Die Tibet-Resolution des Deutschen Bundestags
Deutschland erläutert seine außenpolitische Geschäftsgrundlage für den Umgang mit China

Die guten Geschäftsbeziehungen zu China dürfen nicht als die Anerkennung der nationalen Ambitionen der Volksrepublik interpretierbar sein. Eine Verurteilung der chinesischen Politik in Tibet – Teil der Volksrepublik – im Namen der Menschenrechte relativiert die Anerkennung chinesischer Souveränität. Die Doppelstrategie dient der Einflussnahme auf chinesische Politik auch im Verhältnis zu den Konkurrenten im Westen.

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Die Tibet-Resolution des Deutschen Bundestags
Deutschland erläutert seine außenpolitische Geschäftsgrundlage für den Umgang mit China

Öffentliche Einwände gegen die deutsch-chinesischen Beziehungen: „Geschäft geht vor Moral!“, „Bonn kuscht vor Peking!“

Im Umgang mit China ist der höchst seltene Fall eingetreten, daß ein gut laufender Geschäftsgang mit einem auswärtigen Land von der heimischen Öffentlichkeit mit dem Malus versehen wird, bloß das zu sein. Nicht daß dieser Öffentlichkeit Erfolge der deutschen Wirtschaft zuwider wären – in diesen schwierigen Zeiten „globalisierter Märkte“ hat der deutsche Standort millionenschwere Aufträge aus fernen Ländern, dem „Markt der Zukunft“ zumal, bekanntlich bitter nötig. Aber muß unser Kanzler sich deswegen gleich wie ein bloßer Verkaufsmanager von VW und Syndikus der Deutschen Bank aufführen? Vernachlässigt er da nicht seinen eigentlichen Beruf: Politik zu machen? Mißbilligung macht sich breit, unter verantwortlichen Vordenkern der deutschen Außenbeziehungen genauso wie unter ihren verantwortungsbewußten Nachdenkern:

„Die Gier nach Chinas Markt hat die außenpolitischen Interessen Bonns längst zusammenschrumpfen lassen auf: Geschäft, Geschäft, Geschäft“ (Süddeutsche Zeitung).

In keinem anderen Falle auch eilt der deutschen Außenpolitik der Ruf voraus, dermaßen anbiederisch, fast devot zu sein wie gegenüber den Machthabern in Peking. Soviel „Kleinmut“ stößt einer Öffentlichkeit übel auf, die von ihren Repräsentanten recht forsches Vorgehen gewohnt ist: Gegenüber England in der BSE- oder gegen Tschechien in der Sudeten-„Frage“[1] kneifen sie doch auch nicht, wenn sie ein „Unrecht“ entdecken! Warum dann bei China und dessen permanenter Weigerung, „die Menschenrechte“ zu achten? Warum verzichtet die deutsche Außenpolitik darauf, der chinesischen Führung Bescheid zu erteilen, was sich regierungsmäßig so gehört? Opfert sie womöglich ihren Verfassungsauftrag, überall dort, wo die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt (Art. 1 Grundgesetz) verletzt werden, auf deren Einhaltung zu bestehen, dem Fetisch „guter Beziehungen“? Bringt das europäische dem asiatischen „Reich der Mitte“ zuviel Respekt entgegen – womöglich aus Respekt vor der Macht dieses Reiches? Hält sich Bonn in Menschenrechtsdingen vielleicht gar zurück, um keine Geschäfte zu gefährden – geht vor lauter „Scheckbuch“ am Ende also der Imperialismus flöten?!

Offensichtlich vermissen Einwände dieser und ähnlicher Art an der deutschen Außenpolitik mit China höherwertige Anliegen. Nachdem sie andererseits aber auch nicht gerade in den Antrag münden, die Politik solle den Geschäftsverkehr mit den menschenverachtenden gelben Unholden einstellen, wird der edle moralische Impuls wohl so zu verstehen sein: Es ist schon recht, daß es Deutschland um den schnöden Mammon geht; es ist auch in Ordnung, daß an den Chinesen gut verdient wird; aber das darf auf keinen Fall so herauskommen, als wollte Deutschland die Chinesen bedienen. Deutscher Außenpolitik fällt da doch wohl ein wenig mehr Verantwortung zu.

Der politische Gehalt der moralischen Selbstkritik: Zuviel „stille Diplomatie“ bei „heiklen Fragen“

Klage über einen unbefriedigenden Zustand der deutschen China-Politik führen nicht nur amnesty international, humanistisch eingestellte Menschenrechtsfreunde und ambitionierte Leitartikler von der FAZ bis zur taz, sondern auch maßgebliche Verantwortungsträger aller Parteien. Sie alle tragen schwer an dem Bedenken, ob die Beziehungen, die wir zu China pflegen, auch dazu führen, daß die Chinesen auf uns hören – einer für alle:

„Häufig ‚wirkt die deutsche Außenpolitik derzeit überfordert und hilflos‘. Das Verhältnis zu China sei von ‚deutscher Anbiederei‘ geprägt, meinte SPD-Fraktionschef Scharping.“ (Handelsblatt, 19.8.96)

