Unsere Ukrainer

Auch die andere Seite des Krieges erfährt in der öffentlichen Berichterstattung ausgiebig ihre Würdigung. Am laufenden Band werden dem hiesigen Publikum Ukrainer präsentiert, für die man einfach Partei ergreifen muss. In der Vielzahl ihrer recht stereotypen Einzelschicksale als Opfer oder Held ‚unseres Krieges‘ ist für jeden Geschmack etwas dabei.

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Unsere Ukrainer

Auch die andere Seite des Krieges erfährt in der öffentlichen Berichterstattung ausgiebig ihre Würdigung. Am laufenden Band werden dem hiesigen Publikum Ukrainer präsentiert, für die man einfach Partei ergreifen muss. In der Vielzahl ihrer recht stereotypen Einzelschicksale als Opfer oder Held ‚unseres Krieges‘ ist für jeden Geschmack etwas dabei:

„In fließendem Englisch beschreibt Vseslava ihr Leben und was davon übrig blieb. Morgens habe sie in einem netten Café noch Kaffee getrunken, erzählt sie, die aus Kiew stammt, und zwar, wie sie leicht ironisch anmerkt, aus einem Hipsterviertel. Mit ihren Freunden, allesamt wie sie aus der Kreativbranche, habe sie freitagabends immer Wein getrunken. Es sei ein total privilegiertes Leben gewesen und sie habe es sehr gemocht, doch binnen eines Tages sei es zerstört worden. Jetzt fühle sie sich wie eine andere Person, sagt die junge Frau, die Journalistin ist und als Social-Media-Managerin gearbeitet hat. ‚Und nun bin ich ein Flüchtling‘, konstatiert sie und dreht sich, mit den Tränen kämpfend, von der Kamera weg... Deshalb ist das Video mit der jungen Ukrainerin für uns so erschütternd: Dieser Krieg kann jeden treffen und jede. Vseslava, ihre Freunde und so viele andere Ukrainer haben gelebt wie Millionen junger Europäer weiter westlich, mit weniger materieller Sicherheit vermutlich, doch mit ebenso viel Lebenslust und Tatendrang. Ihr trauriges Schicksal zu verfolgen ist, wie in einen getrübten Spiegel zu blicken.“ (FAZ, 21.3.22)

Durch die Erzählung dieser jungen Frau aus ihrem alltäglichen Leben, das den Leser so vertraut an seine eigene Normalität erinnert, kann er sich in ihre Lage versetzen und in einem distanzlosen Abgleich mit seinen privaten Wünschen und Bedürfnissen ihr Leid nachvollziehen. Vseslavas Schicksal ‚kann‘ – das heißt in dieser Technik der Aufbereitung menschlicher Tragödien so viel wie ‚darf‘ – niemanden einfach kaltlassen, schlicht weil sie ist wie wir, und ihr Schicksal damit zumindest in der Vorstellungskraft der urteilenden Privatperson auch das eigene sein könnte. Mit dieser geistigen Zumutung der Identifikation mit den Opfern wird der Leser an seinem menschlichen Mitgefühl gepackt, soll sich ganz in Leid und Betroffenheit einfühlen und sich so ideell mitbetroffen machen. Der Krieg erscheint hier ausschließlich in der denkbar unsachlichen Form als pures menschliches Unglück, das Menschen wie dich und mich aus ihrem normalen Leben reißt und ihnen ihre individuelle Identität raubt, sodass der Kommentator sich bemüßigt sieht, klarzustellen, worum es bei diesen zerstörten menschlichen Existenzen in einem höheren Sinn eigentlich geht:

„Die junge Vseslava ist einstweilen bei Freunden in Deutschland untergekommen und hat im Internet geschrieben, dass sie sich ein Flugverbot über ihrer Heimat wünscht – und dass sie nicht nur ihre Liebsten vermisst, sondern auch ihre ‚weißen Reeboks und mehrere Jeans, die so gut an mir aussehen‘. Kein oberflächlicher Materialismus drückt sich hier aus, sondern die tiefe Sehnsucht nach ihrem alten, unbeschwerten, westlich geprägten Leben, dessen freiheitliche Werte in Wahrheit nichts an Strahlkraft verloren haben. Im Gegenteil: Sie sind es, die Putin so sehr hasst.“ (Ebd.)

Alles klar! Das Privatleben ist politisch. Denn das – jetzt zerstörte – materielle Dasein entpuppt sich durch schlichte Aneinanderreihung umstandslos als unbeschwertes Leben, unbeschwert als westlich geprägt, westlich geprägt als Ausfluss freiheitlicher Werte – und deren Glanz spricht dann selbstverständlich für NATO-Kontrolle über den ukrainischen Luftraum. In solch sympathischen Figuren wie Vseslava wird so sinnfällig, dass es beim Kampf des Westens gegen Russland um seine Werte geht – hier in der Gestalt eines kleinen Glücks von der Art, wie es freiheitlich-demokratische Influencerinnen ihrem Publikum ans Herz legen. Dieser Art Leben, mithin diesen Werten gilt Putins ganzer Krieg – und denen gilt deshalb auch unser und der Ukrainer Abwehrkampf.

