Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Eigenartige Finanzoperationen der russischen Nationalbank in den vergangenen Jahren – Was daran über die Erfolgsstory der russischen Marktwirtschaft abzulesen ist und warum sie heute zum Skandal erklärt werden

Dass die Anwendung der Prinzipien der Marktwirtschaft in Russland keine blühenden Landschaften, sondern einen einzigen Verfall von Land und Leuten zu Wege brachte, das kann nicht an diesen Prinzipien liegen, sondern muss – ein Betrugsfall sein. Dank Spiegel wissen wir auch, wie der ablief.

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Eigenartige Finanzoperationen der russischen Nationalbank in den vergangenen Jahren – was daran über die Erfolgsstory der russischen Marktwirtschaft abzulesen ist und warum sie heute zum Skandal erklärt werden

Im März befaßt sich die Öffentlichkeit mit allerhand Geldtransaktionen im Reformland Rußland, nachdem als erstes der Spiegel mit einem Skandal herausgekommen ist, den der russische Generalstaatsanwalt Skuratow bei Ermittlungen im Zuständigkeitsbereich der Nationalbank zu Tage gefördert hat.

„50 Dollar-Milliarden für den russischen Staat flossen in die Steueroase Jersey. Die Zentralbank hat den Westen demnach betrogen.“ (22.2.99)

Wen lassen wir jetzt verhaften? Die russische Nationalbank? Die britische Kanalinsel?

1. Die Definition: Betrug

ergibt sich für den Spiegel aus dem einseitigen Verlauf der Geldströme:

„Immer wieder schüttelten die Moskowiter kräftig den Dollarbaum und schon ergoß sich ein reicher Segen von harter Währung über Rußland. Doch Moskau erfüllt seit einem halben Jahr nicht mehr seine dringendsten Zahlungsverpflichtungen gegenüber Gläubigern im Westen. Der Devisenstrom verlor sich nach vorherrschender Meinung in einem schwarzen Loch.“

Wenn Rußland aus unseren Milliarden keinen Wirtschaftserfolg gedrechselt hat, an dem sich die Geldgeber, wie das ihr gutes Recht ist, mit Zins und Zinseszins bedienen können, müssen die Gelder zweckentfremdet worden sein, so die Logik des Spiegel. Wenn dieser Staat im äußeren und inneren Zahlungsverkehr pleite ist, dann hat man es nicht mit einem gigantischen nationalen Zusammenbruch zu tun, sondern mit einem Fall von ordinärem Verbrechen. Daß sich das in Rußland auch in den höchsten Staatsinstanzen breitgemacht hat, daß sich selbst die russische Bundesbank vornehmlich von kriminellen Energien leiten läßt, ist laut Spiegel, evident: Russische Unternehmen haben 200 Milliarden Dollar – an der Steuer vorbei – auf Konten im Ausland geschafft. Da mochte der Fiskus nicht zurückstehen; über die Fimaco wurde der Staatsschatz im Westen plaziert. Dunkel bleibt allerdings, worin der Nutzen des angeblichen Verbrechens bestehen soll, wobei der Fiskus „nicht zurückstehen“ wollte. Hat da etwa der russische Staat sich selber betrogen, der Fiskus sich selbst Steuern entzogen, die Nationalbank ihren eigenen Staatsschatz geplündert? In der Begeisterung über die gelungene Form, in der man einen Staatsbankrott kindgemäß auf eine Art Diebstahl an unseren Steuergeldern zusammenkürzt, will der einschlägige Sachverstand nicht einmal bemerken, welche Klarstellung über das marktwirtschaftliche Reformwerk in Rußland mit den Transaktionen der russischen Nationalbank erfolgt ist.

2. Die Sache

Erstens ist es laut dem damaligen und heutigen Nationalbankchef im Jahr 93 darum gegangen, einen Teil des Staatsschatzes in Sicherheit zu bringen – vor westlichen Gläubigern, die mit Pfändung drohten. Rußland befand sich also damals schon am Rand der Zahlungsunfähigkeit. Eine Tatsache, die damals keiner der Beteiligten in und außerhalb Rußlands wahrhaben wollte – schließlich war die energische Fortsetzung der Reformen angesagt, dank derer Rußlands Ökonomie ins Lot kommen sollte –, die aber, wie es Sommer 98 offenkundig geworden ist, durch die später abgeschlossenen Umschuldungsabkommen mit dem Londoner und Pariser Club und neue Kredite nicht behoben, sondern vertagt und auf die heutigen Dimensionen unbedienbarer Forderungen aufgebläht worden ist.

