Zwei Fußnoten zur Weltpolitik
Die UNO wird Fünfzig

Die UNO wird gefeiert als diplomatische Börse, in der alle Staaten ihr Einverständnis zur Staatenhierarchie bekunden, Gegenpositionen wie Castro sind unerwünscht. Kanzler Kohl bleibt fern, um seine Unzufriedenheit mit dem UNO-Status Deutschlands zu demonstrieren.

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Zwei Fußnoten zur Weltpolitik
Die UNO wird Fünfzig

Vom Sinn einer Geburtstagsfeier

Der 50. Jahrestag der UNO fiel auf einen etwas unglücklichen Zeitpunkt. Nach den Einsätzen in Somalia und auf dem Balkan ist nämlich keiner mit ihr zufrieden; der Schein, der allumfassende Staatenclub von New York könnte, wenn schon keine überstaatliche Weltregierung, so doch ein tatkräftiges Entscheidungszentrum für wichtige Weltordnungsfragen sein, ist verflogen. Sie kann das nicht sein, weil ihre Mitglieder das nicht wollen.

Dennoch: Die offiziellen Feierlichkeiten in New York zum 50. Jahrestag der UNO-Gründung waren gut besucht. Bis auf wenige Ausnahmen – dazu später – waren sämtliche Staats- bzw. Regierungschefs der Welt angereist, um in einer 5-minütigen Grußbotschaft – bei aller Unzufriedenheit – ihren prinzipiellen Respekt vor den „Vereinten Nationen“ zu bekunden. Man ist und bleibt also interessiert an einer umfassenden diplomatischen „Börse“, an der die Souveräne der Welt fortlaufend ihr Gewicht als Subjekt wie Objekt der Einmischung in auswärtige Angelegenheiten taxieren – die „Gespräche am Rande“ sollen ja auch bei dem Mammuttreffen in New York das Wichtigste gewesen sein. Auch darauf wird nach wie vor Wert gelegt, daß alle Nationen sich Jahr für Jahr vollversammeln, Resolutionen verabschieden und so den Schein erwecken, alle Weltaffären würden von allen Betroffenen frank und frei beraten – während gleichzeitig ein paar Großmächte im Weltsicherheitsrat untereinander ausmachen, welche Affäre überhaupt und in welchem Sinne zur Beschlußfassung gelangt. Denn eins bewirkt diese diplomatische Groß- und Dauerveranstaltung schon: Die große Masse der UNO-Vollmitglieder liefert fortwährend ihr prinzipielles diplomatisches Einverständnis mit einer Staatenhierarchie ab, in der formell alle gleich sind, aber nur die paar Wichtigen das Sagen haben. Wer die Wichtigen sind und was sie zu sagen haben, steht in der UNO nicht zur Debatte. Sie bietet vielmehr den einen Gelegenheit, zu dem, was sie auf der Welt festgelegt haben wollen, diplomatische Zustimmung einzusammeln – und den anderen die schöne Chance, gefragt zu sein und sogar bei Bedarf beteiligt zu werden, mit Geldzahlungen z.B. oder sogar mit Truppenkontingenten bei „Blauhelm-Einsätzen“. Was und wieviel da zusammengeht, das entscheidet natürlich nicht die Masse der Staatenfamilie, sondern die kleine Elite, soweit sie sich einig wird. Was konkret bedeutet: soweit die USA ihre konkurrierenden Verbündeten, die ehemals feindliche große Absteigermacht, Rußland, sowie das riesige Objekt imperialistischer Sorgen und Begierden, China, zum Einverständnis bringen mit ihrer Sicht der Weltlage und ihrer Definition von Feinden und Problemfällen; denn daß die USA umgekehrt sich hätten festlegen lassen, das ist in der UNO-Geschichte noch nicht vorgekommen. Beim Golfkrieg gegen Saddam Hussein hat der Völker-Rat nach amerikanischem Wunsch funktioniert – da hatte die UNO Konjunktur. So gut hat die Einbindung der Konkurrenz und die Vollstreckung der zustandegebrachten UNO-Mandate danach nicht wieder geklappt – seither ist die UNO wieder mehr in der Krise. Doch das eine bleibt: Seit die Sowjetunion als der große Gegenspieler der USA ausgeschieden ist und China sich aus der Rolle des kleinen Gegenspielers verabschiedet hat, und solange kein Konkurrent sich als neuer Gegenspieler aufbaut, ist die UNO der organisierte Konsens aller Staaten, daß die Machtverhältnisse auf der Welt so sind, wie sie sind.[1]