Wenn sich für einen Politiker der Umstand, daß die Außenpolitik auf die fremde Souveränität Rücksicht nehmen muß, wenn sie etwas von ihr will, plötzlich als eine einzige Rücksichtnahme ausnimmt; wenn ihm jedes Verhandeln über die Konditionen der wechselseitigen Benutzung als „Hilflosigkeit“ vor der anderen Macht erscheinen will; dann treiben ihn echte Sorgen um, die allerdings wenig mit Moral zu schaffen haben. Da meldet sich aus den Reihen derselben, die für den „Stand der deutsch-chinesischen Beziehungen“ verantwortlich sind, vielmehr die Besorgnis zu Wort, die hoffnungsvollen Geschäftsbeziehungen könnten ungewollt gar nicht unterstützenswerten politischen Zwecken der anderen Seite nützen. Man hat es schließlich mit einem berechnenden Partner zu tun, nämlich einem staatlichen Souverän wie man selber, der alles tut, um aus dem deutschen Interesse an gedeihlichen Handels- und Finanzbeziehungen nicht bloß kommerziellen Vorteil zu ziehen, sondern auch politisch Kapital zu schlagen und deutsche Zustimmung zu den weitreichenden Ambitionen der chinesischen Macht zu reklamieren. Und man bewegt sich unter Konkurrenten, die erstens auf dieselben Geschäftsbeziehungen scharf sind wie die Deutschen, die zweitens dasselbe Bedenken hegen, ob ihr Geschäftspartner daraus nicht Unterstützung für gar nicht gebilligte eigene Anliegen verfertigt, und die drittens und vor allem einander argwöhnisch unter diesem Gesichtspunkt überprüfen, inwieweit der Geschäftssinn der jeweils anderen für Chinas Führung die falschen „politischen Signale“ setzt – was viertens auch dahingehend umzukehren geht, daß mit dem Argument unzulässiger politischer Förderung von unzulässigen chinesischen Machtansprüchen in der Welt die Geschäftsbeziehungen der Konkurrenz zu dem neuen „Zukunftsmarkt“ gestört werden. Sehr handfeste Gründe also, gerade angesichts der großen Perspektiven fürs deutsche Weltgeschäft, die sich aus Chinas neuem Kapitalismus ergeben, kritisch zu fragen, mit wem man sich da eigentlich einläßt – eine Fragestellung, die sich rein auf das politische Kräfteverhältnis bezieht, in das China derzeit eingebunden ist und dessen Änderung zugunsten der eigenen Macht es betreibt, die zugleich aber sämtlichen Moralisten, den politisch naiven wie den politisch berechnenden, ihr Stichwort liefert.

Natürlich ist das keine Frage in dem Sinn, sondern der Übergang zu einer kritischen Selbstüberprüfung, ob die deutsche China-Politik nicht Gefahr läuft, „unerwünschten Entwicklungen“ Vorschub zu leisten; ob sie ihrem Partner nicht zu viele Möglichkeiten gelassen, gar das Recht eingeräumt hat, seinen nationalen Ambitionen nachzugehen und sich dafür sogar auf den Bonner Segen zu berufen. Denn das darf nicht passieren, daß Deutschlands Interesse an Export und Kapitalanlage und seine zahlreichen Anträge auf Geschäfts- und Kreditabkommen bei den Chinesen und, womöglich schlimmer noch, im Rest der Welt, bei den konkurrierenden Verbündeten, den Eindruck hervorruft, Peking könnte bei allem, was es so treibt, mit deutschem Wohlwollen rechnen – nur, weil „wir“ in Shanghai die U-Bahn bauen wollen. Und da kommen die Anwälte deutscher Weltgeltung nicht ganz um das Eingeständnis herum, daß das bittstellerische Besuchswesen von Kanzler und Wirtschaftskapitänen geeignet war, nicht ausschließlich deutschen Interessen zu nützen, sondern bei den Pekinger und anderen Machthabern einen falschen Eindruck aufkommen zu lassen. Sie werfen sich vor, bei der „Annäherung“ ans „geöffnete“ China die politische Kontrolle dieser asiatischen „Riesenmacht“ ein wenig aus den Augen verloren zu haben. Demonstrative Respektsbekundungen wie Kohls Visite in einer chinesischen Kaserne bedürfen daher einer Korrektur. Verlangt ist eine diplomatische Rückmeldung in genau dieser Hinsicht: eine Botschaft an die Machthaber in China, die ihnen und der „Weltöffentlichkeit“ insgesamt zu verstehen gibt, daß die guten Beziehungen mit Deutschland eben nicht gleichbedeutend sind mit der Anerkennung aller Rechte, die der chinesische Souverän aus ihnen womöglich abzuleiten gedenkt.

Freilich, einem Souverän, den man wegen der guten Geschäfte, die mit ihm gehen, anerkannt hat und den man wegen der noch besseren Geschäfte, die man mit ihm vorhat, als aufgeschlossenen Partner braucht, klarzumachen, daß man sein souveränes Recht auf eine eigene Weltpolitik so einfach nicht anerkennt, das ist nicht so einfach. Da trifft es sich gut, daß die Moral zwar in der Politik nichts zu suchen hat, sich mit ihr aber schon Politik machen läßt, wenn man das will. Das ist ja überhaupt ihr Stellenwert in der Diplomatie: Mit dem auf den Fall passend zugeschnittenen Kriterium des guten Benehmens läßt sich die Mißbilligung des souveränen Kontrahenten ausdrücken, ohne gleich eine praktische Streitfrage anzuzetteln, die entweder allzu sachlich zu lösen ist oder in allzu ernste Verwicklungen führt. Gute Beziehungen lassen sich so unter einen Vorbehalt stellen, der einerseits grundsätzlich, andererseits dann doch nicht der praktische Widerruf der Beziehungen ist, die ja weitergehen sollen – einen Widerspruch sehen darin nur Anhänger der Meinung, Moral in der Weltpolitik wäre noch etwas anderes als ihre diplomatische Verwendung; unter Kollegen werden Weltpolitiker also gewiß nicht mißverstanden.

In diesem Sinne hat der Deutsche Bundestag eine Selbstkritik an der regierungsamtlichen „stillen Diplomatie“ veranstaltet, die allzusehr auf die Bekundung fortwirkenden moralischen Abscheus gegen den wundervollen Handelspartner im Fernen Osten verzichtet hätte, und den Chinesen einen weniger „stillen“ Brief geschrieben.