Das dringliche Bedürfnis, einen Teil der staatlichen Devisenreserven in Sicherheit zu bringen, hatte sich bei Geraschtschenko und Co. auch deshalb eingestellt, weil ihre Mittel noch von einer anderen Seite her gefährdet waren: durch die eigenen Anstrengungen in Sachen konvertibler Rubel nämlich. Seitdem Rußland sich zum Bestandteil des freien Weltmarkts und den Rubel zum frei käuflichen Handelsobjekt erklärt hatte, um Geschäftsleuten aller Welt den Zugang zu einem russischen Markt zu eröffnen und deren Beiträge zu einem russischen Wachstum einzusammeln, hatte die Nationalbank die Aufgabe zu bestreiten, mit ihren Devisenreserven für einen freien Rubelhandel einzustehen; und bei dieser Aufgabe wurde sie mit dem höchst einseitigen Bedürfnis der Geschäftswelt konfrontiert, Rubel gegen Devisen loszuwerden. Diese Sorte Geldhandel mit der unübersehbaren Tendenz, den Staatsschatz aufzuzehren, hat die russischen Nationalbanker zu der Operation veranlaßt, zumindest einen Teil ihrer Devisenreserven gegen das ruinöse Geschäft zu sichern. Das ist ihnen gelungen, während ihre Anstrengungen, den Rubel vermittels einer halbwegs zuverlässigen Umtauschrelation im Geschäft zu halten, vom ersten Crash im Herbst 94 gekrönt wurden, bei dem der Rubel an einem schwarzen Dienstag noch einmal von 3200 auf 4000 Rubel für 1 Dollar abgestürzt ist. Ein weiteres Indiz dafür, daß die Zahlungsunfähigkeit der Nation sich nicht vorübergehenden Schwierigkeiten beim Einstieg in die Marktwirtschaft verdankte, sondern von etwas prinzipiellerer Bewandnis war. Damals allerdings, wie gesagt, herrschte die übereinstimmende Lesart, daß es mit Rußland eigentlich nur aufwärts gehen kann, von wegen „Reformen“ und so.

Demgegenüber enthält schon die damalige Entscheidung der Nationalbank, einen Teil ihrer Devisenreserven diesem Verkehr vorzuenthalten, ein reichlich negatives Urteil über die neue Rubelwirtschaft. Immerhin sah sie sich vor der Perspektive, daß der Staatsschatz, der als Garantie und Beweis russischer Zahlungsfähigkeit im Rahmen des neuen Geldverkehrs vonnöten ist, durch die Bedienung auswärtiger Schulden und den Unterhalt eines nationalen Bankwesens, dem der Staat die Freiheit zum Geldhandel eröffnet hat, aufgezehrt wird. Am Schwinden ihrer Reserven mußte sie registrieren, daß der neu eröffnete Geldverkehr seinem staatlichen Veranstalter keine auch nur annähernd ausreichenden Deviseneinkünfte einspielt, vielmehr umgekehrt die staatliche Zahlungsfähigkeit untergräbt. Insoweit war also auch damals schon die Klarstellung fix und fertig, daß die neue Geldwirtschaft als Basis staatlichen Geldreichtums in der Funktion versagt, mit auswärtigen Erträgen den Staatsschatz aufzufüllen und die internationale Zahlungsfähigkeit der Nation zu garantieren.

Dieses vernichtende Urteil über die Leistungen der Marktwirtschaft in Rußland liegt dem Manöver der Nationalbank, einen Teil der Devisenreserven einfach verschwinden zu lassen, einerseits zugrunde. Andererseits haben die reformbeflissenen russischen Nationalbanker diese Diagnose aber nicht wahrhaben wollen, sondern lieber ihre neuen Künste in Sachen Geldsteuerung fürs Weitermachen eingesetzt. Dabei haben die russischen Geldhüter dann auch die Lehre beherzigt, nach der im unschlagbaren westlichen System Geld dazu da ist, zu „arbeiten“, und sind zweitens darauf verfallen, den Staatsschatz selber als Geldquelle einzusetzen, und zwar als Kapitalanlage im Ausland. Der Spiegel kolportiert als größte Selbstverständlichkeit,

„die Fimaco habe mit Profiten aus Investitionen im Ausland die Staatseinkünfte mehren sollen – steuerfrei, vor allem aber unerreichbar für westliche Gläubiger, die bereits mit Pfändung russischen Auslandsvermögens drohten“.

