Robert Kurz:
„Schwarzbuch Kapitalismus – ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“
Die Intellektuellenfibel für den Abgesang auf Kapitalismuskritik
Kapitalismuskritik auf der Bestsellerliste – Wie geht das? Kapitalismus – der Irrsinn einer Produktion um ihrer selbst willen, von niemand gewollt und doch durch und durch verachtenswert – müsste nicht sein: Wenn er selbst das erkennen würde, wäre der Weg nicht weiter als 800 Seiten zur Selbstheilung der Gesellschaft. Also Unterhaltungsstoff für ein gar nicht so seltenes abstrakt anti-kapitalistisches Ressentiment.
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Systematischer Katalog
Gliederung
- Prolog: Wie zeitgemäßes Kritisieren geht
- Modernisierung und Massenarmut: Wie Sinnvergessenheit kapitalistisches Elend schafft
- Die schwarze Utopie der totalen Konkurrenz: Wie alle großen Denker die Welt als Irrsinn entlarven
- Die Geschichte der ersten industriellen Revolution: Wie ein Irrsinn sich als Dampfmaschine manifestiert
- Das System der nationalen Imperien: Wie eine irre Kostenrechnung zum Imperialismus führt
- Die Biologisierung der Weltgesellschaft
- Die Geschichte der Zweiten industriellen Revolution: Wie man geistig von Verdun mit dem Auto direkt ins KZ kommt
- Das System der totalitären Weltmarkt-Demokratien: Wie die Menschen im Kapitalismus immer irrer werden
- Die Geschichte der dritten industriellen Revolution: Wie das Ende unaufhaltsam naht
- Epilog: Wie es trotzdem weitergehen kann
- PS.
Robert Kurz: „Schwarzbuch Kapitalismus
– ein Abgesang auf die Marktwirtschaft“
Die Intellektuellenfibel für den
Abgesang auf Kapitalismuskritik
Ein Gespenst geht um im Zeitgeist. In einer Öffentlichkeit, der das herrschende Gesellschaftssystem über alles geht und die abweichende Meinungen einfach totzuschweigen pflegt, macht ein Linker mit Kapitalismuskritik Furore. Sein Buch ist ein Hit in einschlägigen Bestseller-Listen. Es wird in Zeitungen rezensiert – zum Teil sogar wohlwollend –, sein Autor avanciert zum Sachverständigen für politische Urteilsbildung, wird zu Talk-Shows gebeten und darf sich im Magazin von Deutschlands größter Tageszeitung regelmäßig mit seinen Ansichten verbreiten. Da fragen wir uns schon, wie der Mann das hingekriegt hat. Was kann der und haben wir versäumt, das die Kritik des Kapitalismus hierzulande wieder populär und sogar salonfähig macht? Also haben wir alles vergessen, was uns an den politischen Auffassungen des Autors schon seit längerem nervt,[1] und ganz vorurteilslos sein dickes Buch durchgenommen, Kapitel für Kapitel. Dabei haben wir Folgendes gelernt:
Prolog
: Wie zeitgemäßes Kritisieren geht
Um die Erwartungen, die der Leser an den Titel seines
Oeuvre knüpft, aufs richtige Gleis zu bringen, stellt der
Autor vorweg klar, worum es ihm geht. Er hat eine
Entdeckung gemacht, die zuallererst den kapitalistischen
Menschen betrifft, der in uns allen steckt, und die uns
kein besonders gutes Zeugnis ausstellt. Von Geschichte,
unserer eigenen zumal, haben wir keinen blassen Schimmer,
und zwar deswegen nicht, weil uns die Neigung, über die
Welt in rosa eingefärbten Bildern zu denken, als Naturell
anhaftet, uns der Hang zur Apologie im Blut liegt: Das
historische Gedächtnis der Menschen ist kurz. Sogar die
eigene Biografie verblasst in der Erinnerung (…) in der
Regel (sind wir) Verdrängungskünstler, die sich die
eigene Geschichte zurechtfärben und für das
Selbstwertgefühl passend legitimieren. Jeder Mensch
affirmiert sein noch so fadenscheiniges Ego, um möglichst
bequem und unangefochten in seiner Haut leben zu
können
(9). In jedem von
uns steckt also, menschlich-allzumenschlich, ein kleiner
professioneller Schönfärber, und damit steht auch schon
in etwa die zweite Entdeckung, mit der der Autor gleich
zu Beginn aufwartet. Ähnliches
nämlich gilt in
verstärktem Maße für das kollektive Gedächtnis der
Menschheit
. So erklärt es sich für ihn, dass der
moderne Zeitgeist zum Thema Kapitalismus eine einzige
affirmative Gesinnungswirtschaft betreibt. R. Kurz
jedenfalls macht eine bis zur Vollendung gediehene
Geschichtsblindheit
(11)
dafür verantwortlich, dass die zirkulierenden Apotheosen
des kapitalistischen Systems, die Glorifizierungen von
Marktwirtschaft und Demokratie zum nun endlich
alternativlosen Endpunkt aller gesellschaftlichen
Entwicklung überall so unangefochten durchgehen. Nicht
bei ihm allerdings. Ihm entpuppt sich dort, wo alle
anderen sich zu den Schönheiten und der Vernunft einer
endlich freien Welt
beglückwünschen, das
planetarische System des Kapitalismus als eine
Gesellschaft, ‚die dabei ist, buchstäblich verrückt zu
werden‘ (O. Negt)
(12) –
und so dreht er den Spieß einfach um: Wo alle vor der
Geschichte des Kapitalismus notorisch die Augen
verschließen, weil sie ihn nur so richtig schönfärben
können, da steigt er in die kapitalistische Geschichte
ein, um den Kapitalismus schwarz zu malen. Die
schlechte Welt, die er vor sich sieht, will er so
schlecht aussehen lassen, wie es ihr auch gebührt, und
dabei hat er durchaus Höheres im Sinn. Er will ihr auf
diesem Wege zu ihrem Besseren verhelfen. Er geht davon
aus, dass ihr übler Zustand im Grunde genommen von
Niemandem gewollt sein kann, und ersatzweise für alle,
die von ihm nichts wissen und nichts wissen wollen, die
er aber auf seiner Seite weiß, nimmt er sich vor, ihn
anzuprangern. Er will den Kapitalismus als Schreckensbild
ausmalen, um auf diesem Wege ein ‚Erwachet!‘ in die Welt
zu setzen, möchte für die Selbsterkenntnis des
kapitalistischen Menschen
sorgen und so der
Selbstheilung der Gesellschaft
zuarbeiten: Ein
radikalkritischer Abgesang auf die Marktwirtschaft
soll die kapitalistische Menschheit so gründlich vor sich
selbst erschrecken, dass ihr schlecht wird, sie in ihrem
Treiben innehält und sich augenblicklich eines Besseren
besinnt. Das ist die Sorte Aufklärung und Bewusstmachung,
die der Autor als so ziemlich letzter Vertreter der Ratio
für diesen Adressaten: dieser komplette, seiner
kritischen Vernunft beraubte und entmündigte Idiot
(11 f.) vorgesehen hat: Einem
riesigen Pandämonium, einem absurd und
gemeingefährlich gewordenen System der totalen Konkurrenz
von atomisierten Individuen
will er in Gestalt seines
schwarzen Buches den Spiegel seiner eigenen
Geschichte
(12)
vorhalten. Und weil aus ihm der Parteigänger des Guten
spricht, das auch in allen Anderen steckt, macht er für
den Fall, dass, wie so manch anderer moralischer Rufer in
der Wüste, auch er ungehört verhallen sollte, sein
Publikum auch noch damit vertraut, dass es ohnehin keine
andere Wahl hat, als seiner Botschaft zu folgen: Die
kapitalistische Industrialisierung, die im späten 18.