Für so was verheizen also Staaten ihre Armeen.

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Für den weniger hipsteraffinen Geschmack kennt die hiesige Presse noch eine Vielzahl ganz gewöhnlicher Ukrainer, die unsere unbedingte Parteinahme verdienen – nicht als die Opfer, zu denen sie im Krieg gemacht werden, sondern für die Opfer, die sie aus freien Stücken im Krieg für ihre Seite bringen. In einer neu entdeckten Begeisterung für Molotow-Cocktails und Barrikaden aus brennenden Autoreifen werden heroische Bilder des kreativen Widerstandes eines tapferen Völkchens präsentiert:

„Russland hat das Unglück in sein Nachbarland gebracht. Aber an Helden mangelt es der Ukraine nicht. Im Gegenteil: Es gibt sie zuhauf. Jeden Tag erreichen den Westen Videos und Berichte von Ukrainern, die – nicht nur an der Front – ihr Leben riskieren. Man kommt nicht umhin, ihren Heldenmut, ihre Entschlossenheit, ihren Willen, ihr Durchhaltevermögen zu bestaunen oder zu bewundern, ohne sie zu überhöhen. Die Bilder und Worte sagen genug... Da sind die Bauern, die zurückgelassene Panzer wegschleppen. Da sind die jungen Frauen, die zur Waffe greifen. Da sind die Großmütter, die russischen Soldaten Sonnenblumenkerne geben, damit aus den Leichen der Besatzer etwas Sinnvolles erwächst, wenn sie in der ukrainischen Erde verwesen. Da ist der Mann in roter Jogginghose und Hauslatschen, der in Melitopol einen Protest gegen russische Soldaten in Kampfmontur anführt und ihnen mitteilt, was er über sie denkt: ‚Verpisst euch!‘ Nicht nur in Melitopol, auch in Cherson, Nowa Kachowka und anderen Städten gehen Einwohnerinnen und Einwohner todesmutig, manchmal Warnschüsse ignorierend, gegen die Invasoren auf die Straße und verhöhnen jene, die mit ihren Granaten und Bomben gekommen sind, angeblich um die Ukraine von ‚Neonazis‘ und ‚Drogensüchtigen‘ zu ‚befreien‘. Statt zu jubeln, singen Ukrainer ihre Nationalhymne und rufen: ‚Haut ab!‘ und ‚Ruhm der Ukraine!‘“ (n-tv, 20.3.22)

Überall in der Ukraine findet n-tv einfache Leute, die sich der Lage, in die sie durch den Krieg versetzt sind, nicht einfach fügen, sondern sich in ihrem Alltag durch eine Vielzahl kleiner Taten gegen die Besatzer auflehnen. Ungeachtet ihrer individuellen Ohnmacht machen die Bauern und jungen Frauen der Nation die Verteidigung der Souveränität der ukrainischen Staatsgewalt zu ihrer Sache und leisten allesamt gemäß ihren bescheidenen Mitteln singend oder in Hauslatschen Widerstand. Sie nehmen die staatliche Gewaltaffäre als Angriff auf ihre heimelige Gemeinschaft und setzen das Existenzrecht ihrer Nation derart in eins mit ihrer eigenen Existenz, dass sie glatt bereit sind, sie der Selbstbehauptung der Nation zu opfern. Dieser Irrsinn eines opferbereiten Nationalismus wird in den Rang einer privaten Tugend erhoben. Ihr ‚Mut‘ und ihre ‚Tapferkeit‘ macht die Ukrainer zu Helden, und gerade die Mittellosigkeit und faktische Ohnmacht ihres Alltagsheldentums demonstriert die ganze moralische Überlegenheit gegenüber der feindlichen Kriegspartei, mögen sie praktisch im Kriegsverlauf auch noch so untergehen.

Dergleichen verlangt nach dem Urteil von n-tv Bewunderung hierzulande. Deswegen reflektiert der Sender auf gängige Vorbehalte, um sie abzuräumen: Erstens beglaubigt die Alltäglichkeit der kleinen, teils sogar unauffälligen und spontanen Widerstandsaktionen des ukrainischen Volkes, dass sie ganz selbstverständlich seinem inneren Wesen entspringen und mit der Glorifizierung lebensmüder Nationalisten hier nichts künstlich überhöht wird. Zweitens kann der Zuschauer seine Abneigung gegen Heldenverehrung und verwerfliche Auswüchse des Nationalismus getrost beiseitelegen, weil es sich gar nicht um solchen Nationalismus, sondern um moralisch integren Patriotismus handelt. Für den Beweis, dass, wo der Sache nach kein Unterschied besteht, ein solcher in der moralischen Qualität umso mehr vorliegt, reicht ein schlichtes Dementi: Die Ukrainer genießen ‚unsere‘ Hochachtung für ihren nationalistischen Opfermut, also haben sie die auch verdient:

„Der bis vor Kurzem verschmähte Patriot, der bereit ist, dem Tod in die Augen zu sehen, bereitet kein Unbehagen und wird nicht mehr mit verheerendem Nationalismus gleichgesetzt, sondern mit Freiheitswillen und Liebe zur Heimat.“ (Ebd.)