Etwas aus dem Rahmen fiel deshalb der von der Weltöffentlichkeit mit Spannung erwartete Auftritt Fidel Castros. Nicht wegen besonderer weltpolitischer Wichtigkeit, sondern als Repräsentant einer verflossenen UNO-Ära fand Castro Beachtung: als letztes Überbleibsel einer Zeit, in der in der UNO noch Gegenpositionen zum mittlerweile weltweit unangefochtenen System von „Marktwirtschaft und Demokratie“ angemeldet wurden und der Schein lebendig war, dort ließen sich der imperialistische Zugriff auf die Staatenwelt bremsen und seine schädlichen Wirkungen korrigieren. Mit dem sowjetischen Einspruch gegen die Alleinherrschaft der kapitalistischen Großmächte ist auch dieser Schein dahin. Insofern handelte es sich beim alten Fidel mehr um eine Randerscheinung, die den Ablauf der Feierlichkeiten aber nicht weiter störte, sondern bestenfalls von einer geschmäcklerischen Öffentlichkeit als folkloristische Einlage gewürdigt wurde. Ansonsten war die Botschaft der Geburtstagsfeier klar: Der nicht-kontroverse Charakter der heutigen UNO wurde zur Anschauung gebracht.

Um so auffälliger geriet deshalb die Fußnote Nr.2:

Der deutsche Kanzler wollte der UNO nicht zum Geburtstag gratulieren

Und nicht nur das: Kohl hat nicht nur die Einladung nach New York mit dem Verweis auf „wichtigere Termine in Bonn“ ausgeschlagen – was in der Welt der Diplomatie schon eine ziemlich rüde Absage ist. Er hat auch noch in aller Öffentlichkeit erklärt, daß er von der ganzen Veranstaltung absolut nichts hält. Und ob’s stimmt oder nicht – glaubwürdig ist die in der Presse kolportierte Meldung allemal, daß er Bundespräsident Herzog die Teilnahme an den Feierlichkeiten untersagt hätte. Der Kanzler hat es offensichtlich darauf angelegt, daß wirklich niemand seine Abneigung gegen die UNO-Fete verpassen oder diplomatisch schönreden konnte.

Das hat der deutschen Öffentlichkeit doch schwer zu denken gegeben: Was war bloß mit dem Dicken los? „Hat er etwa seinen politischen Urinstinkt verloren?“ „Will er sich etwa in eine Reihe mit Gaddafi und Saddam Hussein stellen lassen – den beiden anderen Regierungschefs, die bei der UNO-Feierstunde fehlten?“ So ähnlich lauteten die Kommentare der um das nationale Ansehen besorgten deutschen Presse. Denn schließlich weiß mittlerweile jeder verantwortungsbewußte Mensch, daß „wir Deutsche“ ziemlich dringend einen ständigen Sitz im UNO-Sicherheitsrat beanspruchen. – Und dann dieser Affront gegen die UNO – kann das gutgehen?!