Jahrhundert angestoßen wurde, tritt in das Stadium der
Ausweglosigkeit ein. Es kann nur noch ein Abenteuer
geben: die Überwindung der Marktwirtschaft
(13).
So kündigt der Autor für die 800 Seiten seines Lesestoffs die diversen Erscheinungsweisen eines kapitalistischen Sodom und Gomorrha an, bei dem auch noch ein Jüngstes Gericht als Abenteuer winkt – ein kleiner Erlöser der Menschheit gibt sich da die Ehre. Aber vielleicht ist das bloß sein literarischer Dreh. Ein notwendiges Zugeständnis ans zeitgenössische Unterhaltungsbedürfnis, nur der Trick eines nach umfassender Aufklärung drängenden Schriftstellers, der das Interesse eines affirmativ-idiotisierten Publikums erst wecken will, um ihm dann ganz anders, mit knochentrockenen und obendrein tauglichen Erklärungen kommen zu können.
Modernisierung und Massenarmut
: Wie
Sinnvergessenheit kapitalistisches Elend schafft
Seitdem es ihn gibt, wird der Kapitalismus von kritischen
Räsonnements begleitet, die sich mit der Verteilung des
Reichtums befassen, den diese Produktionsweise zustande
bringt. Und seitdem einer sich die Mühe gemacht hat, die
unübersehbar wenig schönen materiellen Ergebnisse dieser
so ungemein effektiven Produktionsweise zu
erklären – statt sie moralisch anzuklagen –,
fasst sich die Kritik der politischen Ökonomie des
Kapitalismus in der Erkenntnis zusammen, dass in diesem
System der Reichtum, existierend als
Privateigentum in wenigen Händen und gemessen in Geld,
auf der produktiv gemachten Eigentumslosigkeit, der
methodischen Ausbeutung derer beruht, die ihn
produzieren. Marx steht dafür. Auch unser Kritiker stellt
sich in die Reihe dieser Kritik und rückt sein
definitives Urteil über die notorische Armut, die zum
kapitalistischen Reichtum gehört, an den Anfang seiner
Erörterungen: Denn der Kapitalismus ist ein brutales
Gewinner-Verlierer-Spiel, dessen totalitärer Charakter
die pure soziale und selbst die physische Existenz als
Einsatz nicht ausspart; und er hat von Anfang an mehr
Verlierer als Gewinner hervorgebracht.
(14) Wo sich alle in der Zufriedenheit
ergehen, in Gestalt des Kapitalismus mit der so ziemlich
besten aller möglichen Welten bedient zu sein, hält der
Autor dagegen: Kapitalismus ist für ihn ein Unterfangen,
bei dem die Menschheit mehrheitlich ihre eigene Existenz
vergeigt, und der Kritiker besteht darauf, dass in seiner
Metapher vom Spiel, das ganz üble Folgen hat, wenigstens
letztere ganz und gar nicht metaphorisch aufzufassen
sind: Dass der Kapitalismus einige Wenige reich, die
Masse aber bettelarm macht, das ist eine historische
Grunderfahrung
(15).
Damit wäre der Gegenstand der fälligen Untersuchung
eigentlich benannt, die Erklärung – sei es wie bei Marx,
sei es ganz anders, womöglich besser – könnte losgehen –
wenn es nicht mit der zitierten „historischen
Grunderfahrung“ die eigentümliche Bewandtnis hätte,
dass es sich nach Kurz’ Auffassung um eine
Erfahrung in dem Sinn: um die jedem wachen
Verstand sich aufdrängende Kenntnisnahme vom faktischen
Gang der gesellschaftlichen Dinge, dann doch gar nicht
handelt. Zwar nötigt „der Kapitalismus“ seinen Massen die
ungeschminkte Wahrheit über sich auf, dies aber doch nur
auf so tiefem „historischen Grund“, dass für den
reflektierenden Kritiker der Verhältnisse doch noch das
Entscheidende zu tun bleibt: Er muss in Erinnerung rufen,
bewusst machen
, was im Grunde
alle schon
wissen, wie schlecht es ihnen nämlich geht, weil sie es
dann doch immer nicht gemerkt haben wollen. Diese
kritische Leistung – unliebsame Wahrheiten bewusst zu
machen
– hat unter psychologisch gebildeten
Zeitgenossen, und wer gehörte nicht dazu?, einen enorm
guten Ruf; ganz zu Recht. Denn mit dieser Tätigkeit
erspart man sich das mühselige Geschäft, irgendwas zu
erklären, was sich an den gesellschaftlichen
Verhältnissen nicht von selbst versteht, sachliche
Notwendigkeiten herauszufinden, auf die man nicht einfach
wie auf Fakten deuten kann, eben weil sie deren Grund
betreffen: Wo es bloß um „Bewusstmachung“ geht, liegt
alles, was es über den Kapitalismus mitzuteilen gibt, als
ungehobener Erfahrungsschatz bei jedermann längst vor.
Deswegen erübrigt sich bei der Hebung dieses Schatzes
auch die andere Mühseligkeit, die so fatal weit
verbreiteten, zu Selbstverständlichkeiten geronnenen
falschen Deutungen der kapitalistischen
Lebensverhältnisse zur Kenntnis zu nehmen, zu entkräften,
ihren Fehler auf den Begriff zu bringen und ihn darüber
sich und anderen gründlich abzugewöhnen. „Falsch“ am
affirmativen Bewusstsein der vielen Mitmacher ist für
Kurz ja bloß, dass es seine ureigene Grunderfahrung nicht
richtig festhält, nicht dauernd aktualisiert.[2] Dementsprechend
tiefsinnig gestaltet sich seine Korrektur – und
schlagartig wird klar, weshalb Kurz’ Opus magnum ungefähr
so lange dauert wie eine durchschnittliche
Psychotherapie: Getreu seiner Devise, wonach die
Menschheit über den Kapitalismus niemals eine so gute
Meinung hätte, würde sie nicht beständig absichtsvoll
vergessen, wie schlecht der schon immer war, nimmt er
sich vor, diesen Verdrängungskünstlern so penetrant wie
möglich vor Augen zu stellen, woran sie sich partout
nicht erinnern wollen. Er breitet ihnen die authentische
Grunderfahrung namens Kapitalismus aus, die sich für ihn
in Massenarmut
zusammenfasst, und – dies sein
Mittel, als Kritiker zu überzeugen – lässt dazu die
Fakten sprechen. Seitenweise zitiert er aus einem
riesigen Zettelkasten historische Belege, wie fein
eingerichtet die vorkapitalistische Welt war.
