Volksaufstand in Ägypten
Viel Aufruhr – für nichts als einen Antrag auf bessere Herrschaft, den das Militär erhört
Die Führer der westlichen Welt werden von einem Volk überrascht: Dass die Massen in einem Land, an dessen gefestigtem Innenleben man äußerst interessiert ist, ohne dass man das bestellt hätte, seinem obersten Führer die Gefolgschaft kündigt, das fordert Kommentatoren wie politische Macher heraus. Nach einigem Zögern einigt man sich darauf, dass es da – wie auch in anderen Fällen – um „Demokratie gegen Diktatur“ geht, und hält den Machthaber, den man Jahrzehnte durchaus zu schätzen wusste, für „untragbar“. Ihn macht man für den Aufruhr verantwortlich. Und gibt damit auch den Demonstranten vor, was sie der westlichen Welt mit ihrem Drang nach Demokratie schuldig sind: „Rückkehr zu stabilen Verhältnissen“ in dieser Krisenregion, Frieden mit Israel, Sicherung des Suezkanals, kurz: lauter Interessen, für die Ägypten unter Mubarak funktioniert hat und künftig funktionieren soll. Das schließt den Ausschluss der ‚Islambrüder‘ aus dem Spektrum wählbarer Alternativen ebenso ein wie die Zufriedenheit darüber, dass das Militär die Sache in die Hand genommen hat und für eine passende Ordnung und Führung sorgt, die einer ordentlichen demokratischen Willensbekundung des Volks unbedingt vorausgehen muss. Da stellt sich schon die Frage, was das Volk in Ägypten auf die Straße getrieben hat. Der GegenStandpunkt liefert Aufklärung über den Volksaufstand, die Verhältnisse, gegen die er sich und wie er sich dagegen richtet, zu welchem wenig umstürzlerischen Ergebnis er es gebracht hat und welche Ansprüche das westliche Ausland an den ‚Demokratisierungsprozess‘ stellt.
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Volksaufstand in Ägypten
Viel Aufruhr – für nichts als einen
Antrag auf bessere Herrschaft, den das Militär
erhört
I.
Die Führer der westlichen Welt werden von einem Volk
überrascht: Ohne dass sie das bestellt hätten, kündigt
das ägyptische seiner Obrigkeit die Gefolgschaft auf! Wo
die regierenden Freunde der Freiheit
Gehorsamsverweigerung, die zum Umsturz der Herrschaft
führt, für angebracht halten, da bringen sie die
entsprechenden Revolutionen
mit den netten
Beinamen gleich selber auf den Weg. Aber dass die Massen
in einem Land, an dessen gefestigtem herrschaftlichen
Innenleben man aus vielerlei Gründen äußerst interessiert
ist, aus eigenem Antrieb derart aus dem Ruder laufen:
Damit rechnet man keinesfalls in den Metropolen, von
denen aus die freie Welt regiert wird. So dauert die
Urteilsbildung über den Volksaufstand in Ägypten eine
gewisse Zeit, fällt dafür aber umso eindeutiger aus. Eine
feine Sache sei es, dass – und vor allem: wie
friedlich sich das Volk am Nil da zu einer
Bewegung für Freiheit und Demokratie
(Westerwelle) aufgemacht habe, heißt es
einhellig; und die Patrone dieser hohen Werte lassen es
keineswegs bei einer bloßen Grußadresse an die
Freiheitskämpfer bewenden. Man verwendet sich und den
politischen Einfluss, über den man verfügt, für die gute
Sache, die man in Ägypten auf den Weg gebracht sieht,
empfiehlt dem Herrscher erst nachdrücklich
Gewaltverzicht
gegenüber seinen aufsässigen
Untertanen – und hält ihn alsbald für genauso
untragbar
wie die Menge auf dem Tahrir-Platz.
