Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Skandalöse Sittenwidrigkeit bei der Europameisterschaft:
Russland missbraucht den Fußball für die Nation!
Die Europameisterschaft geht in ihre dritte Woche, Russland besiegt wider Erwarten die holländische Nationalmannschaft und feiert den Einzug ins Halbfinale als nationale Großtat: „In Moskau tobte eine halbe Million Menschen mit der russischen Trikolore durch die Stadt. Frauen und Männer machten den Oberkörper frei, tanzten Rumba vor dem Majakowski-Denkmal und jubelten bis zum Morgen über den Sieg gegen Holland in der Europameisterschaft. In Sankt Petersburg … waren die Straßen ausgestorben bis zum Schlusspfiff, dann stürzten Menschen auf die taghellen Straßen. Ein Land im Rausch.“
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Skandalöse Sittenwidrigkeit bei der Europameisterschaft: Russland missbraucht den Fußball für die Nation!
Die Europameisterschaft geht in ihre dritte Woche, Russland besiegt wider Erwarten die holländische Nationalmannschaft und feiert den Einzug ins Halbfinale als nationale Großtat:
„In Moskau tobte eine halbe Million Menschen mit der russischen Trikolore durch die Stadt. Frauen und Männer machten den Oberkörper frei, tanzten Rumba vor dem Majakowski-Denkmal und jubelten bis zum Morgen über den Sieg gegen Holland in der Europameisterschaft. In Sankt Petersburg ... waren die Straßen ausgestorben bis zum Schlusspfiff, dann stürzten Menschen auf die taghellen Straßen. Ein Land im Rausch.“
Dort geht es also ungefähr genauso zu wie in Berlin, Madrid, Rom und anderswo. Von allen gewichtigen Stimmen ihrer Öffentlichkeit ermuntert, vergessen die Massen mal eben ihren Alltag inklusive aller Gegensätze zwischen Reich und Arm und Oben und Unten, schließen sich zu einem großen Wir zusammen, packen ihre Nationalflaggen aus oder malen sie sich ins Gesicht und führen sich auf, als hinge vom Sieg „ihrer“ Nationalmannschaft so ungefähr ihr Leben ab – für zwei Wochen lang. Minuziöse Berichterstattungen rund um die Uhr von der Fußball- wie von der Heimatfront unterstreichen die angebliche Wichtigkeit dieses Irrsinns, und Politiker ergreifen solche Gelegenheiten gerne, um sich inmitten der national aufgeputschten Stimmung auf Tribünen oder in Mannschaftskabinen volksnah in Szene zu setzen. So entstehen dann unvergessliche „Sommermärchen“, in denen sich die distanzlose Anhängerschaft an die eigene Nation und ihre Siege in euphorischen Glücksgefühlen der Volksmassen äußert.
In all dem selbstverständlichen und üblichen
Fußballnationalismus aber entdeckt die Redaktion der
„Süddeutschen“ doch tatsächlich einen entscheidenden
Unterschied zwischen uns und den Russen. Unglaublich
nämlich, was in dem Land bei einem Sieg der eigenen
Mannschaft los ist: Jedes Mal ist eine blau-weiß-rote
Welle nationalen Wohlbefindens durch das Land geschwappt,
jede Glanzleistung wurde nicht als Sieg eines Sängers
oder einer Mannschaft gefeiert, sondern als Erfolg der
ganzen Nation begriffen
. Denn dort gibt es ein
gegenseitiges Abhängigkeitsverhältnis von Politik und
Sport
, das zu grotesken propagandistischen
Verrenkungen
führt: Das Staatsfernsehen zeigt vor dem
Spiel gegen Schweden Ausschnitte sowjetischer
Historienfilme mit russischen Siegen über Schweden
,
und die Fans malen sich ‘1709‘ auf die Stirn, die
Jahreszahl der schwedischen Niederlage bei Poltawa im
Großen Nordischen Krieg
. Zusammengefasst stellt sich
dieses Fan-Land für die SZ so dar: Bis zu
einem politikfreien Triumphgefühl ist es also noch ein
weiter Weg.
