Mit TTIP zur Wirtschafts-NATO
Dollar-Imperialismus und Euro-Binnenmarkt – gemeinsam unüberwindlich

Die USA und die EU verhandeln seit gut einem Jahr über eine „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ (TTIP). Dieses Vorhaben hat, anders als das bisherige seit Anfang der 1990er Jahre währende Gezerre auf Beamten- und Ministerebene um ein Transatlantisches Freihandelsabkommen (TAFTA), die allerhöchste Unterstützung durch den US-Präsidenten und die Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten und eine entsprechend hohe Dringlichkeitsstufe. TTIP soll zügig, innerhalb von zwei Jahren, fertig verhandelt werden, und vor allem: Es soll ein „ehrgeiziges“ Abkommen werden, das weit über alle bisherigen Freihandelsabkommen hinausgeht.

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Mit TTIP zur Wirtschafts-NATO
Dollar-Imperialismus und Euro-Binnenmarkt – gemeinsam unüberwindlich

Die USA und die EU verhandeln seit gut einem Jahr über eine „Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft“ (TTIP). Dieses Vorhaben hat, anders als das bisherige seit Anfang der 1990er Jahre währende Gezerre auf Beamten- und Ministerebene um ein Transatlantisches Freihandelsabkommen (TAFTA), die allerhöchste Unterstützung durch den US-Präsidenten und die Regierungschefs der EU-Mitgliedstaaten und eine entsprechend hohe Dringlichkeitsstufe. TTIP soll zügig, innerhalb von zwei Jahren, fertig verhandelt werden, und vor allem: Es soll ein „ehrgeiziges“ Abkommen werden, das weit über alle bisherigen Freihandelsabkommen hinausgeht.[1]

Ein Freihandelsabkommen wie kein anderes

Die Verhandlungsgegenstände sind – entgegen anderslautenden Gerüchten – kein sorgsam verborgenes Geheimnis. Der Stoff reicht von so banalen Fragen wie den Produktionsmethoden für Hühnchen (am Schluss chlorieren oder schon während der Produktion den Salmonellen das Leben schwer machen) oder Blinkerleuchten für Autos (rot oder gelb) über noch immer erhobene Zölle und die Zulassung auswärtiger Firmen zur Bewerbung um staatliche Aufträge bis zu ganz „technisch“ daherkommenden, dann aber doch etwas gewichtigeren Dingen wie der Schlichtung möglicher Streitfälle, wenn Investoren ihr Eigentumsrecht auf ungehinderte Kapitalverwertung durch Maßnahmen des Investitionsstaates geschmälert sehen. Der Anspruch von TTIP ist es, das Prinzip der „Nichtdiskriminierung“ von Firmen aus den jeweiligen Partnerländern bis ins letzte Detail und garantiert wirksam durchzusetzen, gegen alle staatlichen Regelungen und wirtschaftspolitischen Instrumente, aus denen – ob beabsichtigt oder nicht – inländischem Kapital ein Konkurrenzvorteil erwachsen könnte.

  • Staatliche Normen und Standards, die der Produktsicherheit, dem Umwelt-, Gesundheits-, Verbraucher- und Arbeitsschutz dienen, sowie die Verfahren, mit denen ihre Einhaltung staatlich überprüft und zertifiziert wird, gelten als „nichttarifäre Handelshemmnisse“, da ihre Einhaltung und deren Bestätigung dem Import aus dem Hoheitsgebiet des atlantischen Handelspartners mit seinen eigenen Normen und Überprüfungsverfahren zusätzliche Kosten aufbürden. Das gleiche gilt für die Regulierung des Geschäfts mit Finanzdienstleistungen, um die Stabilität des nationalen Finanzwesens zu sichern. Solche Regelungen sollen keine Handelsschranken mehr sein. Wo dieses Ziel durch Angleichung der nationalen Standards nicht erreichbar ist (und das ist die Regel, nicht die Ausnahme), ist ihre geschäftshemmende und -verteuernde Wirkung auszuschalten, indem die diversen Vorschriften und Normen in ihrer Schutzwirkung „im Wesentlichen“ als gleichrangig, die diesbezüglichen Zertifizierungen der anderen Seite als gültig anerkannt werden. Nationale Produktions- und Handelsbeschränkungen sollen nur noch bei „wissenschaftlich erwiesener“ („science based“), nicht schon bei „nicht auszuschließender“ Schädlichkeit der entsprechenden Produkte oder Produktionsverfahren zulässig sein.
  • Wirtschafts-, sozial- oder kulturpolitisch begründete staatliche Eingriffe in die Konkurrenz der Kapitale, sei es per Subventionen und Steuervergünstigungen, sei es per Eingriff in die freie Preisbildung (ob von Büchern, Medikamenten oder Wohnungen), gelten als „Wettbewerbsverzerrung“, die die auswärtige Konkurrenz unzulässig diskriminiert. Auch die gezielte Verteilung öffentlicher Aufträge, mit denen die Staaten auf lokaler, regionaler oder gesamtstaatlicher Ebene das ansässige inländische Geschäftsleben begünstigen und so die kapitalistische Nutzung von Land und Leuten sowie die gesundheitliche und kulturelle Betreuung des Volkskörpers fördern wollen, gelten als Beschränkungen des „Marktzugangs“, die verdiente Konkurrenzerfolge verhindern. Derartige Eingriffe in die freie Konkurrenz sind zu beseitigen und in der Zukunft zu unterlassen.
  • Die geplante „Investitionspartnerschaft“ soll sich darin bewähren, dass dem Kapital aus dem Herrschaftsbereich des Partners nicht nur die Freiheit zum Investieren in allen Geschäftssphären eröffnet wird, die dort dem heimischen Kapital offenstehen. Auch solche Geschäftszweige, die ein Staat in höherem standortpolitischen Interesse sich selbst vorbehält, sind grundsätzlich dem privaten Kapital als Investitionssphäre zu öffnen.
  • Die Vertragsbestimmungen zum Prinzip der Nichtdiskriminierung werden entscheidend ergänzt durch Verfahrensvorschriften zur prozessualen Durchsetzung des Investorenschutzes. Dabei soll betroffenen auswärtigen Kapitalisten nicht zugemutet werden, ihre Ansprüche auf die ungestörte Verwertung ihres Eigentums gegen Enteignungen oder „enteignungsgleiche Eingriffe“ der örtlichen Herrschaft vor den Gerichten des Investitionslandes verfolgen und sich damit womöglich national parteilichen Verfahren und Urteilen unterwerfen zu müssen. Für sie wird eine eigene überstaatlich-unabhängige Schiedsgerichtsbarkeit geschaffen, die nur dem Schutz des Eigentumsrechtes auf dem Territorium auswärtiger Herrschaften gegen deren Übergriffe verpflichtet ist. Das sogenannte Investor-Staat-Streitschlichtungsverfahren (Investor-State Dispute Settlement: ISDS) erlaubt es ausländischen Kapitalisten, den Staat, in dem sie investiert haben, vor einem internationalen, keiner nationalen Jurisdiktion unterliegenden Tribunal auf Entschädigung zu verklagen, wenn dieser das Kapital mit zusätzlichen Kosten belastet, die zum Zeitpunkt der Investition noch nicht bestanden. Denn klar ist: Der Wert des Kapitals ergibt sich aus dem zu erwartenden Gewinn; und was diesen Wert schmälert, das vernichtet Eigentum, ist also Enteignung. Zwar nur „indirekte“, im Unterschied zur direkten per Wegnahme oder Verstaatlichung; aber dieser Unterschied soll beim Schutz des privaten Eigentums keine Rolle spielen.[2]