Freilich nicht ganz aus denselben Gründen. Rückkehr zu
stabilen Verhältnissen
heißt ganz unverhohlen der
höhere Sinn, den man hierzulande den Drangsalen der
Demonstranten zu entnehmen beliebt, kaum dass die die
herrschenden Machtverhältnisse einigermaßen
destabilisiert haben. Und warum es diese Rückkehr
unbedingt braucht, erfährt man gleichfalls: Von der
Friedenswahrung in dieser bekannt sensiblen
Krisenregion
über die Versorgungssicherheit beim
Öl und bei Autoteilen bis hinunter zum Bestandsschutz für
Kulturgüter und Tauchgründe reicht die Palette der
Interessen, für die die Nation Ägypten gut
funktioniert hat und deswegen auf jeden Fall
weiterhin gut zu funktionieren hat.
Ab sofort sind Freiheit und Demokratie in Ägypten also
fest als die neue Methode verplant, mit der das Herrschen
im Land am Nil auch nach der Ära des Autokraten
zu
gewährleisten hat, wofür der mit seinem Wirken
geradestand; und die im Westen regierenden Fachleute, die
sich auf den Umgang mit beidem bestens verstehen,
zerbrechen sich mitsamt ihrem öffentlich denkenden Anhang
sogleich vorsorglich den Kopf darüber, wie die Freiheit
auszusehen hat, die das gewünschte Ergebnis garantiert
liefert: Noch bevor die Machtfrage in Kairo entschieden
ist, wird der Volksaufstand kritisch entlang dem
Kriterium durchgeprüft, ob er auch der Form nach alle
Erfordernisse für das Gelingen des Zwecks erfüllt, für
den ein demokratisch regiertes Ägypten vorgesehen ist. Da
stimmt einen der Blick auf die aufgebrachte Mischung aus
zahnlosen Brotbäckern und anderen Elendsgestalten, Ärzten
und Dichtern, jungen Studenten mit Handy und Notebook,
Kopftuchträgerinnen und Bärtigen im Kaftan zwar schon ein
wenig skeptisch: Wo ist denn der Führer, den die
demnächst wählen sollen, wenn sie ihren alten losgeworden
sind? Wie heißt die Partei, von der er der
Häuptling ist? Was ist mit der Partei der
Bärtigen, die wir zwar kennen, aber keinesfalls an die
Regierung befördert sehen wollen? Aber diese Bedenken
werden konstruktiv bewältigt. Die westliche Fürsorge für
den erfolgreichen Ausgang eines Volksaufstands, den man
unter den Titeln ‚Demokratie und Freiheit‘ als Vehikel
zur Beförderung der eigenen Interessen adoptiert hat,
entschließt sich mutig zur interessierten
Definition des Volkswillens, der gerade unterwegs
ist: Was immer die Menschen dort im einzelnen im Kopf
haben mögen – im Endeffekt hat es sich einfach
zusammenzufassen in einer nach allen Regeln der
Demokratie herbeigeführten Ermächtigung einer neuen
Staatsführung, die dann, selbstverständlich anders
als bisher, eben demokratisch, für stabile
Verhältnisse
sorgt.
Da stellt sich schon die Frage, womit sich das Volk in Ägypten dieses wohlwollende Interesse am guten Gelingen seiner Revolte verdient. Immerhin wird es ihm seitens politischer Herrscher zuteil, die für gewöhnlich im Zusammenhang mit Aufständen, die sich nicht ins Konzept ihrer Interessen fügen, ganz und gar nicht zur Völkerfreundschaft tendieren.
II.
