Die unhaltbare Lage eines Transitlands zwischen West und Ost
Wie der Westen und Russland Weißrussland in die Krise gestürzt haben

Seit Anfang des Jahres häufen sich Meldungen aus Weißrussland über den drohenden Staatsbankrott und den Zusammenbruch der dortigen Lebensverhältnisse. Nachdem die westliche Fachwelt dem „reformunwilligen“ Diktator und seinem vorsintflutlichen System bis dato zähneknirschend „einen bescheidenen, doch stabilen Wohlstand“ bescheinigen musste, registriert sie diese Nachrichten nun mit unverhohlener Schadenfreude: Selten hat man so eine nützliche und gerechte Krise erleben dürfen, schließlich bringt sie den „letzten lebenden Diktator in Europa“ und seine bisher unangenehm „stabile“ Herrschaft ins Schleudern und berechtigt die Anhänger von „Reformen“ zu den schönsten Hoffnungen. Andererseits bleibt die ärgerliche Tatsache bestehen, dass Russland bei der anstehenden „Lösung“ einfach nicht auszumischen ist.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Die unhaltbare Lage eines Transitlands zwischen West und Ost
Wie der Westen und Russland Weißrussland in die Krise gestürzt haben

Seit Anfang des Jahres häufen sich Meldungen aus Weißrussland über den drohenden Staatsbankrott und den Zusammenbruch der dortigen Lebensverhältnisse. Nachdem die westliche Fachwelt dem reformunwilligen Diktator und seinem vorsintflutlichen System bis dato zähneknirschend einen bescheidenen, doch stabilen Wohlstand[1] bescheinigen musste, registriert sie diese Nachrichten nun mit unverhohlener Schadenfreude: Selten hat man so eine nützliche und gerechte Krise erleben dürfen, schließlich bringt sie den letzten lebenden Diktator in Europa und seine bisher unangenehm stabile Herrschaft ins Schleudern und berechtigt die Anhänger von Reformen zu den schönsten Hoffnungen. Andererseits bleibt die ärgerliche Tatsache bestehen, dass Russland bei der anstehenden Lösung einfach nicht auszumischen ist.

Für die historische Ironie dieser Lage haben die hiesigen Tyrannenbekämpfer selbstredend keinen Sinn: Immerhin sind da die anfänglichen Wiedervereinigungsbestrebungen zweier Brudervölker, die an ihrer dann doch inkompatiblen Staatsraison gescheitert sind, zu einer modernen imperialistischen Beschlagnahme mit den Mitteln des Weltmarkts mutiert. Und es ist ausgerechnet Russland, das Lukaschenko die Reste seines realsozialistischen Wirtschaftsprogramms zerlegt und ihm beibringt, wozu zwischenstaatliche Schulden marktwirtschaftlich und politisch gut sind.

Die weißrussische ist eine sehr übersichtliche Krise, nämlich das Derivat des west-östlichen Energiegeschäfts: Auf dessen Basis hat sich Lukaschenko einerseits den Versuch geleistet, auch unter radikal geänderten Bedingungen Elemente der realsozialistischen Hebelwirtschaft in seinem Machtbereich zu retten, und konnte sich das – für den hiesigen Geschmack schon viel zu lange – leisten. Andererseits begründet genau diese Abhängigkeit die Angreifbarkeit seines Staatsprogramms – und zwar aus beiden Himmelsrichtungen. Das genannte Geschäft ist schließlich von Beginn an der Stoff für einen Streitfall auf höchster Ebene: Wegen seiner Bedeutung als Transitland beanspruchen sowohl der Westen wie auch Russland Kontrollrechte und ringen um die strategische Zugehörigkeit des Landes und die Unterordnung seiner eigensinnigen Herrschaft.

Auf der einen Seite hat Russland in den letzten Jahren die Geschäftsbedingungen seiner Öl-und Gasexporte zu Lasten Weißrusslands modifiziert. Auf der anderen Seite gehen die Erträge aus dem weißrussischen Geschäft mit dem Westen zurück, parallel zu den Schwankungen der Energiepreise, auch als Resultat der europäischen Anstrengungen, die ärgerliche Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu reduzieren sowie schließlich aufgrund der Wirkungen der westlichen Wirtschaftssanktionen gegen das Land. Zur Saldierung einer ins Negative umgeschlagenen Handelsbilanz benötigt Weißrussland seit 2006 Kredit. Nachdem es sich wegen seiner Zerwürfnisse mit Russland dort nicht weiter verschulden will, bei den westlichen Finanzmärkten aber wegen seiner Rolle als „Schurkenstaat“ bzw. „Diktatur“, also untaugliches Spekulationsobjekt keine nennenswerte Kreditwürdigkeit besitzt, sieht es sich auf den IWF verwiesen. Der gewährt zwar Anfang 2009 einen Beistandskredit, knüpft ihn aber an Bedingungen, die auf die Kündigung seines Sonderwegs hinauslaufen. Daher führen die Verhandlungen nach Auslaufen des Beistandsprogramms zu längeren Streitigkeiten, enden ergebnislos, und Weißrussland gerät in weitere Zahlungsschwierigkeiten.

Wie die weißrussischen Instanzen in verzweifelter Verständnislosigkeit erklären, besteht überhaupt kein Mangel an weißrussischen Rubeln, davon gäbe es wirklich genug, das Problem bestehe aber darin, das Geld zu konvertieren (RIA, 28.6.11), – und stehen damit vor dem negativen Urteil über die Kreditwürdigkeit ihres gesamten Ladens, zu dessen Bewirtschaftung sie aber an der Beschaffung auswärtiger Zahlungsmittel nicht vorbeikommen. Sie verweisen ebenso verständnislos auf die eigentlich stabile Industrie und soliden Geschäftsbeziehungen, die sie in beiden Himmelsrichtungen unterhalten: Das Land bestückt 11 % des Weltmarkts für Düngemittel, hat von der Sowjetunion zwei große Raffinerien geerbt, liefert in die EU in erster Linie Erdgas, Benzin und petrochemische Produkte, in den „postsowjetischen Raum“, d.h. vor allem nach Russland, Industrieanlagen, LKWs, Traktoren, Konsumgüter und Lebensmittel. Mit einem Außenhandelsumsatz (die Summe aus Ex- und Importen) von über 100 % des BIP ist das Land als sehr offene Volkswirtschaft zu bezeichnen, resümiert die österreichische Raiffeisenbank die weißrussische Erfolgsbilanz.[2] Aber dem Devisenbedarf, der sich aus der auswärtigen Verschuldung und den Importnotwendigkeiten der nationalen Industrie addiert, ist der weißrussische Außenhandel nicht gewachsen. Soweit ist das weißrussische Modell trotz seines anderen Wegs dann doch in den freiheitlichen Weltmarkt eingebunden, dass es durch die Verweigerung neuen Kredits in seinem ökonomischen Fortbestand gefährdet wird.

Der Ausgangspunkt: ein Transitland mit einem trotz des Siegeszugs von Demokratie & Marktwirtschaft abweichenden Programm

Der 1995 in Wahlen an die Macht gekommene zweite Präsident des zum eigenen Staat ausgerufenen Weißrussland unterscheidet sich von seinen Kollegen in der GUS in der einen entscheidenden Hinsicht, dass ihm angesichts der materiellen Folgen der Auflösung der Sowjetunion und der allseitig beschlossenen Einführung der Marktwirtschaft jedes Verständnis für den Nutzen der sogenannten Reformen abhanden kommt. Gute Gründe für Weißrussland kann er am Vollzug dieses Programms einfach keine entdecken, stattdessen nur den Zusammenbruch der materiellen Reproduktion. Er verlegt sich daher auf ein Programm zur Rettung der ökonomischen Grundlagen der neuen Nation und macht einiges von den zuvor eingeleiteten Reformen rückgängig, um den industriellen Niedergang zu bremsen.

Das Privatisierungsprogramm wird wegen seiner zerstörerischen Wirkungen gebremst und 1998 endgültig beendet.[3] Die früheren volkseigenen Betriebe erhalten die Rechtsform eines Republikanisch-Unitarischen (republikeigenen) Unternehmens,[4] und anstelle freier Preise verhängt der Staat wieder ein Preisgefüge, das den Bestand der weißrussischen Industrie und die elementare Versorgung der Bevölkerung garantieren soll:

„Lukaschenko bemüht sich darum, Sozialleistungen und Sozialpolitik aufrechtzuerhalten und zu unterstützen. Die staatliche Festlegung von Löhnen und Preisen wird als das wichtigste Instrument der staatlichen Preispolitik betrachtet... 2004 blieb die Politik darauf ausgerichtet, den Lebensstandard anzuheben durch Lohnerhöhungen, höhere Renten und Unterstützung für Unternehmen sowohl aus dem Haushalt wie durch außerhaushaltliche Fonds. Ausgedehnte Subventionen sind nötig, um den Landwirtschaftssektor aufrechtzuerhalten, der von Kolchosen aus der Sowjetzeit dominiert wird.“ (bertelsmann-transformation-index.de 2006)