Staatlicher Regelungsbedarf für einen Super-Wirtschaftsraum neuen Formats

Dass den Konzernen der westlichen Welt, die rund um den Globus aktiv sind, ein solches Abkommen gefällt, liegt auf der Hand. Von ihnen stammen ja die Auflistungen politischer Behinderungen, unter denen sie leiden und die von den Unterhändlern aus Washington und Brüssel nun abgearbeitet werden; sie lassen sich die Ausnutzung des Investorenschutzes durch spezielle Schiedsgerichte schon seit längerem nicht bloß ein paar Arbeitsplätze in ihrer Rechtsabteilung kosten, sondern stellen bei Bedarf auch Experten für diese Gerichte selber ab. Politiker und Handelsdiplomaten, die sich in den und für die TTIP-Verhandlungen engagieren, stehen deswegen öffentlich im Verdacht, Marionetten oder Opfer der einschlägigen Wirtschaftslobbies zu sein. Wenig Aufmerksamkeit findet deswegen das politische Interesse, das die Regierungen diesseits und jenseits des Atlantik beflügelt, wenn sie ihr TTIP-Projekt betreiben. Dabei sind sie die Subjekte des Verfahrens; und an ihrem Engagement werden durchaus elementare Prinzipien ihrer ökonomischen Staatsräson deutlich.

Offensichtlich gehen die zuständigen Regierungen felsenfest davon aus, dass Amerika und Europa einander für den Erhalt und das Wachstum ihrer Wirtschaftsmacht brauchen und dafür die Ausweitung ihres Wirtschaftsraums um den Binnenmarkt des jeweils anderen das beste Mittel ist. Die Masse der Ressourcen an gesellschaftlicher Arbeit und gegenständlichem Reichtum sowie der Zahlungsfähigkeit, auf die kapitalistische Unternehmen frei und ungehindert zugreifen können, veranschlagen sie mit der größten Selbstverständlichkeit als Vorteil für die Akkumulation von Kapital, die sie genauso umstandslos mit dem Nutzen ihrer Nation gleichsetzen. Für diese Gleichung werben sie in ihrer demokratischen Öffentlichkeit zwar gerne mit der sehr freihändigen Hochrechnung zu erwartender Arbeitsplätze und prozentualer Wohlstandsgewinne bei Wegfall diskriminierender Vorschriften. Doch weder legen sie gesteigerten Wert auch nur auf den Anschein eines wirklich nachweisbaren Zusammenhangs der behaupteten Art – da reicht dem deutschen Wirtschaftsminister z.B. schon eine Zahlenangabe seiner PKW-Industrie über die Kosten der Erfüllung amerikanischer Sicherheitsvorschriften, um sich zu einem zusätzlichen Wachstumsimpuls für die deutsche Wirtschaft zu gratulieren, wenn diese Vorschriften nicht mehr extra beachtet werden müssen –, noch machen sie ihr Interesse an einer Verdoppelung des uneingeschränkt verfügbaren Aktionsfelds ihrer Firmen von der Glaubwürdigkeit der in die Welt gesetzten Wachstumsziffern abhängig: Kapital braucht Markt, großes Kapital größere Märkte: der Grundsatz langt schon.[3]