Was die Leute in Ägypten zur Revolte gegen ihre
Herrschaft bewegt, ist ihren Parolen unmissverständlich
zu entnehmen. Gegen Korruption
,
Unterdrückung
und Diktatur
stellen sie sich
auf, und der Grund ihres Aufbegehrens liegt auf der Hand:
Durch das Wirken ihrer Herrschaft kommen ihre materiellen
Lebensinteressen unter die Räder. Allerdings: Die
Verhältnisse, die sie angreifen, bestehen nicht
aus ‚Korruption‘ – also aus dem, was in einer normal
funktionierenden bürgerlichen Demokratie mit einer
ordentlich bezahlten Bürokratie als Beamtenbestechung und
unzulässige Bereicherung im Amt kriminalisiert wird –
plus ‚Unterdrückung‘ – also einem Gewaltgebrauch, wie ihn
ein unangefochtener Rechtsstaat seinem mit Gewaltausübung
betrauten Personal verbietet –. Und durch eine
Fehlanzeige bei den Posten ‚Parteienpluralismus‘ und
‚freie Wahl des Regierungspersonals‘ sind diese
Lebensbedingungen erst recht nicht hinreichend
charakterisiert. Was die Protestbewegung an
herrscherlicher und bürokratischer Willkür, an
ungerechter Bereicherung von Wenigen und an exzessivem
Gewaltgebrauch anklagt und angreift, hat nicht nur
irgendwie ‚System‘, sondern kennzeichnet tatsächlich ein
ganzes politökonomisches System.
Denn offenbar ist es so: Wie alle Insassen der globalen Marktwirtschaft, so brauchen auch die Ägypter eine Einkommensquelle; und in ihrem Bemühen darum sind sie mit einem Herrschaftsapparat konfrontiert, der flächendeckend über die Zuteilung von Arbeitsplätzen, von Lizenzen für Unternehmer und Freiberufler, von Krediten, überhaupt von Bedingungen und Mitteln des Gelderwerbs entscheidet. Dieser bürokratische Apparat tritt den Leuten in Gestalt von Volksgenossen entgegen, die den Zipfel staatlicher Macht, den sie sich weniger auf einem freien Arbeitsmarkt für öffentlich Bedienstete, mehr durch Protektion und gekaufte Patronage ergattert haben, auf dieselbe Art dazu benutzen, eigene Leute zu protegieren und sich für die Zuteilung von Erwerbsquellen und -mitteln bezahlen zu lassen. Dass diese Zuteilungsverhältnisse viel Elend und auf jeder Stufe der sozialen Hierarchie peinliche Abhängigkeiten zur Folge haben und insgesamt die Festigkeit eines landesweit herrschenden Systems besitzen, lässt ein paar Rückschlüsse zu. Erstens darauf, dass da offensichtlich ein flächendeckender Mangel an Überlebensmitteln und Geldquellen verteilt wird und auch in dem Apparat herrscht, der die Verteilung des Mangels vornimmt: Weil es überall so wenig zuzuteilen gibt, finden sich ganz viele von der erstrebten Existenz ausgeschlossen; und soweit einer an eine Einkommensquelle herankommt, findet er sich eben in Abhängigkeit von verfügungsberechtigten Staatsagenten und Staatsparteifunktionären, geschädigt durch die Landessitte, aus Staatsmacht Geld zu machen, und mehr oder weniger genötigt, nach demselben Muster zu handeln. An diesem System der Mangelverwaltung wird zweitens ersichtlich, wie es um den arabischen oder spezieller: den ägyptischen Kapitalismus überhaupt bestellt ist: Dass im Dienst an fremdem Reichtum Geld verdient werden muss, steht fest. Doch für die flächendeckende Indienstnahme der verfügbaren Arbeitskräfte und ein darauf aufbauendes System bürgerlicher Revenuequellen reicht das Kapital, das von privaten Arbeitgebern im Land akkumuliert und aus dem Ausland investiert wird, bei weitem nicht. Die Ökonomie, von der die Nation lebt, ist überwiegend das Werk der Staatsmacht. Sie besteht zu einem erheblichen Teil in der internationalen Vermarktung von Küstenstrichen, Ölvorkommen und einem Kanal, also genauer: in einer Art politischer Grundrente, die die Höchste Gewalt im Land kassiert. Sie besteht des Weiteren zum großen Teil aus Unternehmen, die von staatlichen Agenturen – nicht zuletzt von der Armee – bzw. deren Schützlingen betrieben werden. Sie hängt von den Mitteln ab, die die Regierung zu beschaffen und einzusetzen vermag. Eine umfassende kapitalistisch produktive Ausbeutung des Volkes kommt auch dadurch nicht zustande, deswegen für eine große Masse das pure Existenzminimum nur dadurch, dass die Regierung für die vielen Armen ein Unterstützungswesen organisiert. Was an nationalem Reichtum zustande kommt, reicht nicht dafür, dass die besseren Stände ihn standesgemäß in freier Konkurrenz abgreifen; er wird eben von einer nach kapitalistischen Maßstäben ganz überflüssigen, „aufgeblähten“ Beamtenschaft und Funktionärsclique verteilt und verzehrt.