Der Staat übernimmt die Kontrolle über den Außenhandel – der findet jetzt auch unter den neuen Staatsgeschöpfen in der GUS unter der Maßgabe einer Abrechnung in Devisen statt – und erlässt eine Reihe von Maßnahmen zur Devisenbewirtschaftung, wie etwa die Zwangsumtauschpflicht von Deviseneinnahmen, sowie eine Regulierung der Importe. Seit Dezember 1995 ist der Kauf von Devisen nur für ‚essentielle‘ Importe zulässig, vor allem Energieträger, industrielle Grundstoffe, pharmazeutische Erzeugnisse, einige Nahrungsmittel.[5]

Seit diesem Bruch mit der Transformationspolitik wird das weißrussische Wirtschaften mit Elementen der früheren Kommandowirtschaft gesteuert:

„Auf der Ebene der Gesetzgebung plant die Regierung insgesamt 19 Parameter der sozialökonomischen Entwicklung. Der größere Teil davon sind quantitative Kennziffern (Wachstum der Produktionszahlen), aber es gibt auch drei qualitative (Arbeitsproduktivität, Energieintensität des Bruttoinlandsproduktes/BIP und Rentabilität der Industrieproduktion).[6]
Alle Parameter der Wachstumsplanung werden durch eine Verordnung des Präsidenten und einen anschließenden Regierungsbeschluss quasi-gesetzlich festgeschrieben. Die Regierung versucht nach Maßgabe ihrer Möglichkeiten, alle Kennziffern miteinander in Einklang zu bringen, was jedoch aufgrund objektiver und subjektiver Gründe oftmals unmöglich ist.
Diese vorgegebenen Kennziffern liegen den Geschäftsplänen zu Grunde, die jedes Unternehmen (ungeachtet der Eigentumsform) auszuarbeiten verpflichtet ist und die vom Ministerium bestätigt werden... Ein Geschäftsplan kann einen Verlust vorsehen (mehr als ein Drittel der Staatsunternehmen arbeiten konstant mit Verlusten), doch auf jeden Fall soll der Plan positiv sein – eine Verringerung des Verlustes sowie Wachstum im Vergleich zum Vorjahr vorsehen (wenn es einen Wachstumsrückgang gab). Privaten Unternehmen werden die Wachstumsvorgaben auf informelle Weise nahe gebracht – in Form von Empfehlungen der örtlichen Machtorgane.“[7]

Und wenn aufgrund objektiver und subjektiver Gründe die schönen Kennziffern nicht miteinander in Einklang zu bringen sind, benützt die Staatsmacht ihre Kommandogewalt und schiebt Geldmittel hin und her:

„Für die stabile Funktionsweise der belarussischen Volkswirtschaft ist die Unterstützung der Staatsunternehmen in Form steuerlicher, kredittechnischer und anderer Vorteile von großer Bedeutung. Staatliche Unterstützung wird im Rahmen von Komplex- sowie Spezialprogrammen realisiert, die durch Kredite staatlicher Banken (in der Praxis Emissionen der Zentralbank), Haushaltsmittel (Umverteilung), Staatsanleihen oder Vorzugspreise für russische Energielieferungen finanziert werden... Insgesamt, so inoffizielle Schätzungen von Vertretern des Wirtschaftsministeriums, erhält etwa die Hälfte aller Industrieunternehmen staatliche Unterstützung in der einen oder anderen Weise. Der größere Teil der Subventionen entfällt auf die erfolgreicheren Unternehmen, welche damit Investitionsprogramme finanzieren. Die größere Zahl von Unternehmen, die Staatshilfen erhalten, sind jedoch solche, die mit Verlusten arbeiten oder kurz davor stehen. Außer Industriebetrieben erhalten auch Bauunternehmen und Landwirtschaftsbetriebe staatliche Hilfen.“ (ebd.)

Diese staatlichen „Hilfen“ stammen aus einem originellen Kreislauf, in dem neben dem staatlichen ein formell privates Bankwesen operiert, das von der Nationalbank zur Vergabe verlustreicher Kredite genötigt, aber in Gestalt von Staatsanleihen auch befähigt wird:

„Die Regierung übt nach wie vor eine enorme Kontrolle über den Bankensektor aus, der im Mai 2003 aus 28 Geschäftsbanken bestand, und beeinflusst die Kredit-Allokation. Die Geschäftsbanken sind zwar nominell unabhängig, werden aber häufig von der Regierung unter Druck gesetzt, um ausgewählte Industriezweige mit verlustreichen Krediten zu versorgen und Staatsanleihen zu kaufen.“ (bertelsmann)

Das Ganze wird in Gestalt eines Rechnungswesens abgewickelt, das mit der Auflistung allseitiger Verluste den westlichen volkswirtschaftlichen Sachverstand an den Rand des Wahnsinns treibt. Einerseits erbringt die weißrussische „volkswirtschaftliche Gesamtrechnung“ eine nach hiesigen Maßstäben unhaltbare innere Verschuldung:

„Das BIP müsste um die überfälligen, nicht bereinigten Außenstände solcher Unternehmen nach unten revidiert werden, die zwar Waren geliefert oder Dienstleistungen erbracht haben, welche aber von den Abnehmern nicht bezahlt wurden und aller Voraussicht nach auch nie bezahlt werden. Eine Schätzung zufolge machte die Gesamtsumme derartig notleidender Verbindlichkeiten säumiger Zahler per 1.7.10 circa 7.400 Mrd. BYR aus, umgerechnet also 2,45 Mrd. $.“ [8]

Statt aber auf lohnender Anlage zu bestehen und alle Verlustbetriebe zu liquidieren, organisiert die Regierung bloße Geldtransfers:

„Kennzeichnend für den bisherigen Verlauf des Jahres 2010 waren großangelegte von der Regierung initiierte Maßnahmen zur Bereitstellung von Liquidität durch die Zentralbank für Refinanzierungsoperationen. Auf diese Weise erhielten die Unternehmen im staatlichen Sektor der Wirtschaft Zugang zu neuen billigen Kreditressourcen. Außerdem legte die Nationalbank verstärkt Direktkredite an Regierungsstellen heraus, mit denen diverse Regierungsprogramme ... finanziert wurden... Mit 34,3 % wuchs das Volumen der durch den (vom belarussischen Staat dominierten) Geschäftsbankensektor neu herausgelegten Kredite an staatliche Betriebe und Organisationen. Bei diesen zinsverbilligten Darlehen sind die Grenzen zu bloßen Geldtransfers fließend.“ (gtai, Wirtschaftstrends Belarus, Jahreswechsel 2010/11)

Andererseits aber ist dieses Konstrukt nicht nur stabil, sondern produziert auch noch ein Wachstum:

„Belarus ist für Experten, Wissenschaftler, Politiker und andere ‚Prognostiker‘ eine ‚harte Nuss‘. In den vergangenen zehn Jahren wurden der belarussischen Wirtschaft jedes Jahr der Zusammenbruch, ein Absturz, eine Krise, eine Währungsabwertung oder gar der Bankrott vorausgesagt. Unterdessen weist das Land ein stetiges Wachstum der Wirtschaft und des Lebensniveaus auf, obwohl es keine eigenen Energieressourcen besitzt, unter periodischen Liquiditätskrisen leidet (und einer anhaltend negativen Handelsbilanz, die entweder mit Anleihen oder ausländischen Investitionen finanziert werden muss), der staatliche Sektor dominiert und unreformierbar scheint, die Wirtschaft durch ein hohes Maß an Offenheit gekennzeichnet ist (der Anteil des Exports am Bruttoinlandsprodukt beträgt etwa 80 Prozent) und Privatisierung, Restrukturierung und andere notwendige Reformen kaum Fortschritte machen.“ (Rakowa)

Wie kann sein, was nicht sein darf?!

Die vom Dogmatismus der einzig segenbringenden Marktwirtschaft getrübte Wahrnehmung stößt sich am Widersinn eines Geldwesens, das durch staatliches Kommando einerseits in Kraft gesetzt und andererseits ständig relativiert und durchkreuzt wird, in dem Unternehmen mit planmäßigen Verlusten und dauerhaften Nicht-Zahlungen vor sich hin produzieren, d.h. die staatlich angeordneten Versorgungsleistungen erbringen, deren rechnerisches Minus wiederum von den staatlichen Instanzen und vermittelt über darauf verpflichtete Geldinstitute irgendwo aufgeschrieben und verrechnet wird. Eine allseitige Be- und Abrechnung in Geldziffern, die aber dann doch nicht über die Produktion entscheidet, die nicht der privaten Bereicherung dient – eine solche Absurdität der Wirtschaftslenkung mit Hilfe eines kastrierten Geldes lässt sich organisieren. Die Absurdität geht, weil das alles durch eine Staatsmacht für gültig erklärt wird, die ein zwar dem kapitalistischen Wirtschaften nachempfundenes, aber in der Zielsetzung dann doch auf eine andere staatliche Prioritätensetzung verpflichtetes Kommando über die Produktion exekutiert: Ein in Geldrechnungen eingekleidetes Bündel von Direktiven, das Was und Wie der nationalen Versorgung betreffend – weder eine rationelle Planwirtschaft noch eine echte Marktwirtschaft.

Dieses Gesamtkunstwerk hat Lukaschenko eine inzwischen 17jährige üble Nachrede eingebracht.

