Die geistige Führung wird aktiv
Widerwärtige Orientierungshilfen fürs nationale Gemüt
Die deutschnationale Elite doziert über die gefühlsmäßige Bindung an das Vaterland: Einen gewöhnlichen Hurra-Patriotismus ohne die üblichen Bedenken halten viele nach dem Anschluss der DDR für überfällig; die Basis denkt mit und Aktivisten vergehen sich an Ausländern und an Symbolen der Erinnerungskultur. Andererseits läuft die Debatte über die angemessene Hauptstadt, über Denkmäler und andere Symbole unrund, und der personifizierte „Schlussstrich“ Heitmann scheitert als Präsidentenanwärter. Die Schamkultur hat nämlich ihre Meriten – Verurteilung der Vergangenheit gleich Persilschein für die Gegenwart –, und vor allem, der DDR-Erfolg markiert gar keinen Neubeginn aus eigener Kraft und eigenem Recht, keinen Aufbruch auf einem alternativen Weg in eine glorreiche deutsche Zukunft.
Aus der Zeitschrift
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Nationalismus als Problemfall
- Vom „gesunden“ deutschen Nationalgefühl
- Von der Welt politischer Symbole
- Die schwierige Kunst der Selbstdarstellung der deutschen Nation
- Die neue deutsche Hauptstadt
- Der Versuch eines neuen deutschen Präsidenten
- Das deutsche Volk: Hört die Signale
- Die Reaktion: Der gute deutsche Patriotismus schlägt zurück
- Die schwierigen Fortschritte bei der Endlösung der deutschen Vergangenheitsfrage
- Die gewissen Schwierigkeiten mit der ideologischen Einheit von Volk und Führung
- Die Produktivkraft der neuen nationalen Moral
Die geistige Führung wird
aktiv
Widerwärtige Orientierungshilfen
fürs nationale Gemüt
Nationalismus als Problemfall
Daß sich die Elite der deutschen Politik am Jahrestag der „deutschen Nationalstiftung“ im symbolträchtigen Weimar versammelt, innere Einkehr und dann schöne Reden zur Ehre des wiedervereinigten deutschen Nationalismus hält, überrascht hierzulande schon längst keinen mehr. Weihevolle Würdigungen der deutschen Nation, ihrer Rechte und Größe, gehören inzwischen zur öffentlichen Routine, und mehr als eine Übung in dieser war das Treffen in Weimar nicht. Merkwürdigerweise aber war der deutsche nationale Geist, der da aus Weimar herwehte, schon ein wenig gebrochen – und auch das hat hierzulande keinen überrascht: Offenbar gehört das auch zur Routine, daß einem elitären patriotischen Haufen ausgerechnet bei Gelegenheit der Verehrung des deutschen Nationalismus einfällt, vor „Nationalismus zu warnen“. Keiner hat gefragt, wieso die darauf verfallen, vor sich selbst zu warnen, und auch einiges andere, das sich gar nicht von selbst versteht, erregte überhaupt kein Aufsehen: Weshalb kommt jener Altbundeskanzler mit dem bekannt guten Geschmack, dem „die Liebe zur Nation“ als die allernatürlichste und gesündeste Gemütsregung eines Deutschen erscheint, im selben Atemzug darauf, ausgerechnet von dieser „Liebe“ zu verlangen, sie dürfe „nie wieder zu Nationalismus entarten“? Was bewegt ihn, der doch ohnehin nur völkisch denkt, wenn er staatsmännisch im „Stolz auf das eigene Volk“ schwelgt, eigentlich dazu, davor zu warnen, daß dieser Stolz „zu einer völkischen Idee mißbraucht“ wird? Und was geht wohl in dem obersten Repräsentanten der deutschen Nation, Präsident Weizsäcker, vor, der bei derselben Gelegenheit im pluralis majestatis von seiner Not erzählt, jetzt, ganz kurz vor Dienstschluß, mit furchtbar langen Stangen nach den Inhalten von dem stochern zu müssen, das er doch so glanzvoll zu repräsentieren verstand – „noch tasten wir nach den Inhalten der Nation mit dem Adjektiv deutsch, und doch können wir nicht darauf verzichten, selbst wenn wir es wollten“?
Kleine Sinnkrise beim großen deutschen Patrioten? Nicht ganz. Denn das, was ihm und seinen erlauchten Kollegen so am Herzen liegt – das freie und unbefangene Bekenntnis zum heiß verehrten Vaterland; wonach sie so verkrampft suchen – die griffigen „Inhalte“ und eindeutigen Parolen, die ein auf das Adjektiv deutsch geeichter Patriotismus so gerne anschwärmt, und die überzeugenden nationalen Titel, unter denen ein deutsches Gemüt die vaterländische Sau herauslassen kann: Damit haben nicht nur ein paar abgehalfterte Repräsentanten der deutschen Nation so ihre Probleme.
So richtig von Erfolg war nämlich kein einziger der vielen gutgemeinten Versuche gekrönt, der deutschen nationalen Sache, die sich, „wiedervereinigt“ und „endlich souverän“, mit ganz neuer Wucht aufbaut, auch das ihr geziemende politische Selbstbild zu verleihen. Ob in Gestalt seiner frisch gekürten Hauptstadt, in der des um das Hersagen patriotischer „Inhalte“ überhaupt nicht verlegenen Kandidaten Heitmann oder in der des Bundeskanzlers, der seine Präsenz bei der Siegesfeier der Kriegsalliierten für einen unerträglichen Affront gegen Deutschland hält: Wo immer die politischen Machthaber Zeichen für den Aufbruch ihres neuen Deutschland setzen und mit ihnen ihre Öffentlichkeit für sich und ihre Sache einnehmen wollen, gelingen ihnen diese Übungen in überzeugender symbolischer Selbstdarstellung irgendwie regelmäßig nicht, ernten sie zersetzende Meckerei, wo sie ein patriotisches Hurra! einfahren wollen, und Streit, wo es ihnen gerade um die jedermann ideell vereinnehmende Darstellung der deutschen Sache geht. Und wenn dann auch noch die für Deutschland und sein Ansehen unangenehme Sache mit den alten Kriegsverbrechen einfach nicht vom Tisch kommt – wegen der vielen deutschen Patrioten und obwohl Deutschland sich schon längst und höchst offiziell von der Anklagebank weggesetzt hat; wenn ein denselben Patrioten eigens gewidmetes Fußballfest ausfallen muß – wegen zuviel schwarz-rot-goldener Festlaune und obwohl der Führer schon längst verstorben ist –, dann stellt sich die Frage, was der Nation da eigentlich mißlingt und warum.
Vom „gesunden“ deutschen Nationalgefühl
Politiker, die mit dem deutschen Patriotismus von Berufs wegen befaßt sind, aber auch Gelehrte und Leitartikelschreiber, widmen sich dem deutschen Nationalbewußtsein auf extrem einfache Art: Sie schätzen es über alles. Sie gehen schlicht und ganz grundsätzlich davon aus, daß dieses Phänomen zur natürlichen Grundausstattung eines jeden gehört, der mit deutschem Paß so dahinlebt. Das sei, behaupten sie einfach, allen Deutschen gemein, und weil dem so sei, sei es umgekehrt auch das, was diese Deutschen als Deutsche gemein mache. Dann bekräftigen sie ihre Anschauung von der quasi naturhaft verwurzelten Liebe zum Vaterland noch per Verweis darauf, daß nicht nur die Deutschen, sondern auch alle anderen Insassen von anderen Staaten dieselbe, nur eben anders beschaffene innerliche Bindung an ihr Gemeinwesen aufwiesen, und damit ist das Objekt ihrer Wertschätzung endgültig reif für den enorm aktuellen Zeitbezug, auf den sie hinauswollen: Endlich hätten auch die Deutschen wieder „zur Normalität zurückgefunden“, heißt es, und dem Geisteszustand von Leuten, die sich auf „deutschen Patriotismus“, „Liebe zu Deutschland“, „Stolz auf Deutschland“ und ähnliches mehr verstehen, wird ein weiteres Mal pauschal bescheinigt, daß er goldrichtig liegt, furchtbar „normal“ und „gesund“ ist und nichts mehr falsch machen kann, im Grunde jedenfalls. Wenn doch einmal etwas falsch läuft, der deutsche Patriotismus in seinem Überschwang sich allzusehr gehen läßt und der Rechtsordnung unangenehm auffällt, dann wissen seine großen Liebhaber nämlich auch sofort, daß es an ihm nicht gelegen haben kann: „Falsch verstandener Patriotismus“ wäre das dann gewesen, der Türken anzündet, „übersteigerter“ Nationalismus in der häßlichen Fratze jenes „-ismus“, der für „entartet“ und deswegen einem „guten Deutschen“ überhaupt nicht zu Gesicht steht…
Dagegen ist zu sagen, daß eine „Liebe zum Vaterland“ weder natürlich und normal noch gesund ist, weil es sich beim „Patriotismus“ um eine staatsbürgerliche Idiotie sondergleichen handelt, die im übrigen gar nicht „falsch zu verstehen“ ist und beim Übergang zum Totschlag erst recht kein bißchen „entartet“.
Das allgemein für so „gesund“ und nachgerade unschuldig erachtete deutsche Nationalbewußtsein kommt, wie sein Name schon sagt, nicht von Natur, sondern ist Werk einer sehr freiwillig vollzogenen Parteinahme für die Umstände, in die man aufgrund natürlicher Launen hineingeboren wurde. Was diese Umstände im einzelnen auszeichnet, ein fix und fertig eingerichtetes Staatswesen z. B. mit einer Eigentumsordnung und Geldverkehr, kommt in dieser Parteinahme allerdings nicht vor, so daß es schon sehr abstrakt zugeht, wenn dem Vaterland die „Liebe“, also eine aus dem Inneren herrührende gewisse Verbunden- und Verfangenheit erklärt wird. Und angesichts der Verstandesleistungen, die herauskommen, wenn freie Bürger abstrakt denken, möchte man an der Produktivkraft dieses doch so nützlichen Vermögens leicht zweifeln:
Als deutsche Bürger haben sie genau das und genausoviel gemeinsam, wie sie von der politischen Gewalt, die über sie herrscht, gemeinsam gemacht werden. Die klammert sie zum Kollektiv Volk mit dem Adjektiv deutsch zusammen, grenzt damit Menschen anderer Staatszugehörigkeit von diesem Kollektiv aus und stiftet an ihnen so eine abstrakte Identität, die es wirklich gibt: Sie alle sind Untertanen der einen politischen Gewalt, die sie zu solchen macht.
Die modernen deutschen Bürger mit Schulbildung können mit dieser, ihrer wirklichen Identität aber offenbar nichts anfangen. Sie bilden sich einfach kein unbefangenes Urteil mehr darüber, was es denn nun für sie und überhaupt heißt, Deutscher zu sein. Welche feinen Rechte und noch edleren Pflichten ihre Staatsgewalt für sie vorgesehen hat, interessiert sie genausowenig wie die Frage, wo denn die nicht gelinden Unterschiede bei der Verteilung der Lebenschancen und die Gegensätze herkommen, an denen die Interessen für die überwiegende Mehrheit dieses deutschen Kollektivs zuschanden werden. Vielmehr ist das Bewußtsein, das sie von sich und dem Verhältnis, in dem sie zu ihrer Obrigkeit stehen, haben, ausschließlich mit der Verklärung des Gewaltverhältnisses befaßt, das Deutsche zu solchen macht: Getrennt von allen Zwängen und Notwendigkeiten, die die wirklichen Geburtshelfer „der Identität der Deutschen“ sind und die Nation zu einer solchen machen, sucht es erst noch nach derselben; partout will es sich „das Deutsche“ nicht nur jenseits der eingerichteten Welt der Pflichten, Chancen und Unmöglichkeiten denken – es will diese damit auch noch auf ihren eigentlichen, allerletzten und höchsten Bestimmungs- und Verstehensgrund zurückgeführt und mit der Substantivierung eines Adjektivs tatsächlich das Wesen all dessen zur Sprache gebracht haben, was auf dem Boden der gleichnamigen Nation so läuft.