Überaus logisch, daß eine Nation, deren Auslandsvermögen in Gefahr ist, ausgerechnet auch noch ihren Staatsschatz im Ausland deponiert, statt ihn in Moskau im Keller zu verstecken. Die entscheidende Pointe haben die Spiegel-Schreiber versäumt, nämlich dasselbe grundlegend negative Urteil der nationalen Geldautoritäten über die russische Nationalökonomie: Wenn eine Nationalbank sich erstens auf den Standpunkt stellt, daß ihre Aufgabe sich nicht darauf beschränken kann, den internationalen Geldverkehr ihrer Geschäftswelt abzusichern, daß sie vielmehr selber die Staatseinkünfte zu mehren und Gewinne herbeizuschaffen hat, dann ist es um die eigentlich dafür vorgesehene Quelle, die „Wirtschaft“, ziemlich schlecht bestellt. Wenn dieselbe Nationalbank zweitens beschließt, sich diese Gewinne im Ausland zu besorgen, dann gibt ausgerechnet die oberste Geldinstanz der Nation kund, daß sie von der ihr unterstellten Ökonomie als Anlagesphäre, von dem von ihr emittierten Geld als Reichtumsquelle eine äußerst schlechte Meinung hat. Von einem solchen Urteil über die Krise, die die russische Marktwirtschaft mit dem Akt ihrer Gründung zu verzeichnen hat, sind die Nationalbanker bei ihren Berechnungen zwar praktisch ausgegangen, haben es aber im unverwüstlichen Willen zum Weitermachen nicht wahrhaben wollen. In der Wahrnehmung ihrer Amtspflichten haben sie sich stattdessen um die Rettung der separaten Zahlungsfähigkeit ihrer Nationalbank bemüht und sind dabei auf dieselben Kalkulationen verfallen wie die russischen Privatiers, die ihren Reichtum vor dem Risiko namens Rubel in Sicherheit bringen und eine Sorte „Kapitalflucht“ ins Ausland betreiben, die davon zeugt, daß er in Rußland eben nicht als Kapital funktioniert.

Daß die Nationalbank kaum offiziell an einem seriösen Finanzplatz antreten und um eine günstige Anlage ihrer Gelder nachsuchen konnte, sondern für diese Operation auf Offshore-Bankplätze und private Mittelsmänner angewiesen war, auf russische Vertrauensleute mit Scheinfirmen im Ausland, ist zwar logisch und eher langweilig, hat aber für die heutige Aufbereitung einen eigenen Erkenntniswert: In Gestalt dieser Mittelsmänner hat man das Verbindungsglied zu den heutigen „Oligarchen“ bzw. „Räuberkapitalisten“, deren Umtrieben sich ja nach einhelliger Meinung von heute der Niedergang Rußlands verdankt. Als letzte Erkenntnis bezüglich dieser Manöver veröffentlicht im April die russische Zeitung Kommersant ein weiteres Kapitel der Skandalgeschichte, nach dem die Fimaco im Jahr 96 Jelzins Wahlkampf finanziert haben soll.

„…diese Gelder seien über die Fimaco in kurzfristigen russischen Staatsanleihen angelegt worden. Aus den Gewinnen seien der Wahlkampf und die von Jelzin versprochene Zahlung ausstehender Löhne und Gehälter finanziert worden. Die Umleitung der Reserven auf den Binnenmarkt sei nicht rechtens gewesen und könne die Beziehungen Rußlands zum Internationalen Währungsfonds belasten.“ (SZ 22.4.)