Durchaus radikal ist die Konsequenz, die die politischen Betreiber des TTIP-Projekts aus diesem Grundsatz ziehen. Sie verallgemeinern und lassen sogar in Bezug auf ihr eigenes nationales Regelwerk gelten, was sie seit jeher ihren ausländischen Kollegen kritisch entgegenhalten: den Verdacht auf mindestens fahrlässige, eher absichtsvolle Verfälschung der freien kapitalistischen Konkurrenz durch sachlich nicht gerechtfertigte diskriminierende Vorschriften, erlassen im gar nicht wohlverstandenen nationalen Eigeninteresse. Sie stellen sich auf den Standpunkt, dass das Konkurrieren Sache der Unternehmen ist und zu bleiben hat und Staaten am besten fahren, wenn sie es denen auch überlassen; sie sollen die Wirtschaft allein mit solchen Bedingungen ausstatten, die die Konkurrenz der Kapitalisten freisetzen, also auf nichts anderes verpflichten als Fairnessregeln, die jede Wettbewerbsverzerrung ausschließen. Wie solche Regeln aussehen müssen und welche Gesichtspunkte staatlicher Betreuung des Volkes und der eigenen Macht daneben und auch dann noch Geltung beanspruchen dürfen, wenn ökonomische Berechnungen der Privatwirtschaft dadurch tangiert werden, das ist ein Gegenstand der Verhandlungen; und es ist klar, dass die sich damit in die Länge ziehen. Denn moderne Staaten finden es notwendig und haben verschiedene Gründe, auf sämtliche menschlichen Aktivitäten – vom Essen und Trinken verderblicher kapitalistischer Ware über das Bauen von Autos und Anrühren von Chemikalien bis zum Unterrichten des nationalen Nachwuchses, der Versorgung von Kranken und der Herstellung und Vermarktung von Kulturprodukten – ein Auge zu haben, was allemal in Rechtsvorschriften mündet. Deren Inhalt ist so zu modifizieren oder ihre Geltung so einzugrenzen, dass sie auf keinen Fall dem übergeordneten Ziel im Wege stehen, den nationalen Kapitalstandort zum Schauplatz ungehinderter, freier Konkurrenz zwischen allen Kapitalisten der EU und der USA herzurichten, die sich dort betätigen wollen. Denn nur so ist gewährleistet, was die TTIP-Macher politisch anstreben, im wohlverstandenen Eigeninteresse der beteiligten Nationen: dass das effektivste Kapital am jeweiligen nationalen Standort heimisch wird; was eben bestimmt und überhaupt nicht dadurch zu erreichen ist, dass die nationalen Geschäftsbedingungen mit dem Ziel zurechtgebogen werden, das heimische Kapital effektiv zu machen oder, schlimmer noch, gegen die tüchtigere Konkurrenz von auswärts abzuschirmen.

Der transatlantische Konsens und seine sachliche Grundlage: Erfolg

Den wirtschaftspolitischen Grundsätzen, denen die TTIP-Politiker folgen, ist ihre Herkunft deutlich anzusehen. Nein, nicht die aus irgendwelchen „neoliberalen“ Denkschulen: Die machen sich bloß ihren dogmatischen affirmativen Vers auf die weltwirtschaftliche Praxis, die die USA seit Jahrzehnten üben und der Staatenwelt aufgedrängt haben und von Beginn an als große Erfolgsgeschichte verbuchen. Amerikanische Unternehmen haben sich tatsächlich in dem Maß den Weltmarkt erobert, in dem ihnen das Recht eingeräumt worden ist, auswärts mit der Konkurrenzmacht anzutreten, die ihnen ihre auf dem heimischen Markt erwirtschaftete überlegene Größe verleiht; die so errungenen Erfolge haben sich regelmäßig als Basis für weiteren Zuwachs bewährt. Durch den Export von Kredit in alle Welt haben Amerikas Banken einen globalen Finanzmarkt aufgebaut, in dem sie federführend sind und dem sie die Mittel für geschäftliche Unternehmungen jeglicher Art und Größenordnung entnehmen und hinzufügen. Dort vermarkten sie außerdem amerikanische Staatsschulden in jeder beliebigen Menge, verschaffen also gleichzeitig ihrem Staat den Kredit der ganzen kapitalistischen Welt, dieser ein sicheres Geschäft, das im Wesentlichen über sie läuft, folglich sich selbst zusätzliche Finanzmacht. Die weltweite Verwendung des US-Dollar als kapitalistisches Geschäftsmittel folgt daraus und bestätigt, dass in den USA geschöpfter Kredit weltweit als Geldkapital fungiert; das nationale Kreditgeld der USA, ihr Dollar, nährt das kapitalistische Geschäft auf der ganzen Welt und wird dadurch zum über jeden Zweifel erhabenen Weltgeld. So geht für die USA die Gleichung auf, die dem TTIP-Projekt zugrunde liegt: zwischen weltweit freigegebener Konkurrenz der Kapitalisten, in der nichts als die Produktivität des eingesetzten Geldes und als deren entscheidende Quelle die Größe des eingesetzten Kapitals zählen, und nationalem Erfolg.

Der Rest der Staatenwelt, jedenfalls der seinerseits kapitalistisch erfolgreiche Teil davon, bestätigt auf seine Art die universelle Gültigkeit dieser Gleichung. Auch für den Kapitalismus dieser Nationen hat sich der von den USA gestiftete Weltmarkt als Erfolgsbedingung dadurch bewährt, dass auf ihm im Großen und Ganzen die Unternehmen mit der brutalsten kapitalistischen Effizienz zum Zuge kommen. Speziell die deutsche Bundesrepublik hat für ihre Nachkriegskarriere die Chancen genutzt, die die von den USA diktierte Konkurrenzordnung ihr geboten hat; in ihrer Rechnung zählt, was sich durchgesetzt hat, erst recht die erfolgreichen „internationalen Champions“; was dabei alles auf der Strecke geblieben ist, geht in die nationale Bilanz schlicht nicht mit ein, trübt die Erfolgsbilanz also nicht weiter. Die zugrunde liegende Gleichung von Größe des Marktes, Größe des Erfolgs der potentesten Kapitale und Nutzen für die Nation hat Europas kapitalistischen Führungsmächten überhaupt so eingeleuchtet, dass sie, um der überlegenen Konkurrenz von der anderen Seite des Atlantiks gewachsen zu sein, untereinander das Prinzip der freien Konkurrenz beherzigt und einen dem amerikanischen der Größe nach ebenbürtigen supranationalen Binnenmarkt geschaffen haben. Verfahren und Ergebnis verbuchen auch sie als Erfolgsgeschichte – und sind deshalb grundsätzlich für die TTI-Partnerschaft zu haben, die mit dem Zusammenschluss der zwei weltgrößten Binnenmärkte den Grundsatz radikalisiert, den beide Seiten für ihr nationales Erfolgsrezept halten: dass im nationalen Interesse keine staatliche Vorschrift, in welchem Sektor gesellschaftlicher Aktivität und aus welchem Grund auch immer erlassen, auf die Diskriminierung kapitalistischer Geschäftemacherei, von welchem Standort auch immer sie ausgehen mag, hinauslaufen und die Freiheit des Konkurrierens beeinträchtigen darf.