Die hierzulande üblichen Triumphgefühle, die sich in „Deutschland! Deutschland!“ – Gebrüll äußern, haben für die SZ offenbar nichts damit zu tun, dass die Bürger sich in einer Fangemeinde zusammenschließen, für die der ganze Spaß am Länderattribut hängt: In schwarz-rot-goldenen Wellen des Wohlbefindens ist da von einer Nation einfach weit und breit nichts in Sicht, die Gegenstand des Triumphes sein könnte! Da kommt nur ein ganz waldursprünglicher Freudentaumel einer erfreulich intakten Volksgemeinschaft zum Ausdruck, an der es nichts zu kritisieren gibt – ganz im Unterschied zu Russland, wo die Identifikation mit dem Staat und die nationale Selbstdarstellung anlässlich von Sport und Kultur einen äußerst kritikwürdigen Nationalismus offenbaren, denn:
„Russland ist auch fast zwanzig Jahre nach dem Ende der Sowjetunion nicht im Reinen mit sich und seinem Platz in der Welt. In acht Jahren Putin haben Staatsfernsehen und Politikerreden den Menschen eingetrichtert, dass nicht bürokratische Zumutungen und Gängelungen ihnen das Leben schwermachen, sondern das Ausland sie bedrängt, dass Russland verkannt und bedroht wird.“
Da will die Herrschaft ehemalige Macht und verlorenen
Einfluss in der Welt wiedergewinnen, gibt dem Ausland,
also auch uns, die Schuld daran, dass es mit der Nation
nicht vorangeht, und das Volk lässt sich diesen
Revanchismus auch noch einleuchten und für ihn
einspannen, anstatt in unserem Auftrag gegen die
bürokratischen Zumutungen und Gängelungen durch den
eigenen Staat zu protestieren. Russland sollte besser den
ihm von hier aus zugewiesenen Platz in der
internationalen Staatenliga akzeptieren, dann müssten die
russischen Fans auch nicht mehr ihren nationalen
Minderwertigkeitskomplex auf unsere Kosten kompensieren,
indem ihre Fußballmannschaft so großkotzig
auftritt und es wenigstens auf dem Fußballfeld allen
zeigt
.
Weil der „Süddeutschen“ der russische Staat
nicht gefällt, ist für sie russischer
Nationalismus einfach nur krankhaft und unnatürlich –
sogar am unschuldigen Fußball vergreift er sich und macht
ihn durch Doping mit Geld seinem Zweck gemäß: Nach
Jahren des Darbens ist der russische Fußball mit Öl- und
Gas-Millionen wieder salonfähig, nun muss er seinen Teil
beitragen zur grandiosen nationalen Wiedergeburt.
Mit
„public viewing“, der deutschen Erfindung, die Fans zum
nationalen Freudenfest auf Straßen und Plätzen zu
mobilisieren, können die nationalistisch verdorbenen
Russen schon gleich nicht umgehen. Zwar ergreift die
dortige, von Oben angeordnete staatliche
Feierfreudigkeit
wirklich jede Gelegenheit, um
ekelhaft nationalistisch und militaristisch aufzutreten:
Russland begeht den Tag des Vaterlandsverteidigers,
den Tag des Fallschirmspringers oder der Schulabgänger
regelmäßig mit einem Meer aus Fahnen.
Aber
offensichtlich nur dann, wenn durch staatliche Aufsicht
und Kontrolle prunkvolle Inszenierungen garantiert sind.
Ein derart verhetztes großrussisches Gemüt erträgt es
hingegen einfach nicht, wenn ihm in aller Öffentlichkeit
nach 90 Minuten eventuell eine Niederlage zugefügt wird.
Das Risiko muss man auf alle Fälle vermeiden, sich also
lieber so lange daheim verstecken, bis der Sieg gewiss
ist, denn, so ein Gewährsmann der SZ in Petersburg,
wenn wir verlieren, ist es auf einer großen Leinwand
viel peinlicher.
Verlieren will gelernt sein, vor
allem bei der eigenen Nation – auch darin sind wir
Vorbild! Interfax meldet aber immerhin, dass sich im
sibirischen Tomsk zum Spiel gegen Holland erstmals 7000
Menschen vor einer Großleinwand versammelt haben.
Man
darf hoffen, dass der russische Fußballfan auch einmal so
gesund nationalistisch wird wie wir und Niederlagen in
aller Offenheit wegsteckt – auch wenn das für ihn noch
ein weiter Weg sein sollte.