Noch ein deutscher Exportschlager für China: Menschenrechte und ein bißchen demokratische Länderkunde über Tibet

„Beginnend mit den unmenschlichen Militäraktionen seit dem Einmarsch Chinas im Jahre 1950, dauert die gewaltsame Unterdrückung Tibets und seines Strebens nach politischer, ethnischer, kultureller und religiöser Selbstbestimmung bis heute an. Die fortgesetzte Repressionspolitik Chinas in Tibet hat schwere Menschenrechtsverletzungen, Umweltzerstörungen sowie massive wirtschaftliche, soziale, rechtliche und politische Benachteiligungen der tibetischen Bevölkerung und letztlich die Sinisierung Tibets zur Folge. Der Deutsche Bundestag 1. im Hinblick darauf, daß Tibet sich in der gesamten Geschichte eine eigene ethnische, kulturelle und religiöse Identität bewahrt hat, 2. tief besorgt darüber, daß diese eigenständige Identität seit dem Vorgehen Chinas mit brutaler Waffengewalt im Jahr 1950 von der Zerstörung bedroht ist, 3. unter Berücksichtigung, daß in der Anhörung des Deutschen Bundestages vom 19. Juni 1995 unter den Sachverständigen der völkerrechtliche Status Tibets streitig geblieben ist, I. verurteilt die Politik der chinesischen Behörden, II. fordert die Bundesregierung dazu auf, sich verstärkt dafür einzusetzen, daß die Regierung der Volksrepublik China die weltweit anerkannten Menschenrechte achtet und die Menschenrechtsverletzungen gegen Tibeter beendet…, jede Politik einstellt, welche die Zerstörung der tibetischen Kultur zur Folge haben kann, wie z.B. die planmäßige Ansiedlung von Chinesen in großer Zahl, um die tibetische Bevölkerung zurückzudrängen…“

Das Hohe Haus kennt sich gut aus in Tibet. Schon dessen Anschluß an Rotchina spricht Bände: „Unmenschliche Militäraktionen“ waren das, kein „chirurgischer Schlag“, keine menschenfreundlichen Bomben, die „Frieden schaffen“: Kaum hingeschaut, grinst aus Tibet die Fratze des Kommunismus, ohne daß man ihn beim Namen nennen muß. A propos Tibet – sind nicht auch die Deng und Peng, die ihr China dem Westen „geöffnet“ haben, „Maos Erben“? Und haben regierende Kommunisten das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ nicht schon immer „mit Füßen getreten“? Sind ihre Nachfolger in Sachen „Menschenrechte“ nicht genauso stur? Hat Li Peng bei seinem letzten Deutschlandbesuch nicht bewiesen, daß die Chinesen in dieser Frage „unbelehrbar“ sind, als er die für Demokraten ungeheuerliche Forderung stellte, deutsche Straßen vom „Druck“ antichinesischer Demonstranten zu säubern?[2] Also: Wir sagen nur „Tibet!“ – und schon steht der chinesische Souverän von heute mitsamt seiner renovierten Staatsraison und seinen wuchtigen nationalen Ambitionen in einer Reihe mit all denen, deren souveränen Rechten schon gestern unsere Anerkennung zu verweigern war. Nur einmal einen genauen Blick auf die Lage der tibetischen Kultur und den aktuellen Stand der religiösen Selbstbestimmung dort getan – und schon sieht ein ehemaliger CDU-Postminister, der schon im Fall Jugoslawien seinen feinen Sinn für verletztes Menschenrecht in den Antrag auf deutsche Bomben zu übersetzen wußte, in der amtierenden Staatspartei Chinas eine Vereinigung von Steinzeitkommunisten am Werk. Daher zeigt der Deutsche Bundestag auch ein so großes Herz für die sozial Schwachen und Geknechteten, die es dort gibt. Er kann sich ja nun wirklich nicht um die Opfer von Bürgerkrieg und Armut in der ganzen Welt kümmern, also hat er sich wenigstens einmal gescheit auf diesen kleinen Flecken konzentriert, und prompt ist er auf ganz viele Knechtungsformen gestoßen, wirtschaftlich, sozial, rechtlich und noch andere mehr. Und von denen hat er – was keineswegs immer zulässig, geschweige denn geboten ist – auf die politische Herrschaft zurückgeschlossen, hat die Opfer der Herrschaft gegen diese selbst sprechen lassen. Freilich nicht schlechthin und keineswegs in grundsätzlich herrschaftskritischem Sinn – es äußerten sich ja Experten für Menschenrechte, keine Anarchisten –, sondern zweckmäßig: Was sie an Unterdrückung in Tibet vorfanden, bezeugt die moralische Unrechtmäßigkeit der chinesischen Herrschaft über die Tibeter. Daß deren Dalai Lama im Exil weilt: dieses völkermörderische Unrecht versieht die Gültigkeit der chinesischen Zentralgewalt im Raum Tibet mit dem gewünschten völkerrechtlichen Fragezeichen.

Das ist die Produktivkraft, die die Moral enfaltet, wenn sie zur außenpolitischen Waffe wird. Würde man einen dieser deutschen parlamentarischen Tibet-Liebhaber fragen, was eigentlich daran verkehrt ist, wenn der Pantschen Lama in Peking ausgelost wird; was eigentlich so unbedingt Bewahrenswertes an dieser „kulturellen Identität“ der Tibetaner ist, so daß eine „Sinisierung“ sich von selbst als Verbrechen versteht – der Mann wüßte womöglich nicht einmal, wie sich der Herr Pantschen schreibt. Und müßte er angeben, was ausgerechnet die Deutschen mit dem alttibetanischen Mönchs-Feudalismus verbindet, so hätte er nicht einmal eine in deutschem Interesse liegende Ölquelle oder eine tibetendeutsche Volksgruppe vorzuweisen. Doch auch ohne jede Begründung steht Deutschlands heftiges Interesse an diesem Landstrich fest und außer Frage. Denn die Frage, die das Parlament in seiner moralischen Pose aufwirft, stellt die Berechtigung der dortigen Hoheit in Frage. Nur dieser Rechtsfrage gilt das deutsche Interesse.