Freilich – zu mehr als zu bloßen Bildern gelangt diese Suche nach der gleichermaßen unbegründeten wie unbegründbaren Instanz, von der aus alle Deutschen so schön gleichmacherisch „Wir“ zueinander sagen können, dann auch wieder nicht. Angefangen von Goethes in jeder Hinsicht untauglichem Versuch – „Der echte Deutsche bezeichnet sich durch mannigfaltige Bildung und Einheit des Charakters.“ – bis hin zu dem deutschen Präsidenten Weizsäcker, der noch immer nach echt deutschen Inhalten tasten muß, hat noch kein großer Deutscher einen intellektuell einigermaßen überzeugenden substantiellen Inhalt seines deutsches Nationalbewußtseins anzugeben gewußt – und das braucht es auch gar nicht. Dieses Bewußtsein will ja gar keines von der Nation selbst sein; es zielt ja gar nicht auf Einsichtnahme in und Wissen über sie, sondern auf das glatte Gegenteil: Es will sich ideell umstandslos eins machen mit dem großen Ganzen, das es denkt; es will jede Distanz zur Nation tilgen und sie so gewissermaßen in sich verinnerlichen – so daß es mit all den bodenlosen Vorstellungsinhalten des „typisch Deutschen“ bestens bedient ist, mit denen sich ein zeitgenössischer deutscher Untertan mit allen anderen und seiner Obrigkeit dazu zusammenzudenken pflegt.
Und wie es halt so ist, wenn die ganz normalen Arschlöcher der deutschen Nation ihr Selbstbild daraus verfertigen, in einer großen Nation eingereiht zu sein: Dann laufen sie eben als große Arschlöcher mit dem Adjektiv deutsch herum. Ihr Bewußtsein ist dann so kurz, daß es auf ein Etikett paßt: „Ich bin stolz darauf, Deutscher zu sein“. Und dasjenige derer, die sich ob der demonstrierten Gesinnung als Deutsche auch noch schämen, reicht nicht viel weiter – die haben so ungefähr dasselbe, auf Deutschland „stolze“ Bewußtsein, nur eben dazu von sich die edle Anschauung, dabei noch für das „Ansehen“ der verehrten Nation zu bürgen und für ihren guten Ruf Verantwortung zu tragen.
Mit dem großen Kollektiv und sonst nichts im Kopf machen überzeugte Nationalisten dann endlich Schluß mit der passiven Haltung, die sie ihrer Obrigkeit gegenüber ansonsten in ihren praktischen Belangen an den Tag legen, und werden zu Kämpfern ihrer Sache – gegen all die, die wegen ihrer Geburt am verkehrten Ort „bei uns“ nichts verloren haben, Rechte in Anspruch nehmen, die ihnen in Wahrheit entzogen gehören, und überhaupt anders sind als „wir“… Und es sind überhaupt keine aus der Art geschlagenen „Patrioten“, die im Namen der nationalen Sache von ihrer Obrigkeit nur noch „hartes Durchgreifen“ einfordern oder stellvertretend für sie selbst Hand anlegen und einen undeutschen Mißstand erledigen. Die gewisse innere Erregung, einen Asylanten auf frischer Tat gestellt zu haben, befällt jeden braven Bürger, der sich die Gewaltfragen seines Staates zu seiner höchst persönlichen Angelegenheit gemacht und so in sein Gefühlsleben eingeprägt hat, daß er an ihrem Maßstab entlang sein praktisches Wohlbefinden sortiert. Umgekehrt sieht man daran, wie dieses Gefühlsleben eines guten deutschen Patrioten dann beieinander ist, wie die Maßstäbe beschaffen sind, an denen es sich orientiert: Wo Deutsche sich am wohlsten fühlen, wenn sie ganz unter sich sind, riecht die Stimmung immer schwer nach Totschlag.
Von der Welt politischer Symbole
Ein Volk, das mit diesem innerlich gefestigten nationalen Bewußtsein ausgestattet ist, bereitet seiner Obrigkeit garantiert keine Probleme der grundsätzlichen Art. Mit Aufsässigkeit, gar ernst gemeinter Aufkündigung der Gefolgschaft muß sie bei Untertanen garantiert nicht mehr rechnen, die es sich bis in ihr Gefühlsleben hinein zur Gewohnheit gemacht haben, ihre Zwangsmitgliedschaft im deutschen Staatswesen als ganz großes Vorrecht gegenüber dem Rest der Menschheit zu genießen. Das heißt freilich nicht, daß sie sich gegenüber ihren prinzipiell fügsamen Untertanen nicht auch gewissen Ansprüchen ausgesetzt sieht und diese auch zu befriedigen hat. So anspruchslos und passiv die nationalistische Gesinnung von Untertanen nach der Seite hin ist, die den Umgang mit den Vorgaben betrifft, die ihre fürsorgende Staatsgewalt ihnen in Sachen praktischer Lebensführung hinsemmelt, so anspruchsvoll und fordernd wird sie nach der Seite hin, die die Befriedigung ihrer rein ideellen Drangsale betrifft und ihr exklusives Recht, einem nationalen Ganzen zuzugehören, auch richtig bedient sehen will.
Moderne Staaten wissen um dieses Bedürfnis ihrer Untertanen, und auch, wie es zu befriedigen ist. Jenseits und getrennt von den banalen Verrichtungen, die der Rahmen der eigentlichen Regierungstätigkeit so vorsieht und in dem sich um die unerläßlichen Staatsfunktionen gekümmert wird, bauen sie sich eigens für ihr Volk nochmals auf. Sie präsentieren sich ihm als das große nationale Ganze, das zwischen oben und unten, Herrschern und Beherrschten keine Unterschiede mehr ausmacht. Das abstrakte Ungetüm einer nationalen Identität macht sich konkret, gießt sich in Symbole, die Verfassungsschutz genießen, und lebt in denen als Gegenstand der ästhetischen Anschauung fort. Insofern die Nation in Fahnen, Aufmärschen, Gedenktagen, Adlern, Zapfenstreichen, Denkmälern, Hymnen und dergleichen Kunstwerken mehr sich verherrlicht, handelt es sich dabei nicht um (verbotene) Gewaltverherrlichung – obwohl natürlich nichts anderes als das stattfindet, wenn es feierlich wird und die politischen Führer ihrem Volk und allen fremdländischen Völkerschaften dazu Wucht und Größe der nationalen Sache sinnlich vergegenwärtigen, in der sie vereint sind: Der nationalen Gemeinde soll das Recht der Nation absolut erscheinen, und genau das tut es auch, wenn die Obrigkeit ihre Entschlußkraft und ihre Fähigkeit zu seiner gewaltsamen Durchsetzung symbolisch sinnfällig macht.
Sicher nimmt es schon leicht kindische Züge an, wenn die obersten Herren des Staatswesens sich vor Fahnen verneigen und im Chor das Deutschlandlied absingen, daß es weh tut. Kindereien sind das aber trotzdem nicht, und das gilt auch für den ganzen Rest der politischen Symbolwelt, in der sich die Nation darstellt. Für sich genommen ist diese Welt unwichtig und voller Unsinn. Erst recht, vergleicht man sie mit den politischen Machenschaften, mit denen die Regierenden ihre nationale Sache wirklich vorantreiben. Welche moralische Lichtgestalt dem Staat präsidiert, und in welcher Hauptstadt vor allem; ob die auch noch Olympiastadt wird; ob eine Euro-Bank nach Frankfurt kommt, eine Dependance der UNO nach Bonn; mit welchem pomp & circumstances man sich von welchen Besatzermächten verabschiedet, wo man besser nicht hingeht und mitfeiert, wenn andere zur Gala bitten, weil sie sich auch auf die Kunst der symbolischen Selbstdarstellung verstehen: An bescheuerten Fragen dieser Art entscheiden sich politische Erfolge oder Niederlagen der nationalen Sache wirklich nicht, weil es um deren handfeste Zwecke ja gar nicht geht. Andererseits bedeuten sie zugleich unglaublich viel, und zwar für alle, denen am Vorankommen der Nation gelegen ist: Nach innen, das eigene Volk betreffend, wird in ihnen die Einheit von Führung und Geführten zelebriert, und das ist für letztere sehr wichtig, denn die erhalten immerhin so gut wie den einzigen ideellen Lohn ihrer Treue in den Formen ausbezahlt, in denen sich die Nation in ihrer ganzen Größe und Pracht vor ihnen aufbaut. Nach außen, die restliche Staatenwelt betreffend, ist der nationale Symbolismus gleichfalls von außerordentlicher Bedeutung. In den symbolischen Bezeugungen deutscher Pracht und Herrlichkeit machen sich Rechte und Ansprüche des großen nationalen „Wir“ genau den Adressaten gegenüber geltend, die als ihre prinzipiellen Hindernisse ausfindig gemacht sind und an die die entsprechende Grußadresse ergeht: Getrennt vom politischen Tagesgeschehen teilt die deutsche Nation dem Rest der Welt nochmals ihr Selbstverständnis mit, daß all ihre Anliegen Respekt erheischen und dieser Respekt ungefähr für alles gilt, was sie als ihr Recht geltend macht.
So haben die aberwitzigsten Formen deutscher Selbstdarstellung, um die sich die Herrscher der Nation bemühen, erstens Sinn und Bedeutung. Zweitens aber auch Gewicht, denn sie werden in dieser Bedeutung auch verstanden und in dem Sinn auch genommen, den sie haben: Zuhause befaßt sich eine ganze Öffentlichkeit mit deutscher Politik wesentlich unter den Auspizien ihrer symbolischen Repräsentation. Den stattfindenden Alltagsimperialismus deutscher Außenpolitik hakt sie als größte Selbstverständlichkeit ab – und mustert mit Akribie die Führergarnitur unter dem Gesichtspunkt durch, ob und wie sie sich bei ihren Geschäften darauf versteht, eine gute Figur und damit der deutschen Nation Ehre zu machen. Durchsetzung gegen die Konkurrenz ist damit allemal gemeint, aber eben als Grundsatzfrage deutschen Rechts, weswegen die imperialistische Konkurrenz der Nationen im öffentlichen Meinungsbild als Kreuztabelle existiert, aus der hervorgeht, wer sich von wem etwas hat sagen lassen müssen und wer nicht. Für die Politik und ihre kritische Beurteilung nach innen gilt erst recht dasselbe, und der Führer macht die beste Politik, der in seinem Auftreten, in seinen Verlautbarungen und Grußadressen an die nationale Gemeinde sich am besten darauf versteht, die Nation zur Einheit zu versammeln und ihr überzeugend zu sagen, wo es langgeht.