Der transatlantische Dissens und sein Grund: Unterschied und Gegensatz zwischen dem Standpunkt der Führung und dem Anspruch auf Gleichrangigkeit

Die Einigkeit im Prinzipiellen zwischen den transatlantischen Partnern ist freilich alles andere als das Ende aller Differenzen und Gegensätze. Die langwierigen Verhandlungen selbst sind ja der schlagende Beweis, dass es für mächtige Standortverwaltungen überhaupt nicht einfach ist, sich darüber zu einigen, wo im staatlichen Vorschriftenwesen die sachlich begründete Wahrnehmung der politischen Verantwortung für Gott und die Welt endet und die wettbewerbswidrige Diskriminierung fremder Firmen anfängt. Es handelt sich da eben nicht um eine Frage objektiver Ermittlung, sondern um eine Streitsache zwischen berechnenden Souveränen. Überdeutlich wird das in dem besonders strittigen Verhandlungspunkt „Schiedsgerichtsbarkeit“. Zum einen und im Allgemeinen insofern, als das Bedürfnis nach solchen Instanzen der investorenfreundlichen Streitschlichtung von dem Misstrauen zeugt, das die Unterhändler in den freiheitlichen Wettbewerbsgeist und guten kapitalistischen Willen ihrer Partner setzen. Als solche Misstrauenserklärung wird jedenfalls das Insistieren der amerikanischen Seite auf einem Klagerecht sich betroffen wähnender Konzerne vor Schiedsinstanzen außerhalb nationaler Kontrolle, personell zusammengesetzt aus den besten Experten in Sachen kapitalistischer Freiheitsrechte, von den kapitalistisch ebenso sattelfesten Europäern wahrgenommen und insbesondere von den Deutschen zurückgewiesen (bevor man kundtut, das Abkommen daran nicht scheitern lassen zu wollen). Und das ist, über die allgemeine Vertrauensfrage zwischen staatlichen Bündnis- und Geschäftspartnern hinaus, ganz aufschlussreich, offenbart nämlich einen deutlichen Unterschied in dem im Prinzip identischen Standpunkt, mit dem Amerikaner und führende Europäer an die Frage des rechtlichen Regimes über ihren geplanten gemeinsamen Markt herangehen.

Was die USA betrifft, so steht für die selber außer Zweifel, und das nehmen ihre europäischen Verhandlungspartner auch so zur Kenntnis, dass sie gewissermaßen a priori von der geplanten Schiedsgerichtsregelung nicht betroffen, sondern auf der Seite der zu erwartenden Kläger zu finden sind. Das ergibt sich nicht nur daraus, dass die aktivsten Multis mit den meisten und größten und unduldsamsten Gewinnansprüchen an fremde Regierungen in den USA zu Hause sind; das wird nicht nur dadurch quasi empirisch bestätigt, dass diese Firmen auch schon die meisten Verfahren angestrengt und gewonnen haben. Der Identität ihrer nationalen Gesetzgebung mit Freiheitsrechten und Fairnessregeln der kapitalistischen Konkurrenz sind die Amerikaner sich schon deswegen absolut sicher, weil sie die Welt ja damit beglückt haben, also die geborenen Regelsetzer und Richter für alle erdenklichen ISDS-Verfahren sind.

Dieser Standpunkt, die maßgeblichen Normen zu setzen und ihnen nicht zu unterliegen, ist den Europäern auch überhaupt nicht fremd. In ihren zahlreichen Vereinbarungen mit Drittländern über derartige Streitschlichtungsverfahren gehen sie selber davon aus, dass sie darüber nicht von auswärtigen Kapitalisten belangt werden, sondern für ihre eigenen weltweit tätigen Firmen die nötige Rechtssicherheit stiften. Eben deswegen sehen sie sich durch das amerikanische Drängen auf Einführung solcher Instanzen außer- und oberhalb der nationalen Gerichtsbarkeit herausgefordert, nämlich von den USA als überwachungs- und kontrollbedürftige Kandidaten behandelt. Großbritannien im sicheren Bewusstsein seiner „special relationship“ zu den USA erklärt sich demonstrativ für nicht betroffen: Erfolgreiche Klagen (in ISDS-Verfahren gegen GB) dürften sehr begrenzt sein angesichts des Schutzes, der bereits in Recht und Rechtsvollzug im Vereinigten Königreich besteht. (House of Lords, European Union Committee - Fourteenth Report: The Transatlantic Trade and Investment Partnership, 6.5.14) Der deutsche Wirtschaftsminister dagegen will mit seinem Verweis auf die unübertreffliche Rechtssicherheit des Kapitals in seinem Musterland Einspruch eingelegt haben gegen einen amerikanischen Standpunkt, der ihm nicht die Rolle des gleichberechtigten Subjekts bei der Durchsetzung eines diskriminierungsfreien Wettbewerbsregimes auf dem transatlantischen Binnenmarkt zubilligt, sondern bestenfalls den Status eines folgsamen Gehilfen bei der flächendeckenden Etablierung genuin amerikanischer Normen für freiheitlichen Kapitalismus zuweist. Da begegnen sich, gar nicht einvernehmlich, die mit größter Selbstsicherheit in Anspruch genommene Dominanz der USA und der Anspruch der Europäer, insbesondere derjenige der ökonomischen Führungsmacht, auf Gleichrangigkeit.