Diese Respektlosigkeit gegenüber einer souveränen Staatsmacht kommt diplomatisch formvollendet daher: Erst sät man den Zweifel, ob der völkerrechtliche Status Tibets überhaupt sicher ist; läßt dafür eigens ein Gutachten deutscher Sachverständiger mit der Auskunft „streitig“ erstellen; konzediert dann großzügig, daß man das Recht Chinas, Tibet als „Teil seines Staatsverbandes“ zu betrachten, doch nicht „grundsätzlich“, sondern nur ein bißchen bezweifelt. So ist die „heikle Frage“ nach Chinas Hoheitsrecht gestellt, und der Bundestag hat sie in aller dazu passenden Förm- und Feierlichkeit beantwortet: Indem er jeder Anerkennung des Status quo ein „aber“ folgen läßt, werden die Rechte Chinas in seiner Provinz Tibet angezweifelt – dosiert zwar, aber eben angezweifelt. Gerade weil die Resolution die Rechte Chinas in Tibet in Zweifel gezogen hat, ist die anschließende penetrante Betonung dessen erforderlich, was man nicht anzweifelt. Weil die Resolution in aller Öffentlichkeit mit dem Gedanken spielt, die Rechtmäßigkeit des territorialen Besitzstandes Chinas in Tibet nichtwie alle anderen Regierungen der Welt – anzuerkennen, erhält das nachgeschobene Dementi den Charakter der Drohung, wonach man sich etwas, was man durchaus könnte, versagt hat. Nicht angezweifelt wird die Rechtmäßigkeit der Landnahme, nicht in Frage gestellt die Ein-China-Doktrin; nicht unterstützt wird ein tibetanischer Seperatismus; aber mehr Platz für seine „nationale Identität“ wird schon beansprucht; dem Dalai Lama wird keine Autonomie gegen die Zentrale zugebilligt, mehr Autonomie im Verbund soll er aber schon haben; China wird keine Verweigerung eines Heimatrechts vorgehalten, die Beschneidung einer zutiefst berechtigten, geschichtlich legitimierten Religionsfreiheit aber eben schon – das ist die Logik, nach der nichts geringeres als ein deutscher Einwand gegen die chinesische Souveränität gezimmert wird. Unter kreativer Einbeziehung traditioneller Feindseligkeiten von früher wird der Gebrauch der chinesischen Hoheit ins Visier genommen und angegriffen;[3] und daraus sowie umgekehrt aus allem, was man diesbezüglich nicht auch noch verlangt, leitet sich das Recht Deutschlands ab, eine maßgebliche „Meinung“ zu inneren Affären Chinas vorzubringen und zum „Dialog“ über dessen Souveränität zu bitten. So plaziert die deutsche Politik den vorbehaltlichen Charakter ihrer Anerkennung Chinas.[4]

„Da ist, ich sage es einmal ganz deutlich, sehr viel Heuchelei dabei“ (Kinkel)

So wenig den Deutschen Bundestag also der Dalai Lama und verhungernde Tibeter interessieren, so sehr widmet er sich deren „Schicksal“ als moralischer Berufungsinstanz für die Botschaft, die China mitzuteilen ist. Diese diplomatische Funktionalisierung der Moral des „Menschenrechts“ brachte der Bundesaußenminister mit der ganzen Sachkenntnis seines Amtes durchaus korrekt in ihren Begründungszusammenhang:

„Ich finde es wenig akzeptabel, wenn hier eine Art Arbeitsteilung vorgetäuscht wird: Die einen sind für die Menschenrechte zuständig, die anderen für die Politik und für die angeblich – ich sage es ausdrücklich in Anführungszeichen – schäbigen Wirtschaftsinteressen. Da ist, ich sage es einmal ganz deutlich, sehr viel Heuchelei dabei.“

Kinkel erinnert die versammelten Heuchler des Hohen Hauses mit seinem Appell daran, daß die Alternative doch nicht Menschenrechte oder Wirtschaftsinteressen lautet, sondern daß es Politik mit Menschenrechten für deutsche Wirtschaftsinteressen zu machen gilt – und mit Wirtschaftsinteressen für alles das, was Imperialisten mit dem Stichwort ‚Menschenrechte‘ ansprechen, ohne es im einzelnen aufzuzählen:

„Die wirtschaftliche Zusammenarbeit ist eine der Voraussetzungen dafür, daß man unsere Stimme in Menschenrechtsfragen hört und auch ernst nimmt.“