Dieser Herrschaftsapparat zieht verständlicherweise viel Unzufriedenheit auf sich, weil er den Mangel organisiert. Und er zieht logischerweise alle Unzufriedenheit im Volk auf sich, weil er nicht in schöner Arbeitsteilung mit einer herrschenden Klasse privater Geldbesitzer, die sich mit ihrem Monopol auf den Einsatz der gesellschaftlichen Arbeit das Kompliment „Arbeitgeber“ verdienen, als Garant allseitiger Rechtssicherheit über den Nöten seines Volkes und den unbefriedigten Ansprüchen seiner besseren Gesellschaft schwebt, sondern als all- und alleinzuständige Verteilungsinstanz fungiert. Deswegen können Staat und Staatspartei auch – anders als ein funktionstüchtiger Parteienpluralismus in einer gefestigten Demokratie – mit der massenhaften Unzufriedenheit nichts Positives anfangen. Schon der Wunsch nach durchgreifender Besserung der Verhältnisse bedeutet eine Absage an das etablierte Zuteilungssystem, ist deswegen untersagt und wird verfolgt. Und soweit aus der Unzufriedenheit in Selbsthilfe der Betroffenen etwas Konstruktives folgt, nämlich ein paralleles Versorgungswesen durch die islamische Religionsgemeinschaft mit ihrer eigenen klerikalen Hierarchie, unterscheidet die Obrigkeit rigide zwischen Versorgungsleistungen sozialer Art und rein moralischer Aufrüstung, die sie gerne von ihren Muslimbrüdern erbringen lässt, und einem rivalisierenden Apparat, der seine eigenen Abhängigkeiten und Loyalitäten erzeugt, die herrschende Nomenklatura in Frage stellt und deswegen nicht geduldet wird: Dessen Kader bringt man um oder sperrt sie weg, während die fromme Gemeinde die guten Werke zur Elendsbetreuung durchaus weiter verrichten darf; formelle und informelle Mitarbeiter der Staatssicherheit achten bei ihnen, aber natürlich auch sonst im Volk darauf, dass sich die unter den Massen verbreitete islamische Sittlichkeit keinesfalls als Gegenprogramm zu den im Land herrschenden politischen Sitten aufstellt.
Das hat sich eine relevante Minderheit empörter Ägypter nicht mehr gefallen lassen.
III.