Der Kanzler selber scheint die Sache genau umgekehrt gesehen zu haben. Es mag ja sein, daß bei dem Mann seine 12-jährige unangefochtene Regentschaft und sein Selbstbild vom „Schmied der deutschen Einheit“ eine winzigkleine Neigung zum Größenwahn befördert haben, die nicht ganz folgenlos bleibt für die Wahl der diplomatischen Mittel, mit denen er der Welt deutsche Forderungen mitteilt. Aber „durchgeknallt“, so daß er sich in eine Reihe mit Gaddafi oder Saddam Hussein stellen wollte, ist er wirklich nicht. Der „Kanzler der Einheit“ hat es für an der Zeit gehalten, unübersehbar die deutsche Unzufriedenheit mit der derzeitigen Verfassung der UNO zu demonstrieren. Und diese Unzufriedenheit geht über das allgemeine weltpolitische Urteil, die UNO hätte in den ihr übertragenen Ordnungsaufgaben mehr oder weniger versagt, entschieden hinaus. Wo so klar ist, daß die UNO nur so viel wert ist, wie die wichtigsten Mitgliedsstaaten aus ihr machen, kommt es den Deutschen um so mehr darauf an, daß sie in der Rolle eines solchen führenden Mitglieds anerkannt sind. In seiner Heimat steht der Kanzler mit diesem Anspruch nicht allein; alle maßgeblichen Menschen im Lande halten es für zunehmend unerträglich, daß die Nation in der UNO nicht so präsent ist, wie es ihr mit „ihrer gewachsenen weltpolitischen Verantwortung“ zusteht. Von seinen nationalen Kritikern unterscheidet sich der Kanzler lediglich in der diplomatischen Form. Er hat es für opportun gehalten, den deutschen Korrekturbedarf in Sachen UNO-Sicherheitsrat nicht in eine 5-minütige Grußadresse einzupacken, sondern durch beleidigtes Fernbleiben zu unterstreichen. Und die öffentliche Wirkung, die diese Demonstration hervorgerufen hat, gibt ihm recht. Seine Abwesenheit ist jedenfalls hierzulande und wohl auch dort, wo die Botschaft ankommen sollte, mehr zur Kenntnis genommen worden als das Abschlußdokument der feierlichen UNO-Vollversammlung. Seine Ankündigung, er wolle dann demnächst mal eine wirklich wichtige Rede vor der UNO-Vollsammlung halten – eine Rede, die jedenfalls länger dauert als diese lachhaften 5 Minuten; das Thema findet sich dann schon, eventuell die „Umwelt“ oder was auch immer –, war auch nicht mißzuverstehen: Eine UNO mit Deutschland in wichtigerer Position, die würde auch ein Kohl mit seinem Besuch beehren.

So verlangt der Kanzler für seine Nation die offizielle Investitur als imperialistische Macht, die sich in der UNO Einverständnis für ihre weltweiten Ambitionen verschafft. Deutschland will nicht länger unter den UNO-Mitgliedern geführt werden, die ohne das kleinste Veto-Recht bloß ihr Einverständnis abzuliefern haben. Solange dieser Fehler nicht korrigiert ist, muß die „Völkerfamilie“ eben mit Kohls Kinkel vorlieb nehmen, der auch auf das Gruppenfoto mit Staatschefs verzichtete, erst am zweiten Tag der Veranstaltung anreiste und folgende Statements abgab: Erstens wollen die Deutschen in den Sicherheitsrat; zweitens sollen die USA endlich ihre Schulden bei der UNO bezahlen und drittens hält Deutschland gewisse UNO-Aktionen der letzten Jahre für durchaus kritikabel, so daß die Frage erlaubt sein muß, ob nicht andere Organisationen manchmal besser geeignet sind, anstehende Ordnungsaufgaben durchzuführen. Auch eine Art klarzustellen, daß Deutschland nicht länger der „Zahlmeister“ der UNO sein will, wenn es keine dickere Nummer in diesem Verein wird.

Wie die Sache aussieht, scheinen die maßgeblichen Mitglieder der „Völkergemeinschaft“ davon auszugehen, daß sie an der „gewachsenen Verantwortung“ Deutschlands auf Dauer auch in der UNO nicht vorbeikommen. Der französische Präsident Chirac zeigte sich nämlich keineswegs beleidigt, weil sein Freund Helmut erklärt hatte, IHM jedenfalls sei SEINE Zeit zu schade, um sie mit einer 5-Minuten-Rede vor der UNO zu vergeuden. Der Franzose nutzte seine Redezeit, um der Vollversammlung die Notwendigkeit der Aufnahme Deutschlands als ständiges Mitglied in den Sicherheitsrat nahezulegen. Der Mann kennt eben am allerbesten den Unterschied, ob man als Mitglied dieses erlauchten Gremiums oder unter „ferner liefen“ am Rednerpult steht.

[1] Zum Charakter der UNO der 90er Jahre vgl. GegenStandpunkt 1-93, S.15: „Fortschritte des Imperialismus unter der Losung seiner Überwindung“.