Der politische Sachwalter der deutschen Interessen nach außen weiß nur zu gut, daß ökonomische Beziehungen zu anderen Staaten sowohl Zweck als auch Hebel der Außenpolitik sind: Sie sind die Basis des Nutzens, den Staaten voneinander wollen, und deswegen auch Mittel, auf die fremde Macht Einfluß zu nehmen und sich in allen möglichen politischen Belangen ihrer zu bedienen. Er kennt also die wohltuende, weil Abhängigkeit im gewünschten Sinn stiftende Wirkung des chinesischen Bedarfs nach deutschem Kapital, nach Devisen und DM-Krediten,[5] und setzt auf die Gleichung: Wer die Mittel zum kapitalistischen Aufbau Chinas zur Verfügung stellt, erwirbt sich damit auch die Fähigkeit zur politischen Einflußnahme auf die Macht, die diesen Aufbau will – „Tibet“ und „Menschenrechte“ sind in diesem Zusammenhang die Chiffren dafür. Der Außenminister weiß freilich auch über die Kehrseite Bescheid, daß ein Staat wie China seinerseits mit deutschem Kapital nicht bloß Fabriken baut, sondern über ein Argument für die Respektierung chinesischer Interessen durch die deutsche Politik verfügt; und das hält der deutsche Souverän schlecht aus, erstens überhaupt, zweitens wegen der Gefahr ungewollter Kräfteverschiebungen im Westpazifik, für die die Bonner Republik sich selbstverständlich mit in der Verantwortung weiß, und dies drittens im Hinblick auf die anderen in diesem Sinne verantwortlichen Mächte. Damit kommt die Moral ins Spiel; denn das ist dem zuständigen Minister drittens geläufig, daß Wertefragen, wenn sie zwischen Staaten aufgeworfen werden, unmittelbar Fragen ihrer wechselseitigen Achtung und Anerkennung als souveräne Mächte sind und deswegen eine gute Methode, die Mißbilligung der Machenschaften, der Staatsräson oder am Ende sogar der Existenz eines anderen Souveräns zu demonstrieren. Die Resolution des Bundestages trägt dem außenpolitischen Handlungsbedarf Rechnung, den Deutschland China gegenüber verspürt; und das bringt Kinkel mit seiner moralischen Fundierung der deutschen China-Politik auf den Punkt. Es gilt für die deutsche Seite, den Grad der Anerkennung bzw. Infragestellung zu ermitteln, neu zu definieren und diplomatisch wohlgesetzt zu formulieren, mit dem Deutschland der chinesischen Herrschaft und deren nationalen Ambitionen zu begegnen gedenkt; es geht darum, das passende Mischungsverhältnis aus relativierter Achtung und gezügelter Mißachtung der fremden Souveränität zu komponieren. Weil der „Markt der Zukunft“ für die Interessen der Nation so wichtig ist; weil das Projekt der „Eroberung“ dieses Marktes aber auch eines ist, mit dem die chinesische Staatsmacht sich und ihr eigenes ehrgeiziges Aufbruchsprogramm stärken will, das sich keineswegs bloß auf U-Bahnen und einen computergesteuerten Aktienhandel erstreckt; deswegen sieht sich die deutsche Außenpolitik zu der Mitteilung veranlaßt, daß sich ihr Interesse keineswegs als Dienstleistung am souveränen chinesischen Machtwillen versteht. Für diese Botschaft an China und gleichermaßen an den Rest der Welt, Deutschland nur nicht mit einem willfährigen und umstandslos nutzbaren Gehilfen der chinesischen Macht zu verwechseln – dafür kam die Moral der Menschenrechte zu diplomatischen Ehren und wurde mit ihr bedeutet, daß der deutsche Respekt vor China nur vorbehaltlich gilt.

Die Antwort der Chinesen: Einmischung verboten, wg. Völkerrecht und „Gesamtinteressen“ der Beziehungen

Den Gehalt dieser Mitteilung hat das chinesische Außenministerium zur Kenntnis genommen und auf seine Weise kongenial beantwortet. Auf das der Resolution innewohnende Angebot der Trennung von Parlament und Regierung – der Bundestag ist ja „bloß“ ein Organ der deutschen Politik, bestimmt sie aber nicht[6] – ist das Auswärtige Amt der Volksrepublik gar nicht erst eingegangen. Es nahm „die sogenannte Tibet-Resolution“ als Willenserklärung der deutschen Politik, die chinesische Souveränität nur relativ anzuerkennen, wies sie mit dem Ausdruck „starker Unzufriedenheit und Empörung“ zurück und lud den Außenminister wegen „derzeit für Gespräche nicht geeigneter Atmosphäre“ aus. Die in ihrer Souveränität angegriffene Macht monierte diplomatisch einen deutschen Verstoß gegen die Sitten des zwischenstaatlichen Verkehrs – und teilte so mit, wie gut sie die Resolution verstanden hat, die sie im übrigen natürlich ganz unverständlich findet:

„Die Aktion des Parlaments tritt das Völkerrecht öffentlich mit Füßen und ist eine schwere Einmischung in die inneren Angelegenheiten Chinas. Für den Schaden im deutsch-chinesischen Verhältnis ist alleine Deutschland verantwortlich.“

Nachdem die chinesische Botschaft in Bonn im Vorfeld der angekündigten Tibet-Resolution versucht hatte, diese zu verhindern, und den Bundestag vor deren Verabschiedung – vergeblich – „gewarnt“ hatte; nachdem damit der Versuch gescheitert war, den offiziellen, nicht mehr „stillen“ Auftakt zur Installierung eines deutschen Souveränitätsvorbehaltes zu hintertreiben, entschied sich auch Peking dafür, daß „gute Beziehungen“ im Leben eines Staates kein Selbstzweck, sondern nur dann etwas wert sind, wenn man mit ihnen zu dem kommt, was man selbst will. Aufs Heucheln versteht man sich auch im Reich der Mitte prächtig, so daß man die „Einmischung“ als „abartigen Akt“ geißelte, der auch die grundlegenden und langfristigen Interessen Deutschlands schädigen wird. Neben dem Scherz, daß die deutsche Resolution auch das Menschenrecht des chinesischen Volkes auf eine weiterhin zügige Ausgestaltung der „Gesamtinteressen“ schwer beschädigt habe, versteifte sich die Führung in Peking in der Hauptsache ganz auf ihre Interpretation des im Grunde guten Verhältnisses beider Länder: Sie will die „guten Beziehungen“ mit Deutschland, weil sie China nützen, und daran hat Deutschland einfach auch interessiert zu sein.