Die ökonomische Hauptsache, von der TTIP abstrahiert: das Geld

Der Gegensatz der Standpunkte, mit denen die beiden Seiten der projektierten transatlantischen Partnerschaft einander auf die Nerven fallen, wird von anderen europäischen Verhandlungsführern an anderen möglichen Streitpunkten festgemacht; von Frankreich etwa vor allem an der befürchteten Hollywoodisierung der hohen Filmkunst, die von Haus aus französisch parliert. Anscheinend überhaupt keine Rolle spielt jedoch der Stoff, der die amerikanische Finanz-Weltmacht und die Mehrheit der EU, deren „inneren Kern“, tatsächlich und ziemlich substanziell ökonomisch entzweit. Wie frei und ungehindert auch immer die Firmen auf dem großen transatlantischen Binnenmarkt agieren und konkurrieren dürfen: Der Kredit, mit dem sie bzw. ihre Banken ihre Konkurrenzkämpfe finanzieren, lautet diesseits und jenseits des Atlantiks auf ein anderes Geld; es sind verschiedene nationale Notenbanken, die als Garanten des verwendeten Geldes und in letzter Instanz für die Refinanzierung des nationalen Kredits geradestehen. Die repräsentieren mit der Qualität ihres Produkts den Gesamterfolg der Verwendung dieses Kredits als Kapital; ihre Macht, die Wirtschaft mit einem soliden Kreditgeld zu versorgen, ist umgekehrt eine wesentliche Quelle dieses Erfolgs. In diesem Zirkel wird die noch so diskriminierungsfrei organisierte Konkurrenz der Kapitalisten national abgerechnet und als nationale Größe zur Geschäftsbedingung, die mehr als alles andere die konkurrierenden Kapitalisten national diskriminiert. So scheidet die Nationalität der Kreditgelder von vornherein den geplanten transatlantischen Wirtschaftsraum in zwei Teile, die einander mit dem Stoff, in dem der jeweilige kapitalistische Erfolg sich niederschlägt und als Erfolgsbedingung wirksam wird, konkurrierend gegenüberstehen, ohne dass sie das eigens beschließen müssten, aber auch ohne dass sie das per Beschluss beenden könnten – schließlich denkt keine Seite daran, die eigene Währung aufzugeben bzw. die des Partners damit zu ersetzen.

Ganz jenseits der Frage, wie diese grundsätzliche Diskriminierung sich in der Konkurrenz der in Zukunft diskriminierungsfrei konkurrierenden Kapitale aus Europa und Amerika praktisch auswirkt, steht, gleichfalls von vornherein, so viel fest: Euro und US-Dollar sind nicht bloß zwei verschiedene ehrenwerte Kreditgelder, sondern weisen einen Unterschied auf, der sich mit dem Gegensatz der Status-Ansprüche beider Seiten – „Führung“ versus „Gleichrangigkeit“ – deckt, weil er ihn ökonomisch substanziell begründet: Was Umfang und Wucht der mit den jeweiligen Währungen operierenden Finanzgeschäfte betrifft, besitzen die USA mit ihrem Dollar die Weltgeltung, die die Euro-Staaten ihrem Kreditgeld erst noch verschaffen wollen. Die Gleichung von nationalem und globalem Finanzmarkt, von Schulden in nationaler Währung und weltweit verwendbarem und verwendetem Geldkapital, von nationalem Kreditzeichen und Weltgeld gilt für Amerika in weit höherem Maß als für die Europäer; und dieser quantitative Unterschied ist groß genug, dass er einen qualitativen Gegensatz repräsentiert: Die USA haben ihre im Dollar vergegenständlichte ökonomische Weltmacht gegen Alternativen zu verteidigen – und dafür im Dollar auch das schlagkräftige Mittel –; die Euro-Staaten bemühen sich darum, es mit der Ausstattung ihrer Kapitalisten und der auf den globalen Finanzmärkten tätigen Kreditunternehmen mit ihrer Kollektivwährung zu so viel kapitalistischem Erfolg und am Ende so weit zu bringen, dass ihre ökonomische Macht der amerikanischen gleichkommt. Und das bedeutet immerhin: Sie wollen ihrem transatlantischen Partner nicht bloß ein paar Geschäftsfelder streitig machen, sondern seine Sonderstellung in der Weltwirtschaft wegnehmen, die seine einstweilen unanfechtbare Finanzmacht begründet – und deren die Amerikaner sich sicher sind, solange es in der Weltwirtschaft nach ihren Begriffen fair zugeht, also Effektivität und Größe des Kredits über Erfolg und Wachstum des Kapitals und damit über Wohl und Wehe der Nationen entscheiden.

Was Sache, aber nicht Thema ist: Ein sehr abstrakter Machtkampf

An diesen ganz handfesten ökonomischen Gegensatz zwischen den Verhandlungspartnern rührt das TTIP-Projekt überhaupt nicht. Es klammert das ökonomische Ding, in dem die Ergebnisse der Konkurrenz der kapitalistischen Unternehmen zur nationalen Geschäftsbedingung werden, aus seiner Agenda aus, abstrahiert also von dem Konkurrenzverhältnis, in dem die Staaten als Herrscher über ein Wirtschaftsleben, von dessen nationaler Bilanz ihre Macht ökonomisch abhängt, zueinander stehen – und das immerhin der bleibende Grund dafür ist, dass Regierungen immerzu genau das im Auge haben und betreiben, was sie sich per TTIP-Vertrag untersagen und abgewöhnen wollen, nämlich Schutz und positive Diskriminierung für die Geschäfte, die ihrer nationalen Bilanz nützen. Mit ihrem Diskriminierungsverbot versucht die große Partnerschaftsinitiative sich an der unmöglichen Unterscheidung zwischen der kapitalistischen Konkurrenz, aus der sie sich heraushalten wollen, und der Nationalität des in dieser Konkurrenz verwendeten Kredits, auf dessen Erfolg sie angewiesen sind, also auch nach Kräften hinwirken. Aber was heißt da schon ‚unmöglich‘? Den Politikern beider Seiten stellt sich das Konkurrenzverhältnis, in dem ihre Länder zueinander stehen und von dem sie auch und gerade dann, wenn sie davon abstrahieren, überhaupt nicht ablassen, offensichtlich etwas anders dar; nämlich wie schon gehabt: als der Anspruch – auf dominante Führung hier, auf anerkannte Gleichrangigkeit da –, mit dem sie an ihr Einigungswerk herangehen und dem sie in den Verhandlungen Geltung zu verschaffen suchen. Ihre Konkurrenz ums jeweilige Geld, nämlich um dessen Weltrang, übersetzen sie in eine abstrakte Machtfrage; abstrakt genug, dass sie die Auseinandersetzungen um alle Einzelpunkte ihres Abkommens durchzieht, sich auch an allen beliebigen Punkten festmachen lässt, ohne explizit zum Thema zu werden. Die ist der eigentliche Gegenstand des Ringens um eine neue transatlantische Wirtschaftspartnerschaft.