„Trotz seiner Kommandowirtschaft ist es Belarus gelungen im Großen und Ganzen die sozialen und wirtschaftlichen Bedingungen von 1991 aufrechtzuerhalten. Daher hat Belarus weder ein mitreißendes Wirtschaftswachstum, begleitet von einer Modernisierung seiner Wirtschaft, erlebt noch dramatische und unkontrollierte Einbrüche...
Verglichen mit den anderen post-sowjetischen Staaten weist Belarus ein relativ hohes Niveau der sozialökonomischen Entwicklung auf. Laut ‚Transition Report‘ der EBRD (European Bank for Reconstruction and Development) von 2004 lebten im Jahr 2000 weniger als 2 % der Bevölkerung in Armut. Ein Wert von 34.3 im GINI Index von 2001 bezeichnet einen niedrigen Grad der Einkommensunterschiede. Darin widerspiegelt sich allerdings auch die Tatsache, dass in Belarus die Transformation noch nicht eingeleitet worden ist, und dass bei der Regierung eine sozial-verträgliche Politik ideologisch an erster Stelle steht.“ (bertelsmann)

Kaum Armut und noch gar keine ordentlichen Einkommensunterschiede – in so einer Wirtschaft muss Ideologie am Werk sein. Die Transformationswächter der Bertelsmann-Stiftung wissen auch welche:

„Die Behörden entmutigen private Unternehmen mit Hilfe einer Kombination von hohen Steuern, exzessiven Regulierungen und willkürlicher Staatseinmischung.“

Man hat es in Weißrussland eben mit einem systematischen Kampf gegen die naturgegebenen Rechte des Privateigentum zu tun, der auch beim Privatisieren vor Enteignung nicht zurückschreckt:

„Belarus ist das einzige Land auf der Welt, in dem die Regierung das Recht hat, eine ‚Goldene Aktie‘ einzuführen (vergleichbar mit einer Enteignung in westlichen Ländern), nachdem eine Firma als Aktiengesellschaft eingetragen und privatisiert worden ist. Die Bildung von Monopolen und Oligopolen ist gesetzlich geregelt, wie z.B. im ‚Gesetz der Republik Belarus über natürliche Monopole‘, das am 16.12.2002 angenommen wurde. Die staatlichen Akteure sind nicht an einer Privatisierung interessiert.“ (bertelsmann)

Obwohl marktwirtschaftliche Experten dem auf die Art befehligten Wirtschaftswesen seit Jahren seine Unfähigkeit bescheinigen, ist es offensichtlich dazu imstande zu „funktionieren“ – solange, wie an seine Erträge und das dort umlaufende Geld nicht ein ganz anderes Maß angelegt und negativ beschieden wird: die Maßgabe, Devisen, weltmarkttaugliches Geld zu erwirtschaften.

Dieser Anspruch ist auch im weißrussischen Modell präsent, zwar untergeordnet, aber als Geschäftsinteresse etabliert, einerseits in Gestalt auswärtiger Geldinstute, die auch unter den verhängten Beschränkungen[9] die vergleichende Bewertung des nationalen Rubels mit kapitalistischen Geldern betreiben, andererseits in Gestalt einzelner Niederlassungen von Auslandskapital und schließlich als Sammelsurium von Kleinbetrieben und Existenzen, die unter diesen Bedingungen dem privaten Gelderwerb nachgehen dürfen. Deren Bedarf, die weißrussischen Geldzettel in auswärts gültige Geldware umzutauschen, ist im Prinzip von der weißrussischen Nationalbank anerkannt und wird zu einem staatlich vorgegebenen Kurs bedient.

Vor allem aber ist und bleibt das weißrussische Ensemble existentiell angewiesen auf den grenzüberschreitenden Handel in Richtung Westen und in Richtung GUS, ist also gezwungen, sich im Außenverhältnis nach den Kriterien kapitalistischen Außenhandels zu behaupten, d.h. Devisen für seine Importe zu verdienen. Was unter diesen Bedingungen an weißrussischer Industrie und Landwirtschaft durch Lukaschenkos Programm aufrechterhalten worden ist, beruht schließlich immer noch zu großen Teilen auf den zu Zeiten der Sowjetunion organisierten Lieferbeziehungen.[10] Das weißrussische Modell unterliegt also, wenn auch nicht flächendeckend im Inneren,[11] so dennoch in Gestalt seiner außenhändlerischen Selbstbehauptung dem kapitalistischen Leistungstest auf seine Überlebensfähigkeit: Abgerechnet wird – auch im Handel mit Russland und der GUS – in Devisen, und in dem Verhältnis muss das Land eine internationale Zahlungsfähigkeit vorweisen.

Das ist Weißrussland über die Jahre hinweg gelungen aufgrund seiner Rolle im russischen Geschäft mit den interessanten, nämlich strategischen Rohstoffen des Energiesektors. Auf der Grundlage war erstens die innere Versorgung mit Energie zu deutlich niedrigeren als Weltmarktpreisen garantiert, und zweitens konnte Weißrussland aus dem Zwischengeschäft mit Transport, Weiterverarbeitung und -verkauf von russischem Öl und Gas, mit Herstellung und Verkauf petrochemischer Produkte, synthetischen Fasern, Düngemittel etc. Devisen-Überschüsse im Westgeschäft erzielen.

Dieser Ertrag hängt aber wiederum weniger von den internen weißrussischen Hebelkünsten ab als vielmehr von auswärtigen Instanzen: von der westlichen Sanktionspolitik, von einem krisenhaft modifizierten Energiemarkt, von Russland, von den Finanzmärkten und vom IWF. Das weißrussische Zwischengeschäft wird auf der einen Seite durch amerikanische und europäische Wirtschaftssanktionen geschädigt, dann durch in der Krise zeitweilig sinkende Energiepreise und den Rückgang der Nachfrage in Europa,[12] und auf der anderen Seite durch die steigenden Preise, die Russland für seine Energielieferungen verlangt.

Weißrussland als Objekt der russischen Strategie, sich als kapitalistische Macht aufzustellen und zu behaupten

Russland handhabt und modifiziert seine Beziehungen zu Weißrussland nach seiner Interessenlage in der neuen Weltordnung. D.h. es subsumiert sie zunehmend unter seine Strategie, sich als europäische Energiemacht zu etablieren – womit es sich mehr vorgenommen hat als eine Ausdehnung vorteilhafter Geschäfte. Immerhin stellt es sich damit gegen das erklärte Programm des Westens auf, das an vorderster Stelle Europa, aber auch das gesamte russische Umfeld aus der unerträglichen Abhängigkeit vom Geschäft mit Russland befreien möchte und Russland selbst von der unseligen Tradition, seine Nachbarn zu bevormunden. Die Transitländer in Richtung Europa werden folgerichtig zum Kampfobjekt im Ringen mit dem westlichen Gegenprogramm und dem expliziten politischen Bekenntnis von USA, NATO und EU, keine (russischen) Einflusszonen in ihrer so schön und neu geordneten Welt zu dulden – was sich selbstverständlich nicht gegen Russland richtet.

Zunächst kann das neue Russland mit dem abweichenden Programm Weißrusslands daher immerhin soviel anfangen, dass unter Putin der weißrussische Antrag, sich mit Russland wieder zu vereinigen, um in dieser Allianz die durch die Auflösung der Union eingetretenen Schäden zu reparieren, begrüßt und zur Gründung einer Bündnispartnerschaft benützt wird: Die politische und strategische Zuverlässigkeit Weißrusslands, seine Brauchbarkeit für russische Interessen wird mit einer Energieversorgung zu russischen Inlandspreisen, d.h. weit unter Weltmarktniveau entgolten.

Im Folgenden wird dann allerdings Weißrussland dazu genötigt, sich seine Vorstellung von Solidarität unter Brudervölkern abzugewöhnen. Es muss den russischen Beschluss hinnehmen, die Energiepreise für die GUS-Partner an Weltmarktpreise, d.h. die Preise für Westeuropa anzunähern, auch wenn Lukaschenko sein Recht auf brüderliche Preise renitent einklagt, z.B. eine Weile darauf besteht, dass Russland doch gefälligst seine Bündnistreue in die Energierechnungen einzupreisen hätte.[13] Nachdem sich Russlands Etablierung als kapitalistische Macht auf dem Weltmarkt im Wesentlichen auf das Energiegeschäft beschränkt, wollen die russischen Instanzen nicht mehr einsehen, dass sich der Nachbarstaat mit der Handelsspanne zwischen billigen Import- und weitaus höheren Exportpreisen, nationalökonomisch betrachtet also auf Kosten Russlands, einrichtet.

Darüber hinaus ist aber das gesamte Energiegeschäft mit den Transitländern ja auch noch das Material für die strategische Auseinandersetzung mit dem Westen. Im Ringen um die Vorherrschaft über diese Länder, die der Westen in der Ukraine mit Hilfe der orangenen Revolution erst einmal für sich entscheidet, operiert Russland mit Angeboten niedriger und Androhungen höherer Preise, um die Nachbarn prorussisch auszurichten. Damit handelt es sich den Vorwurf der westlichen Mächte ein, Gas- und Ölpreise auf unzulässige Weise als politische Waffe einzusetzen, der dazu verwendet wird, Russland als Partner auf dem Weltmarkt zu disqualifizieren und ihm die Aufnahme in die WTO zu verweigern. Russland reagiert darauf schließlich mit marktwirtschaftlichen Waffen – eben dem Beschluss, die Preise für die Transitländer schrittweise an die westeuropäischen anzunähern und die folgerichtig bei denen auflaufenden Schulden als Rechtstitel gegen sie zu verwenden. Im Ergebnis dieses west-östlichen Kräftemessens muss sich auch der Bündnispartner Weißrussland in die neue Rolle als Schuldner gegenüber Russland als Gläubiger hineinfinden, deren Unausweichlichkeit dem uneinsichtigen Lukaschenko mehrmals durch die Unterbrechung der russischen Gas- oder Stromlieferungen beigebracht wird.