Ein König Wenzel II aus dem 14. Jh. kommt vor, weil er
ein großes Herz für Bergleute hat. Vergleichsweise
leckere Speisepläne aus dem Mittelalter decken
schonungslos auf, wie wenig der moderne Abendländer von
sich und seiner Geschichte vor dem kapitalistischen
Sündenfall weiß. Sogar von erstaunlich kaufkräftigen
Reallöhnen aus derselben Zeit erfährt der Leser, später
dann von Goethe, wie dessen trübe Vorahnungen, die
nahende Zukunft betreffend, selbige auch schon auf den
Begriff bringen, und dann von Weberaufstand und
Weberliedern: All das spricht für den Autor Bände, weil
es dokumentiert, was zwar damals wie heute alle erfahren,
aber eben auch pausenlos verdrängen, nämlich
dass das Elend der Massen vom Kapitalismus nicht
wegzudenken ist. Freilich, das weiß ein
kritischer empirischer
Sozialwissenschaftler schon auch: Ein
wahres Honigschlecken war das Leben als Helot, Sklave
oder Knecht vorher auch nicht immer,
selbstverständlich gab es in der vormodernen
Gesellschaft feudale und patriarchalische Unterdrückung,
Seuchen, Kriege, Unwissenheit
(19). Aber dazu entschlossen, den
Kapitalismus gegen alle, die ihn als Fortschritt
begrüßen, als genuine Quelle des Elends der modernen Welt
schlecht zu machen, muss er ihn eben auch gegenüber dem
Herrschafts- und Knechtschaftswesen der gesamten Vorzeit
schwarz malen. Dabei wäre er wirklich der Letzte, der in
Sachen Fortschritt nicht auch historische Gerechtigkeit
walten ließe: Ich will keineswegs bestreiten, dass die
kapitalistische Modernisierungsgeschichte die
menschlichen Potenzen über alles frühere Maß hinaus
gesteigert hat
(19) –
auch dies offenbar eine historische Erfahrung. Nur hat
das der arbeitenden Menschheit nicht viel Segen gebracht
– und der Kritiker, der die Schlechtigkeit des
Kapitalismus in Erinnerung bringen will, positive
Leistungen aber nicht abstreiten kann, wäre eigentlich
ein paar erklärende Worte zu der Frage schuldig, wie
beides zusammenpasst: die „Steigerung der
menschlichen Potenzen“ und des Elends der
meisten der Menschen, deren „Potenzen“ durch Wissenschaft
und Technik so enorm ausgeweitet worden sind. Die
Erklärung wäre, nebenbei, noch nicht einmal sehr schwer,
weil die ersten Theoretiker der Arbeiterbewegung sie
schon geliefert haben: Im Kapitalismus existieren die
„menschlichen Potenzen“, genauer: die produktiven
Potenzen der menschlichen Arbeit, nämlich die Technik
mitsamt ihren wissenschaftlichen Grundlagen,
getrennt von den arbeitenden Leuten als
Eigentum und damit als Potenz des Kapitals,
die Ausbeutung der menschlichen Arbeitstätigkeit immer
ertragreicher und rentierlicher zu gestalten. Einsichten
dieser Art würden den angestrengten
Bewusstwerdungsprozess, um den das „Schwarzbuch“ sich
bemüht, jedoch bloß stören. Für den ist es viel
nützlicher, mit Emphase darauf zu bestehen, dass
der Kapitalismus den Massen die Früchte des menschlichen
Fortschritts, den er einerseits bewerkstelligt,
andererseits und vor allem vorenthalten hat, ihren
Lebensstandard gesenkt anstatt gesteigert hat.
Um die Größe dieses Skandals so recht fühlbar zu machen,
wirft Kurz dem Kapitalismus vor, niemals dazu
imstande
gewesen zu sein, die von ihm
hervorgebrachten Potenzen für eine Verbesserung des
Lebens aller Menschen anzuwenden
– und merkt dabei
nicht einmal, wie viel er dem verteufelten System dabei
zugute hält: Offenbar ist ihm wirklich nicht
bewusst, dass der Verwendungszweck fortentwickelter
technischer Potenzen längst festliegt, wenn das Kapital
sie – nie ohne Patentschutz! – als sein
Eigentum, seine Produktivkraft, sein
Ausbeutungsmittel hervorbringt, und dass die
Produktionsweise nicht Unfähigkeit, sondern im Gegenteil
ihre systemeigene Leistungsfähigkeit unter Beweis stellt,
wenn sie ihre fortschrittlichen Errungenschaften nicht an
eine Verbesserung des Lebens aller Menschen
verschwendet, sondern für die produktive
Funktionalisierung ihres geschätzten Menschenmaterials
einsetzt – dessen sachgerechte Pflege übrigens durchaus
eingeschlossen… Kurz glaubt stattdessen an ein gutes
Leben für alle als Maßstab, an dem auch der Kapitalismus
sich zu bewähren hätte und schändlich scheitern würde; er
glaubt in diesem Sinne auch an eigentlich gute,
potentiell geradezu antikapitalistische
Fortschrittsleistungen des Kapitalismus – und besteht
deswegen nur umso vehementer darauf, dass daraus dann
doch nichts wird, weil die schlechten Seiten des Systems,
sein Versagen vor dem Ideal des allgemeinen
Menschheitsfortschritts, unendlich überwiegen:
„Obwohl Fortschritt, trotzdem
Verelendung“: Kurz gibt sich vom Kapitalismus
enttäuscht; freilich nicht, um die
Täuschung – eigentlich wäre es doch um
allgemeine Wohlfahrt zu tun, speziell wenn Kapitalisten
Forschung finanzieren – zu entkräften, sondern um sie
gerade im Gegenteil zu der weiterführenden Frage zu
verarbeiten: Wie war dieser krasse soziale Abstieg
gegenüber allen bekannten Jahrhunderten der Antike und
des Mittelalters trotz steigender wissenschaftlicher
Kenntnisse möglich?
(21)
Die Antwort besteht folgerichtig in der drastifizierenden
Auflistung enorm ekelhafter historischer Umstände, die
von so viel Missstand zeugen – sollen –, dass den
Freund des Menschenfortschritts
an dessen ausgebliebenen Segnungen gar nichts mehr
wundert, auch ohne dass er sich etwas davon erklärt
hätte: Absolutistischer Geldhunger, ‚Exportismus‘,
Zwangsarbeit, Staatsökonomie, Kolonialismus, Weltmarkt
und Expansion der Marktbeziehungen: In diesem Milieu
einer von Grund auf repressiven ökonomischen
Dynamisierung konnte sich der … beginnende
Privatkapitalismus tummeln.
(32) Unser Kritiker begnügt sich nicht
mit dem, was er bei Marx und anderswo über die Akteure
der „ursprünglichen Akkumulation“ gelesen hat. Er ist bei
seinem Studium der Historie viel gründlicher zu Werke
gegangen und hat deswegen auch herausgefunden,
was die alten Fürsten in ihrem Hunger nach Geld
genauso wie den Staat in seinem nach Kolonien
letztlich getrieben hat. Eine
Dynamisierung
war’s, ein Prozess, von dem wir
näher erfahren dürfen, dass er von seinem eigenen
beschleunigten Prozessieren getrieben wird. Das ist nicht
schlecht, jedenfalls der Sache enorm tief auf den Grund
gegangen, und wenn man zu diesem Subjekt namens
Beschleunigung noch die Prädikate repressiv
und
ökonomisch
dazunimmt, ist man über alles exakt im
Bild, was Marx mit seiner Rede von der Oberfläche der
Konkurrenz gemeint haben muss: Unter ihr brodelt eine
Macht, von Grund auf böse, ein Milieu
, in dem
logischerweise nur gedeiht, was in ihm gedeihen kann.
Daher tummelt
sich da ein
Privatkapitalismus
, der – wie der Herr, so’s
Gescherr – um keinen Deut besser ist: Die Menschen
sollten zu Zugochsen der ‚abstrakten Arbeit‘ (Marx)
gemacht, nämlich einer fremdbestimmten, jenseits der
eigenen Bedürfnisse und außerhalb der eigenen Kontrolle
liegenden Tätigkeit unterworfen werden. Indem sie nur
noch durch das Joch der ‚Arbeitsmärkte‘ an die
Reproduktion ihres eigenen Lebens herankommen konnten,
mussten sie ihre gesamte produktive Tätigkeit dem
abstrakten Selbstzweck des Geldes (aus Geld mehr Geld
machen) ausliefern. ‚Abstrakt‘ gemacht wurde ihre
Tätigkeit dabei als inhaltlich gleichgültige
betriebswirtschaftliche ‚Verausgabung von Arbeitskraft‘
schlechthin, als sinnvergessenes Produzieren um seiner
selbst willen.
(31) R.