Das wird natürlich nicht nur im geistigen Innenleben der Nation verstanden. Grundsatzerklärungen dieser Art werden, gerade weil sie so elementar den Durchsetzungswillen der Nation umfassen, von all denen bestens verstanden, die als – ideelle oder wirkliche – Repräsentanten eines nationalen Willens denselben Standpunkt seines absoluten Rechts vertreten – nur eben des Rechts einer anderen Nation: Die bemerken an ihnen zurecht die Feindschaft, die dem Recht ihrer Nation, das sie für selbstverständlich halten, erklärt wird, und deswegen ist der diplomatische Verkehr zwischen Staaten häufig so voll von „Verstimmungen“, die sich nach Graden ihrer „Ernsthaftigkeit“ unterscheiden, ohne daß im einzelnen zur Sprache kommen müßte, welche politischen Interessen da gegen welche anderen stehen.
So hat im Grunde alles seine Ordnung: Das nationalistische Gemüt des einheimischen Volks verlangt nach der Anschaulichkeit seines Wahns vom nationalen Kollektiv und dessen höherem Recht; seine Führer bedienen es mit den entsprechenden politischen Symbolen, die von jedem In-, aber auch Ausländer, den das nationale Recht betrifft, genau so, wie es gemeint ist, verstanden werden. Und im Inneren der Nation kontrolliert eine ganze „vierte Gewalt“ die Führer unter dem einzigen Gesichtspunkt, ob sie dem absoluten Recht der Nation gerecht werden, indem sie es in ihrer Selbstdarstellung überzeugend repräsentieren.
Mit Politik hat diese Funktion der Öffentlichkeit insofern zu tun, als die daneben ja stattfindet, die einen sie machen und die anderen sie auszuhalten haben. Daß diesbezüglich keine Kontrolle stattfindet, bedeuten diese Symbole nämlich schon irgendwie auch. Doch obwohl das alles so einfach ist – manchmal läuft sogar dabei etwas schief.
Die schwierige Kunst der Selbstdarstellung der deutschen Nation
Der rund 40-jährige Aufstieg des Weltkriegsverlierers Deutschland zur respektablen Weltwirtschaftsmacht ging mit einem ziemlich un-nationalen Selbstbild dieser Nation einher: Demzufolge habe es die Nation nur dank der enormen deutschen Tüchtigkeit bei Unternehmern wie beim Arbeitsvolk, nur durch freien Handel und ganz ohne Einsatz gewaltsamer Mittel zum „Exportweltmeister“ und ihre DM zum Weltgeld gebracht; gegen nichts und niemanden auf der Welt habe sie irgendwelche feindselige Absichten, was man erstens dem Umstand entnehmen sollte, daß sie ihre Außenpolitik ganz viel im Geiste des „Ausgleichs“ und der „Versöhnung“ bestritt; und zweitens schon daraus zu ersehen hatte, daß sie in Militärfragen gar nicht souverän und strikt an die Funktion gebunden gewesen sei, die Ostflanke der NATO zu verteidigen.
Der Wahrheit bezüglich der wirklichen Karriere deutscher Nachkriegspolitik entspricht dieses Selbstbild nicht ganz, den Besonderheiten einer Weltordnung, in der die Deutschen gewissermaßen zur Bequemlichkeit einer Konkurrenz mit wirtschaftlichen Mitteln allein verurteilt waren, allerdings irgendwie schon: Die praktische Regelung von härteren Angelegenheiten der Weltaufsicht war ja tatsächlich den in Fragen der Gewaltanwendung souveränen Partnern des „Freien Westens“ vorbehalten; die deutsche Wirtschaftsmacht machte für sich ja wirklich nur das Beste aus dem Umstand, daß die Mitglieder dieses Vereins ihrer Verpflichtung auf „Einvernehmen“ und „Zusammenarbeit“ auch dann treu zu bleiben hatten, wenn die Ergebnisse der Konkurrenz sich ein wenig ungleich verteilten; die „Versöhnung“ mit den Völkern im Osten muß im Rahmen des Zersetzungswerks „Wandel durch Handel“ ja schon auch irgendwie stattgefunden haben, und daß vom unbedingten deutschen Nationalismus nach Westen so gut wie nichts, von „europäischer Integration“ aber sehr viel zu hören war, hatte auch in der Beschaffenheit des realen Erfolgswegs dieser Nation seinen guten Grund.
Mit den Besonderheiten dieser Lage ist es nunmehr vorbei, und damit auch mit der Besonderheit der deutschen Nationalideologie. Deren Renovierung steht an und wird von maßgeblicher Seite betrieben, und auch wenn diesbezüglich schon wieder eine Generallüge die Runde macht – „wir“ werden bloß „endlich normal“: Auch in diesem Fall hat die neu in Kurs gesetzte politische Symbolik in jeder Hinsicht so ihre lehrreiche Bedeutung.
Was einige Tausend Quadratkilometer Land und einige Millionen Bewohner desselben bedeuten, wenn sie auch noch darüber kommandieren dürfen, war den Regierenden in Bonn am Rhein schon ganz früh klar. Die haben überhaupt nicht groß abgewartet, was aus der annektierten Ostzone wirklich für Wachstum und Bruttosozialprodukt herauszuholen ist, wenn sie sie fertig „abgewickelt“ haben, sondern eine Bilanz ganz eigener Art gezogen. Diese betraf die abstrakten Machtgrundlagen der Nation und besagte im konkreten Fall schlicht, daß Deutschland in jedem Fall mächtiger geworden ist, als es vorher war. Und auch ohne daß sie irgendwie gewußt hätten, was genau sie nun mit ihren vergrößerten Machtmitteln anzufangen hätten: Daß mit ihnen im Rücken nunmehr die Nation mehr Rechte besitzt und mit mehr Gewicht die Durchsetzung ihrer Interessen betreiben kann, Deutschland also ein Staat ganz neuer Qualität geworden war – das jedenfalls wußte in Bonn jeder. Und damit dies auch alle merkten, die es mit deutscher Macht und deutschen Rechten demnächst womöglich anders zu tun bekommen sollten, wurde von maßgeblicher Seite ein interessanter Vorschlag eingebracht:
Die neue deutsche Hauptstadt
Daß im Zuge der Vertiefung dieses Vorschlags aus diesem eine „Hauptstadtfrage“ und, als deren krönender Abschluß, eine „Hauptstadtdebatte“ im Parlament wurde, lag nun überhaupt nicht daran, daß irgendjemand ernsthaft die Frage aufgeworfen hätte, was an dem Umstand denn so von Belang ist, von wo aus die Regierungsgewalt ausgeübt wird. Zur Herstellung des großen nationalen Konsenses aller Demokraten in Regierung und Öffentlichkeit, daß es von elementarer Bedeutung ist, wo das neue Deutschland sein Parlament hinstellt, hat es kein bißchen Überzeugungsarbeit gebraucht, weil die national-symbolische Wucht der aufgeworfenen Frage deutsche Bürger von ganz allein überzeugt – und der Streit, den sie dann noch führen, nur noch um Geschmacksfragen des nationalistischen Wahns kreist, in dem sie sich voll und ganz einig sind.
Die allerdings – dafür gibt es ja den Pluralismus – wurden gnadenlos ausgetragen und spalteten die Nation parteiübergreifend in zwei Lager. In dem einen war so ungefähr die Auffassung vorherrschend, daß doch auch das neue Deutschland wunderbar an die Kontinuität der letzten, für die Nation so erfolgreichen 40 Jahre, anknüpfen könne, für die – symbolisch eben – Bonn am Rhein stehe: „Es hat der Demokratie nach all den Wirren der Hitler-Zeit und dem aufgeblasenen Pomp der Stalin-Zeit gutgetan, in einer kleinen bescheidenen Stadt Demokratie in Regierung und Parlament vorgeführt zu haben. Es hat unserer Demokratie in der Welt gutgetan.“ (Minister Blüm) Weil man genau das im anderen Lager genauso sah, nur eben davon ausging, daß die Zeiten der demonstrierten nationalen Bescheidenheit mit dem neuen Deutschland vorbei sind, sah man sich dort aber dazu genötigt, auch das dem geänderten nationalen Selbstbewußtsein entsprechende Zeichen zu setzen: „Deutschland bleibt nicht der Osten vom Westen, sondern es wird zur neuen Mitte Europas. Berlin liegt da gut, auf beide Schienen bezogen: Nord-Süd und West-Ost“ (MdB W. Brandt).
Was zwischen den beiden Lagern sonst noch an Unsinn ausgetauscht worden ist, paßte immer auf eine der beiden Touren, die Symbolkraft der neuen/alten Hauptstadt für die neuen Ansprüche Deutschlands – die freilich als das nicht Thema waren – zu untermauern: Ausgelotet wurde, ob die neue deutsche Herrschaft sich so geräuschvoll und für jedermann erkennbar als herrschaftliche Macht aufbauen soll – und die Frage, ob „Föderalismus“ oder „Zentralismus“ den Deutschen wie gut zu Gesicht steht, bewegte die Gemüter. Wie denn ein „Hauptstadtgedanke“ in ein „Europa der Regionen“ hineinstrahlen möchte, fragten sich die deutschen Patrioten laut – die einen, weil sie mal eben kurz vergessen wollten, wo sie leben und eine deutsche Abkehr „zum Europa der Vaterländer“ an die Wand malten; die anderen, weil sie ihre Auffassung loswerden wollten, daß ein deutsches Europa selbstverständlich extrem gut von Berlin aus zu bauen geht. Letztlich ist dann dank der ostdeutschen Patrioten im Parlamanent die Anknüpfung an die Kontinuität deutsch-nationaler Herrlichkeit geglückt und „endgültig aus der ehemaligen Reichshauptstadt die Bundeshauptstadt Berlin geworden“ (MdB Ullmann, Bündnis 90/Grüne) – nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein neues Symbol des neuen deutschen Nationalismus: Nicht mehr, weil das Symbol „Hauptstadt Berlin“ keineswegs – wie manche kritische Deutsche sich gleich sorgen wollten – dafür steht, daß die deutschen Politiker demnächst mit Pickelhauben die Tradition der Deutschen Reiche fortsetzen, die von Berlin aus aufgebrochen und zugrundegegangen sind. Aber auch nicht weniger denn zur Frage, an der sich nichts Geringeres als „die Zukunft Deutschlands“ (MdB W. Schäuble) entscheiden soll, ist Berlin eben schon gemacht worden – und damit zum politisch schwer bedeutenden Zeichen, daß sich die deutsche Nation um ihre „neue Mitte“ herum neu aufbaut und von der aus neu aufzubrechen gedenkt, daß sie dafür an die ehrwürdige Tradition deutscher nationaler Rechte anknüpft und mit dieser im Rücken diejenigen verficht, denen sich deutsche Politik heute verpflichtet weiß.
Von allen, die es angeht, ist diese Geste verstanden worden, und insoweit ließ das Symbol Berlin an Eindeutigkeit nichts zu wünschen übrig. Die restlichen Nationen um Deutschland herum jedenfalls konnten der Kür der neuen deutschen Hauptstadt sehr gut entnehmen, daß da eine ansehnliche Macht Selbstbewußtsein entfaltet, sich ihnen gegenüber in ganz neuem Format aufzubauen gedenkt und dafür symbolisch ganz tief Luft holt für ihre Ansprüche und Rechte – sie halten es ihren Fall betreffend ja prinzipiell genauso. Deswegen fiel ihr Bescheid auf das Ansinnen der neuen deutschen Großmacht, sich unter dem grandiosen Motto: „Wir mit der ganzen Welt feiern die Völkerfreundschaft!“ zum Nutzen der deutschen Angeberei in der neuen Hauptstadt einzufinden, entsprechend feindselig aus: Trotz des Einsatzes der überzeugendsten deutschen Argumente, viel Geld und das Versprechen von „guten Beziehungen“, zogen sie sogar noch die Menschenfeinde in Peking einem „Olympia 2000“ in Berlin vor.