Was dann doch Thema ist: Ein neues Regime für den Weltkapitalismus

Dass es in den transatlantischen Einigungsbemühungen um eine zwischenstaatliche Machtfrage geht, wird in einer Hinsicht dann natürlich doch zum Thema, vor allem in den Kommentaren zur überragenden Bedeutung des Projekts. Mit der Zusammenlegung der beiden jetzt schon größten, finanzstärksten Binnenmärkte der Welt verschaffen sich die TTIP-Partner eine überlegene Machtposition gegen den Rest der Welt, insbesondere gegen die aufstrebenden Rivalen, die unter dem Akronym BRICS eine Kooperation an den etablierten Weltwirtschaftsmächten vorbei begonnen haben. Denn um die Beteiligung an dem neuen Super-Wirtschaftsraum kommt definitiv und auf unabsehbare Zeit keine Nation herum, die sich überhaupt mit einiger Aussicht auf erfolgreiches Kapitalwachstum auf dem Weltmarkt betätigen, i.e. ihren Firmen Zugang zu Kredit und Geschäftsgelegenheiten in größerem Umfang erschließen will. Damit fällt den politischen Sachwaltern des transatlantischen Geschäftslebens die Macht zu, die Zulassung zu ihren Märkten an Bedingungen zu knüpfen, die den diversen Mitgliedern der äußeren Staatenwelt die Fairnessregeln des westlichen Kapitalismus aufnötigen und in dieser Form das Kräfteverhältnis zwischen dem konkurrenzstarken Zentrum der Weltwirtschaft und der erst noch um ihre Konkurrenzfähigkeit kämpfenden Peripherie auf Dauer festschreiben. Dass es ihnen, in dem Punkt wirklich gemeinsam, darum geht, wird von den Protagonisten des Projekts werbewirksam bekannt gemacht: Laut Kanzlerin Merkel bietet TTIP die historische, wahrscheinlich aber auch historisch letztmalige Chance, die Weltwirtschaft an den wohltuenden Regeln der abendländischen Freiheit und der christlich-demokratischen Volksfürsorge auszurichten, bevor chinesische Kommunisten und korrupte Schwellenländer-Autokraten unfaire Vorschriften fürs weltweite Spekulieren und Geldverdienen durchsetzen. Der zuständige EU-Kommissar äußert sich entsprechend:

„Vielleicht der größte Wert des Abkommens liegt in unseren Beziehungen zum Rest der Welt. Warum? Weil die EU und die USA die größten Märkte und die einflussreichsten Standardsetzer der Welt sind. Jeder gemeinsame Ansatz wird diesen Einfluss verdoppeln. Und er kann die Regeln rund um die Welt gestalten, auch in Ländern wie Brasilien, Indien, China und Russland, wo heute Standards typischerweise viel niedriger sind als in den USA und der EU.“ (Karel de Gucht, 22.1.2014, Atlantik-Brücke, Düsseldorf)

Und der ehemaligen US-Außenministerin Clinton gefällt seit jeher die Idee einer wirtschaftlichen NATO.[4]

Auf welche Regeln und was für Standards USA und EU sich einigen, ist für die hohe Bedeutung der geplanten Partnerschaft nicht weiter von Belang. Der Hinweis, dass die unsrigen „höher“ sind als die der externen Rivalen, langt schon, ebenso wie das Stirnrunzeln beim Verweis auf China oder Russland als alternative Systemadministratoren, für die Klarstellung, worum es eigentlich geht, nämlich um die Entscheidung, wer im zukünftigen Weltgeschäft die Zulassungsbedingungen setzt. Urheber der Geschäftsordnung des Weltkapitalismus, Garant ihrer Geltung und Schiedsrichter über allfällige Streitigkeiten muss der Westen sein, das steht fest; der unzweifelhaft beste Grund für TTIP ist, dass man damit den Rest der Staatenwelt vor vollendete Tatsachen stellt und so zu seinem Glück nötigt. Aufgekündigt wird damit immerhin eine ganze jahrzehntelang praktizierte Methode, eine brauchbare Ordnung ins Weltgeschäft zu bringen, mitsamt den darüber eingerissenen Gepflogenheiten des internationalen Geschäftslebens. Den Weg der GATT- resp. WTO-Runden, des Einvernehmens mit all den vielen Staatsgewalten, denen der Westen doch nur den Status von Erfüllungsgehilfen seiner Regie über Handel, Wandel und Finanzspekulation auf dem Globus zubilligt, der umständlichen Erpressungen und berechnenden Konzessionen an den Eigennutz fremder Souveräne, diesen Weg zu einem immer freieren globalen Kapitalismus wollen USA und EU nicht mehr gehen. Auch diese Runden waren – und sind – Machtproben, die der Westen mehr oder weniger für sich entschieden hat; die Art jedoch, sie zu entscheiden, unter der hinderlichen Bedingung eines gleichen Rechts für alle Beteiligten, ist den führenden Weltwirtschaftsmächten zu umständlich und zu kostspielig, das Ergebnis zu unzureichend und, soweit überhaupt positiv, zu unsicher. Und schon gar nicht taugt dieses Verfahren dazu, eine effektive weltwirtschaftliche Richtlinienkompetenz der dazu berufenen kapitalistischen Demokratien als unausweichlichen Sachzwang festzuschreiben.