Kurz ist also auch
Werttheoretiker. Er erinnert
mit dem Namen in der Klammer an die Jugendsünden seiner
Leser, die – wie ja auch er – irgendwann einmal die
Analyse der Wertform in MEW 23 durchgenommen haben.
Man fragt sich nur, was er da eigentlich gelesen und in
seine historische Erfahrung aufgenommen hat. In Marx’
Originalversion ist das „Abstrakte“ an der Arbeit im
Kapitalismus nämlich eher nicht als Sinnvergessenheit
bestimmt; und dass das Produzieren in dieser
Produktionsweise „nur um seiner selbst willen“
veranstaltet würde, hat Kurz’ Berufungsinstanz auch nicht
gelehrt. Um eventuell interessierten Kurz-Lesern ein paar
sachdienliche Hinweise an dieser Stelle nicht schuldig zu
bleiben: „Abstrakt“ nennt Marx die Arbeit in der
Marktwirtschaft, weil es in diesem System beim
Produzieren nicht auf ein gutes Leben der arbeitsteilig
produzierenden Gesellschaft und die dafür nötigen
Gebrauchsgüter ankommt – wozu die Ersparnis von
menschlichem Arbeitsaufwand ganz wesentlich hinzugehören
würde: verfügbare Zeit wäre das gar nicht unpassende Maß
gesellschaftlichen Wohlstands! –, sondern ausgerechnet
darauf, dass eine möglichst große Masse,
freilich nur: rentabler Arbeit verrichtet wird:
Wirkliches Maß des gesellschaftlichen Reichtums
dieser Gesellschaft ist ein Maximum an
rentabel ausgenutzter Arbeitsmühe. Denn bei
allem Produzieren geht es um das aus dem Produzierten
erlöste Geld: um Eigentum schlechthin in der ihm gemäßen
„schlagkräftigen“ Gestalt des allgemeinen, global
gültigen Tauschwerts; und zwar um immer mehr und
möglichst viel. Wem es um dieses im Wortsinn
‚eigentümliche‘ Arbeitsprodukt geht und warum,
das gibt Marx schon im Titel seines Hauptwerks an:
„Hinter“ der genannten Zweck- und entsprechenden
ökonomischen Formbestimmung der Arbeit steht die im Geld
vergegenständlichte Privatmacht des Eigentums:
dessen rechtlich begründetes und abgesichertes
Monopol auf Verfügungs- und Kommandogewalt über
die gesellschaftliche Arbeit und sein
systematisch ins Recht gesetztes, also mit Gewalt
ausgestattetes Interesse, vermittels der Arbeit,
die es verrichten lässt, sich zu vermehren. Dass
Arbeit „abstrakt“ ist und – nicht dies oder jenes,
sondern ökonomisch genau genommen immerzu nur ein und
dasselbe, nämlich im Maße ihres rentablen Stattfindens –
Wert
produziert, hat seinen Grund also darin, dass
sie von kapitalistischen Arbeitgebern veranstaltet wird,
und dies ausschließlich zu dem Zweck – also nur
insoweit, insoweit aber schrankenlos –, dass sie
ihnen geldwertes Eigentum schafft; und zwar
mehr davon, als sie für Lohn verausgaben müssen.
Dieses Verhältnis der Bereicherung vermittels fremder,
mit Lohn gekaufter Arbeit, deren Ausbeutung, ist Sinn und
Zweck der wertschaffenden Arbeit, der Grund und das ganze
„Geheimnis“ ihres „abstrakten“ Charakters – den, als
abhängige Variable, dann sogar die Lohnarbeiter selbst
sich zu ihrem existenziellen Anliegen machen müssen;
freilich ein wenig andersherum: Als „abhängige
Erwerbspersonen“ arbeiten auch sie
ausschließlich für Geld; allerdings nicht für
das, das sie produzieren, sondern für das, mit dem ihr
kapitalistischer Arbeitgeber sie als sein
Produktionsmittel kauft. – So viel zwischendrin zur
Sache.
Um zu Marx’ Darstellungsweise im ‚Kapital‘ noch ein eventuell klärendes Wort zu sagen: Der Kritiker der politischen Ökonomie des Kapitals hat als wissenschaftlich versierter Kopf gemeint, er könnte das Prinzip und die Sachgesetzlichkeit kapitalistischer Klassenverhältnisse auf die Art am gründlichsten aufklären und systematisch am besten darstellen, dass er, quasi lehrbuchmäßig, erst einmal am allgemeinen Begriff des Geldes den allgemeinen Zweck der Arbeit im Kapitalismus – überhaupt Tauschwert zu schaffen – entwickelt, dann vom Geld als eigentlichem Arbeitsprodukt und Zweck der Arbeit aufs Kapital als den eigentlichen Veranstalter – Ursprung, Zweck und Endpunkt – des gesellschaftlichen Produktionsprozesses schließt und dann die Lohnarbeit, nämlich die Aneignung unbezahlter Arbeit per Kauf von Arbeitskraft, als das entscheidende Lebensmittel des Kapitals, also Bereicherungsmittel der Eigentümerklasse ableitet. Dass 100 Jahre später sinnsüchtige Leser gleich beim ersten Gedankenschritt das ökonomische Nachdenken seiner Darlegung einstellen und stattdessen das Philosophieren anfangen würden, konnte er weder ahnen, noch sollte man es ihm und seiner Darstellungsweise zum Vorwurf machen. Daran, dass er mit seiner „Arbeitswertlehre“ weder das Produzieren als abstrusen Selbstzweck behaupten noch die innere Sinnlosigkeit der Arbeit für Geld geißeln, sondern das ökonomische Prinzip des so einseitig produktiven Verhältnisses zwischen Lohnarbeitern und kapitalistischen Unternehmern erklären wollte, hat er keinen Zweifel gelassen – nichts anderes hat er aufgeschrieben. Aber was hilft’s, wenn einer entschlossen ist, die Sinnlosigkeit kapitalistischen Produzierens und Verelendens ins Bewusstsein seiner Leser zu heben! Kurz – darin durchaus repräsentativ für eine ganze Schule philosophischer Marx-Exegese[3] – stellt die ganze schöne Ableitung der politischen Ökonomie des Kapitals auf den Kopf, löst alle eindeutigen Bestimmungen des Verhältnisses von kapitalistischem Zweck – Vergrößerung des von Staats wegen mit Kommandogewalt ausgestatteten Eigentums – und Mittel – rentable Lohnarbeit in größtmöglicher Quantität – nach „rückwärts“ in die systematisch ersten grundlegenden Attribute der geldproduzierenden Arbeit auf und erklärt das eigene verständnislose Staunen darüber, dass es beim Arbeiten im Kapitalismus, statt um die allgemeine Wohlfahrt, tatsächlich um nichts als Geld und immer mehr Geld geht, zum „irrsinnigen“ Prinzip der gesamten Produktionsweise. Dafür hätte der Mann wirklich nicht Marx studieren müssen; für die Weisheit hätten Donald Duck und Onkel Dagobert gereicht!