Und vor kurzem erst hat ein französischer Diplomat von Rang mit dem Bemerken Aufsehen erregt, in Gestalt der deutschen Europapolitik habe man ja nunmehr wohl den tieferen Sinn der neuen Hauptstadt Berlin und der Rede von ihr als „Mitte Europas“ vor Augen. Von ihr aus als neuem Zentrum soll sich doch wohl die deutsche Hegemonie über den Rest der Nationen erstrecken, hat er gemeint, und ist damit schwer angeeckt. Dieselben Herren, die bei passender Gelegenheit den „Spaniern das Rückgrat brechen“ wollen, haben darauf gedrungen, daß der Mann seine korrekte Interpretation deutscher Selbstdarstellung zurücknimmt und der Schein gewahrt bleibt, in dem sie bei ihrer verlogenen Berufung auf „Europa“ daherkommt.
Weniger eindeutig allerdings blieb die symbolische Strahlkraft der neuen Hauptstadt in der Republik selbst, und das hat seinen einfachen Grund. Denn wenn sich die deutsche Nation zwar symbolisch neu formiert und allen ihren Konkurrenten mitteilt, daß und wie neu mit ihr zu rechnen ist, der wirkliche Aufbruch dieser Nation aber so eindeutig und vernehmlich dann gar nicht stattfindet; wenn der unbedingten Geltung deutschen Rechts zwar ein eindeutiges Zeichen gesetzt wird, die Durchsetzung der wirklichen deutschen Rechtsansprüche dann aber doch sehr „realpolitisch“ bleibt und in den gewohnten Bahnen der berechnenden Rücksichtnahme auf „Partner“ und der Abstimmung mit ihnen verläuft – dann paßt das Symbol eines absoluten deutschen Rechtsanspruchs irgendwie nicht zu der Politik, die doch in seinem und keinem anderen Namen stattfinden soll. Darüber nimmt zwar nicht die Politik selbst Schaden, aber eine gewisse Erosion des glanzvollen Symbols, in dem sie ihr unbedingtes Recht zur Schau stellt, findet schon statt, und dieselbe Nation, die sich und das tiefe Recht aller ihrer Anliegen in ihre neue Hauptstadt hineingedacht hat, entzweit sich wieder in der Frage, was denn aus der eigentlich werden soll: Deswegen versumpft der große nationale Aufbruch in Problemen, die mit der Banalität eines „Umzugs“ zusammenhängen und hinsichtlich Zeit und Geld Streitgegenstand der kleinlichsten Auseinandersetzung zwischen den Parteien werden – weil eben keine von ihnen gegenwärtig so recht die großen deutschen politischen Aufgaben sieht, die es von Berlin aus endlich würdig wahrzunehmen gelte.
Aus dem Symbol des neuen deutschen Aufbruchs wird so ganz schnell wieder das Symbol der alten Korruption und Spekulation. Aber Hauptstadt ist immerhin Hauptstadt, und damit die Welt wenigstens solange, bis Deutschland richtig ernstmacht, Spaß findet an der deutschen Selbstdarstellung in und mit Berlin, beeindruckt ist von der unglaublich spielerischen Natur und Leichtigkeit, die dem deutschen Nationalismus so im Grunde seines Wesens zueigen ist, darf ein Esoteriker aus Bulgarien sogar den Reichstag verhüllen – gewissermaßen der multikulturelle Kontrapunkt zu dem spießig-preußischen Mief, den die schauerliche Endlagerung des Großen Friedrich in Potsdam irgendwie nicht loswerden wollte. Weil aber diesem Akt nicht ganz eindeutig anzusehen ist, wofür er stehen soll, mußte ein grüner Patriot die nötige Interpretationshilfe geben: „Die Verhüllung ist keine Entwürdigung. Sie ist Ausdruck der Ehrfurcht und schafft Freiraum für die Besinnung aufs Wesentliche“ (MdB K. Weiß). So richtig transparent aber ist trotz der schönen Besinnung „das Wesentliche“ auch nicht geworden.
Gleichfalls nicht so recht von durchschlagendem Erfolg war der zweite Vorstoß, das dem neuen deutschen Selbstbewußtsein auf den Leib geschneiderte, nach außen wie nach innen passende Symbol zu stiften.
Der Versuch eines neuen deutschen Präsidenten
Ein Nachfolger Weizsäckers stand zwar ohnehin zur Wahl an; doch der Kandidat des Kanzlers stand schon für ein bißchen mehr.[1] Der ins Auge gefaßte Kandidat Heitmann war gewissermaßen der personifizierte Wille, von den moralischen Fetischen der deutschen Nachkriegsideologie wegzukommen. Mit ihm an oberster repräsentativer Stelle des Staates sollte Schluß gemacht werden mit allen bisher gepflegten Bedenklichkeiten, Bedingtheiten und Befangenheiten, die einfach die Regel waren, kaum sollte von der deutschen Nation die Rede sein. Heitmann war gedacht als das politische Symbol des neuen deutschen Nationalbewußtseins – in der Gestalt des abgrundtiefen Rechts eines jeden Bürgers, endlich und in aller Freiheit sich offen zu dem bekennen zu dürfen, womit er sich schon immer gemein gemacht hat: Deutschland. Dafür sollten die geheuchelten Übungen in Sachen Betroffenheit über die „Nazi-Vergangenheit“ einfach einmal abgestellt werden. Die leichte Manie von moralischem Verfolgungsdrang, „die Geschichte dauernd als Monstranz“ vor sich herzutragen, wurde vom Kandidaten als ganz und gar unnatürlich durchschaut, und auch jenes Bewußtsein von der „Geschichte, die wir als Volk haben“, das sich wg. Auschwitz dauernd gewissen moralischen Rechtfertigungszwängen ausgesetzt sieht und sich die intellektuell überaus gesunde Auffassung, „wir“ sollten „uns“ doch da nicht so haben und pausenlos vor der „Einmaligkeit“ der Judenmorde erschauern, erst mühselig in einem „Historikerstreit“ erarbeiten muß, war Heitmann viel zu umständlich: Auch diese Kontroverse „muß überholt sein“, dekretierte der Kandidat, weil ihm zufolge die heutige Bedeutung von Auschwitz für Deutschland in folgendem liegt:
„Ich glaube, daß der organisierte Tod von Millionen Juden in Gaskammern tatsächlich einmalig ist – so wie es viele historisch einmalige Vorgänge gibt. Wiederholungen gibt es in der Geschichte ohnehin nicht. Ich glaube aber nicht, daß daraus eine Sonderrolle Deutschlands abzuleiten ist bis ans Ende der Geschichte. Es ist der Zeitpunkt gekommen – die Nachkriegszeit ist mit der deutschen Einheit endgültig zuende gegangen –, dieses Ereignis einzuordnen.“
Dieser an sich ausgezeichnete Repräsentant eines längst fälligen freien Bekenntnisses zur deutschen Nation und als dieser Symbol des politischen Neubeginns der deutschen Republik hat sich nicht durchzusetzen vermocht. Kritisiert hat seine reaktionäre Gesinnung zwar keiner von denen, die ihn für „untragbar“ gehalten haben; aber der von den Wächtern der deutschen Ideologie in der Öffentlichkeit erhobene Vorwurf, er würde mit seinen „Thesen“ zu sehr „anecken“, den neuen Geist der Nation, den er doch geschlossen repräsentieren soll, zu sehr „spalten“, ist eben tödlich für einen, der seiner Funktion wegen als inkorporierte „nationale Identität“ aller Deutschen herumzulaufen hat: An demselben Maßstab, dem er auf seine Tour so perfekt gerecht geworden ist, wurde der Kandidat von anderen deutschen Ideologen gemessen – und wegen der Konfrontation mit den bisherigen ideologischen Usancen für zu leicht befunden, ohne die die von ihm bezweckte Etablierung der neuen deutschen Nationalmoral ja nun wirklich nicht zu haben ist.
Das deutsche Volk: Hört die Signale
Auch wenn der tiefere symbolische Gehalt der neuen Hauptstadt ein wenig vor sich hin sumpft, auch wenn der Kandidat Heitmann und mit ihm sein direkter ideologischer Befreiungsschlag aus dem Verkehr gezogen wurde: Wirkungen zeigen diese Symbole der neuen deutschen Selbstdarstellung allemal. Ein nationalistisch gut erzogenes Volk in all seiner Borniertheit versteht nämlich ganz ausgezeichnet, was mit Berlin gemeint und von einem wie Heitmann bezweckt ist. Ihm kommt es in großen Teilen wie eine natürliche Befreiung vor, wenn die deutsche Nation symbolisch die Größe und Gewalt ihrer Rechte demonstriert und von allen bisherigen Bedingtheiten des Bekenntnisses zu beidem Abstand nimmt – und entsprechend bedingungs- und berechnungslos führt sich das befreite nationalistische Gemüt dann auf.
„Ausländer raus!“
heißt zurecht die allererste deutsche Gefühlsregung. In ihr kommt dasselbe ordinäre Nationalgefühl, das in der politischen Symbolik so groß hofiert wird, in einer Form daher, in der es gewissermaßen für den praktischen Hausgebrauch übersetzt und zur Leitlinie eines schwarz-rot-golden Aktivismus von braven Staatsbürgern geronnen ist. „Deutschland den Deutschen!“ ist die Weise, in der das bescheidene Gemüt eines Untertanen die komplizierten Veranstaltungen der politischen Obrigkeit, Zeichen des absoluten Geltungsanspruchs deutscher Rechte zu setzen, für sich eingängig macht und darüber auf ihren einfachen Sinn bringt. Wo das deutsche Recht nämlich absolut zu gelten hat, kennt es ja selbst ganz prinzipiell nur noch Feinde seiner Durchsetzung – welche das im Einzelfall sind und wie mit ihnen zu verfahren ist, bleibt allerdings der Beschlußfassung derer vorbehalten, die im Namen der deutschen Rechte Politik machen. Das Volk ist mit dem politisch-berechnenden Umgang derer, die in ihm der Nation tatsächlich dienen, nicht nur nicht vertraut. In nicht wenigen Fällen sieht es gerade in ihm einen Verstoß gegen die alles überragende Leitlinie deutscher Politik, welche Durchsetzung deutscher Rechte heißt, und es stellt sich in diesen Fällen der Verdacht ein, daß dieselben, die für diese Leitlinie ihre Symbole gesetzt haben, es an ihrem konsequenten Vollzug missen lassen. Also macht es sich in seiner Parteilichkeit für die deutsche Sache, in der es von seiner eigenen politischen Herrschaft ins Recht gesetzt wurde, im Namen Deutschlands auf und korrigiert die Inkonsequenz, die es bei seiner Obrigkeit eingerissen sieht: Ideell, indem es davon ausgeht, daß undeutsche Elemente, die sich hier herumtreiben, im Prinzip Feinde Deutschlands sind, die Gemeinschaft der Deutschen also nur schädigen wollen und hinausgesäubert gehören; praktisch, wenn diese Gesinnung ihre Befriedigung sucht und zu Taten schreitet, und symbolisch, wenn die Fremdkörper nicht nur erschlagen werden, sondern im Abfackeln ihrer Wohnstätten dem Recht aller Deutschen auch noch ein Fanal gesetzt werden soll.