Wenn die Protestbewegung vom Tahrir-Platz gegen „Korruption“ und „Unterdrückung“ und das „System Mubarak“ aufbegehrt, dann ist ihr Beweggrund eine tief sitzende Unzufriedenheit nicht bloß mit der vom Präsidenten befehligten Bürokratie, die den Leuten ihre – durchaus unterschiedlichen – Lebensverhältnisse zuteilt; auch nicht allein mit der Art und Weise, wie Staatspartei und Staatsgewalt dabei zu Werke gehen; sondern schon mit den großenteils armseligen, durchweg frustrierenden Existenzbedingungen, die dem Volk aufgeherrscht werden und die in so schreiendem Gegensatz zu den Formen bürgerlicher Existenz stehen, die den Ägyptern im Fernsehen ausgemalt, in Form unerschwinglicher Konsumgüter vor die Nase gesetzt, vielen auch mit Handy und Internet nahegebracht werden. Zum Gegenstand ihrer Proteste macht die Bewegung aber nicht wirklich diese Lebensbedingungen, sondern deren ungerechte Verteilung, die dabei waltende Beziehungs- und Bestechungswirtschaft, die Härte des obrigkeitlichen Zuschlagens gegen zu laute Kritik sowie das dafür verantwortliche Personal; also nicht den Mangel und dessen Gründe, sondern die Art und Weise seiner Verwaltung. Der Änderungswille der Demonstranten ist radikal; sie wollen die Übel ihres von Funktionären und Staatsbeamten abhängigen Daseins an der Wurzel packen. Doch als Grund allen materiellen und sozialen Elends identifizieren sie dann doch nicht das System des mit allgegenwärtiger Gewalt durchgesetzten ägyptischen Drittwelt-Kapitalismus und den darin programmierten Mangel an bitter benötigten Erwerbsquellen, sondern die zu diesem System gehörigen Formen, in denen dem Volk seine staatskapitalistische Mangelexistenz verabreicht wird. Und je größer und gerechter die Empörung, gespeist durch die Gemeinheiten des polizeilichen Draufhauens, desto entschiedener richtet sie sich gegen den obersten Regisseur des Gewaltapparats, der seine aufmüpfigen Untertanen so schlecht behandelt, und dessen Schergen.
Der Protest findet ein breites Echo. In den Städten des
Landes versammeln sich sehr viele, um ihrem Widerwillen
gegen das regierende Verbrecherpack Luft zu verschaffen,
das sie in ihrer Sicht um ihre Lebenschancen betrügt.
Unter denen finden sich ganz besonders viele der jüngeren
Generation, die in diesem Land auch an den neueren
westlichen Kulturtechniken teilhaben. Diese vielen jungen
Leute brauchen für ihren Aufruhr, dem sie damit zum Namen
Facebook-Revolution
verhelfen, weiter keine
gemeinsame politische Willensbildung, geschweige denn
eine oppositionelle Partei; sie folgen dem technisch
vervielfältigten Aufruf, nachdrücklich und öffentlich
über verwehrte Zukunftschancen und Drangsalierung durch
Bullen und Spitzel Beschwerde zu führen. Manche wollen
nach dem Motto let’s do something on Tahrir
ein
Stück freiheitliche Gegenwelt organisieren und der am
gleichen Platz versammelten Staatsmacht das Recht
abtrotzen, sich versammeln zu dürfen – auch das ist, nach
Lage der ägyptischen Dinge, ein Gegenprogramm zu dem
herrschaftlich verfügten Leben, das für sie kein Angebot
bereithält. Und es ist kommensurabel mit jeglicher
Unzufriedenheit und aller Verzweiflung, die den Aufruhr
trägt. Alle finden sich zusammen in dem negativen
Programmpunkt: Mubarak muss weg, sein Spiel ist aus,
seine Zeit abgelaufen. Und sie finden für ihr Weg
mit...
auch eine positive Fassung, eine Forderung,
die sie alle eint und wie ein politisches Programm
klingt: Das Volk will Demokratie!
