämlich dem Patienten, dem man mit der Diagnose einer psychischen Störung bescheinigt hat, dass er nicht Herr seiner selbst ist, sondern von einer gestörten Seelenmechanik determiniert wird, der Entschluss abverlangt, nicht mehr in dieser praktisch untauglichen, störenden Weise auf seine Selbstbehauptung zu pochen.

[7] Unser Rezensent irrt sich, wenn er sich mit seiner Kritik an Freud ein Stück weit einig weiß mit uns. Seine Kritik an Freud ist keine Kritik an einer psychologisch konstruierten Seelenmechanik, die den Menschen in seinem Verhalten determiniert, sondern richtet sich gegen die damit bei Freud verbundene ‚naturalistische‘ Vorstellung, dass sich so ein Seelenmechanismus materiell unter der Schädeldecke lokalisieren und identifizieren lassen müsste, mit der praktischen Konsequenz, dass man auf ihn dann auch heilend einwirken könnte. Unser Rezensent hat nur eine andere Vorstellung von den den Menschen determinierenden Kräften, die er aus den gesellschaftlichen und insbesondere den familiären Einflüssen, denen die Ausbildung des Selbstbewusstseins im Kindesalter unterliegt, konstruiert sehen möchte.