So bezieht sich der „Schwarzbuch“-Autor also zwar auf den
systembildenden ökonomischen Zweck des Kapitals, aus Geld
mehr Geld zu machen, und auch darauf, dass die Arbeiter
sich dem ausliefern
müssen – aber eben nur, um
zielstrebig von dem Verhältnis abzusehen, das
zwischen dem Zweck und seinem Mittel besteht und eine
ganze Gesellschaft in Klassen scheidet: Nur weil
er den Wert vom Mehrwert und die abstrakte
Arbeit von der Mehrarbeit trennt und die
kapitalistische Ausbeutung der Arbeit unbedingt ohne
ihren Inhalt denken will, stattdessen am völlig
sachfremden Ideal „eigentlich“ doch möglicher Versorgung
misst, kommt ihm die unter ihren kapitalistischen Zweck
subsumierte Arbeit als eine einzige
Sinnlosigkeit vor, als der Irrsinn
eines
Produzierens um seiner selbst willen
; nur deswegen
wollen ihm Lohnarbeiter als Zugochsen erscheinen, die,
egal womit und egal wofür, also in jeder Hinsicht zweck-,
vernunft- und sinnlos, vor sich hin werkeln. Ein
Marxosoph ist unser Linker,
einer, der sich an Marx entlehnten Stichworten entlang
hangelt, weil er dem Ideal eines sinnvollen
Lebens und Arbeitens nachhängt und dem Kapitalismus
attestieren will, eine einzige Veranstaltung zur
Verhinderung seiner schönen Idee zu sein. Entsprechend
vehement wirft er sich auf alle unerfüllten moralischen
Drangsale, mit denen das moderne klassenübergreifende
bürgerliche Selbstbewusstsein sich in seinem
kapitalistischen Treiben wenigstens ideell Genugtuung zu
verschaffen pflegt, und wanzt sich an alle an, die sich
in ihrer Statistenrolle im Erwerbsleben nicht genügend
selbstbestimmt und selbstverwirklicht
vorkommen: Die mit ihren Drangsalen sind die
Berufungsinstanz, die seiner Kritik Überzeugungskraft
verleihen soll. Die weiht er in das polit-ökonomische
Geheimnis ein, warum so viele im kapitalistischen
Werkeltag andauernd den ihr Ich befriedigenden Sinn
vermissen – und teilt ihnen mit, dass der Kapitalismus
diesbezügliche Hoffnungen eben nur immer frustrieren
kann. Das ist der Dreh, mit dem er bei allen gut ankommt,
die sich im Kapitalismus, wie er geht und steht,
sinnmäßig irgendwie leer fühlen: Den auf seinem eigenen
Mist gewachsenen Ansprüchen an eine befriedigende
Sinngebung ist der einfach nicht gewachsen, was für ein
Skandal!
Soweit der Auftakt zur modern-kritischen Lesart der gar
nicht modernen und eher sturzaffirmativen Leier vom Elend
in der Welt, vom unbehausten Ich und der Sinnleere seines
Arbeitslebens. Damit die schlichte Botschaft aufs Niveau
des gebildeten Geistes der Zeit passt, pflanzt der
moderne Kritiker ihr einfach eine riesige Hyperbel auf,
welche es zugleich gestattet, von der Marxschen Kritik
der politischen Ökonomie endgültig loszukommen und zum
Kulturkritiker der Arbeit zu
konvertieren. Er interpretiert sich das Elend, das zum
Kapitalismus gehört wie das Amen zur Kirche, als
Machenschaft eines Systems zurecht, das, von niemandem
gewollt und bezweckt, ein permanentes Übel produziert.
Solange abstrahiert er planmäßig von der ganzen sehr
zweckmäßig eingerichteten kapitalistischen Welt von
Gewalt und Geschäft, bis er bei der vorgestellten
Monströsität einer organisierten Grund- und
Zwecklosigkeit angelangt ist, an die er sich dann die
Menschheit in ihrer arbeitenden Mehrheit ausliefern
lässt. Ein moralisch durch und durch verachtenswerter
Selbstzweck waltet da also, den der intellektuelle
Kritiker erschöpfend auf seinen Begriff bringt, indem er
sich demonstrativ ans Hirn fasst und ihn Irrsinn
nennt. Die Politische Ökonomie einer verhängnisvollen
Sinnlosigkeit; die Enttarnung des Kapitalismus als
Weltuntergangssekte
, die Imagination einer
Produktionsweise als verschworene Glaubensgemeinschaft
blinder Irrer: das muss dem Markt für kritische Literatur
offenbar noch gefehlt haben.
Die schwarze Utopie der totalen Konkurrenz
: Wie
alle großen Denker die Welt als Irrsinn entlarven
Dem Kritiker ist bekannt, dass im Kapitalismus rechtlich
einander gleichgestellte, aber sehr unterschiedlich
bemittelte Privatsubjekte sich auf Kosten des jeweils
anderen an der Mehrung ihres Eigentums zu schaffen
machen. Seit Marx heißt das Konkurrenz. Wie ins Thema
Massenelend
, so führt R. Kurz auch in die
Betrachtung der kapitalistischen Konkurrenz ein, indem er
ausmalt, was für ein Verhängnis mit der über die Menschen
hereingebrochen ist. Aus dem Umstand, dass diese in der
Tat eine alle Lebensbereiche durchdringende und
bestimmende Macht, in diesem Sinne also wirklich
total ist, fabriziert der
Abstraktionskünstler Kurz im
Handumdrehen ein eigenes Subjekt. Er lässt einfach alles,
was den Grund dieser Macht betrifft, im Dunkeln – und
schon ist total
für ihn nicht mehr das bloße
Attribut zur Sache, sondern die Sache selbst:
Totalitarismus
ist ihre Wesensbestimmung, also
wieder ein einziges Übel, das man sich dann wieder an
seinen Erscheinungsweisen vergegenwärtigen darf. So kommt
zwischen dem Prinzip Nr. 1, der Verwandlung von Geld
in mehr Geld als Selbstzweck
(34), und, als dessen Derivat, dem
Prinzip Nr. 2, dem Totalitarismus des Marktes, dem
sich die Menschen bedingungslos unterwerfen sollen
,
die vorkapitalistische Gemütlichkeit einer
kulturelle(n) Einheit
unter die Räder. Das ist ein
Verlust, weil die Epoche von Herrschaft und Knechtschaft
im Vergleich zu der, die gleich kommt, eine feine Sache
war, sie nämlich sowohl soziale Kontrolle als auch ein
gewisses Maß an Geborgenheit vermittelte
(35). Und wer könnte diesmal besser
bezeugen, dass das Wesen, das da das sinnvolle Leben in
einer sozialen Idylle zertrampelt, Werk anonymer Mächte
und vor sich hin waltender Prinzipien ist, als die ganze
Schar von Dichtern und Denkern, die das so oder ähnlich,
mit solchen oder anderen Prinzipien, schon immer
behauptet haben? Mit Ideologiekritik hat ja auch bei Marx
die Kritik des Kapitalismus angefangen, also marschieren
auch in ihrer modernen Ausgabe die Ideologen des
Kapitalismus auf. Allerdings etwas anders, schließlich
leben wir in der Moderne der Kritik: Unser Kritiker
mustert die bürgerliche Ideengeschichte nach Kronzeugen
seiner Sinngebung des Kapitalismus durch; er
beurteilt nichts und niemanden, sondern greift sich
heraus, was zu dem moralischen Bild passt, das er von
diesem System im Kopf hat, wobei es ihm absolut
gleichgültig ist, ob die Ideen, die er für sich sprechen
lässt, von ihren Erfindern als Parteinahme für oder gegen
den Kapitalismus gedacht wurden, ja, ob es zu dem
Zeitpunkt, als sie erfunden wurden, die Verhältnisse
überhaupt gab, die unser Kritiker im Auge hat.
Th. Hobbes zum Beispiel. Der hat sich – verglichen am
heutigen politikwissenschaftlichen Standard des
Argumentierens – sehr unbefangen und ehrlich um die
Rechtfertigung des modernen bürgerlichen Staates bemüht.