„Daß der Deutsche Bundestag ungeachtet der gesamten Beziehungen zwischen China und Deutschland und unter völliger Mißachtung der Gesamtinteressen der deutsch-chinesischen Beziehungen diese sogenannte ‚Tibet-Resolution‘ verabschiedet, hat die Gefühle des chinesischen Volks verletzt“.[7]

Damit hatte die chinesische Führung immerhin klargestellt, daß die „wirtschaftliche Zusammenarbeit“ mit den Deutschen für sie so alternativlos, so einseitig „Abhängigkeit“ stiftend nicht ist, wie man in Bonn dies gerne hätte: Der chinesische Souverän hat sich bislang eine gewisse Entscheidungshoheit darüber bewahrt, wie weit er sich dem kapitalistischen Weltmarkt „ausliefert“[8]; er weiß, wie interessant sein Land für auswärtige Kapitalisten und Standort-Ökonomen ist, und nutzt das aus; und er kann dies um so erfolgreicher, als Deutschland nicht gerade alleinsteht mit der Entdeckung, daß es sich bei China um einen „Markt der Zukunft“ handelt.

Kanzler, Außenminister und Opposition erläutern das deutsche Interesse an einer „Region von globaler Bedeutung“

Die deutsche Regierung verspürte angesichts der chinesischen Reaktion einen dementsprechenden Erläuterungsbedarf und sah sich dazu veranlaßt, von höchster Stelle den Stellenwert der „Resolution“ zu erläutern. Dabei bewiesen der Kanzler und sein Außenminister nicht nur viel Fingerspitzengefühl in der diplomatischen Kunst, sich vom „Vorpreschen“ ihres Parlaments zu distanzieren, ohne die darin enthaltene Botschaft zurückzunehmen. In ihren Klarstellungen, die „Bedeutung“ des deutsch-chinesischen Verhältnisses betreffend, bekannten sie sich sowohl zu Deutschlands angelegentlichem Interesse an diesem Verhältnis als auch zu dem weiterreichenden politischen Bedürfnis ihrer Nation, auf keinen Fall mit einem bloßen Erfüllungsgehilfen chinesischer Ambitionen verwechselt zu werden.

Daß China eine entscheidende deutsche Interessensphäre ist, hört sich von maßgeblicher Stelle aus so an:

„China ist ein Land mit einer bedeutenden Geschichte und Kultur, politisch und wirtschaftlich auf dem Sprung zur Weltmacht. Es hat große Bedeutung für die globale und regionale Stabilität. In diesem Land haben beachtliche innere Entwicklungen auf dem Weg hin zur Marktwirtschaft und zur internationalen Öffnung stattgefunden“ (Kinkel vor dem Bundestag).

…hin zur Marktwirtschaft und internationalen Öffnung – das ist die entscheidende gute Nachricht; so drücken moderne Imperialisten den Erfolg aus, daß eine Staatsmacht ihr Land zum Anlageplatz auswärtiger Kapitalinteressen und sich, ungeachtet aller souveränen Vorbehalte, zum Empfänger auswärtiger Dienstanweisungen erklärt.

Auf dem Sprung zur Weltmacht – das ist eine eher gemischte Nachricht. Denn immerhin räumen Politiker, die für sich nichts geringeres als „weltpolitische Verantwortung“ reklamieren, damit ein, daß es da eine Macht gibt, die nicht bescheiden abwartet, welchen Stellenwert auf der Welt die maßgeblichen Weltordner ihr zubilligen. Dies zugeben heißt natürlicherweise auch schon: sich darum kümmern. Auf eine Macht mit solchen Mitteln und mit der Ambitionen auf weltpolitische Autonomie nicht kontrollierend Einfluß zu nehmen, wäre ein Verstoß gegen deutsche Interessen.

Große Bedeutung für die globale und regionale Stabilität – das ist darum keine wertfreie Feststellung und auch keine wertende Würdigung. So expliziert die deutsche Politik vielmehr ihre Absicht, sich auch für diese „Region“ und für die Fragen mitzuständig zu erklären, die die Kontrolle ihrer „Stabilität“ betreffen.

Die Notwendigkeit, eine ambitionierte Großmacht, die sich nicht ignorieren läßt, zu berücksichtigen, übersetzt sich für eine bereits etablierte imperialistische Großmacht wie Deutschland unmittelbar in den politischen Anspruch, sie möglichst einer eigenen Kontrollhoheit zu unterstellen. Diese deutsche Interessenlage wird China zu verstehen gegeben – und darüber auch allen anderen Weltmächten, die die Fragen der „globalen und regionalen Stabilität“ gleichfalls zu den Belangen ihrer weltpolitischen Ordnungskompetenz rechnen. Die Ernennung Chinas zur „deutschen Interessensphäre“ ist die Kundgabe des Auftrags deutscher Politik, in die Konkurrenz um Ordnungs- und Aufsichtsbefugnis einzusteigen, „global“ wie „regional“; mit den USA als bestimmender Ordnungsmacht, mit allen anderen, die sich gleichfalls die Einhegung dieser aufstrebenden Macht vornehmen und vor Ort präsent sind.