Selbstverständlich hat die deutsche Volksseele auch in Hinsicht auf die von oben in Gang gebrachte Erneuerung der Nationalmoral nicht nur offene Ohren, sondern ganz eigene Vorstellungen, wie der Auftrag mit Leben zu erfüllen sei:
Vergangenheitsbewältigung praktisch
heißt die Devise, und die Symbole der 40jährigen Relativierung deutsch-nationalen Selbstbewußtseins, der freiwilligen Selbstbeschränkung nationaler Parteilichkeit, von denen die alte bundesdeutsche Nationalkultur ja noch voll ist, werden Objekte der Privatgewalt, die da in deutschem Namen unterwegs ist. Juden, an denen sich gute Deutsche irgendwie stören könnten, gibt es hierzulande ja nicht mehr viele, dafür aber umso mehr Symbole, die mahnend für die „Verbrechen“ der Deutschen an diesem Volk stehen – und die kommen dem nationalistischen Geist heute extrem unpassend vor. Vielleicht hat er es noch nie so gut ausgehalten, daß seine Nation sich wegen ihres sittlichen Vergehens seinerzeit immer so klein hat machen müssen; jetzt jedenfalls – das hat er ja gut verstanden – ist damit Schluß: Alles, wovor sich die Nation bis gestern symbolisch verneigt und damit freiwillig moralisch erniedrigt hat, erscheint ihm jetzt als Symbol einer Erniedrigung der Nation, die er einfach nicht aushält und ertragen will – deswegen brennen Synagogen und die Schändung jüdischer Friedhöfe wird zum Symbol der wiederhergestellten deutschen Ehre.
„Orientierungslosigkeit“ und „Wertemangel“ ist das alles also nicht, was das deutsche Nationalbewußtsein von unten bestimmt und die entsprechenden Zeichen setzen läßt. Der „Wert“, an dem sich deutsche Bürger gleich so „orientieren“, daß sie sich ihm mit Haut und Haaren verschreiben, heißt Deutschland, und sein Inhalt ist das absolute Geltungsrecht, das die Nation für sich in Anspruch nimmt. Freilich in aller Abstraktheit und Prinzipienhaftigkeit, weswegen von denen, die mit den realpolitischen Konkretionen desselben Prinzips „Deutschland über alles“ besser vertraut sind, hauptsächlich Unverständnis ob der atavistischen Formen geäußert wird, in denen sich der volkstümliche Nationalismus so aufmacht.
Die Reaktion: Der gute deutsche Patriotismus schlägt zurück
Das Echo, das die nationalistische Gefühlsaufwallung der Rechten im Rest der Republik hinterläßt, ist bezeichnend: Kritik am Nationalismus und an der Nation, die ihn abruft, findet einfach ums Verrecken nicht statt. Stattdessen wissen sich ziemlich viele gute Deutsche in ihrem Nationalismus in die Pflicht genommen und sehen sich angesichts schlimmer rechter Übergriffe zu Protest veranlaßt. Vielleicht ist bei einigen von ihnen der „Abscheu“, den sie dabei öffentlich bekunden, sogar echt empfunden – der allerdings alleine ist es nicht, was sich in ihren Fackelzügen und Mahnwachen manifestiert. So richtig groß geworden ist und entsprechend aufgebaut hat sich ihre humanistische Gesinnung nämlich in ihrer nahtlosen Übereinstimmung mit den Bedenken, die offizielle Vertreter der deutschen Sache verlauten ließen, die sich wie der Außenminister um „das Ansehen Deutschlands in der Welt“ oder wie ein Mann „der Wirtschaft“ um den Absatz deutscher Autos auf dem Weltmarkt sorgten: Auch sie machten sich um das Ansehen ihrer deutschen Nation Sorge und wollten als die guten Deutschen die anderen Nationalisten mit ihrem besseren Patriotismus aus dem Feld schlagen – und das hat ihrem humanistischen Ethos Wucht verliehen. Unerschütterlich gehen sie davon aus, daß die Rechte der deutschen Nation, wie sie im neuen deutschen Selbstbewußtsein vorgebracht werden, einfach nichts und niemandem wehtun können, den vielen „befreundeten ausländischen Nationen“ schon gleich nicht – und rücken mit Lichterketten den womöglich doch anders beschaffenen Eindruck zurecht, den verbrannte Asylanten dort hinterlassen möchten. So, wie sie geht und steht, mögen sie die deutsche Republik über alles, weswegen sie Entsetzen und tiefe Betroffenheit demonstrieren, wenn Synagogen brennen und ihnen „braune Horden“ und „Ewiggestrige“ das Rad der deutschen Geschichte zurückzudrehen drohen. Sie weigern sich nämlich entschieden, den Schluß von den verabscheuten Nazimorden auf die nationale Sache, in deren Namen sie stattfanden, zu ziehen; wie der rechte Pöbel, vor dem es sie graust, leben auch sie geistig in der Kontinuität der deutschen Geschichte, lassen sich deren Wechselfälle als die dunklen „Schicksalsstunden“ der Nation selbst angelegen sein und wollen daher auf gar keinen Fall, daß das gute Ansehen, das die Nation sich endlich wieder verschafft hat, befleckt wird. Dafür bauen sie sich dann unter der Parole: „Wehret den Anfängen!“ symbolisch und natürlich wieder mit Kerzen in der Hand gegen die Rechten auf – und stehen so mit ihrer demokratischen Treue dafür gerade, daß der Aufbruch des deutschen Nationalismus nicht als Wiederholungstat Unverbesserlicher erscheint. Und nachdem die im Ernst ohnehin keiner will, geht das für den deutschen Nationalismus ganz in Ordnung.
Auch die Staatsgewalt sieht sich angesichts der Übergriffe, zu denen sich die rechte Privatgewalt im Namen der Nation hinreißen läßt, zu einer gewissen Reaktion herausgefordert. Die betrifft logischerweise zuallererst die für einen Rechtsstaat erforderliche Antwort auf den Bruch seines Gewaltmonopols und besteht in der Kriminalisierung der rechten Vereine. Dann folgt der „demokratischen Auseinandersetzung mit rechts“ zweiter und letzter Teil, der in der öffentlich geführten Diskussion besteht, ob nicht noch weitere rechte Parteien gescheit diskriminiert oder gleich verboten gehören. Insbesondere die Partei, deren Vorsitzender Schönhuber mit der Bemerkung Wahlstimmen erkämpfen wollte, Herr Bubis vom Zentralrat der Juden in Deutschland betreibe mit seiner beständigen Warnung vor der Ausbreitung von „Antisemitismus in Deutschland“ „Volksverhetzung“.
Die demokratische Ächtung eines „Volksverhetzers“
mit der Schönhuber daraufhin von allen Seiten verfolgt wurde, hat der Mann allerdings nicht verdient.
Erstens hat er lediglich gemeint, daß dann, wenn man sich weiter von diesem repräsentativen Juden in der Funktion einer moralischen Oberinstanz in rein innerdeutsche Angelegenheiten hineinreden läßt, man sich nicht zu wundern hätte, wenn gesunde deutsche Volksteile sich fremdbestimmt wähnen und zur Wehr setzen. Variiert hat der Mann damit nur die Logik, die von allen etablierten Demokraten bei ihrer Berufung auf das deutsche Volksgemüt und seine „Asylprobleme“ ausgiebig verwendet wurde: Auch da stand der Deuter auf die ziemlich verständlichen Überfremdungsreaktionen bei der Basis für einen politischen Handlungsbedarf, der im Zuge der Lösung der „Ausländerfrage“ im deutschen Sinn keine Kompromisse mehr dulden kann.
Zweitens gilt der Sache nach Schönhubers Vorstoß derselben Maxime der neuen deutschen Nationalmoral, für die von den regierenden Christdemokraten der Präsidentschaftskandidat aufgeboten wurde: Wie es Heitmann als unerträglich für Deutschland schien, daß das Bekenntnis zur Sache dieser Nation noch immer mit einem ideellen Kniefall vor den „antisemitischen Schandtaten“ von gestern einhergehen soll, so duldet eben auch der deutsche Staatsmann Schönhuber diesen Gestus nicht mehr – weil natürlich auch ihm schon allein der geheuchelte Anschein einer Relativierung der Rechte der Nation einer wirklichen gleichkommt.
Drittens ist es aufgrund dieser Form und Inhalt umfassenden Wesensverwandtschaft von Schönhuber mit allen regierenden Demokraten ziemlich unwahrscheinlich, daß die philosemitischen Bekenntnisarien, mit denen er nach seiner Äußerung als Krimineller geoutet wurde, so ganz ehrlich den Standpunkt des offiziellen deutschen Nationalbewußtseins wiedergeben. Es scheint eher so zu sein, daß man in Kreisen der etablierten Demokraten ganz gut mit einem Einspruchsrecht gegen deutsch-nationale Umtriebe leben kann und deswegen auch leben will, das von Haus aus gar nicht mehr an Einwänden gegen diese Nation zuwegebringt als den wuchtigen Deuter auf Auschwitz. Solange der sich in Maßen hält, kein Veto gegen Rechte und Machenschaften der deutschen Nation von heute, sondern eben nur ein traditioneller, aber in Ehren gehaltener Appell sein will, wird er erhört. Das ist sicher ein Zugeständnis und ein gewisser moralischer Preis, den die deutsche Nation zu entrichten hat – aber verglichen mit dem Nutzen, mit seiner Bezahlung in allen anderen nationalen Belangen schlechterdings unanfechtbare Rechte zu besitzen, fällt er nicht ins Gewicht. Was ist schon die ritualisierte offizielle Betroffenheit über die alten Konzentrationslager – wenn sich darüber alle Einwände gegen die Freiheiten verbieten, die einige neue Paragraphen im Umgang mit Ausländern schaffen! Und was ist die moderate Pflege eines alten Unrechts gegen die Juden – wenn mit ihr gleich alle Rechte pauschal in Ordnung gehen, die der deutsche Imperialismus gegen den Rest der Welt heute verfolgt!
Insofern haben die regierenden Demokraten schon ihre guten nationalen Gründe und Berechnungen, an Schönhuber ein bißchen die alte Tradition der deutschen Nationalmoral weiterzupflegen, und mit der Androhung seines Feldverweises obendrein die gute Gelegenheit, dem volkstümlichen Nationalismus den Bescheid zu erteilen, bei wem er in seiner Eigenschaft als Wahlstimme gut aufgehoben ist. Ob den das allerdings so richtig überzeugt, ist schon die Frage. Zumal ja auch noch einige andere Bemühungen der Regierung, mit der symbolischen Präsentation des neuen deutschen Selbstbewußtseins ihr Volk hinter sich zu bekommen, nicht so glanzvoll gelingen wie gewünscht.