Auf die Weise ist dann auch der weißrussische Präsident notgedrungen zu der Einsicht vorgestoßen, dass es das Russland, mit dem Lukaschenko sein Weißrussland vereinigen möchte, nicht mehr gibt. Die geplante Union wird mehr oder weniger stillschweigend ad acta gelegt, stattdessen sieht sich Lukaschenko vor der Notwendigkeit, sein eigenen Programm gegen das heutige Russland zu behaupten, von dem man zugleich wegen der fundamentalen Bedeutung des Energiegeschäfts gar nicht wegkommt.

Russland setzt nämlich weitere Streitfälle mit Weißrussland auf die Tagesordnung, nachdem die Auseinandersetzung mit dem Westen, wer sich die Kontrolle über die Transitländer verschaffen kann, weiter vorankommt und sich die westlich orientierte Regierung der Ukraine umgehend als Störfall im Energiegeschäft bemerkbar macht. Reziprok arbeitet Russland einerseits daran, sich von den Transitländern durch alternative Transportrouten wie die Ostseepipeline unabhängig zu machen, was für die andere Seite die Minderung des Transitgeschäfts und die Entwertung der entsprechenden politischen Rolle zur Folge hat. Andererseits bringt es – ganz marktwirtschaftlich – die Schulden der Transitländer als Rechtstitel in Anschlag, um sich Transportnetze und Betreibergesellschaften in der Ukraine und Weißrussland anzueignen. In Weißrussland gelingt die Erpressung, 2006 wird der weißrussische Netzbetreiber Beltransgaz zwecks Schuldentilgung zur Hälfte an Russland übereignet. Die russische Führung will sich zumindest in Gestalt von russischen Eigentumstiteln die Kontrolle über den Energietransit sichern, um sich sowohl vom ständigen Gezerre mit Lukaschenko unabhängig zu machen – der mehrmals das Ende der Völkerfreundschaft verkündet, aber mangels Alternativen zu seinen Freundschaftsschwüren zurückkehrt – wie auch von jeder zukünftigen Herrschaft in Weißrussland. Der Westen setzt ja unübersehbar alle Mittel in Bewegung, um auch in Weißrussland einen Machtwechsel durch eine bunte Revolution in Gang zu bringen.

Die Annäherung der Energiepreise an Weltmarktpreise ist es, die die weißrussische Handelsbilanz und in deren Folge das gesamte weißrussische Rechnungswesen ins Schleudern bringt:

„2007 erlebte das Land einen energiewirtschaftlichen Schock – die Preise für importiertes Erdgas stiegen um mehr als das Doppelte, und gleichzeitig führte Russland eine Abgabe in Höhe von 30 Prozent auf Erdölexporte nach Belarus ein, was die Profitabilität der erdölverarbeitenden Industrie, die bis zu 40 Prozent der belarussischen Exporte erzeugt, nachteilig beeinflusste.“ (Rakowa)

Weißrussland sucht händeringend nach alternativen Lieferanten und findet die auch, allerdings im Kreis der halben und ganzen Schurkenstaaten, Venezuela und Iran; es untermauert die neuen Beziehungen auch mit Waffengeschäften. Das bringt ihm wiederum von der westlichen Seite neue Wirtschaftssanktionen und die entsprechenden Verluste ein.[14]

Ende 2007 gerät Weißrussland in Zahlungsschwierigkeiten, und Lukaschenko, der der weiteren Verschuldung bei Russland auskommen will, unternimmt eine Wende und versucht, sich mit der anderen Seite ins Benehmen zu setzen, um sich die nötige internationale Zahlungsfähigkeit zu verschaffen:

„Im Zuge der ‚pragmatischen Wende‘ der russischen Handelspolitik gegenüber Belarus und anderen GUS-Mitgliedern orientiert sich Moskau seit dem 1.1.07 auch in Belarus an den Marktpreisen für Kohlenwasserstoffe. Als Folge klaffen in dem osteuropäischen Land wachsende Handels- und Staatshaushaltsdefizite... Das Land, dessen Regierung mehr als ein Jahrzehnt lang möglichst wenig mit dem Westen zu tun haben wollte und Kapitalzuflüssen von dort zeitweise offen ablehnend gegenüberstand, sucht seit Ende 2008/Anfang 2009 Annäherung an die EU, den zweitgrößten Handelspartner Belarus, und hofft, für westliche Investoren attraktiver zu werden.“ [15]

Der Westen begrüßt das „Tauwetter“ und ist für „Hilfe“, d.h. Kredit zu haben, aber die Bedingungen dieser Hilfe führen zum Zerwürfnis

Im Westen nimmt man die Wendung freudig als Gelegenheit zur Kenntnis. Immerhin hat man sich am Beharrungsvermögen von Lukaschenkos Herrschaft trotz einer Politik der Ächtung, trotz Handelssanktionen und trotz aller Förderung einer Opposition seit Jahren die Zähne ausgebissen. Erstens, weil sich die weißrussische Bevölkerung in ihrer überwiegenden Mehrheit angesichts der marktwirtschaftlichen Lebensumstände in den Nachbarländern Russland und Ukraine nie so recht vom Sinn einer bunten Revolution überzeugen ließ, und zweitens, weil der Westen nicht an die ökonomische Grundlage von Lukaschenkos Modell rühren konnte, solange sie Russland aus seinen Berechnungen aufrechterhielt.

Der Westen nützt die weißrussische Geldklemme, offeriert Kredite wie eine Hilfe gegen russische Ansprüche und dazu die geballte Beratung seiner Wirtschaftsexperten. Nachdem das Land auf den westlichen Finanzmärkten aufgrund der Vorgeschichte über keine Kreditwürdigkeit verfügt, gerät es mit seinem Finanzbedarf gleich unter die Aufsicht der internationalen Finanzagenturen IWF und Weltbank.[16]

Unter deren Protektion gelingt zwar die Emission von weißrussischen Eurobonds, aber die Märkte werden skeptisch, nachdem sich zwischen dem IWF und seinem neuen Reformobjekt Unstimmigkeiten einstellen.

Weißrussland zeigt zwar Reformbereitschaft, offeriert auswärtigen Investoren Steuerprivilegien und freie Wirtschaftszonen, lockert die Preisregulierung, ändert das Immobilienrecht – Bis dahin war es zum Beispiel praktisch unmöglich, Wohnflächen in kommerziell genutzte Immobilien umzuwandeln – schafft die Goldene Aktie ab, die dem Staat in (teil-)privatisierten Unternehmen Sonderrechte gegenüber allen übrigen Aktionären einräumte (gtai, 3.6.2010), und will mit den Experten von Weltbank und IWF in allen zu regelnden Fragen zusammenarbeiten. Aber das ist nicht genug. Kaum ist die wunderbare neue Freundschaft angekündigt, stößt sie auch schon an Schranken: Der IWF knüpft die Gewährung eines Beistandskredits im Januar 2009 an die Bedingung, dass Minsk im Rahmen eines Pilot-Projekts fünf Privatisierungstender und -auktionen veranstaltet.[17] Der Verkauf weißrussischer Unternehmen, der wie ein Erfolgsrezept zur Behebung der staatlichen Zahlungsnöte gehandelt wird, ist aber ein Angriff auf das Kernstück der Lukaschenko-Wirtschaft, und die Unvereinbarkeit der Standpunkte stellt sich im Streit um die Bewertung und die Anzahl der zu privatisierenden Unternehmen heraus. In der Frage, was unter Privatisierung zu verstehen sei, reden die Partner gründlich aneinander vorbei. Der Westen setzt auf die Finanznot des weißrussischen Staats –

„Laut einer Schätzung von Pavel Lyashenka, Leiter des belarussischen Büros der US-amerikanischen transnationalen Rechnungsprüfungsgesellschaft Ernst & Young, benötigt der belarussische Fiskus allein als Folge der Heraufsetzungen der Preise für Erdgas sowie der Erhebung von Ausfuhrzöllen für Erdöl und Öl-Derivate durch Moskau jährliche Einnahmen aus Privatisierungen in Höhe von 1,5 Mrd. bis 2 Mrd. US $.“ –

und beklagt sich deshalb, dass sich der Zugriff auf die weißrussische Ökonomie an staatlichen Bedingungen und Vorbehalten bricht:

„Im Februar 2010 hatte Präsident Lukaschenko die französischen Insolvenz- und Privatisierungsberater von Rothschild & Cie. damit beauftragt, die jeweiligen aktuellen Verkehrswerte der zu privatisierenden Unternehmen zu ermitteln. In Minsk bezweifeln Beobachter jedoch, dass der belarussische Staatschef den Rothschild-Managern und -Experten die Daten der Staatsbetriebe offen legen lässt, damit sie fair bewertet werden können. Minsk hatte sich bisher beharrlich geweigert, genaues Zahlenmaterial über die für den Verkauf vorgesehenen staatlichen Unternehmen zu veröffentlichen.
Das Vorhaben, insgesamt 519 Staatsbetriebe in Privathand zu überführen, ist jedoch längst Makulatur. Möglich erscheinen nach derzeitigem Stand bis Ende 2010 Verkäufe von insgesamt höchstens 150 Betrieben. Das Staatsvermögens-Komitee hat in vielen Fällen die Verkehrswerte der zu privatisierenden Objekte unrealistisch hoch taxiert. Zahlreiche Betriebe sind marode und für potenzielle ausländische Investoren nicht interessant. Noch immer gilt das rechtliche, institutionelle und gesellschaftliche Umfeld in Belarus als nicht eben günstig für Kapitalengagements, trotz einiger Fortschritte im Bemühen der Regierung in Minsk, die Bedingungen Investoren freundlicher zu gestalten.“[18]

Die auswärtigen Berater haben zu monieren, dass es Weißrussland mangels kapitalistischer Sitten überhaupt an einem Umfeld fehlt“, das eine marktwirtschaftliche Bewertung gestatten würde:

„In Belarus wird die marktwirtschaftliche Bewertung eines Unternehmens sowohl durch entsprechende rechtliche Bedingungen als auch durch das Fehlen der notwendigen Marktbedingungen (das Fehlen eines Fondsmarktes, die Überlastung der Unternehmen mit Sozialausgaben, ihre rückläufige Wettbewerbsfähigkeit und ihre Abhängigkeit vom russischen Markt) erschwert. Außerdem stellt der Bilanzwert im Verhandlungsverlauf den gesetzlichen Mindestwert dar. Allerdings schließt dieser Wert oft die gesamte Summe der zuvor getätigten staatlichen Investitionen ein, selbst wenn diese nicht zu einem Wachstum der finanziellen Indikatoren geführt haben. Obwohl also der GKI und andere Organe heute befugt sind, Unternehmen mit einem Nachlass auf den Anfangspreis zu verkaufen, kann dieser Verkaufspreis noch um ein Vielfaches künstlich überhöht sein.“ (Rakowa)

Auf der anderen Seite ist der belarussische Präsident nach wie vor nicht gewillt, Unternehmen zu Marktpreisen zu verkaufen, die er für ‚aus der Luft gegriffen‘ hält. (Rakowa)

Interessierte Investoren treffen auf weitere unerträgliche Zumutungen. Sie

„zogen sich wieder zurück, weil sie die von der belarussischen Regierung formulierten Konditionen für unannehmbar hielten. Neben sehr hohen Anfangspreisen gab es weitere Bedingungen, welche eine Privatisierung faktisch unmöglich gemacht haben. Zu nennen sind zeitaufwendige Verfahren der Abstimmung mit unterschiedlichen staatlichen Behörden, die Möglichkeit der Intervention der Regierung in die operative Unternehmenstätigkeit und gesteigerte Investitionsforderungen...
So ist im Bereich der Preisbildung – einer für das Geschäftsklima wichtigen Reformrichtung – die umfassende staatliche Regulierung erst 2011 aufgehoben worden. Gleichwohl sollen Unternehmen nach wie vor Kalkulationen erstellen und ihre Preise begründen. Tun sie das nicht, müssen sie mit hohen Strafen rechnen – bis zu 30 Prozent des Wertes der verkauften Waren und Dienstleistungen...
Weitere Reformen erfordern Veränderungen in der Steuer- und in der Außenhandelsgesetzgebung; unter Unternehmern herrscht große Unzufriedenheit über die Mietrechtsreform und die Regulierung der Löhne...
Die Privatisierungsgesetzgebung ist hinsichtlich von Forderungen und Erwartungen an den Investor intransparent und selektiv. Abgesehen vom Preis gibt es eine informelle Liste mit etwa 25 Bedingungen, die ein Investor zu erfüllen bereit sein soll. Dazu gehören die Erhaltung von Arbeitsplätzen, die Aufrechterhaltung des Produktionsvolumens und die Nutzung einheimischer Rohstoffe und Investitionszusagen.“ (Rakowa)

Intransparent – sind die unübersehbaren und völlig unzumutbaren Einschränkungen für die Menschenrechte des Kapitals.

Am Streit um die Bewertung der zu privatisierenden Unternehmen und um die Konditionen stellt sich heraus, welche reichlich konträren Interessen die beiden Seiten damit verfolgen: IWF-Berater und Investoren gehen mit der allergrößten Selbstverständlichkeit davon aus, dass mit dem Eigentum an weißrussischen Unternehmen auch die komplette Dienstbarkeit des Objekts für ihre Geschäftsrechnungen und die dafür erforderliche unternehmerische Handlungsfreiheit geliefert wird. Die weißrussische Seite denkt an einen Kapitalzuschuss, der ihre Zahlungsfähigkeit verbessert, der aber gleichzeitig die Funktionen, die ein Betrieb im Rahmen ihrer Wirtschaftsweise so zu erfüllen hat – von der Planerfüllung bis zum Kindergarten – respektiert und weiterhin erfüllt. Denn für Minsk zählt – wie es Lukaschenko verkündet – nicht die Eigentumsform, sondern das Wichtigste ist, dass sie effektiv zum Wohle der Gesellschaft arbeitet. Und das beinhaltet nach seinem Dafürhalten eine weitreichende Verpflichtung des Business:

„Indem ich grünes Licht für die Entwicklung des Unternehmertums gebe, muss ich zugleich von der anderen Seite der Medaille sprechen – der sozialen Verantwortlichkeit des privaten Business… Wir wollen eine wilde soziale Spaltung vermeiden, ein ‚fett Werden‘ der einen auf Kosten der Verelendung der anderen... Die dynamische Entwicklung des Landes setzt nicht nur die entsprechenden wirtschaftlichen Freiheiten voraus, sondern auch die soziale Verantwortlichkeit des Business.“ [19]

Eine eigenwillige nationale Anspruchshaltung gegenüber dem Kapital, die die internationalen Subjekte des „Business“ in jedem Sinne für unzumutbar erachten.

Daher platzt das gesamte Programm[20], und Weißrussland wird weiter in die Schuldenfalle befördert. Nach einem Bericht des IWF über seine prekäre Finanzlage im März 2011 verliert Weißrussland die Reste seiner kurzfristigen Kreditwürdigkeit im Westen und kassiert

„Verschlechterungen der Bewertung des Landes und der größten kommerziellen Banken durch unabhängige Ratingagenturen. Im März 2011 wurden belarussische Schuldverschreibungen in die Kategorie der sogenannten Schrottanleihen (Junk Bonds) eingestuft, und die Emission von Eurobonds wird äußerst teuer. Stabilisierungskredite zu erhalten ist unmöglich ohne politische und ökonomische Reformen, die ihrerseits die sozialökonomische und politische Stabilität im Land gefährden könnten.“ (Rakova)

Für diese Bewertung haben die Rating-Agenturen weitere Anhaltspunkte von Seiten der westlichen Politik erhalten.

Warum eine Zollunion manchmal ein Verstoß gegen die Demokratie sein kann

Den letzten Beitrag zur Beendigung der Tauwetterperiode zwischen Weißrussland und dem Westen liefert wiederum Russland, das Lukaschenko im Herbst 2010 mehr oder weniger brachial zum Eintritt in die russisch-kasachische Zollunion nötigt: Um sich die russischen Energielieferungen zu weiterhin deutlich unter dem europäischen Niveau liegenden Preisen zu erhalten, muss er der Erhebung von Exportzöllen an den Außengrenzen der neuen Zollunion und ihrer Übertragung an das Ursprungsland zustimmen. D.h. Exportzölle auf weißrussische Exporte, die auf russischen Lieferungen beruhen, müssen jetzt an Russland ausgezahlt werden – das ergibt ein weiteres Minus in der weißrussischen Zahlungsbilanz.

Diese neue Bindung an Russland stellt laut EU das letzte und sträfliche Vergehen gegen die europäische „Hilfe“ dar; damit verstößt Lukaschenko gegen die Prinzipien ihrer gutgemeinten östlichen Partnerschaft. Ein schönes Dokument des EU-Imperialismus: Die EU definiert ihr eigenes historisches Instrument einer Zollunion, die längst in einem europäischen Wirtschaftsblock mit einem weitaus durchgreifenderen Reglement über die nationalen Bestandteile aufgegangen ist, als Verstoß gegen die guten Sitten – wenn es die Nachbarschaft zu ihrem Nutzen einrichtet.[21] Der Klartext: Europa kann es nicht dulden, dass Russland sich zur Fundierung seiner Machtentfaltung ein Wirtschaftsbündnis zimmert![22]

Daher werden die Wahlen im Herbst 2010 im Westen zum Wendepunkt erklärt, zurück zur Politik entschiedener Sanktionen und zum Anleiern einer bunten Revolution. USA, EU, OSZE etc. befinden, dass die Wahlen verkehrt waren – trotz der allgemeinen Anerkennung der Tatsache, dass Lukaschenko auch ohne Fälschung die Stimmen mehrheitlich auf sich vereint hat. Über die Notwendigkeit, Fälschungen überhaupt noch irgendwie beweisen zu müssen, ist der Westen in seinem Fall hinaus. Wenn das Urteil über die Unbrauchbarkeit einer politischen Linie gefällt ist, dann verdient der Herrscher den Wahlsieg grundsätzlich und völlig jenseits aller nachgezählten Wählerstimmen nicht. Und das Urteil fällt umso heftiger aus, nachdem der Versuch, die Erpressung von Seiten Russlands auszunützen und Lukaschenko mit Kredit etc. umzudrehen, gescheitert ist. Das erbittert den Westen und verschärft den Kampf um „Demokratie“ entsprechend.