Und wer sich drittens womöglich noch an dem ganzen Pathos und den kitschig aufbereiteten Heldenmythen der vielen tapferen Ukrainer, die den Besatzern bei jeder Gelegenheit mit Traktoren und Sonnenblumenkernen den Marsch blasen, stört, dem sei versichert: Selbst das Pathos stört nicht, weil es keiner realitätsfernen Glorifizierung des Geschehens entspringt, sondern der Realität entspricht:

„Die Faszination für die Klitschkos und all die Menschen, die Panzer mit ihrem bloßen Leib stoppen und zur Umkehr bewegen, speist sich daraus, dass sie eben keine Statuen sind. Es handelt sich nicht um in Stein gehauene Ideale oder Comic-Figuren – sie sind lebendige Wesen. Die Realität holt sie ins Wohnzimmer und macht aus ihnen Helden zum Anfassen.“ (Ebd.)

Der Bewunderer ukrainischer Tapferkeit stilisiert den Kriegsalltag erst zu einem puren Betätigungsfeld heldenhaften Widerstands und die ukrainische Bevölkerung zu Idealfiguren persönlichen Kampfeswillens, um dann dieser Heroisierung mit dem schlichten Hinweis Glaubwürdigkeit zu bescheinigen, dass es sich bei dieser Stilisierung des alltäglichen Kriegsgeschehens zu lauter patriotischen Heldentaten nicht um eine Fiktion handelt: Hier sind echte ‚lebendige Wesen‘ in einem echten Krieg unterwegs; hier beglaubigt die Authentizität der Gestalten also die Narrative ihres Heldenmuts und beweist dem Zuschauer endgültig, dass er vorbehaltlos Partei ergreifen darf. Ein jeder kann und soll sich als Fan der ukrainischen Kriegsführung verstehen: Da sind im Krieg seine Helden in Aktion, er kann ihnen im Kriegsverlauf die Daumen drücken und deren Stolz über jeden erfolgreichen militärischen Gegenschlag und jede vernichtete Russeneinheit selbst verinnerlichen.

Den ukrainischen Kämpfern gebührt also unsere Bewunderung – und unsere Dankbarkeit:

„Es braucht nicht viel, den Stolz der Ukrainer jedes militärischen Erfolgs nachzuvollziehen und nachzuempfinden oder ihn zu vereinnahmen. Das hat damit zu tun, dass Selenskyj, die Klitschkos und alle anderen Helden an und hinter der Front glaubwürdig vermitteln, nicht nur für die Ukrainer zu kämpfen und zu sterben, sondern für die ganze westliche Welt... Es fällt nicht schwer, sich vor den tapferen Ukrainern zu verneigen und ihnen – den Lebenden und Gestorbenen – zu danken.“ (Ebd.)

So kommt n-tv ganz zum Schluss doch noch auf die politische Wahrheit, den eigentlichen Grund seiner Lobeshymnen zu sprechen. Mit einem unscheinbaren „nicht nur für sich, sondern für die ganze westliche Welt“ stellt es klar, weswegen die ukrainischen Kämpfer unsere Anerkennung und unseren Dank verdienen: Sie kämpfen und opfern sich für ‚unsere‘ Sache. Das nötigt ‚uns‘ als am Krieg Anteil nehmendes Volk zu hemmungslosem Applaus. Wozu die „tapferen Ukrainer“ ‚uns‘ in Gestalt unserer Regierung verpflichten, liefert der Tagesspiegel nach:

„Alles in allem sind die russischen Angreifer den ukrainischen Verteidigern in Sachen Material weit überlegen. Umgekehrt verhält es sich bei der Kampfmoral. Und die ist mittel- und langfristig entscheidend, argumentiert Eliot A. Cohen von der Johns-Hopkins-Universität. Dafür müsse der Westen den Ukrainern mit signifikanten Waffenlieferungen helfen, um ihre materielle Unterlegenheit auszugleichen. In der Kombination aus Moral und Material liege ihre Chance zum Sieg.“ (Tagesspiegel, 11.3.22)

Weil die Ukrainer mit ihrer Moral den Russen total überlegen sind, deswegen letztlich sowieso siegen, müssen ‚wir‘ ihnen die Waffen liefern, damit ihre Moral und unsere Waffen vereint siegen. Denn mit ihrer Moral verdienen sie unsere westlichen Waffen und den Sieg. Im Klartext: Sie sind verplant als die nützlichen Idioten, die der Westen mit seinen Waffen gegen den russischen Feind kämpfen lässt.