Die schwierigen Fortschritte bei der Endlösung der deutschen Vergangenheitsfrage
Ein Mahnmal „Unter den Linden“,
den Opfern von Krieg und Gewaltherrschaft
geweiht,
ist eine nobles Geschenk ans Volk. Die demokratischen
deutschen Staatsmänner geben ihrem und allen anderen
Völkern in Form der Stiftung einer Stätte nationaler
Innerlichkeit zu verstehen, daß die Gewalt, mit der
sie herrschen, keine Opfer kennt,
grundsätzlich sehr friedliebend, also auf
Sittlichkeit & Fairplay verpflichtet ist, und damit das
jeder verstehen und vor allem auch dankbar würdigen kann,
wird daran erinnert, daß dies kein allzu lange
zurückreichendes deutsches Brauchtum ist. Freilich hat
diese so schön vor Augen gestellte gute deutsche
Herrschermoral von heute die kleine Schwäche, daß
sie ganz ohne das Anspielen auf die schlechte
von gestern nicht auskommt und im Verweis auf die
besagten Opfer gerade ja auch die ungute Verwicklung der
Deutschen in den letzten Weltkrieg anspricht, von der man
so gerne loskommen möchte – und das hat die glanzvolle
Selbstdarstellung ein bißchen ins schiefe Licht gebracht.
Genau das, was der Kanzler mit ihr wollte – beim
würdevollen Rückblick auf die Tradition
deutsch-nationaler Machtentfaltung endlich einmal nicht
mehr tiefstes Bedauern heucheln und Läuterung
demonstrieren zu müssen: genau damit ist er bei den
Moralisten der deutschen Traditionspflege ins
Gerede gekommen. Im symbolischen Zweck
der Veranstaltung haben sie – ganz zu Recht – die
althergebrachte deutsche Bekenntnismoral nicht mehr
wiedergefunden, die sie bislang gewohnt waren, und daher
dem Kanzler vorgeworfen, er würde „Täter und
Opfer gemeinsam ehren“. Groß beeindruckt zeigte sich der
zwar nicht; aber wenn ausgerechnet bei einem politischen
Symbol, das in seiner leicht modifizierten moralischen
Gewichtung bei der Interpretation der „Vergangenheit“ die
erneuerte deutsche Nationalmoral vorstellen
soll, kritisch nach der Moral von gestern gefragt wird,
fehlt dem Symbol etwas, nämlich die Hauptsache:
Die Eindeutigkeit der moralischen Botschaft, die
von ihm auszugehen hat. Und frisch hingestellte
Symbole des offiziellen Anti-Antifaschismus,
bei denen erst noch laut nachgefragt wird, wie man sie denn zu verstehen habe, sind, fürs erste jedenfalls, mißlungen.
Ein Scheitern an einer Stelle besagt freilich nichts über die Erfolge, die die Renovierung der deutschen Nationalmoral an manch anderen zu verzeichnen hat und die sich einfach darüber einstellen, daß der neue Inhalt der politischen Selbstdarstellung der Deutschen im Nationalismus der demokratischen Öffentlichkeit sang- und klanglos Eingang findet.
Wo der mit Reagan über die SS-Gräber in Bitburg defilierende Kanzler seinerzeit noch für einige Unruhe im deutschen moralischen Überbau sorgte, regt sich über den obersten Soldaten der Bundeswehr heutzutage schon keiner mehr auf, wenn der „unserer“ demokratischen Armee ganz offen im Rückgriff auf die deutsche Wehrmacht ihre verdienstvolle Tradition verschaffen will: Mit Rang und Namen gehören sich die in Rußland verbuddelten Helden der SS versehen, damit die Welt sieht, daß Deutschland seine Soldaten in Ehren hält. Und für den Fall, daß diesem Bemühen die nationale Ehre des Gastgeberlandes doch im Wege stehen sollte, macht er ihr mit der Androhung gesperrter Wirtschaftshilfe eines jener bewährten Angebote, die nur ganz wenige ablehnen können.
Auch eher nebenbei erfährt man, was die historische Neubesinnung Deutschlands in den annektierten Ostgebieten so alles auf den Weg bringt. Da werden zunächst einmal so viele antifaschistische Mahnmale der alten DDR geschleift, daß sich sogar die wohlmeinendsten Gemüter der israelitischen Kultusgemeinde langsam Sorgen um ihre Arbeitsplätze machen. Das geschieht beileibe nicht wegen gewisser antisemitischer Drangsale, sondern um auch noch postum die offizielle Staatsideologie der DDR in das Unrecht zu setzen, in das sie als Ideologie dieses Staates gehört: Wer selbst totalitär und Diktatur war, ist nach der von hier vertretenen Lehrmeinung absolut unzuständig in Sachen moralischer Verdammung des „Totalitarismus“. So, herrschaftsmäßig für den demokratischen Geschmack einfach nur noch: „schlecht“ heißt der deutsche Faschismus inzwischen amtlich, und dieses systemübergreifende Unwesen legt wie von selbst nahe, wie seine – für Demokraten ja immer fällige – „Verurteilung“ heute und fürs neue Deutschland Sinn macht. Die wahren Antifaschisten waren schon immer und ausschließlich auf Seiten derer, die nach dem Krieg wirklich „gegen Totalitarismus“ aufgestanden sind, also den Kommunismus bekämpft haben, so gut sie konnten – die gehören geehrt und werden es entsprechend. Beispielsweise in Form der kleinen Umwandlung, die das Traditions-KZ Buchenwald zur neuen „Erfahrungsstätte der deutschen Geschichte“ durchmacht. Ganz schleifen konnte und wollte man diesen zum Monument verfestigten moralischen Einspruch gegen das Recht der deutschen Nation nämlich nicht, einfach so stehen lassen aber erst recht nicht, so daß ein großartiges Museum mit drei Abteilungen daraus wurde: In einer wird der „Opfer“ gedacht, worunter entgegen der DDR-Ideologie nunmehr ausschließlich die Juden zu rechnen sind; im neuen Deutschland hat man nämlich „neuentdeckt“, daß im KZ die Kommunisten – „gut organisiert“ – unter den Nazi-Schergen die Herren über Tod & Leben waren. In der zweiten Abteilung wird der DDR-Ideologie für sich gedacht und schonungslos der „künstliche Antifaschismus“ zur Erbauung freigegeben, mit dem sie sich schmückte, und die dritte befaßt sich mit demselben nochmals in Form der Konservierung aller Verbrechen, die die Rote Armee sich auf deutschem Boden hat zuschulden kommen lassen…
So hat die Nation sich ziemlich bequem und unauffällig ein Denkmal gesetzt, das den leidigen deutschen „Historikerstreit“ – ganz im Sinne des Kandidaten Heitmann – „erledigt“ und festschreibt, daß es zwischen „rechts“ und „links“, Nazis und Kommunisten keinen Unterschied gibt. Sie ist damit auch den von ihr nicht mehr geduldeten Gestus, sich für sich und ihre Taten neulich entschuldigen zu müssen, zu einem gewissen Teil losgeworden, aber eben nur zu einem Teil. Denn auch wenn die genuin deutschen „Verbrechen“ sich relativ geringer ausnehmen, wenn man neben sie groß die „asiatischen“ Taten aufbaut – so richtig weg sind sie damit ja nicht, und diese kleine konstruktive Schwäche kriegt das neue deutsche Geschichtsbewußtsein ironischerweise in dem Maße und so lange nicht los, in dem und so lange es sich gerade der dunklen Seiten der deutschen Geschichte entledigen will: Noch die gelungensten Versuche, die besagten Dunkelstellen in die große deutsche Tradition einzureihen und aus dieser endlich ganz unbefangen das tiefere – und damit als unwidersprechlich legitimierte – Daseinsrecht der Nation von heute zu beziehen, können ja nicht umhin, pausenlos anzusprechen, wovon sie loskommen wollen; und damit ist erstmal wieder das ein wenig Thema, was doch endgültig gar kein Thema mehr sein sollte.
Ein Spaß dieser Art hat dann auch ein
Fußballspiel am Führergeburtstag
erfolgreich verhindert. Da hat die Nation Bedenken, die bei Länderspielen übliche Festlaune des Volkes möchte bei der Revanche gegen England in einer Orgie der Gewalt ausufern, einfach nicht gelten lassen. Wachgeworden sind diese Bedenken, weil ausgerechnet jetzt, wo die Nation endgültig die peinlichste Episode ihrer Vergangenheit tilgen will, der längst vergessene Geburtstag des Führers für die ganz guten Deutschen ein kleines politisches Symbol geworden ist – und dagegen wollten die offiziellen Repräsentanten Deutschlands, die natürlich nichts mit Hitler am Hut haben, ihr Symbol setzen. Gegen den „Druck rechter Gewalttäter“ haben sie am Spielplan festgehalten, ihre Gewaltbereitschaft demonstriert und für einen Rahmen gesorgt, der für ein richtig schönes Nationalfest zu garantieren versprach: An der ehrwürdigen Stätte des Berliner Olympiastadions, mit 100 Tausend garantiert schwarz-rot-goldenen Jubeldeutschen als Kulisse und etwas weniger Polizisten im gesamten Umfeld, hätte genau an dem Tag, „der ein Tag wie jeder andere ist“ (DFB), die Völkerbegegnung auf dem Rasen stattfinden sollen. Dazu kam es ja dann bekanntlich doch nicht, weil der englische Nationalstolz wegen des betriebenen Aufwands einigermaßen verunsichert war und mit Verweis auf entsprechende „Sicherheitsbedenken“ das Treffen platzen ließ, und das war bitter für Deutschland. Denn wenn die Nation sich mit ganz viel Macht und Gewalt eigens dafür aufbaut, gegen den rechten Symbolismus und seine Schläger ihrem Volk ein Fest zu bereiten, dann ist es ausgesprochen schlecht für sie und ihre Selbstdarstellung, wenn es nicht zustandekommt. Dann heißt es, sie sei „vor den Rechten in die Knie gegangen“ – obwohl sie das genau nicht getan hat. Dann hat sie ausgerechnet dort, wo sie ihre Feier mit Gewalt durchsetzen wollte, Schwäche gezeigt, ihre Ohnmacht bewiesen und ist schon wieder in ihrer Bemühung gescheitert, so etwas hinzukriegen wie einen gesunden deutschen Patriotismus. Und wenn sie am Ende gegen einen drittklassigen Gegner demonstriert, daß es wirklich nur ums Fußballspielen gegangen ist, kennt sich ein deutscher Fußballfreund überhaupt nicht mehr aus.
Ein solcher und immerhin Leitartikler der „Süddeutschen Zeitung“ ließ sich angesichts dieser Tragödie zu einer harschen Kritik an der Planung des deutschen Generalstabs hinreißen. Er zog gewissermaßen die Nutzanwendung aus dem Ergebnis der vorwärtsweisenden Ursachenforschung, die zeitgleich der Bischof Lehmann anläßlich des Brandanschlags auf die Lübecker Synagoge betrieb und die darauf hinauslief, die rechten Umtriebe ausgerechnet auf einen „Mangel an Patriotismus in Deutschland“ zurückzuführen – und stellte sich vor, was für eine fröhliche Veranstaltung das geworden wäre, wenn das Spiel im Ruhrpott angesetzt worden wäre. Dort wäre schon ein von Natur her aus gutem deutschen Kernholz geschnitztes Gewaltpotential ansässig, nämlich in Form einer „ebenso handfesten wie fußballbegeisterten Bevölkerung, die dann die Störung eines Fußballfestes durch angereiste Rowdies notfalls mit Verabreichung körperlicher Verwarnungen hätte unterbinden können. Wer wünschte den Hamburger oder Berliner Neonazis nicht eine Begegnung mit fröhlichen Stahlarbeitern in Duisburg oder Dortmund.“ (J. Busche, Süddeutsche Zeitung, 8.4.94) Unten wird gekickt, und drumherum verprügeln patriotische Proleten fröhlich die falschen Patrioten – ja, das wäre mal ein politisches Symbol ganz nach dem Geschmack deutscher Fußballfreunde.