Neue Sanktionen werden aufgelegt: Einreiseverbote und die Beschlagnahme auswärtiger Konten werden auf einen größeren Kreis des weißrussischen Herrschaftspersonals ausgedehnt, und zugesagte Hilfsgelder zur Unterstützung der Opposition umgewidmet.[23] Den passenden Anlass liefern Verhaftungen und Verurteilungen, nachdem sich die weißrussischen Vorkämpfer für Demokratie nach der Wahl an einem Sturm auf das Parlamentsgebäude versuchen. Die von der Opposition veranstaltete Randale wird im Westen entweder als Machwerk von Lukaschenkos Geheimdienst oder „friedliche Demonstration“ definiert. Auch wenn sich Lukaschenkos Sicherheitskräfte mit einem eher außerparlamentarischen Versuch zum Sturz der Regierung herumschlagen – die Unterscheidung, wer da „Gewalt“ ausübt und wer „friedlich“ zu Werke geht, steht längst vorher fest.

Mit diesem Streit um die Beschlagnahme Weißrusslands haben in einer eher ungewöhnlichen Kooperation der Westen, Russland und schließlich die Weltfinanzmärkte Lukaschenko und sein abweichendes Modell in die Krise befördert.

Eine Geldkrise eigenen Typs: Die staatlich dekretierte Eigenschaft des weißrussischen Rubel als nationales Kaufmittel wird durch den Devisenmangel untergraben

Mit Schulden und Kreditverweigerung im Westen, Importbedarf gegenüber Russland, mit dieser polit-ökonomischen double-bind-Lage gerät Weißrussland in eine Zahlungskrise, die, weil sich der Devisenbedarf auch im Inneren an vielen Stellen eingepflanzt hat, auf sämtliche Verhältnisse durchschlägt.

In dem Maß, in dem bei den weißrussischen Geldinstituten Devisen knapp werden, weil die weißrussische Nationalbank sie aufkauft, bleibt der Devisenbedarf einer Bevölkerung, die sich im kleinen Grenzverkehr sowohl mit Westwaren wie mit russischen Produkten ausstattet oder Zwischenhandel betreibt, auf der Strecke. Auf der Grundlage blüht der halb-legale oder schwarze Devisen-Handel auf und berechnet steigende Preise für ausländische Währung.[24] Die weißrussische Nationalbank sieht sich genötigt, diesen Preisanstieg nachzuvollziehen, um im Inneren überhaupt noch Devisen aufkaufen zu können. Nachdem die Nationalbank die ihrerseits festgelegte Rubel-Dollar-Parität nicht mehr halten kann und – nach der Abwertung vom 1.1.2009 um ca. 20 % – ihren Rubel im Winter 2011 erneut abwertet, im Mai ganz dem freien Handel anheimstellt und eine Abwertung gegenüber dem Dollar um 56 % registrieren muss, setzt die Bevölkerung erst recht alle Mittel in Bewegung, um ihre Ersparnisse zu retten, sie entweder in ausländische Währung umzusetzen oder alle erhältlichen Waren aufzukaufen. Umgekehrt überführt der Warenhandel die durch die Abwertung verteuerten Importe – erlaubt oder nicht erlaubt – in eine allgemeine Teuerung und hält seine Ware mit der Berechnung auf weitere Abwertungsschritte und weitere Preissteigerungen zurück. Die weißrussischen Läden leeren sich schlagartig, und die Bevölkerung vollzieht praktisch das auswärtige Urteil über die Untauglichkeit des nationalen Geldes nach; de facto werden nun auch innerhalb Weißrusslands Euro oder Dollars für notwendige Lebensmittel verlangt.

Der Geldhandel, der sich in der allgemeinen Zahlungsklemme zum Aktivisten der Spekulation macht und ausländische Geldware verteuert, versperrt damit dem inneren Bedarf den Zugang zu den nötigen Devisen: Industriebetriebe erhalten wegen der ausbleibenden Devisenzuteilung die nötigen Zulieferungen nicht mehr, 600 000 Beschäftigte werden in Zwangsurlaub geschickt, und die Zahl von Weißrussen, die in Russland Arbeit suchen, nimmt massiv zu. Die Regierung operiert mit Preisbeschränkungen und Appellen an die allgemeine Vernunft. Das ändert aber nichts daran, dass in Gestalt der entsprechenden Notprogramme, Rationierungen und Importbeschränkungen das gesamte Innenleben der Nation dem Urteil der „Märkte“ über die mangelnde Kreditwürdigkeit und internationale Zahlungsunfähigkeit Weißrusslands unterworfen wird.

Die weißrussische Führung klappert zur Zeit die verschiedensten Adressen mit der Bitte um neuen Kredit ab. Der Westen in Gestalt des IWF lehnt im Sommer 2011 neue Anfragen aus Weißrussland ab und stellt Weißrussland weiterhin vor die Alternative, Staatsbankrott oder freiwillige Kapitulation und Aufgabe seiner Staatsraison. China überbrückt die aktuelle Zahlungsklemme Weißrusslands mit einem Kredit, der aber nicht dazu hinreicht, Weißrussland aus seiner grundsätzlich prekären Lage zwischen Russland und dem Westen auszulösen. Die Euroasiatische Wirtschaftsgemeinschaft unter Führung von Russland stellt Kredit in Aussicht, aber nur unter der Bedingung, dass entscheidende Anteile der weißrussischen Industrie russischen Interessenten zum Kauf angeboten sowie weitere Anpassungen an die Bedingungen der Zollunion durchgesetzt werden.[25] Jetzt ist es also Russland, das seinen slawischen Brüdern die Notwendigkeit marktwirtschaftlicher Reformen vorbuchstabiert. Und zum Ärger der westlichen Finanzagenturen sind russische Unternehmen willens und v.a. auch zahlungsfähig, um weißrussische Kombinate oder Anteile von ihnen aufzukaufen. Daher mischen sich IWF und Weltbank wieder ein, sprechen sich jedenfalls nachdrücklich gegen eine Privatisierung durch russische Nutznießer aus, die eindeutig unter die Kategorie feindliche Übernahme fallen würde:

„Der IWF und die Weltbank haben Weißrussland nach etlichen Verzögerungen Kredite versprochen. Auf diese Weise soll den weißrussischen Betrieben dabei geholfen werden, sich gegen die Übernahmeversuche russischer Unternehmer wehren zu können. Moskau knüpfte die Vergabe von Krediten an eine Bedingung: staatliche Unternehmensbeteiligungen im Wert von mindestens 7,5 Milliarden US-Dollar zu privatisieren. Dazu gehören der Pipelinebetreiber Beltransgas, Kalidüngerhersteller Beloruskalij und andere führende Unternehmen. Nicht zufällig wurde Minsk von der Weltbank empfohlen, nicht die führenden, sondern die mittleren Unternehmen zu privatisieren.“ (RIA, 4.7.11)

So weit ist der Kampf um die ökonomische Macht in Weißrussland mittlerweile gediehen: Russland und der Westen konkurrieren darum, wer als Gläubiger und Kreditgeber Weißrusslands die Notlage Weißrusslands entscheidend ausnützen, sich den Zugriff auf das Land oder wesentliche Trümmer verschaffen und sich zum Subjekt der dortigen Verhältnisse aufschwingen kann.

Westliche Hoffnungen auf den näher kommenden Sieg der Demokratie

Auf der anderen Seite eskaliert der Kampf um die politische Macht. Die bislang eher unbedeutende fünften Kolonne des Westens, die Demokratie-Bewegung, erfährt nun eine Stärkung durch die krisengeschädigte Bevölkerung und bekommt weiteren Zulauf – regelmäßige Demonstrationen werden von den einschlägigen NGOs organisiert und von Lukaschenkos Polizei abgeräumt.

Die Hoffnungen in Europa auf ein baldiges Ende des letzten lebenden Diktators nehmen daher wieder zu. Die Öffentlichkeit besichtigt in vorauseilender Gründlichkeit die kommenden Etappen, dass unter den Bedingungen der Krise die bisherige Einheit von Volk und Führung in Weißrussland aufbrechen und/oder dass sich in der weißrussischen Führung Figuren finden lassen, die in einem Linienwechsel in Richtung Westen die einzig tragbare Alternative entdecken. Allerdings ist die Vorfreude getrübt, denn leider sind es ja nicht „wir“, die die Machtmittel zur definitiven Entscheidung der Lage auf unserer Seite haben.