Zu dieser Dimension des deutschen Interesses: der Rivalität mit den Verbündeten, kann sich die Regierung nach den Regeln ihrer diplomatischen Kunst freilich nicht offen bekennen. Doch dafür hat eine Demokratie ja ihre Parlamentarier. Gerade die Opposition mit ihrem Bedürfnis, den amtierenden Kollegen moralische Vorhaltungen zu machen, ist da immer für eine Klarstellung gut, die ganz nebenher einmal mehr den Sinn der moralischen Aufwallung des Bundestags auf den Punkt bringt:

„Nehmen wir die USA: Sie haben offiziell die Handels- und Menschenrechtspolitik entkoppelt. Sie sprechen eine deutliche Sprache in der Frage der Menschenrechte und hatten schwere Konflikte mit China. Ich erinnere nur an Taiwan … Die amerikanischen Exporte steigerten sich von 1994 auf 1995 um 13%, die deutschen Exporte im gleichen Zeitraum um 3,7%. Das zeigt, daß man mit China durchaus politische Auseinandersetzungen haben und trotzdem gute Geschäfte machen kann“ (Neumann, SPD).

Von der Weltmacht, die immerhin den Westpazifik mit ihren Flotten und Verbündeten militärisch im Griff hält, hat sich dieser soziale Demokrat das passende Rezept für den Umgang mit China abgeschaut: Einfluß gewinnt man nur mit einer zweckmäßigen Kombination von Schacher und Konfrontation – und indem man beides nicht der Führungsmacht überläßt. Zwar ist eine Resolution zu Tibet wahrhaftig noch kein Flugzeugträger vor Taiwan; aber die richtige Linie ist das schon – und Imperialismus in der vorbildlichen Form einer gelungenen Synthese von Geschäft und Gewalt muß ja nicht ewig amerikanisches Monopol bleiben.

Angesichts dieser klaren Interessenlage standen die Richtlinien der weiteren Diplomatie mit China fest: Alle, die in Deutschland etwas zu sagen haben, betonen reihum abwechselnd oder gleichzeitig mal das Interesse, mit China immer besser ins Geschäft zu kommen, mal den festen Willen, dem Partner mit Zweifeln an seiner moralischen Statur auf die Nerven zu gehen. So Kinkel zum ersten:

„Kinkel attestierte den Chinesen ‚ein konfuzianisches Menschenrechtsverständnis‘. Die westlichen Staaten mit ihrem ‚abendländischen Menschenrechtsverständnis‘ müßten sich ‚ein klein wenig in die Notwendigkeiten des asiatischen Kulturkreises hineinfühlen‘. Als Außenminister sei er durch die Tibet-Resolution in eine ‚Spagat-Situation‘ hineingeraten.“ (SZ 25.6.96)

Diese unbequeme Haltung hält er andererseits ganz gut aus. Kinkel zum zweiten:

„Wir unterhalten zu China gute politische, wirtschaftliche Beziehungen und auch kulturelle Beziehungen, und wir sind daran interessiert, daß es so bleibt. Allerdings muß es möglich sein, auch schwierige Fragen – dazu gehören natürlich die Menschenrechte und Tibet – offen anzusprechen… Weder die Bundesregierung, noch der Außenminister, noch der Bundestag lassen sich bei der Erörterung der Menschenrechte den Mund verbieten. China muß realisieren, daß die partnerschaftlichen Beziehungen dies zulassen müssen.“

„Wir lassen uns den Mund nicht verbieten“: Das ist überhaupt die beste Retourkutsche auf chinesische Beschwerden über „Einmischung in innere Angelegenheiten“. Innere Angelegenheiten in dem Sinn haben nämlich nur deutsche Demokraten:

„Die Kritik am Verfassungsorgan Bundestag und den Beschluß eines frei gewählten Parlaments weisen wir entschieden zurück.“ (Erdmann, Außenamtssprecher). „Mit Drohungen gegenüber einem demokratischen Parlament darf und wird die chinesische Regierung keinen Erfolg haben.“ (ein Mitglied desselben)

Ein Chinese hingegen hat gefälligst die Ohren aufzusperren, wenn ihm die Leviten gelesen werden:

„Peking darf nicht länger glauben, mit uns einen Dialog führen zu können, in dem ihm unangenehme Themen nicht vorkommen.“ (Verheugen)

Das Recht, woanders einzukaufen, steht ihm deswegen noch lange nicht zu: Derselbe SPD-Schattenaußenminister plädiert dafür, Wirtschafts- und Menschenrechtsfragen voneinander zu trennen.

Diese Mahnung ist andererseits auch an die eigene Adresse gerichtet und liest sich diplomatisch als die Bereitschaftserklärung, es zumindest einerseits mit der Verkündung von Vorbehalten gegen China, nachdem die Sache einmal klargestellt ist, auch wieder gut sein zu lassen. Der wirkliche Außenminister schnürt in demselben Sinn den Vorbehalt und seine Relativierung in folgendem Angebotspaket zusammen:

„Kinkel erklärte, vor der Wiederaufnahme einer ‚normalen Besuchsdiplomatie‘ müßten die Beziehungen erst wieder ‚in Ordnung‘ gebracht werden. Daran müsse beide Seiten gelegen sein. Der Außenminister bekräftigte seinen Willen – wenn der Pulverdampf verzogen ist –, bei der nächsten UNO-Vollversammlung im September wieder das Gespräch mit der chinesischen Regierung zu suchen.“ (SZ 25.6.96).