Ein Film aus Hollywood
bewegte zur selben Zeit gleichfalls das deutsche Nationalgemüt in erheblichem Ausmaß. Ihn umgab die Aura, an „Originalschauplätzen“ und um „eine authentische Biographie“ herum von einem Könner seines Fachs gedreht worden zu sein, was bei dem Geisteszustand dieser Nation natürlich dazu ausreichte, den Film mitsamt seiner moralischen Botschaft als zeitgeschichtliches Dokument zu würdigen und an ihm zu studieren, wie der deutsche Faschismus nun wirklich war. Das taten dann auch alle ausgiebig – und schon wieder war die deutsche Vergangenheit, die schlimme, Thema. Anders als sonst aber war sie diesmal eigentlich schon ziemlich fertig bewältigt, und das auch noch von einem in Sachen Beschönigung über jeden Zweifel erhabenen Ausländer: Kein Kollektiv sitzt mehr auf der historischen Anklagebank, der deutsche Nationalismus ist weder in seinen Absichten noch in seinen Wirkungen irgendwie Gegenstand; stattdessen ein Nazi, der einige Juden volksdienliche Gebrauchswerte produzieren läßt und so vor dem Holocaust rettet; der ist ein unfaßliches Grauen, und auch im Film einfach unvorstellbar. Insofern fand dieser anti-intellektuelle Gefühlsdusel ganz zurecht Eingang in eine Erziehungsoffensive „der ganz jungen Deutschen, die überall in der Bundesrepublik auch nach dem Abspann von „Schindlers Liste“ schweigend und erschüttert in ihren Sitzen verharren“ (J.Joffe, Süddeutsche Zeitung, 19/20.3.94): Sollen sie sich nur recht moralisch einfühlen in diese Epoche deutscher Geschichte, die so viele Schattenseiten, aber doch auch so manch Gutes an Stellen aufweist, an denen man es zuletzt vermutet hätte – in der ein politisches Subjekt, das man für die ganzen Schandtaten haftbar machen könnte, aber einfach nicht zu greifen ist.
Freilich blieb es nicht aus, daß einigen deutschen Cineasten das moralische Bild der Deutschen auch in diesem Streifen zu dunkel erschien. In den Feuilletons der angesehensten Zeitungen ging – just da, wo man gerade so schön mit der Endlagerung der schlechten Erinnerung an sie befaßt war – schon wieder ein Streit um die „Bewältigung der Vergangenheit“ los, weil sich einige ihr Bild der NS-Zeit und ihre Moral von Auschwitz nicht von Hollywood vorschreiben lassen wollten. Die einen sahen durch den Film die Ehre der SS in den Schmutz gezogen, andere mehr ihre eigene, mit der sie sich als „historische Experten“ ausweisen, bis dann die folgenden klugen Worte aus München den „Historikerstreit“ ein weiteres Mal „erledigten“: „Dieser Film signalisiert zweierlei, ohne ein einziges Wort darüber zu verlieren: Nicht nur konnte man direkt unter den Augen der SS das Gute tun, man mußte auch kein besonders guter Mensch dazu sein. Und die passende Frage folgt auf dem Fuß: Wenn Schurken wie Schindler selbst im Anblick der durchgeladenen Pistolen das Richtige tun konnten, warum nicht auch die Pastoren und Professoren, die Bäcker und Beamten – also alle jene Millionen „anständiger“ Menschen, die im konventionellen Sinne keineswegs böse waren? Und erst recht in der DDR, wo das Risiko viel geringer war, aber dennoch millionenfach bespitzelt und denunziert wurde? Schindler war kein Heiliger, der ohne Rücksicht auf sein selbst handelte, doch gerade das macht ihn zum Vorbild in totalitärer Zeit. Man konnte, wenn man wollte.“ (J. Joffe, ebd.)
Was ist die „Auschwitz-Lüge“ doch für ein hilfloses Unterfangen im Vergleich zur perfekten Kunst, mit den Waffen der Meinungsfreiheit moralische Niederlagen in Siege zu verwandeln! Da muß kein Bundesgerichtshof oder gar Verfassungsgericht die schwierige Frage nach der Justitiabilität des Leugnens von Tatsachen ausloten – weil von solchen gleich gar nicht die Rede ist. Ein Film „signalisiert“, und dann folgen die „passenden“ Fragen, einfach so „auf dem Fuß“: SS und Judenmord sind natürlich „konventionell“ böse, das ist keine Frage, abgehakt; der Rest der Deutschen war das nicht, keine Helden zwar, aber doch im Prinzip gut, auch gar keine Frage; hätte also Gutes tun können, „erst recht“ - überhaupt gar keine Frage: – „in der DDR“, womit der moralische Giftpfeil des Mitläufertums unter Hitler endlich sein richtiges Ziel gefunden hat. Rechtlich garantiert einwandfrei, denn beleidigt wird niemand, weder kollektiv noch einzeln; die völkische Ehre der Bürger von Feindstaaten – besiegten zumal – ist kein geschütztes Rechtsgut, sondern Objekt, an dem sich die Moral des Siegers endlos weidet, und ob man einem durchgedrehten nationalmoralischen Berserker noch vorhalten soll, er nehme es mit Tatsachen nicht so genau, ist eh die Frage.
Ein Gedenktag in der Normandie
hat die letzten 40 Jahre nie Aufsehen erregt, sondern fand regelmäßig einfach statt. Heute aber hat die Selbstdarstellung des neuen Deutschland mit der alliierten Maiandacht gewisse Schwierigkeiten. Das Problem, als neue deutsche Großmacht mit den Feinden von gestern umzugehen, hat ja schon in der neuen Hauptstadt Sorgen bereitet; da ging es aber nur darum, die russische, bis vor ganz kurzem noch feindliche Besatzungsmacht mit möglichst wenig ehrenvoller Respektbezeugung, aber doch nicht ganz unter Bruch aller Höflichkeitsregeln aus dem Land zu werfen; und nicht um die weit schwierigere Frage, wie man mit seinem frisch polierten deutschen Rechts- und Ehrgefühl den Freunden kommt – wenn die sich ausgerechnet zur Feier des Sieges über Deutschland in der Normandie treffen wollen. Denn der Gehalt, der bei dieser Gelegenheit symbolisch zelebriert wird, ist ja die absichtsvoll über alle „guten Beziehungen“, die zwischenzeitlich eingerissen sein mögen, hinweggehende Rückbesinnung darauf, daß und wie man über diese Nation schon einmal triumphiert hat, die sich einem gegenüber gerade so groß aufbaut. Und die Vergegenwärtigung, daß man gegen dieselbe Nation, gegen die man inzwischen mit den Waffen der Konkurrenz nicht viel oder gar nichts mehr auszurichten vermag, in der Konkurrenz der Waffen einmal glänzend obsiegt und dabei auch noch ganz Europa „befreit“ hat, ist ein belebendes Elixier für so manches Nationalbewußtsein, das sonst wenig zu lachen hat, wenn es an Deutschland denkt. Und weil die Siegermächte nicht mit, sondern gegen Deutschland feiern möchten, wollten sie unter sich bleiben und haben den Kanzler nicht eingeladen.
Von dem war zuerst zu hören, daß er, wenn er geladen worden wäre, im Prinzip gerne, und dann, daß er auf gar keinem Fall bei der Party erschienen wäre, und inzwischen dürfen deutsche Diplomaten dort nicht hin, selbst wenn sie eingeladen sind. Irgendwie kindisch mag einem dies schon vorkommen, aber wie üblich in dieser Welt der nationalen Symbole macht der Eiertanz der deutschen Diplomatie ungeheuer viel Sinn und schon wieder die ernsten Schwierigkeiten dieser Nation deutlich, endlich an ihre deutsche Tradition anzuknüpfen: Geht der Kanzler in seiner Eigenschaft als Mitglied des freien Westens, der Demokratie und der zivilisierten Menschheit überhaupt hin und feiert mit den „Partnern“ vereint „die Befreiung Europas“, dann ist das einerseits ehrenvoll für seine Nation, weil die damit die Schande namens Hitler losgeworden und in die Runde der Staaten eingemeindet ist, die für alles Gute auf dem Globus stehen; andererseits aber ist es sehr peinlich, daß er dafür ausgerechnet den Anfang vom Ende des „Staates der Deutschen“ feiert, der das Dritte Reich eben schon auch gewesen war. Nicht hinzugehen und nicht zu feiern hat umgekehrt auch seine zwei Seiten: Die gute ist, daß der Rechtsnachfolger Haltung zeigt und die deutschen Rechte, für die er heute steht, durch den Verweis auf Hitler nicht auch noch selbst in zweifelhaftes Licht bringt; die schlechte ist, daß genau dies ja die alliierten Freunde ihrerseits vorhaben und tun.
So wird diese Nation ihr Pech, ihren Krieg verloren zu haben, einfach nicht los, und die unumstrittene Vormacht Europas muß es sich auch noch bieten lassen, daß die gesamte Zwölfergemeinschaft auf ihrem bloßgelegten nationalen Nerv herumtrampelt: „Das europäische Parlament lädt auch den Kanzler zu einer Normandie-Gedenkfeier ein. (…) Und es steht außer Frage, daß es den Europa-Abgeordneten nicht um einen Affront der Deutschen ging, sondern im Gegenteil“ – jetzt wird’s richtig lieb – „um den Versuch, sie in das Gedenken an die Landung der Alliierten einzubinden.“ (Süddeutsche Zeitung, 31.3./1.4.94) Wie aus den gewöhnlich gut unterrichteten Kreisen zu hören war, war der Kanzler schon wieder außerordentlich empört und ist „aus allen Wolken gefallen“.
Die gewissen Schwierigkeiten mit der ideologischen Einheit von Volk und Führung
sind nach allem, was diese Nation bei ihrer symbolischen Selbstdarstellung so zuwegebringt, nicht grundsätzlicher Art. Es kann keine Rede davon sein sein, daß das deutsche Volk den Anweisungen, die von oben an es ergehen, nicht fügsam gehorchen würde, und es versteht auch die nationalsymbolischen Zeichen, die von dort gesetzt werden. Letztere versteht es sogar so ausgezeichnet, daß seine Führer den ideellen Bedarf nach wirklicher Entfaltung deutscher Macht und Herrlichkeit gar nicht so recht zufriedenstellen können, den sie mit ihnen wecken – und das sind die zwar leicht luxuriösen, aber durchaus ernstzunehmenden Probleme, die sie dann doch noch mit ihren nationalistisch betörten Massen haben.
Die regierenden Nationalisten wecken nämlich mit denselben anspruchsvollen Rechten, die sie im Namen ihrer Nation erheben, bei ihrem Volk eine gewisse Anspruchshaltung, der sie dann schon auch mal genügen müssen. Gerade weil die „Kommunikation“, die sie mit ihren in dieser Hinsicht sehr aufmerksamen Massen unterhalten, so vorzüglich gelingt, daß zwar immer nur die Hauptsache hängenbleibt, die aber garantiert und felsenfest, ist das Volk jedesmal dann, wenn sie „Deutschland“ sagen, geistig voll bei der Sache und schon längst in der 1. Strophe des beliebten gleichnamigen Liedes. Das klappt dann so gut, daß die politischen Rechte, um die es der Sache nach im einzelnen geht und um deren Durchsetzung „realpolitisch“ gerungen wird, gar nicht mehr zur Sprache kommen – weil eben nur an die Selbstverständlichkeit gedacht wird, mit der sich ihre Durchsetzung einfach gehört.