Deutsche Kommentatoren finden das unerträglich:

„Die EU verurteilt die Regierung Lukaschenko regelmäßig, sie erteilt Einreiseverbote, hat aber wenig Einfluss. Demokratische Parteien in Weißrussland selbst, die sich Zulauf erhofft hatten, sind marginalisiert, ihre Führer sind inhaftiert oder geflüchtet. Stattdessen ist es Russland, das Minsk steuert und unter Druck setzt – als Geldgeber, als Wirtschaftspartner, als Mitglied der Zollunion. Moskau kreist wie ein Geier über dem kleinen Nachbarn und wartet auf dessen Ausverkauf.“ (Cathrin Kahlweit, SZ, 22.7.11)

Woanders wie z.B. über Griechenland kreisen offenkundig ganz andere Vögel, vermutlich Friedenstauben. Jedenfalls stehen die politischen Vordenker im Falle Weißrussland ganz eng an der Seite des bedauernswerten armen Volks. So sehr, dass sie ihm schon vorausschauend bei den schmerzhaften Reformen assistieren, die sie ihm aufzuhalsen versprechen:

„Der Westen kann in der Lage nicht viel tun. Er hat im Gegensatz zu Moskau wenig Möglichkeiten, den Sturz des Regimes zu beschleunigen... Die jetzige Doppelstrategie der EU mit Sanktionen gegen Repräsentanten des Regimes und Offenheit für die Bevölkerung (etwa Visa-Erleichterungen) ist sinnvoll. Gleichzeitig sind aber schon jetzt Überlegungen für die Zeit nach Lukaschenko nötig. Die unausweichlichen Wirtschaftsreformen werden so schmerzhaft sein wie das, was Polen und Balten nach dem Ende der Sowjetunion erlebt haben. Dabei werden die Weißrussen dringend Hilfe brauchen, die sie dann auch schnell bekommen sollten.“ (FAZ, 15.7.11)

Auch wenn der Westen in dem Fall Russland leider nicht so einfach ausbooten kann, lässt sich doch auf den Umsturz spekulieren. Für diesen edlen Zweck wird das in Not geratene und darüber hoffentlich grundsätzlich mit seiner Führung entzweite Volk schon einmal in Anspruch genommen. Es soll und muss wegen seiner materiellen Sorgen dabei behilflich sein, den Diktator abzusägen und einen uns genehmen Sachwalter an die Macht zu bringen. Der muss dann seine Pflicht tun und gegen dasselbe Volk die nötigen schmerzhaften Reformen durchziehen, die das unglaublich vernünftige und naturnotwendige Abwrackunternehmen zur Einführung von Kapitalismus jetzt endlich auch in Weißrussland auf die Tagesordnung setzt. Und deshalb braucht der seit ungefähr 20 Jahren überfällige Verelendungsprozess der Weißrussen eine glaubwürdige Perspektive namens „westliche Hilfe“. Einer solchen Führung muss man die nötigen Mittel stiften, damit sie es schafft, ihrem Volksmaterial die Unterscheidung zwischen einer diktatorischen Misswirtschaft und einer freiheitlichen „Rosskur“ beizubringen. Das ist das politische Kunstwerk, das die Öffentlichkeit gerne von den Führern Europas sehen möchte.

[1] Jörg Forbrig: Abgewirtschaftet: Europas letzter Diktator ringt um den Machterhalt, Belarus-Analysen Nr.1, 25.5.11

[2] Die Bank, ein Pionier des neuen Bankgeschäfts im Osten, ist heute noch beeindruckt vom ansehnlichen Wachstum, das dieser Staat zustande gebracht hat: Im Gegensatz zu Entwicklungen in anderen CEE-Ländern ist die weißrussische Wirtschaft noch immer weitgehend in Staatsbesitz. Rund 75 % des BIP werden von Staatsfirmen erwirtschaftet und 70 % des Bankensektors werden von staatlichen Banken abgedeckt. In den fünf Jahren vor der Wirtschaftskrise erlebte Weißrussland (Belarus) mit einem Wachstum von durchschnittlich 7,5 % p. a. eine starke Wachstumsphase. Sowohl interne Faktoren wie die hohen Investitionen und die stabile private Konsumnachfrage als auch externe Faktoren wie die starke Nachfrage nach den Exportgütern des Landes trugen maßgeblich hierzu bei. (Finanzplatz Weißrussland, Raiffeisenbank Österreich)

[3] Angesichts der mangelnden Bereitschaft, unrentable Betriebe und damit die produktive Basis des Landes flachzulegen, ist die westliche Fachwelt prompt verstimmt: Konkurse unrentabler Unternehmen wurden im vergangenen Jahr vermieden, obwohl zum 1. Dezember 1995 immerhin 18 weissrussische Unternehmen als Verlustbetriebe eingestuft wurden... Ordnungspolitisch ist Belarus immer noch weit davon entfernt, überzeugende Beweise einer Transformation zu liefern. (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung, Berlin, Institut für Weltwirtschaft an der Universität Kiel, Institut für Wirtschaftsforschung Halle: Frühjahrsbericht über die Wirtschaft der Republik Belarus, in: Kieler Diskussionsbeiträge Nr. 274/1996, IWH Forschungsreihe Nr. 5/96)

[4] German Trade and Invest (gtai), die frühere Bundesstelle für Außenhandelsinformationen: In Belarus wird wieder über Privatisierung nachgedacht. Drei Viertel der Wirtschaft bislang in Staatshand (9.6.2010)

[5] bertelsmann-transformation-index.de 2006

[6] Die Sortierung von quantitativ und qualitativ zeugt von der verbreiteten Unfähigkeit, Gebrauchswert und Tauschwert resp. Geld zu unterscheiden: Kennziffern, die die Menge sachlicher Produkte festschreiben, die ein Kombinat herstellen soll, gelten als „bloß“ quantitativ, aber die Ziffern, die einen in Geld bemessenen Überschuss über den Vorschuss vorgeben, versieht die Fachfrau mit dem Kompliment „qualitativ“. Ein Indiz dafür, wie sehr der Siegeszug des Kapitalismus den wissenschaftlichen Sachverstand für sich eingenommen und vernebelt hat. Ein Kollege erläutert die aktuelle Krise Weißrusslands mit der Erkenntnis über die notwendige Ineffizienz: Eine nicht-reformierte Wirtschaft mit dominierendem Staatssektor und dirigistischen Lenkungsmethoden kann nicht effektiv sein. Sie verbraucht mehr als sie produziert, der Import übersteigt den Export, ein Minus in der Aussenhandelsbilanz ist die Folge. (Walerij Karbalewitsch: Krise des Sozialmodells, in: Belarus-Analysen Nr.1, 2011) Bei der Herstellung eines LKW mehr zu verbrauchen als zu produzieren, ist ein Kunstwerk, das auch in Lukaschenkos Reich nicht gelingt. Eine ganz andere Frage ist das zum Beweis angeführte Minus in der Außenhandelsbilanz, nämlich eine der Preise im Import und Export, mit denen eine Nation zurechtzukommen hat.

[7] Elena Rakowa: Planwirtschaft mit marktwirtschaftlichen Elementen, in: Das Parlament, Beilage: Aus Politik und Zeitgeschichte, 14.6.2011

[8] gtai: Wirtschaftstrends Belarus, Jahreswechsel 2010/11

[9] Der Bankensektor besteht zu 70 % aus staatlichen Geldinstituten, dazu kommen auswärtige Banken, v.a. die russische Sberbank und die österreichische Raiffeisenbank.

[10] Gerade wegen seines Reformmangels ist Weißrussland für Russland ein außergewöhnlich stabiler Handelspartner: Im Unterschied zu den anderen Staatsgründungen der GUS blieben die Zulieferungen und diversen Arten der Kooperation mit russischen Betrieben ein berechenbarer Faktor. Außerdem bekommen es beide Seiten auf dem Weltmarkt in erster Linie mit dem Wirtschaftsblock der EU zu tun, der seinerseits nicht im mindestens daran denkt, sich für die neuen Handelspartner zu „öffnen“, sondern auf deren Unterordnung unter seine Konditionen besteht. Während die EU-Vorschriften und in vielen anderen Ländern geltende Normen (v. a. auf der Grundlage der DIN) ebenso wie die von der EU im Außenhandel erlassenen Kontingentierungen und andere „nichttarifäre“ Hemmnisse vielen russischen und weißrussischen Produkten den Zugang zum Europa beherrschenden Binnenmarkt versperren, wickeln weißrussische und russische Firmen ihren Handel auf Basis der GOST-Normen der UdSSR ab und können aneinander verdienen.