Ohne Zweifel gibt es in der Protestbewegung etliche, die für ein oppositionelles Programm eintreten; die ein politisches Interesse verfolgen, um das herum sie eine Partei aufbauen wollen; und die unter dem Stichwort „Demokratie“ die Zulassung ihrer Sache durch die Staatsgewalt einfordern. Das gilt sicher für die Muslimbrüder, die von den Anwälten der Freiheit so argwöhnisch beobachtet und begutachtet werden wie früher die kommunistischen Parteien; die versprechen sich von freien Wahlen einigen Erfolg für ihr Reformprogramm. Andere wollen die herrschende Clique und deren Staatspartei durch eine eigene Organisation ablösen, um deren Funktion als Regisseur des staatlichen Zuteilungswesens selber zu übernehmen und selbstverständlich viel gerechter wahrzunehmen, und setzen dafür auf ihre Ermächtigung durch freie Wahlen. Ob noch andere als Schüler oder Parteigänger auswärtiger NGOs unterwegs sind, die mit der Forderung nach einem freiheitlichen Parteienpluralismus Gelegenheiten für staatstragende Parteien und Organisationen der westlichen Welt zur Einmischung in Wirtschaft und Politik der arabischen Staaten schaffen wollen, mag dahingestellt bleiben. Vor allem aber und ganz sicher fordern die meisten Demonstranten „Demokratie“, weil sie sich darunter überhaupt nichts anderes vorstellen als eine Herrschaft, die auf die Sorgen der Leute hört, Lebenschancen nicht verwehrt, sondern freigebig eröffnet und nicht jeden verprügelt oder einsperrt, der seiner Unzufriedenheit zu deutlich Luft macht. Mit der Realität von Demokratie und Marktwirtschaft hat diese Vorstellung nichts zu tun, mit der kapitalistischen Mangelwirtschaft Ägyptens und den Notwendigkeiten ihrer staatlichen Verwaltung auch nicht. „Demokratie“, der positive gemeinsame Nenner der Unzufriedenheit mit dem Mubarak-Staat, ist der Titel für den abstrakten Wunsch nach volksfreundlicher Herrschaft. Und das ist schlimm, weil schon damit feststeht, dass die Volksfreundlichkeit ein abstrakter Wunsch bleibt und die Herrschaft Realität.
IV.
Der ägyptische Aufruhr ist gewaltig genug, um die Machtfrage zu stellen, will sagen: die Macht der Staatspartei und der Polizei, der herrschenden Familien und vielleicht sogar des Geheimdienstapparats in Frage zu stellen. Das ist die eine Seite. Die andere Seite ist die: Alle Herrschaftskritik, die sich da Luft macht, gelangt nur bis zu einer polemischen Unterscheidung zwischen der schlechten Herrschaft, die weg muss, und einer guten, die an deren Stelle treten soll. Und deswegen langt der ganze Aufruhr auch praktisch zu weiter nichts als zu einem Volksbegehren: einem Appell von unten an eine oberste Instanz, die über dem Gegensatz steht, den die empörten Protestierer gerade eröffnen. Diese überparteiliche Instanz soll dem Volk gegen seine schlechte Herrschaft zu seinem Recht verhelfen. Und als solcher Garant der wahren Einheit von Volk und Führung kommt in den Augen der Aufständischen nur und ganz eindeutig die Armee in Frage. Diese den Gewaltapparat des verhassten Systems tragende Säule ist für sie offenbar die einzige im Staat vorhandene Institution, die sich bei Korruption und Unterdrückung nicht die Hände schmutzig gemacht hat, auf die daher Verlass ist und sich für die Rolle des machtvollen Subjekts anbietet, bei dem die Hoffnung auf „Freiheit und Demokratie“ gut aufgehoben ist. Die uniformierten Volksgenossen in ihren Panzern erklärt der Protest kurzerhand zu den Garanten eines besseren Ägypten.