Der war einfach parteilich für die Gewalt, die da in
ihrem Entstehen war, und hat sein Votum, dass es sie zu
geben hat, als Urteil über sie ausgedrückt: Einmal
gründlich davon abgesehen, dass die Welt von Recht und
Eigentum Werk staatlicher Gewalt ist, also ein
Gewaltmonopol unterstellt, ließ er sich von einem Blick
ins wirkliche Leben schlagartig darüber belehren, wie
bitter nötig doch angesichts der Gegensätze, die sich da
zwischen den Eigentümern austoben, ein Monopolist der
Gewalt ist, der die Menschen, die sich ja
offensichtlich von Natur aus nur an die Gurgel fahren
wollen, unter Kontrolle hält. Auf diese wirklich nicht
übermäßig schlaue Ableitung des Staates als
Naturnotwendigkeit bezieht unser Ideologie-Kritiker sich
– und schreit laut Heureka! Hobbes Bild vom Menschen
genauso wie das vom biblischen Gewaltmonster Leviathan:
Das ist er exakt, der Kapitalismus, in etwa so, nämlich
als gewaltsames Monster denkt Kurz sich den
auch. Für ihn würden sich die abstrakten
Individuen
wirklich so aufführen, wie der
Staatsableiter sich seine Horde Eigentümer ohne Staat
auspinselt. Für ihn würden sie sich in ihrer
mörderischen Konkurrenz
allen Ernstes tatsächlich
gegenseitig völlig zerfleischen und auffressen
,
ließe man sie unbeaufsichtigt – und daher bringt Hobbes,
indem er sich den Staat als notwendige
Zwangsgewalt
(39) zurecht
konstruiert
, die Sache auf ihren Punkt: Ein
Monster knechtet Menschen, die es nicht anders verdienen,
typisch Kapitalismus! Doch nicht nur den realen Abgrund
von Schlechtigkeit und Menschenverachtung des
Kapitalismus bezeugt dieses Leitbild des
Liberalismus
(39).
Praktisch überall, wo Menschen zu den Kunststücken des
Geldes und der ‚abstrakten Arbeit‘ dressiert werden wie
Zirkustiere, müssen die Dompteure im Namen der Macht mit
der Peitsche drohen und
– wie unser
marxistisch-leninistischer
Bestechungstheoretiker irgendwann einmal
auch gelernt hat: mit klebrigen kleinen
Belohnungsbonbons locken
. (43) Aber er geht ja mit der Zeit. Daher
ist er mit einem schlichten Igittigitt! fertig mit seinem
Argument und hat mit dieser demonstrativen Kundgabe
seiner abgrundtiefen Verachtung im Wesentlichen auch
gleich alle herrschaftlichen Spielarten vom Faschismus
über die Demokratie bis zum Staatssozialismus erschöpfend
auf ihren Begriff gebracht: Panem & circenses, Zuckerbrot
& Peitsche. Allesamt sind sie Variationen ein und
desselben Bildes vom Kapitalismus als vor sich
hindrehendem Laufrad und vom Menschen als dem willenlosen
Hamster drin, der dazu manipuliert wird, es in Bewegung
zu halten. Doch zu den Einzelheiten, mit denen der
Kritiker seine Dialektik von Selbstlauf und Manipulation
zusammenbaut, ist noch ein langer Weg, auf dem als
Nächster ein gewisser Mandeville das Vorhandensein der
niedrigsten sozialen Instinkte
(47) im Kapitalismus bezeugen darf. Schon
wieder dadurch, dass der blendende
Hermeneutiker, der hier die
Geistesgeschichte aufrollt, einem Ideologen und
Apologeten des Kapitalismus schlicht und ergreifend jeden
Spruch als gültige Auskunft darüber abkauft, wie es um
die Welt bestellt ist: Er zitiert ihn einfach, und belegt
mit dem Zitat seine eigene Auffassung über die wahre
Natur der westlich-kapitalistischen ‚freien Nationen‘
(51).
Dito de Sade, mit dem auch wir ganz bestimmt nicht gerne
länger im selben Zimmer säßen. Aber sicherlich nicht
deswegen, weil dieser Sack mit seiner öden, aber doch
sehr konkret interessierten Phantasie ausgerechnet die
monadische Form des kapitalistischen Menschen schon in
der Frühphase dieser abgründigsten aller bisherigen
Gesellschaftsordnungen
(53) entdeckt hätte. Kant mit seinem
‚Schöpfergott‘ und Smith mit seiner ‚unsichtbaren Hand‘
stehen in etwa für dasselbe – nicht für Beispiele
affirmativen Denkens einer höheren Ordnung und
Weltvernunft, in der die Monaden eingebettet sind.
Vielmehr dafür, dass sich auch in ihren Ideen nur exakt
die Monströsität widerspiegelt, wie sie real gerade im
Entstehen ist. Dabei zeigt der Kritiker, worin in Sachen
Analogie-‚Schluss‘ allein die wahre Meisterschaft
besteht. Man muss nur beispielsweise konsequent an der
Abstraktion ‚System‘ weiterdenken und sich fragen, was
denn noch zu ihr passt, und schon findet sich, wonach man
sucht: Erst der blinde Systemprozess des totalen
Marktes konnte in der affirmativen Reflexion so etwas wie
das moderne Systemdenken hervorbringen
(72). So bringt
ein – auch noch
blinder – Prozess ein Denken hervor
, von dem man
gar nicht mehr zu wissen braucht, als dass es – ‚System‘
sagt es ja – zu seinem Geburtshelfer passt. Für
keine Sottise der modernen Geisteswissenschaft ist dieser
vulgärmaterialistische
Abbild-Theoretiker sich zu schade: Weil
ohne ein System das Systemdenken wohl nicht
möglich gewesen wäre, soll man es ihm zufolge
einfach als Ausdruck von dem System denken, das
es gibt, und mit dieser griffigen Formel stiftet er einen
Begriff der Sache, bei dem man von gar nichts irgendetwas
begriffen haben muss, weder von dem, was sich da
ausdrücken, noch von dem, worin es sich
ausdrücken soll. Und nach diesem Muster geht’s weiter
dahin, bis zu Bentham, dem Liebling unseres
Ideologiekritikers. Der ist von Beruf Glücksphilosoph –
ja, das waren noch Zeiten; heute ist man
Unglücksphilosoph; doch dazu später –, und nach
Auffassung des Interpreten hat man es bei seinen Texten
mit den Auslassungen eines Irren
(87) zu tun. Als Irrer mit Ideen, wie die
Insassen von Besserungsanstalten, Gefängnissen,
Manufakturen oder Armenhäusern unter Aufsicht zu halten
sind – ein Panoptikum
fällt ihm da halt ein –, ist
er für Kurz gefundenes Fressen, weil eine einzige
bildliche Darstellung des abstrakten Prinzips, das im
Kopf des Kritikers spukt – alle kontrollieren sich
selbst und einander wechselseitig im Namen einer
subjektlosen Vernunft, der Vernunft des verselbständigten
Systems von ‚Arbeit‘ und ‚Verwertung‘
(88). Für unseren Kenner der Literatur
wird da auf den ersten Blick erkennbar, dass Bentham
Orwells ‚1984‘ um nahezu zweihundert Jahre
vorwegnimmt
(89), was ihm
natürlich die unbezweifelbare Richtigkeit beider beweist
und ganz nebenbei zur Gewissheit werden lässt, dass auch
die spätere Demokratie die Herrschaftsform der
panoptisch gezwiebelten selbstregulativen Subjekte
(89), also ein ziemlicher
Irrsinn ist.