Die unerledigte Frage nach dem Subjekt der weltwirtschaftlichen Richtlinienkompetenz

Was mit dieser Einigkeit nach außen, gegen Dritte, noch gar nicht erledigt ist, das ist die innere Seite der Machtprobe, die dem Rest der Welt damit angekündigt ist: der Gegensatz zwischen amerikanischem Führungsanspruch und europäischem Willen zur Gleichrangigkeit. Für die USA steht ihre Freiheit, vereinbarte Richtlinien in ihrem Sinn auszulegen, auch ausdrücklich davon abzuweichen, wenn höhere Gesichtspunkte wie das weit auslegbare Kriterium der „nationalen Sicherheit“ es gebieten:[5] außer Frage; die europäischen Partner fürchten um ihre entsprechenden Befugnisse. Das Ringen um exklusive Wahrnehmung bzw. maßgebliche Mitentscheidung bei der Wahrnehmung der Kompetenz, über Zulässiges und Unzulässiges im transatlantischen Binnenmarkt und damit über die Geschäftsordnung für die Welt zu befinden und Urteile durchzusetzen, durchzieht den Verhandlungsprozess, ohne dass es sich an bestimmten Streitfragen festmachen, geschweige denn auf einzelne Punkte eingrenzen lässt. Nach dem Willen der Unterhändler soll das geplante Abkommen daher eine Schönheit an sich haben, die tatsächlich der Unlösbarkeit dieses Konflikts Rechnung trägt, nämlich die Einrichtung eines ständigen strukturierten Dialog(s) in Regulierungsfragen zwischen EU und USA: [6] Die nicht lösbare Streitfrage bewältigt man mit einem Verfahren, das den Interessengegensatz zwischen den so heftig aneinander interessierten Parteien vorweg in die einzelnen Fälle hinein auflöst, in denen er sich praktisch geltend macht; dann sieht man weiter. So gehört zur Partnerschaft der permanente Streit um die Auslegung des Vertrags bzw. eine schon vorab vereinbarte permanente Prüfung der Politik der Beteiligten an Geist und Buchstabe der Vereinbarung; mit der interessanten Folge, dass das Abkommen, selbst wenn es einmal in Kraft getreten ist, niemals fertig ist. Seine Autoren haben sich dafür den Titel living agreement einfallen lassen, bei dem es sich eben nicht um einen einfachen völkerrechtlichen Vertrag handelt, sondern um eine dauerhafte, unkündbare neue Ordnung.

*

Vielleicht einigen sich die Dollar- und die Euro-Imperialisten am Ende ja doch gar nicht auf ihre schöne neue Wirtschaftswelt. Wenn sie sich einigen, dann sind Widersprüche und Absurditäten einer gehobenen Güteklasse in ihre Partnerschaft konstitutiv mit eingebaut. Doch wie sonst könnte ein Unding wie ein gemeinschaftlich ausgeübter ziviler Imperialismus überhaupt existieren?!

[1] Manche Kommentatoren schlagen da einen ganz hohen Ton an: Am Erfolg der Verhandlungen würde sich nicht weniger als die Zukunft des Westens entscheiden. Wenn TTIP zustande käme, würde es die strategische Einheit des Westens unterstreichen. Gegenwärtig droht TTIP stattdessen zum Anschauungsobjekt dafür zu werden, auf wie wenig die beiden Kontinente sich einigen können. (Philip Stephens, Financial Times 8.7.14).

[2] Eine entsprechende Klausel im Text des inzwischen im Internet veröffentlichen „Comprehensive Economic and Trade Agreement“ (CETA), das die EU mit Kanada verhandelt hat, setzt beides gleich, für das Schiedsverfahren des TTIP-Vertrages wird eine dem CETA-Text – der „Blaupause für TTIP“ (SZ-Dossier zu TTIP) – entsprechende Regelung erwartet. Damit erst gar keine Unklarheiten darüber aufkommen, was als „in Erwartung von Profit“ investiertes und daher zu schützendes privates Eigentum gilt, bietet das CETA-Abkommen eine erschöpfende Aufzählung (die entsprechend auch im TTIP-Text zu finden sein wird), die von ganzen Unternehmen oder Anteilen daran über alle sonstigen gegenständlichen oder nichtgegenständlichen Eigentumsrechte, darunter alles geistige Eigentum, bis zu allen Geld- und Kreditforderungen reicht. (CETA, Kap. 11, Art. X.3.)