Und da hat die Bewegung Glück: Ihre blauäugige
Spekulation, die Militärmacht des Staates ließe sich
einfach so von den Machenschaften ihres obersten
Befehlshabers und den Resten seines Gewaltapparats
abtrennen und auch noch als Hebel verwenden, um den
Herrscher aus seinem Amt zu jagen, geht auf. Das vom Volk
zur definitiven Klärung der Machtfrage auserkorene
Militär übernimmt angesichts der manifest
gewordenen Entzweiung zwischen den Massen und der
amtierenden Regierung tatsächlich die Rolle des
überparteilichen, allein um das Gesamtwohl der Nation
besorgten Streitschlichters. Gewiss nicht deswegen, weil
es den Generälen wesensfremd wäre, auf das eigene Volk
zu schießen
. Dies halten sie spätestens ab dem
Zeitpunkt für unangebracht, zu dem für sie erstens
feststeht, dass der Volksaufstand zwar eine Revolte gegen
die politischen Machthaber ist, aber eindeutig zu
erkennen gibt, dass er in all seinem Furor die Gestaltung
der künftigen Staatsordnung den dazu berufenen
uniformierten Staatsorganen anvertrauen will; und weil
zweitens auch und vor allem klar wird, dass die
Führungsmacht des Westens ihren Mubarak fallen lassen und
ihr Heil im durch das Militär abgesicherten geordneten
Übergang zu neuen, stabilen Verhältnissen im Land suchen
will. Also retten die Kommissköpfe die Einheit
der Nation. Mubaraks letzter Versuch, sich in einer
feierlichen Rede als Vater der großen ägyptischen
Volksfamilie zu geben und ihr weiteres Wohlergehen der
Obhut seines zum Vize bestellten schärfsten Bluthundes zu
überantworten, kommt zu spät. Der Rat des Militärs opfert
die Figuren, an denen sich die Entzweiung zwischen Volk
und Führung festmacht, und übernimmt selbst die Macht im
Staat, freilich nur vorübergehend. Seinen Putsch widmet
er auftragsgemäß dem übergeordneten Zweck, den
Übergang zu demokratischen Verhältnissen
auf den
Weg zu bringen, in Ägypten für Verkehrsformen im Umgang
des Staats mit seinem Volk zu sorgen, in denen letzteres
sich nicht unterdrückt, allein schon deswegen
endlich gerecht behandelt und daher auch gut
beheimatet fühlt: Die Militärs geben eine Reform der
Verfassung in Auftrag, die in Zukunft die Rechtsformen
garantieren soll, in denen sich die Interessen des Volkes
zu Wort melden dürfen, erklären damit den Grund aller
Proteste für erledigt – und die Demonstranten versammeln
sich auf ihrem symbolträchtigen Platz, um den
Sieg zu feiern, den sie erkämpft haben.
V.
Die Haudegen, die sich 30 Jahre lang bestens als Stütze
des Systems Mubarak
bewährt haben und auch zu
seinen maßgeblichen Profiteuren gehören, sind mit ihrer
Aufgabe auf dem für sie ungewohnten Terrain keineswegs
überfordert, Herrschaft ist ja auch kein Lehrberuf. An
alle maßgeblichen Organe der Interessenvertretung, die es
im Land gibt, ergeht die Einladung, mitzumachen beim
Aufbau demokratisch formvollendeter Wahlalternativen;
auch aus der bislang staatszersetzender Umtriebe
verdächtigten Muslimischen Brüderschaft dürfen sich
einzelne Gruppierungen um die Aufwertung zum
legitimierten Wahlverein bewerben. In der Hauptsache aber
erfährt der regierende Militärrat von den auswärtigen
Interessenten an einer erfolgreichen
Demokratisierung Ägyptens, was er für die zu tun bzw. auf
jeden Fall zu unterlassen hat. Die Geldgeber aus Amerika
an erster Stelle, dann aber selbstverständlich auch alle
anderen Mächte, die ihr spezielles Interesse an einem
stabilen Ägypten haben, bieten den neuen
Machthabern ihre Hilfe an. In Sachen Demokratie
sind sie ja Experten, und sie geben überaus deutlich zu
verstehen, warum ihnen so viel an einer erfolgreichen
Demokratisierung dieses Landes gelegen ist. Für sie ist
die Einführung dieser Verfahrensweise zur Ermächtigung