Und worin soll nun das Kriminelle bestanden haben? Daß Wahlkämpfe eine Geldfrage sind, ist doch in demokratischen Kreisen keine sonderlich aufregende Mitteilung. Mag sein, daß der Einsatz von Währungskrediten zur Finanzierung von Wahlkämpfen nicht ganz die offiziell vorgesehene Verwendungsweise darstellt; aber jeder Zeitungsleser dürfte sich noch lebhaft an diese Wahlperiode erinnern, in der die gesamte westliche Welt mitfiebern mußte, ob unser Freund Boris, unser Garant der Reformen die kommunistische Gefahr namens Suganow auch entscheidend schlägt. Ebenso dürfte die Jelzin’sche Art des Wahlkämpfens noch in Erinnerung sein, bei der er mit einem Geldsack namens Präsidentenfonds durchs Land reiste und überall dort, wo ihm die Verheerungen seines Reformwerks entgegengehalten wurden, ein bißchen Geld ausgestreut hat. Wenn die Einführung der Marktwirtschaft eine Wirtschaft dermaßen zugrunderichtet, daß keine Löhne und Gehälter gezahlt werden, wenn die Nation keinen Haushalt geschweige denn eine demokratische Parteienfinanzierung zustandebringt, dann muß sich schließlich auch der Präsident seine Mittel zum demokratischen Stimmenkauf auf unorthodoxe Weise besorgen. Und schließlich dürfte auch die Tatsache noch in Erinnerung sein, daß die westlichen Anwälte der Demokratie in Rußland es damals auf ihrem Weltwirtschaftstreffen in Davos für nötig befunden haben, die Vertreter von sieben Moskauer Banken und Holdings mit der Aufgabe zu betrauen, ihrerseits den Jelzin’schen Wahlkampf und den präsidialen Fonds zu unterstützen. Merkwürdig daß diese vorbildlichen jung-dynamischen Vertreter des zarten Pflänzchens russischer Marktwirtschaft schon ein paar Jahre später zu „Oligarchen“ entartet sind, und daß sie, in denen sich damals der russische Aufbruch verkörperte, mit ihren räuberischen Neigungen ganz alleine den Zusammenbruch der gesamten Nation zustandegebracht haben.

Zurück zur Betrugsfrage: Unzweifelhaft hat Jelzin damals Suganow um den Wahlsieg betrogen; aber das ist es ja nicht, was die heutigen Kritiker monieren. Zweitens hat die russische Nationalbank sich selber ein bißchen betrogen, indem sie ihrer eigenen Tochter Zinseinkünfte und ihrem Präsidenten damit seinen Fonds finanziert und sich selber zusätzliche Zinsverpflichtungen eingehandelt hat. Aber das war ja schließlich auch vom Westen verlangt, um die Freiheit in Rußland zu retten. Daß vermittels solcher Finanzoperationen die Herrschaft gesichert wurde, die die nächsten Jahre reformerischer Zerstörung des Landes abgewickelt hat, diese erfreuliche Tatsache liegt den Skandalgeschichten zwar zugrunde, aber ihr gilt die heutige Empörung nicht.

3. Und überhaupt: ein Abgrund von Zweckentfremdung unserer Gelder

Die westliche Öffentlichkeit behandelt die Manöver, mit denen die russische Politik schon im Ausgangspunkt die Pleite ihres marktwirtschaftlichen Aufbruchs registriert hat, die also ein Urteil über eine komplette Nationalökonomie enthalten, wie Privatverbrechen. Eine Nationalbank wird in der Figur eines obskuren Geldschiebers vorgestellt; ein Staatsbankrott wie das Resultat einer großangelegten Geldwäsche. Nicht das System, das in Rußland eingeführt worden ist, hat diesen Zusammenbruch zustandegebracht, nicht das west-östliche Gemeinschaftswerk namens „Reformen“. Es waren auch nicht die westlichen Kredite, die diesem Niedergang ein paar Jahre lang die Form verliehen haben, dank der alle Auskenner jedesmal von neuem Bescheid gewußt haben, daß nun die Talsohle erreicht ist, von der es nur noch aufwärts gehen kann…, und die ihn so schön unumkehrbar gemacht haben. Nein, es ist alles ganz einfach: Verbrechen, Veruntreuung von Geldern. Und auf einmal weiß die ganze Presse davon zu berichten, daß auch noch jeder unserer gutgemeinten Kredite vom russischen Empfänger irgendwie mißbraucht worden ist.

Dabei ist es dann schon völlig egal, ob das Verbrechen nun darin besteht, daß die russische Nationalbank – laut Spiegel – unser gutes Geld vor den westlichen Gläubigern versteckt, oder – laut der Süddeutschen Zeitung – darin, daß sie es postwendend an die Gläubiger zurückgereicht hat:

„Der kurze Weg vom Staatshaushalt zur Mafia-Kasse. In vielen Fällen bleibt Moskau den Beleg für die ordnungsgemäße Verwendung internationaler Hilfsmittel schuldig… sollen mit dem Geld Auslandsschulden bezahlt worden sein – nicht gerade das, was unter ‚Umbau der Wirtschaft‘ zu verstehen ist.“

Ein Devisenkredit, ordnungsgemäß zur Verteidigung des Rubel auf dem Moskauer Geldmarkt eingesetzt, von Spekulanten, die aus dem Rubel aussteigen wollen, dankbar aufgekauft, ohne daß die sich aber in ihrer Spekulation gegen den Rubel beirren lassen –

„Der Sommerkredit des IWF schließlich, der dem schwächelnden Rubel auf die Füße helfen sollte, löste sich spätestens mit der Abwertung vom 17.8.98 in Luft auf“. (HB, 23.3.)