Soweit die moderne kritische Rezeption eines kleinen
Stücks bürgerlicher Geistesgeschichte. In ihrem Resultat
läuft sie darauf hinaus, dass die ideologischen Denker in
ihrem erdachten Unsinn erstens mit ihren Ideen
reagierten
auf die schon existierenden
Objektivierungen der Marktwirtschaft
. Dass ihre
Reaktionen zweitens ihrerseits Reaktionen hervorriefen,
ihr Irrsinn Fleisch wurde und wirkmächtig in die
weitere Objektivierung dieses paranoiden
Zuchthaus-Systems
einging (100). Dass drittens also nicht nur die
Objektivierungen der Marktwirtschaft von dem gar nicht so
recht zu unterscheiden sind, was ein Paranoiker womöglich
als objektiviertes Zuchthaus identifiziert. Sondern sich
viertens auch noch die Idee des Zuchthauses von ganz
allein dazu aufmachen kann, sich als Marktwirtschaft zu
objektivieren. Gottlob kann unser Kritiker da den
Überblick bewahren, ist für ihn doch im Wesentlichen
ohnehin alles ein und dasselbe. Irrsinn halt.
Die Geschichte der ersten industriellen
Revolution
: Wie ein Irrsinn sich als Dampfmaschine
manifestiert
Moderne Ideologiekritik geht also so, dass der Kritiker
sich dazu entschließt, den Spruch von den ‚herrschenden
Gedanken‘ einfach wortwörtlich zu nehmen und sein
Quidproquo als fix und fertige Kritik von beidem, als
Kritik des für das Herrschende parteilichen Denkens
ebenso wie als Kritik dessen vorstellt, was da herrscht.
Insofern – wir befinden uns in der Mitte des 18.
Jahrhunderts – ist die Geschichte des Kapitalismus
eigentlich abgeschlossen: Eine Selbstzweck-Maschine
mit ihrem basalen Verhältnis von ‚abstrakter Arbeit‘ und
Geld
(102) auf der einen
und ein Denken, für das der Fortschritt wegen der
angeblich für immer abgeschlossenen Form der Gesellschaft
nicht mehr weitergehen durfte
, auf der anderen Seite
machen den Kapitalismus perfekt zu dem hermetisch
abgeriegelten Irrenhaus
, das er in der Anschauung
unseres Kritikers ist. Was soll sich da noch entwickeln,
geschichtlich? Und in der Tat – genau das Problem, einen
Kapitalismus als irren Selbstzweck und Maschine durch die
Geschichte zu schleppen, hatten vor R. Kurz auch die
Ideologen der bürgerlichen Welt: Deshalb
–
wirklich: deshalb! – verlegte das bürgerliche Denken
seinen Schwerpunkt zunehmend auf die Organisations- und
Naturwissenschaft. (…) Nachdem Newton das Universum zur
physikalischen, Smith die Gesellschaft zur ‚schönen‘
ökonomischen Weltmaschine erklärt, de Sade die anonyme
Sexmaschine erfunden und La Mettrie sogar den Menschen
selbst als Maschinenwesen definiert hatte, war es nur
folgerichtig, dass sich der ‚Weltgeist‘ des Kapitalismus
auf die technologische Entwicklung nach seinem Bilde
verlegte. Gleichzeitig objektivierte sich auch dieses
Moment des kapitalistischen Denkens, und zwar getrieben
durch die Dynamik der Konkurrenz. (…) Die Marktteilnehmer
wurden zu einer permanenten ‚Produktivkraftentwicklung‘
genötigt, um das eigene Angebot marktfähig zu halten.
(102 f.) Ein kleines Kind,
brächte es denn so etwas zustande, müsste man da geistig
behutsam an die Hand nehmen und ihm Schritt für Schritt
erläutern, dass Naturwissenschaft anders geht als die
Schwerpunktverlagerung eines Denkens zu ihr hin. Dass man
zum Ausdruck seiner Gedanken zuweilen auch gut zu
bildlichen Vorstellungen greifen kann, deswegen aber
nicht gleich das Bild mit der Sache gleichsetzen darf,
die da gedacht wird. Dass es deshalb sehr darauf ankommt,
ob die Gedanken stimmen, die sich in Bildern
zusammenfassen, man also gut beraten ist, erst die
geistigen Konstruktionen zu überprüfen, mit denen da so
manches zur Maschine erklärt, definiert oder als solche
erfunden wird, bevor man sich der Auffassung anschließt,
Natur, Mensch und Ökonomie wären wirklich Maschinen. Aber
was soll man einem erwachsenen Intellektuellen sagen, der
den Bildern falscher Gedanken die Existenz eines
maschinenmäßig verfassten Geistes entnimmt und den dann
solange vor sich hindenken lässt, bis er sich in Gestalt
der Dampfmaschine endlich wieder erkennen kann? So
konstruiert sich eben eine fixe Idee die Welt nach ihrem
Geschmack zurecht, zaubert ein abstraktes Subjekt nach
dem anderen in sie hinein, nach dem Weltgeist eben die
Dynamik
einer Konkurrenz, fingiert sich so die
Einsicht in eine tiefere Notwendigkeit, die einem den
Gang der Dinge jedenfalls plausibel macht, und kann dann
mit diesem abstrakten Muss im Kopf triumphierend darauf
deuten, dass es ja genau so kam, wie es kommen musste:
In demselben Maße, wie der Motor der Konkurrenz
ansprang, wurde der Durchbruch der ersten industriellen
Revolution unvermeidlich.
(103) So wissen wir also, dass im selben
Maß, indem er vollzogen wurde, der Durchbruch der
Industrie unvermeidlich war, und mit ihm auch noch
anderes mehr: Die Entwicklung der Maschinenkräfte
führte (..) nicht, wie es notwendig und sinnvoll gewesen
wäre, zu einer vorgeordneten Kommunikation der alten
handwerklichen Produzenten über die gemeinschaftliche
Kontrolle der vernetzten Produktion
. (111) Und warum nicht, wo doch schon im
so genannten Mittelalter durchaus eine technische
Entwicklung festzustellen (ist), die durch eine autonome
emanzipatorische Bewegung der Produzenten hätte forciert
werden können
(108)? Der
Kritiker kann über den Gang der Dinge nur schon wieder
seine tiefe Frustration zu Protokoll geben. ‚Technik‘
Hand in Hand mit ‚Emanzipation‘ – für ihn wäre das schon
im Mittelalter gut möglich gewesen. Schon gleich im
Zeitalter der Maschine. Zwar stellt da der Kapitalismus
ganz real und praktisch vor Augen, dass in ihm und für
ihn die Vorstellung des Kritikers weder notwendig
noch sinnvoll
ist. Aber einer, der als
Anwalt einer höheren
Weltvernunft unterwegs ist, entnimmt dem
nur den Beweis, wie richtig er mit allem liegt, was er
sich im Irrealis als Bewegungsgesetz der Geschichte
ausgedacht hat, und schafft von der kapitalistischen
Entwicklung der Produktivkräfte sogleich wieder den
Absprung zum Selbstlauf, dem der Gang der Dinge
unterliegt: Aber bevor diese Möglichkeit in Erwägung
gezogen und ausprobiert werden konnte, drängte sich die
vom Absolutismus entfesselte Konkurrenz der
betriebswirtschaftlichen Einheiten (…) gewaltsam auf.
(109) Die also war’s, eben
nicht seine, sondern eine Vernunft der
Betriebswirtschaft
hat die feine Ware, die man doch
anders ganz vernünftig nützen könnte, für sich in
Beschlag genommen. Und warum tat sie dies? Tja, sie ist
halt so, einfach irrational
, irr
und
gesellschaftlicher Irrsinn
.