des Herrschaftspersonals vor allem eines: eine
einzigartige Gelegenheit, Einfluss zu nehmen;
nicht bloß auf diese oder jene Regierungsentscheidung,
sondern auf die Bildung des Staatswillens, auf
die Ausformulierung und Verwirklichung der passenden
Herrschafts-Räson. Denn was als Erstes, als erster
Schritt zu wahrer Demokratie und freien Wahlen ansteht,
ist die Einführung eines Parteienpluralismus; und das
überlassen die Politiker aus den Heimatländern der
Demokratie mitnichten den eingeborenen Patrioten und
schon gar nicht den Facebook-Kindern. Mit ihrem
Expertenrat begleiten sie die Formulierung von
Zulassungsbedingungen für politische Vereine, damit die
Wahlfreiheit des Volkes sich nicht an der falschen Stelle
austobt und womöglich den Radikalen unter den
Muslimbrüdern zu einem Anteil an der demokratisierten
Staatsmacht verhilft. Und mit Rat und Tat, mit Geld und
Abgesandten aus ihren eigenen Parteien und
Parteistiftungen mischen die Zuständigen aus Europa und
Amerika zielstrebig mit bei der Gründung von
Wahlvereinen, die dem Volkswillen die alternativlose
Orientierung auf Marktwirtschaft, vorzugsweise die mit
den größeren Freiheiten für auswärtige Investoren, auf
Dienste am nahöstlichen „Friedensprozess“ und auf sichere
Passagen durch den Suez-Kanal in Gestalt gefälliger
Wahlalternativen vorgeben und zuverlässiges Personal an
die Staatsspitze bugsieren. Dem Volk wird ganz nebenbei
vorsorglich erklärt, dass für es die schöne Aufgabe
vorgesehen ist, diese neue Demokratie aufzubauen, ohne
sich materiell etwas davon zu versprechen; vor allem hat
es daheim zu bleiben und soll seine neue Freiheit nicht
mit einer Einreisefreiheit nach Europa verwechseln – dies
umso weniger, sagt die deutsche Kanzlerin, als mit der
errungenen Freiheit ja ein denkbarer Asylgrund
entfällt... Als hätte je Mubarak als ein solcher
gegolten!
Fest stehen damit jedenfalls die Leistungen, die jede künftige Herrschaft in Ägypten zu erbringen, und die Maßstäbe, denen sie dabei zu genügen hat.
PS.
Gäbe es den Weltgeist, hätte er sich in einer launigen
Stunde folgenden Scherz ausgedacht und augenblicklich als
Episode der Weltgeschichte inszeniert: Ein Präsident der
Weltmacht beschließt, dass die Völker auf dem Globus,
insbesondere die arabischen im Nahen und Mittleren Osten,
dringend Demokratie brauchen – so dringend, dass
ihnen dieses Freiheitsgeschenk nötigenfalls auch im Wege
eines gewaltsam erzwungenen regime-change
zu
überreichen wäre. Der Mann geht davon aus, dass allein
diese Form von Herrschaft die nötige Effizienz besitzt,
Völkerschaften so ins Regierungsgeschäft einzubinden,
dass am Ende die Sicherheit und die
Stabilität herauskommen, die Amerika braucht.
Außerdem ist er der festen Überzeugung, dass in jedem
Weltbürger ohnehin ein Amerikaner steckt, den es von
Natur aus zur Freiheit drängt. Sein Nachfolger mag von
letzterem nicht weiter ausgehen. Er hält auch –
ernüchtert von den Ergebnissen dieser Mission in Irak,
Afghanistan, Pakistan und anderswo – den Aufwand, für den
Export der Demokratie die Welt mit Krieg zu überziehen,
für eher kontraproduktiv, und bekundet daher seinen
Respekt vor den kulturellen Eigenarten der Völker
,
denen man keinesfalls westliche Ideen von gutem Regieren
aufnötigen dürfe. Dann verfallen diese Völker in ihrer
Eigenart ganz von allein darauf, sich für Freiheit und
Demokratie stark zu machen, schicken ihre Herren in die
Wüste – und stellen die Vorbildnation dieser großartigen
Werte damit vor ein wunderbares Problem: Wie richtet man
als menschheitsbeglückende Alternative zur orientalischen
Despotie echt demokratische Verhältnisse so ein, dass sie
garantiert nichts von all dem in Unordnung bringen, wofür
der Despot gesorgt hat?