In Luft, wo er doch zielstrebig in den Taschen des Geldhandels gelandet ist? Aber nein – schon wieder ein schwarzes Loch bzw. Verbrecher:

„Indes glauben Kritiker, daß eine Reihe von Moskauer Oligarchen vor dem Zusammenbruch noch reichlich Profit aus den aussichtslosen Stützungsmaßnahmen der Zentralbank ziehen konnte.“

– wie es eben das ehrwürdige Geschäft des Spekulierens vorsieht und wie es auch alle westlichen Bankerkollegen auf dem Moskauer Geldmarkt getan haben. Für den Steckbrief des Moskauer Räuberkapitalismus ist es wiederum gänzlich egal, wenn die russische Regierung Kredite gar nicht verschwinden läßt, sondern zur Finanzierung ihres Haushalts, also für eben den verlangten ‚Umbau der Wirtschaft‘ verwendet:

„Ein Vier-Milliarden-Mark-Kredit, den die Regierung Kohl Anfang 1996 zur Verfügung stellte, soll bis auf eine zweckgebundene Milliarde direkt in den Staatshaushalt geflossen sein. Von dort, wo die Seilschaften der Mafia und der Finanzbarone ansetzen können, ist der Weg auf die Offshore-Konten Cyperns und der britischen Kanalinseln nicht weit.“ (SZ 23.3.)

Ein sinniger Vorwurf, war doch dieser deutsche Kredit der Wiederwahl Präsident Jelzins im Namen der Reformen gewidmet; diese Operation ist ja wohl gelungen, und die Gelder sind insofern sehr „zweckgebunden“ verwendet worden. Daß ausgerechnet ihre staatliche Verwendung im Rahmen des Haushalts neuerdings als Zweckentfremdung gilt, weil hiesige Journalisten befinden, daß der gesamte Haushalt dieser Nation ohnehin nur eine Machenschaft zur Finanzierung der Mafia ist, dokumentiert den Fortschritt, den die westliche Begutachtung des russischen Reformwerks zu verzeichnen hat: Die Perspektive der Zurichtung Rußlands zu einer brauchbaren Geschäftssphäre wird abgeschrieben. Das aber kann und darf in den Augen der unparteiischen Beobachter nicht an den Prinzipien der Marktwirtschaft liegen, die dort zur Anwendung gebracht worden sind, vielmehr sind deren russische Veranstalter dafür haftbar zu machen, die das Projekt schuldhaft vergeigt haben.

Zwar waren an der Herstellung des russischen Staatsbankrotts, dem vorläufigen krönenden Abschluß der sogenannten Transformation, zwei Seiten maßgeblich beteiligt: einerseits die russischen Autoritäten, die trotz des kontinuierlichen Niedergangs ihrer sogenannten Wirtschaft die geltenden Geschäftsregeln nie kündigen wollten und bis heute nicht kündigen wollen, andererseits ihre westlichen Freunde und Förderer, denen die „Unumkehrbarkeit der Reformen“ einiges an Krediten wert war. Nachdem aber nun die Reformen die russische Nation als Trümmerfeld hinterlassen haben, entscheiden die westlichen Auskenner die Schuldfrage lieber einseitig. Deshalb ist es auch dem freien journalistischen Geschmack überlassen, was die russische Regierung im einzelnen falsch gemacht haben soll, weil aus dem Gesamtkunstwerk der Transformation ja auch nur einzelne Versatzstücke herausgefischt werden, um vorwurfsvoll darauf als Pflichtverletzung der russischen Regierungen deuten zu können. Daß damit einer ganzen Nation die Unfähigkeit bescheinigt wird, sich mit der Marktwirtschaft zu unterhalten, mit der sie nun aber ihren Unterhalt bestreiten muß, ist eine irrelevante Nebensache. Die ideologische Hauptsache besteht darin, daß die Umdefinition eines Staatsbankrotts zum Betrugsfall die passende Moral zum heutigen Umgang mit Rußland liefert: Die Neubewertung von Rußland als unbrauchbarer Schuldnerstaat, die die internationalen Kreditgeber vornehmen, wird durch das Attribut ‚unwürdig‘ ergänzt.