Unsere harte DM
bilanziert dann eben keineswegs
nur den Stand des deutschen Nationalkredits in seinem
Vergleich mit anderen; da käme bei nüchterner Betrachtung
ja vielleicht sogar noch heraus, von welchen windigen
Kriterien und spekulativen Launen die famose Härte dieser
Währung abhängig ist. Nein, diese „DM“ ist ein Symbol des
deutschen Rechts, sich in wirtschafts- und
währungspolitischen Angelegenheiten von niemandem etwas
sagen lassen zu müssen, von den „Partnern“ mit den
schlappen Währungen, mit denen Deutschland in der
Europäischen Union gemeinsame Sache macht, schon gleich
nicht. Da muß keiner etwas Genaues wissen über die Zwecke
und verwickelten Methoden, die der deutsche Imperialismus
in und mit seinem „Europa“ verfolgt – die „DM“ steht
stellvertretend für das fraglose Recht der Deutschen auf
ein deutsches Europa, also dafür, daß der
deutsche Nationalismus sich alle anderen Nationalismen,
die ihm im Wege sind, einfach unterzuordnen hat.
Es ist allerdings nicht ganz einfach, einer deutschen Anhängerschaft dieses so undeutsch-multinational daherkommende Wesen „Europa“ als Fortschritt begreiflich zu machen, der sich für die deutsche Nation auszahlt. Das dialektische Konstrukt einer dauernd mit Kompromissen behafteten friedlichen Eroberung fremder Wirtschaftsräume ist dem Gemüt von Leuten nicht so recht zugänglich, das den Fortschritt der deutschen Nation recht geradlinig, also als Durchsetzung deutschen Rechts gegen alles und jeden denkt. Daher will dieses Gemüt im Zusammenhang mit „Europa“ auch immer eigens betreut werden, und Europa heißt dann alternativ „Brüssel!“, „Regelungswut“ oder schreit nach einem „Europa von unten“. Damit meinen deutsche Politiker das gute Recht aller Deutschen, von keinen anderen als den eigenen Herren kommandiert zu werden – wie immer unter Berufung auf Interessen im Volk, die ausschließlich aufgrund ihres tatkräftigen Wirkens geschädigt werden: Sollen sie ihr „Europa“ doch lassen, wenn sie so schwer auf redliche deutsche Bauern, emsige bayerische Metzgermeister oder darauf stehen, daß ihr Volk die billigen dicken Bananen frißt!
Das tun sie freilich nicht. Stattdessen wollen sie die nationale Volksseele weiter über geistige Hürden quälen – „Aus Liebe zu Deutschland: Europa“ (CDU) – und bringen „realpolitisch“ Deutschland in und mit Europa und ihren „Partnern“ voran. So gut sie jedenfalls können, und das heißt zur Zeit: Lange nicht so gut, wie sie es wollen und mit ihrer symbolischen Selbstgefälligkeit ihrem Volk eindeutschen: „Deutschland über alles!“ ist zwar die schöne Idee und Triebfeder deutscher Politik, aber eben nicht dasselbe wie sie; noch kann und will diese an allen Schauplätzen, auf denen sie unterwegs ist, ihrem Erfolg entgegenstehende Bedingungen nicht umstandslos wegräumen – wie sich das für ihr Recht doch gehört und sie selbst doch symbolisiert; noch ist ja selbst zwischen denen, die die Politik der Nation machen, gar nicht, und gerade in ihren wesentlichen Angelegenheiten nicht, ausgemacht, worin diese Politik eigentlich bestehen und welchen Weg die Nation nun gehen soll. Und wenn dann das deutsche Europa doch nicht so recht vorankommt und unklar bleibt, ob und was aus ihm überhaupt wird; wenn es gleich beim ersten gescheiten Manöver in Sachen „weltpolitische Verantwortung“ erst furchtbar viel Streit um dessen nationalen Sinn und dann nach übereinstimmender Auffassung im Endresultat noch eine Blamage gibt, dann hat die Politik ihre eigenen Symbole entwertet, weil für alle erkennbar vor den Ansprüchen versagt, die sie mit ihnen in die Welt gesetzt hat.
Die Produktivkraft der neuen nationalen Moral
insgesamt nimmt darüber keinen Schaden, im Gegenteil: so kommt sie zustande. Die Widersprüche der neuen Symbolwelt und auch das gelegentliche Scheitern der glanzvollen Selbstdarstellung deutscher Größe sind Begleiterscheinungen einer Umgestaltung des nationalen Überbaus – und der muß sein, ebenso wie die Selbstkritik „unseres“ überlebten bundesrepublikanischen Selbstverständnisses. Die regierenden Herren halten die bisherigen Künste nationaler Selbstdeutung für eine regelrechte Gefährdung ihrer Handlungsfreiheit – und das zeugt nicht nur von den hohen Ansprüchen, die sie an die Treue ihrer Gefolgschaft stellen; wenn sie fürchten müssen, sie hätten das Volk, das sie regieren, nicht auch geistig voll im Griff, fühlen sie sich nicht wohl. Es zeugt von dem objektiven Bedarf nach einem Überbau und nach politischer Agitation. Die Nation steht anders da als damals, sie geht neue Wege und setzt sich neue Ziele – das Volk, das dies alles einsehen, mittragen und vor allem aushalten soll, braucht neue Wegweisungen. Ohne die „Einsicht“ in die Politik, ohne innere Bereitschaft zum Mitmachen und Durchstehen der nationalen Großtaten funktioniert die Demokratie nicht – und auch sonst kein Staat, der sich Großes vornimmt. Ein innerlich gefestigter und geschlossener Volkskörper ist das erste Machtmittel der Politik. Gegenwärtig aber paßt das nationale Gemüt nicht richtig zur Lage der Nation; Anpassung tut not. Politprofis und Bürger beklagen Kommunikationsstörungen zwischen oben und unten – Politikverdrossenheit! „Geistige Führung“ wird verlangt und geboten; Armeeminister Rühe weiß ganz gut, daß er die weltweiten Einsätze der Bundeswehr, die er will, nicht mit der alten Ideologie von der „Friedensarmee“ und ihrem „Verteidigungsauftrag“ verkaufen kann. Blüm rätselt, welchen guten Gemeinsinn er dem Bruch der Rentenformel geben soll, wenn offenbar wird, daß die Beiträge die angesammelten Rentenansprüche nicht mehr hergeben; mit den Phrasen vom „Lohn für Lebensarbeit“ und „Sicherheit im Alter“ kann er jedenfalls nicht mehr kommen. Schäuble gibt Antwort: „Nur die Idee der Nation kann die notwendige Opferbereitschaft erzeugen und die Gesellschaft vor zersetzenden Verteilungskonflikten bewahren“.
Mit neuen Werten und Symbolen wird dem Volk das geistige Instrumentarium zur Verfügung gestellt, mit dem es sich das nötige Verständnis und Einverständnis erarbeiten kann, das es braucht, um den Willen zum Aushalten der anstehenden Pflichten und Lasten aufzubringen. Die politisch Zuständigen richten sich also nicht nach einer deutschen Identität, sie verleihen auch nicht einer irgendwie vorgegebenen nationalen Identität Ausdruck – sie stiften sie, damit das deutsche Gemüt zu ihrem Handeln paßt und ihm recht gibt.
Das geistige Instrumentarium, mit dem der Bürger die politischen Projekte als korrekte Erfüllung anstehender Aufgaben kapieren soll, hat es allerdings in sich: Es ist der Aufruf zur vollständigen Nichtbefassung mit Zielen, Mitteln und Wirkungen dessen, was „verstanden“ werden soll; es ist der Aufruf zu einer Haltung, die schon deswegen nie auf die Frage stößt, worum es bei politischen Maßnahmen geht, weil sie es immer schon weiß: Deutschland vor! Über eine blödsinnige Symbolik, die die Nation zum Gegenstand der Verehrung aufbereitet, wird ein einziger Gedanke transportiert: Deutschland, deutsch sein, deutsch denken. Die Zumutung, sich diesen einen und nur diesen einen politischen Gedanken zulegen zu sollen – einen Gedanken der jede Radikalisierung der politischen Praxis schon verstanden hat, noch ehe sie passiert –, verrät etwas darüber, was die Nation mit ihren Bürgern vorhat und wie wenig die angepeilten Fortschritte der Nation sich mit dem Bild vom Wohlfahrtsstaat und dem Systemvergleichsdenken vertragen, das mit einem kurzen Blick über den Eiseneren Vorhang und nach Hinterindien den relativen Vorteil westdeutschen Lebens bewiesen und zur Grundlage des BRD-Nationalbewußtseins und seiner weltläufigen Gemütslage gemacht hatte. Für seinen Fortschritt kann Deutschland nur persönlich selbstlose und national anspruchsvolle Idioten gebrauchen, die von nichts eine Ahnung, aber alles verstanden haben, wenn sie Deutschland lieben.[2]
[1] Zur ausführlichen Würdigung Heitmanns vgl.: Der Streit um Steffen Heitmann. Paradigmenwechsel im nationalen Moralismus, GegenStandpunkt 4-93, S.61.
[2] Insofern ist der Umstellung der nationalen Symbolik in all ihrem abgehobenen Unsinn durchaus eine Ankündigung und ein neuer politischer Wille zu entnehmen. Allerdings auch nur insofern. Derselben Ignoranz gegenüber der wirklichen Politik und ihren Fortschritten, zu der die deutschen Mitläufer aufgefordert werden, machen sich jene feinsinnigen, am Kulturadel von Goethe und Karl Kraus geschulten Kritiker schuldig, die ihrerseits die nationale Politik nur über den Nationalgeist zur Kenntnis nehmen und lauter Ungeist entdecken. Sie beziehen sich ausschließlich auf die Sphäre nationaler Repräsentation und Selbstdeutung, ertappen Politgrößen bei „entlarvenden“ Zitaten – und wissen sofort, woran sie sind. Der Wahl Berlins zur neuen Hauptstadt entnehmen sie den Fahrplan zur Wiedererrichtung des Deutschen Reiches und Stoibers Spruch von der „durchrassten Gesellschaft“ die Ankündigung, daß die Ausländerpolitik demnächst Konzentrationslager baut. Sie hassen Deutschland wegen seiner auftrumpfenden Symbolik und nehmen diese für die Sache. Eine humanistische und national zurückhaltende Selbstdarstellung, wie sie Deutschland in Figuren wie Heuß und Heinemann erfahren hat, verstellt den Kritikern deutschen Ungeists dann umgekehrt den Blick auf die Instrumente und Zielsetzungen des deutschen Nachkriegsimperialismus, dem diese gut beleumundeten Lichtgestalten vorstanden. Eine Kritik der ordinären Politik und ihres Imperialismus findet in beiden Fällen nicht statt, weil sie mit den Verkaufsstrategien für sie verwechselt werden. Das Ringen um neue Symbole nationaler Herrlichkeit kündigt ein neues deutsches Erwachen an. Erklärung und Kritik desselben fängt damit aber erst an.