[11] Z.B. hat der weißrussische Staat in der Krise die staatlichen Landwirtschaftsbetriebe dadurch erhalten, dass er ihre Energie-Schulden übernimmt, d. h. diese Schulden den letztlich russischen Lieferanten bezahlt und sich dafür weitere Anteile zurechnet. Der Betrieb kann weiterwirtschaften wie vorher, der weißrussische Staat verzeichnet auf seiner Seite eine nominelle Aufstockung seiner Eigentumsanteile, hat aber eine sehr reelle Belastung der Staatskasse, die die Öl und Gasrechnung in Devisen begleichen muss

[12] Ausschlaggebend dafür, dass das im Gesamthandel aufgelaufene belarussische Warenhandelsdefizit 2009 weiter zunahm, war die starke Verringerung des Aktivsaldos des osteuropäischen Landes mit den Ländern außerhalb der GUS. Dieses Aktivum schrumpfte zwischen 2008 und 2009 von 4,81 Mrd. auf 1,62 Mrd. $. (gtai, Wirtschaftstrends Belarus, Jahreswechsel 2010/11)

[13] Wir hatten eine Übereinkunft, dass wir Gas zum Preis, wie er auf dem russischen Markt üblich ist, kaufen und unsere Produkte zu den Preisen des weißrussischen Marktes verkaufen. Die Möglichkeit, Energie in Russland zu Preisen zu kaufen, die unter dem Weltmarktniveau liegen, haben wir in erster Linie durch unsere strategische Position ausgeglichen, wegen der wir für die Russen sehr interessant waren, und durch unser Heer und die Rüstungsindustrie. Russland hat niemanden im Westen, der es verteidigt, und unser Heer erfüllt die Funktion eines Schutzschildes, wenn es nötig sein sollte, da wir eine gemeinsame Streitmacht geschaffen haben. Darüber haben wir mit Boris Jelzin ein Übereinkommen geschlossen und es mit Wladimir Putin ratifiziert, und so gab es ein Gleichgewicht. Die Erhöhung der Preise für russische Energie kostet WR zusätzliche 2,5 Mrd. Dollar. (Interview Lukaschenkos mit El País am 2.12.07)

[14] Die USA bestrafen die Kontakte zum Iran:“Weißrussland nutzt seit dem 20. Dezember dieses Jahres anstatt des US-Dollars den Euro als Verrechnungswährung bei den Exporten von Erdölprodukten. Das teilte der staatliche Petrochemiekonzern Belneftechim mit. Grund für den Übergang zum Euro seien US-Sanktionen gegen Belneftechim, hieß es. Das amerikanische Finanzministerium ließ am 13. November alle unter US-Jurisdiktion stehenden Bankkonten von Belneftechim in den USA sowie in Deutschland, Lettland, der Ukraine, Russland und China sperren. Über den Belneftechim-Konzern erfolgen alle weißrussischen Exporte von Ölprodukten.“ (RIA, 29. 12. 07)Die EU hatte zuvor schon ‚Verletzungen der Rechte der Beschäftigten‘ (FAZ. 22.12.06) in Weißrussland ausgemacht und das Land aus ihrem System der Handelspräferenzen für Schwellenländer ausgeschlossen:“Und wie dankt uns die EU? Man verhängt Wirtschaftssanktionen gegen uns und entzieht Weißrussland die Zollpräferenzen. Wir werden einen Verlust von 300 Millionen Dollar hinnehmen müssen.“ (Lukaschenko, in: Die Welt, 25.1.07)

[15] gtai: „Belarussischer Staatschef fordert Einwerbung von mehr Auslandskapital“, 03.06.2010

[16] Der IWF bescheinigt Weißrussland eine schwierige wirtschaftliche Lage: Weißrussland wurde durch die internationale Krise schwer getroffen. Gegensätzliche Bewegungen der terms of trade, der zurückgehende Bedarf der Handelspartner und Schwierigkeiten beim Zugang zum Handel und zu anderen externen Finanzierungsquellen – das ist der höfliche Ausdruck für die westlichen Wirtschaftssanktionen – haben zu einem Rückgang seiner Währungsreserven geführt. (IWF-Presserklärung vom 31.12.2008) In großer Freude über die Ankunft des verlorenen Sohnes verbessert die Weltbank rasant das „Ranking“ des Betonkopfs: “Die Weltbank hat in ihrem neuesten ‚Ease of Doing Business‘ Länder-Ranking Belarus als einen der fünf reformfreudigsten Staaten weltweit eingestuft. Im Doing Business 2010 Report der Weltbank, der den Zeitraum Juni 2008 bis Mai 2009 abdeckt, verbesserte sich Belarus auf Rang 58 unter insgesamt 183 gelisteten Staaten.“ (gtai, 3.6.2010)

[17] gtai: In Belarus wird wieder über Privatisierung nachgedacht. Drei Viertel der Wirtschaft bislang in Staatshand, 9.6.2010

[18] a.a.O.

[19] www.president.gov.by/press116442.html

[20] Ein Privatisierungsplan für annähernd 100 staatliche Unternehmen, welchen die Regierung im Jahre 2008 verabschiedet hatte, hat bisher lediglich die Überführung zahlreicher Staatsbetriebe in Aktiengesellschaften oder andere Rechtsformen zur Folge gehabt. Zu einem Wechsel der Eigentumsverhältnisse ist es bisher nicht gekommen. Ein Vorhaben zum Verkauf von fünf wenig attraktiven Staatsunternehmen endete 2010 mit einem Fiasko. (gtai: „Konturen der Privatisierungspolitik in Belarus bleiben vorerst noch unscharf. Russisches Interesse an Kapazitäten zur Erdölverarbeitung / Minderheitspaket an BelarusKali im Fokus“, 8.12.2010)

[21] Die hiesigen Kommentare gehen in bemerkenswerter Deutlichkeit zur Sache: “Die Hoffnung (auf einen friedlichen demokratischen Wandel) schwand im Dezember, als der letzte in Europa lebende Diktator zu geheimen Verhandlungen nach Moskau reiste, um mit russischen Regierungsvertretern günstige Öl- und Kredit-Abkommen zu unterzeichnen. Als Gegenleistung verpflichtete er sich, mit seinem Land der russisch-kasachischen Zollunion beizutreten – ein Schritt, der alle Demokratisierungsversprechen wie kindische Träume zerplatzen ließ.“ (Tomasz Kurianowicz in der FAZ vom 25.1.11) Der Autor hat offenkundig nicht den geringsten Zweifel, dass das Publikum seine kühne Gleichsetzung von ‚Zollunion‘ mit einem Verstoß gegen Demokratie mitmacht; für die jahrelang geschulte Parteilichkeit genügt da die Benennung des Subjekts dieser Zollunion. Ein kanadischer Professor konstatiert ebenso unbefangen, dass herzliche Beziehungen mit Moskau das europäische Programm der „Östlichen Partnerschaft“ untergraben: “Besonders in den Augen der Europäer hat Belarus einen Schritt rückwärts gemacht, indem es die EU-Politik gegenüber dem Regime – die Östliche Partnerschaft – untergrub. Seit einem unerwarteten Treffen zwischen Lukaschenko und dem russischen Präsidenten wurden die herzlichen Beziehungen mit Moskau wiederhergestellt und Belarus scheint in den russischen Einflussbereich zurückgekehrt zu sein.“ (Belarus-Analysen Nr.1, 25.5.11) Gute Beziehungen mit beiden Seiten sind undenkbar! Gute Beziehungen, wie sie sich Europa vorstellt, haben den Sinn, Russland aus Europa hinauszuwerfen, die europäische Zuständigkeit auf Kosten Russlands zu erweitern.

[22] Auch im Fall der Ukraine wird der Chef der EU-Kommission deutlich, um das Missverständnis gar nicht erst aufkommen zu lassen, man könnte den Vorteil eines Freihandels mit beiden Seiten anpeilen: José Manuel Barroso schließt eine doppelte Mitgliedschaft der Ukraine in einer Zollunion (mit dem nördlichen Nachbarn Russland, Weißrussland sowie Kasachstan) und einer Freihandelszone mit der EU aus. Dies sei, so der Kommissionspräsident, unmöglich. Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch spricht sich für eine solche Doppelmitgliedschaft aus. Die Zollunion wäre nicht hinderlich für einen freien Warenverkehr zwischen der Ukraine und der EU, so Janukowitsch. Beide würden die Integrationsprozesse im eurasischen Raum sogar fördern. Die Ukraine strebt nach einem Assoziierungsabkommen mit der EU. (www.shortnews.de, 18.4.11)

[23] Wenn Lukaschenko Deutschland und Polen beschuldigt, einen Umsturz herbeiführen zu wollen, erklären das hiesige Kommentare für lächerlich und Lukaschenko für hysterisch; denn schließlich läuft der geplante Umsturz hierzulande unter der Bezeichnung Demokratie.

[24] “Bis zur Abwertung gab es in dem Land vier verschiedene Devisen-Wechselkurse. Der erste war der offizielle. Ihn legte die Nationalbank fest. Der zweite, der Kurs in den Wechselstuben. Allerdings beeilten sich die Banken nicht, sogar zu dem Kurs Dollars zu verkaufen. Dollars kaufen konnte man auf dem Schwarzmarkt. Dort war der Kurs noch höher. Doch am teuersten war nach Auskunft von Experten der Dollar auf dem Interbanken-Markt. Dort lag der Kurs dreimal so hoch wie der offizielle.“ (Interview mit einem Wirtschaftsfachmann, Leonid Saiko, Wremja vom 24.5.11)

[25] Gedacht wird da an echte Konkurrenzbedingungen anstelle von künstlichen Preisen und staatlichem Hereinregieren, d. h. russische Firmen und die Niederlassungen westlicher Firmen in Russland sollen den – früher auf manchen Gebiete führenden – weißrussischen Firmen Konkurrenz machen dürfen. Russland macht also fortschreitend seine Interessen als Sachwalter eines kapitalistischen Standorts gegen den Nachbarstaat geltend.