 Das ISDS-Verfahren – so betonen die TTIP-Freunde – ist nichts Neues und schon gar keine Besonderheit von TTIP. Diese Art von internationaler Schlichtung gibt es seit 50 Jahren, seit bei der Weltbank in Washington das International Centre for Settlement of Investment Disputes (ICSID) eingerichtet wurde, das für die Durchführung der meisten dieser Schlichtungen zuständig ist. Dort hat sich die Zahl der verhandelten Fälle in den letzten zehn Jahren auf fast 600 verfünffacht; aus guten Gründen: Auf der einen Seite schreitet die Besichtigung und Benutzung des Globus durch die kapitalistische Firmenwelt tüchtig voran; einer Zusammenstellung der UNCTAD zu den bei den internationalen Schlichtungstribunalen anhängigen Investitionsschutzverfahren ist zu entnehmen, dass diese ganz überwiegend von amerikanischen und EU-Unternehmen angestrengt wurden. Auf der anderen Seite muss vielen Staatsgewalten – nicht zuletzt den neuen aus der ehemals sozialistisch regierten Welthälfte – der Respekt vor dem kapitalistischen Eigentum, das ihr Land zu seinem Standort erwählt, nicht bloß im allgemeinen nahegebracht, sondern gerade dann im einzelnen erklärt werden, wenn sie über die marktwirtschaftliche Entwicklung ihrer Nation kritisch Bilanz ziehen und in Versuchung geraten, eigene Interessen rechtlich geltend zu machen. Dasselbe UNCTAD-Papier listet auf, wodurch kapitalistische Unternehmen sich um den Verwertungsanspruch ihres Kapitals von Staats wegen betrogen sehen: u.a. durch den Entzug von Lizenzen, den Bruch oder die einseitige Beendigung von Verträgen über Investitionen, wirtschaftliche Maßnahmen zur Bekämpfung der Finanzkrise, Maßnahmen der Umwelt- und Gesundheitspolitik sowie der Steuerpolitik, die Durchführung von Privatisierungen und sektoralen Wirtschaftsreformen, Verfahren nationaler Gerichte, Insolvenzen sowie Zahlungseinstellungen und Umschuldungen bei Staatsschuldverschreibungen. (UNCTAD IIA Issues Note, 2.6.2014 „Investor-State Dispute Settlement: An Information Note on the United States and the European Union“)

[3] Von ARD-Reportern befragt, gibt EU-Handelskommissar de Gucht zu Protokoll:

„De Gucht: Es ist ganz offensichtlich, dass (TTIP) Wachstum schaffen wird und mehr Einkommen für unsere Bürger. Ich bin ziemlich sicher, dass es Hunderttausende neuer Arbeitsplätze bringen wird.

Reporter: Ihre eigene Studie spricht von einem Wachstum von 0,05 Prozent. Das ist
nicht der große Effekt, von dem Sie sprechen.

De Gucht: Lassen Sie uns unterbrechen! – Ist das die Studie, die wir bestellt haben?
Reporter: Das sind doch 0,049 Prozent hier, oder?
De Gucht: Zunächst einmal sollten wir nicht mit Prozenten argumentieren.
Reporter: Sie machen das, Entschuldigung!
De Gucht: Ich sage Ihnen, wir werden die meisten Handelshemmnisse in einer Vielzahl von Handelsbereichen abschaffen, das sage ich.“
(Der große Deal. Geheimakte Freihandelsabkommen, ARD, 4.8.2014)

 Der Mann weiß zu unterscheiden zwischen der Wachstumsbedingung, für die er zuständig ist und zu sorgen gedenkt, und dem bezifferten Effekt. Auf letzterem herumzureiten, hält er für kleinlich.

[4] Entsprechende Statements steuern europäische Strategen bei: TTIP kann die NATO erneuern. TTIP handelt nicht nur von Freihandel, es bringt Länder zusammen, die Vertrauen haben in die Institutionen des anderen und die bereit sind, ihren ‚way of life‘ gegen aufsteigende konkurrierende Mächte zu verteidigen. (Peter van Ham, The Geopolitics of TTIP, Clingendael Institute Policy Brief, Oktober 2013, S. 4)

 Ausführlicher formuliert ein amerikanischer Kollege: „TTIP wird die Regeln für die ganze Handelszone setzen, darunter alles von Regeln für Staatsbetriebe über geistige Eigentumsrechte bis zu staatlichen Subventionen. Mit einer so großen Handels- und Regelungszone, die die Bedingungen dafür setzt, wie Nicht-Mitglieder Zugang dazu haben (und die Strafen, wenn sie die Regeln nicht einhalten), werden Amerika und Europa die Regeln für den globalen Standard freier Marktwirtschaft setzen.

 Die Geschichte der Handelsbeziehungen zwischen China und anderen Ländern wird getrübt durch Klagen über Dumping, unsichere Produkte, anhaltende Verletzungen geistiger Eigentumsrechte, mit nur marginalen Folgen für Beijing. Die Schaffung eines massiven Handelsblocks hat das Potential, diese Dynamik zu ändern. Ein robustes TTIP-Abkommen bevorzugt US- und EU-Firmen, stärkt ihre Konkurrenzfähigkeit und steigert ihren Marktanteil. Chinesische Produkte im Wert von Milliarden Dollar würden weniger wettbewerbsfähig auf den US- und EU-Märkten. Chinas Exporte könnten im eigenen Land blockiert werden.

 Wird China die Herausforderung annehmen, im Zuge seines Wachstums die Normen eines entwickelten Kapitalismus zu übernehmen oder wird es fortfahren, internationale Standards zu verletzen? Kein einzelnes Land hat den Einfluss, China zur Einhaltung der Spielregeln zu überreden... Nur die TTIP-Zone könnte das. Sie würde China vor die Wahl stellen, mitzumachen oder ausgeschlossen zu sein.“ (Dan Grant: Transatlantic trade: Is China in or out?, The Hill Congressional Blog, 22. Juli 2013)

[5] Ein Vorbild für den Konsens über einen derartigen Freibrief zur Abweichung liefert der Text des Vertrags mit Kanada: Dieses Abkommen hindert eine Vertragspartei nicht daran, Maßnahmen zu ergreifen, um seine internationalen Verpflichtungen für die Aufrechterhaltung von internationalem Frieden und Sicherheit zu erfüllen. (CETA, Kap. 11, Art. X.05)

[6] Das European Union Committee des House of Lords definiert The Purpose of the TTIP unter Nr. 228. so:

 „TTIP is in our view a political as well as an economic project, not least because it could serve to revitalise and rebalance the transatlantic relationship between Europe and the United States. One of its most important legacies may be the establishment of a structured dialogue on regulatory matters between the EU and US sustained into the future, through provisions for a living agreement. (Paragraph 74)“