Schließlich ist man in Bonn ja auch gar nicht so weit gegangen, der chinesischen Regierung ihren Hoheitsbereich überhaupt zu bestreiten:

„Erklärung des Bundeskanzlers zur Verschiebung des Chinabesuches des Bundesaußenministers: ‚Der Deutsche Bundestag hat sich mit seiner überwältigenden Mehrheit zu der Ein-China-Politik der Bundesregierung bekannt, die von allen Mitgliedern der Bundesregierung konsequent vertreten wird. Die Bundesregierung betrachtet Tibet – wie alle anderen Regierungen der Welt – als Teil des chinesischen Staatsverbandes‘.“

– das sollte man in Peking auch einmal honorieren! Und die Gegenseite ist auch gar nicht so stur: Beim Überfliegen des deutschen Territoriums auf dem Weg nach Frankreich hat der chinesische Staatschef den obligatorischen Funkspruch an den Bundespräsidenten besonders herzlich ausfallen lassen…

*

Am Ende war also gar nichts weiter als ein bißchen „Pulverdampf“? Nicht ganz. Ein neuer außenpolitischer Handlungsbedarf ist geräuschvoll angemeldet; der deutsche Einwand gegen eine vorbehaltslose Anerkennung der chinesischen Souveränität ist in den diplomatischen Verkehr eingeführt. Die Welt weiß, wie einseitig die Ansprüche sind, die Deutschland mit seiner China-Politik verbindet. Die Konkurrenz um Ausnutzung und Kontrolle der „aufstrebenden Weltmacht“ in Fernost ist eine Runde vorangekommen.

[1] Zum Vergleich der beiden Affären siehe den Artikel in dieser Nummer „Deutsche Außenpolitik und Tschechien. Anerkennung ja, aber unter deutschem (General-)Vorbehalt“.

[2] Ihr unverbrüchliches Recht auf Demonstrationsfreiheit nahmen die Demonstranten mit originellen Transparenten wahr wie Li Peng – Schlächter von Tienanmen, Mörder oder (vor dem Goethe-Haus in Weimar) Kein Dichter und Denker für Richter und Henker. Damit der Staatsgast die Parolen auch entziffern konnte, durfte „die Straße“ ihrem politisch linientreuen Unmut ausnahmsweise diesseits der Absperrgitter Luft machen.

[3] Freimut Duve, SPD, zitiert im Bundestag aus einem Brief der chinesischen Botschaft an Petra Kelly vom 3. April 1989: ‚Alle Tibet betreffenden Angelegenheiten sind innere Angelegenheiten‘. Da müssen wir dem Mitglied des UN-Sicherheitsrates einmal etwas sagen. Das stimmt völkerrechtlich nicht. Diese Definition der Souveränität des chinesischen Staates ist grundfalsch. Auch die Souveränität Chinas hat ihre Grenzen. Dieser letzte Satz formuliert genau das Anliegen, um das es der deutschen Außenpolitik mit China hier geht: Sie zieht der chinesischen Souveränität Grenzen. Diesen Satz laut heraussagen zu können, ist der Nutzen, den der aufgegriffene Fall Tibet für die Diplomatie in diesem Sinn unmittelbar abwirft.

[4] Wie schon im Falle unserer „berechtigten“ Forderungen an Tschechien leistet auch hier die „Erinnerung“ an die Tatsache, daß Deutschland einmal einen Krieg verloren und Millionen Juden vergast hat, gute Dienste: Falls der Außenminister von seinen chinesischen Gesprächspartnern auf den Holocaust und auf die Nazi-Zeit angesprochen wird, sollte er antworten: Wir haben aus unserer Vergangenheit gelernt, bei der Verletzung von Menschenrechten nicht zu schweigen (der Abgeordnete Neumann, SPD). So sind sie eben, die geläuterten Völkermörder. Mit einer Runde Schämen über die „Schandtat“, die man selbst hingelegt hat, ist man der berufene Richter in der Abteilung „Menschenrecht“.

[5] Sein Kollege vom Wirtschaftsressort sieht das genauso und übertreibt gleich ein bißchen: China kann es sich gar nicht leisten, Aufträge nach anderen als ökonomischen Gesichtspunkten zu vergeben. Es benötigt dringend Kapital und Know How.

[6] In diesem Sinn hat die Bundesregierung die mit der Ausladung des Außenministers untermauerte Zurückweisung der Bundestags-Resolution zurückgewiesen: Der Bundeskanzler nimmt die Entscheidung der Regierung der Volksrepublik China vom 23. Juni 1996, den verabredeten Besuch von Bundesaußenminister Kinkel in China zu verschieben, mit Bedauern und Unverständnis zur Kenntnis. Die Entschließung des Deutschen Bundestages vom 20. Juni 1996 rechtfertigt eine solche Entscheidung nicht (Bulletin).

[7] Die Bonner Botschaft der Volksrepublik China hat der „scharfen Verurteilung“ der „Einmischung in innere Angelegenheiten“ eine „Erklärung“ nachgeschoben, die den Interessensstandpunkt Chinas in den Nachweis kleidet, daß die „Resolution“ ein einziger sachlicher Irrtum ist: Keiner der mit ihr erhobenen Vorwürfe trifft auch nur annähernd zu! Die Eingemeindung Tibets war eine friedliche Befreiung; den Tibetern geht es heute wesentlich besser als im alten feudalen, äußerst rückständigen System der Leibeigenschaft; Mönche und Nonnen werden gesetzlich nur bestraft, wenn sie gegen das Strafgesetz verstoßen, nicht aber wegen ihres Religionsbekenntnisses; und sogar die Wiedergeburt ist menschenrechtlich nicht zu beanstanden, denn nach den religiösen Riten ist das Losziehen aus der Goldenen Urne das allein gültige Verfahren für die Identifizierung der wahren Gestalt des wiedergeborenen Pantschen Lama.

[8] Die Parole: „Den Tiger reiten!“ zeugt schon von dem Bewußtsein der regierenden Chinesen, daß der auserkorene Entwicklungshelfer nicht besinnungslos ihr nationales Aufbauprogramm bedienen, sondern an ihm verdienen will. Zur politischen Ökonomie des chinesischen Programms vgl. GegenStandpunkt 4-94, S.83 „Chinas besonderer Weg zum Kapitalismus“.