So einfach geht das moderne Kritisieren: Man stellt sich
dem gegenüber, wie und warum die Welt so und nicht anders
eingerichtet ist, stur ignorant und stattdessen vor, wie
sie ganz anders eingerichtet sein könnte,
irgendwie ‚vernünftig‘ zum Beispiel und obendrein
gemütlich, mit viel ‚Gemeinschaftlichkeit‘,
‚Emanzipation‘ und so feinen Sachen. Und weil die Welt
hinten wie vorne nichts von dem verrät, was der Idealist
in ihr gerne vorgefunden hätte, ist es für ihn eben das
Fehlen seiner vorgestellten Ideale, was den
Grund aller Übel ausmacht: Zum Irrsinn wird das
kapitalistische System für ihn, indem er es als
Abweichung von der Vernunft demaskiert, die
er gerne in der Welt gesehen hätte, und
diesen Irrsinn belegt er dann. Zuerst mit dem,
als was er in seiner Eigenschaft als
Marx-Ausleger sich die Kapitel
10 ff. im dritten Band des Kapital hat einleuchten
lassen: Die kapitalistische Produktionsweise gerät
dadurch in einen unlösbaren logischen Selbstwiderspruch.
Denn auf der einen Seite ist es ihr absurder Selbstzweck,
die Akkumulation ‚abstrakter Arbeit‘ in eine Akkumulation
von ökonomischem ‚Wert‘ zu verwandeln, dargestellt als
pulsierendes Wachstum des Geldkapitals um seiner selbst
willen. Auf der anderen Seite aber ersetzt dieselbe irre
Vernunft mit zunehmender Produktivkraftentwicklung
menschliche Arbeit und höhlt so die Substanz der
‚Wertschöpfung‘ selber aus. (…) Auf den Märkten muss
dieser Widersinn schließlich als krasses Missverhältnis
von wachsenden Produktmassen und schrumpfender Kaufkraft
in Erscheinung treten.
(110) Was diese irre Vernunft
und
das Absurde des Kapitalismus betrifft, so bestehen wir
hier wieder mal auf Richtigstellung in sachlicher
Hinsicht. Der Selbstzweck dieses Systems akkumuliert
keineswegs erst abstrakte Arbeit, um sie anschließend in
Wert verwandeln
und den dann als um seiner selbst
willen gewachsenes Geldkapital dargestellt
anglotzen zu können. Der Produktionszweck ‚abstrakter
Reichtum‘ subsumiert vielmehr die Arbeitskraft unter den
Zweck, Mehrwert zu liefern, den sich ihre
Anwender aneignen: Das macht das Arbeiten
kapitalistisch rentabel. Nur unter dieser
Bedingung findet Arbeit im Kapitalismus überhaupt statt,
und nur um die Arbeit rentabler auszubeuten,
entfesselt das Kapital die Produktivkräfte, senkt die
notwendige Arbeitszeit, die die Lieferanten der
Mehrarbeit für die Reproduktion ihrer Arbeitskraft
brauchen, um im selben Zug die unentgeltliche Mehrarbeit
zu steigern. Die Anwendung des Hebels des
Kapitals, Arbeit rentabel zu machen, also bezahlte Arbeit
einzusparen, führt dazu, dass immer weniger von der
Arbeit notwendig ist und stattfindet, von der ihre
kapitalistischen Anwender nicht genug kriegen können: Das
Kapital steigert die Produktivität der Arbeit so, dass
weniger Arbeitskräfte immer gewinnbringender arbeiten,
während sich andere dadurch nicht mehr rentabel ausbeuten
lassen. Die Unbrauchbarkeit der für den Profit
Überflüssigen beweist dann schlüssig, dass ihre Arbeit zu
teuer angeboten wird. Wäre es also nur so, wie Kurz
meint, und dies alles ein unlösbarer logischer
Selbstwiderspruch
: gut könnte man diesen Irrsinn sich
selbst und den Kapitalisten überlassen, die ihn
betreiben. Aber dieses System ist eben nicht nur absurd.
Es ist auch noch perfide genug, seinen
Widerspruch von anderen ausbaden zu lassen – und
betreibt ihn über die Verelendung derer
weiter, die von Lohn zwar leben müssen, dies
aber immer weniger gut oder gar nicht mehr können.
Soweit von unserer Seite ein kleiner Einschub zur
Differenz zwischen einer Kritik der kapitalistischen
Ratio, den Einsatz von Arbeit nach dem Gesichtspunkt
ihrer Rentabilität zu kalkulieren, und dem Bedürfnis,
dieser praktisch geltenden Rationalität ein Ir-
voranzustellen und damit mit ihr fertig zu sein. In
letzterem Fall schrumpft eben die große kritische Pose,
das System bei seinem letalen Widerspruch erwischt zu
haben, auf das lausige Ätschi-Bätsch! zusammen, mit dem
ein soziologisch verbildeter
Intellektueller einem grund- und zwecklos
vor sich hin machenden System ein weiteres negatives
Etikett verpasst und ihm bescheinigt, dass es sich
selbst untergräbt. Nicht einmal sich selbst am
Laufen halten zu können: Das haben ja schon die großen
Systemdenker T. Parsons und N. Luhmann gewusst, dass das
ja wohl das Allerschlimmste ist, was man zu einem System
noch sagen kann, und so kommt marxistische Aufklärung
unter die Massen, indem der moderne Kritiker aus dem
„Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate“ das
soziologische Wischiwaschi vom unvermeidlichen Kollaps
des Systems drechselt, dessen Heraufziehen dann jeder
Agent des Systems auch noch tagtäglich praktisch erfährt:
Weil der Kapitalismus partout nicht dieses
emanzipatorisch-gemeinschaftliche Netzwerk von Produktion
sein will, das ein Kurz vernünftig fände, braucht er sich
nicht zu wundern, wenn seine Produktmassen
mal
keine Käufer finden! Denn wer nicht hören will, muss
fühlen, und wer selbstzweckmäßig-unvernünftig vor sich
hin akkumuliert und die Produktivkräfte entwickelt, dass
es kracht, dies aber völlig kommunikationslos
tut
und daher mit paradoxen Wirkungen
, hat sich die
Verachtung seines Kritikers gründlich verdient.[4]
Steht für Kurz so fest, dass es wegen der Abwesenheit
seines Ideals einer ordentlichen Verständigung zwischen
allen Beteiligten im Kapitalismus auch Arbeitslose und
Krisen geben muss, darf auch Engels als Berichterstatter
zur Lage der arbeitenden Klasse die Weltsicht von Kurz
bestätigen. Kinderarbeit und andere Errungenschaften des
kapitalistischen Systems belegen dann zur Überraschung
Aller, dass in den ‚Mühlen des Teufels‘ der Traum
eines gemeingefährlichen Irren wie Bentham endlich
gesellschaftlich verallgemeinert wurde
(121). Das tun dann auch die
Maschinenstürmer und Ludditen, weil ein guter Interpret
wie Kurz den Griff zum Vorschlaghammer eindeutig als
Versuch identifiziert, eine selbstbestimmte
Vergesellschaftung jenseits blinder Preismechanismen
durch direkte menschliche Verständigung zu finden
(138). Womit wir explizit bei
Marx wären: Obwohl er gelegentlich andeutet, dass sich
die soziale Repression und irrationale Organisationsform
des Kapitals durchaus auch in seiner technologischen
Gestalt niedergeschlagen hat, blieb dieser Aspekt, der in
den Augen der Sozialrebellen der hervorstechende war, in
seiner Theorie unterbelichtet. Ja sogar ein
klammheimliches Liebäugeln mit der industriellen
Disziplinierung wird sichtbar, wenn er von der ‚durch den
Mechanismus des kapitalistischen Produktionsprozesses
selbst geschulten Arbeiterklasse‘ spricht. (…) Marx
meinte den Begriff der ‚abstrakten Arbeit‘ zwar
eigentlich kritisch, grenzte ihn jedoch keineswegs
eindeutig gegen ein affirmatives Verständnis ab; bei ihm
verschwimmen ein kritischer und ein positiver
Arbeitsbegriff ständig ineinander.
(171) Endlich mal ein kritisches Wort zu
einem Ideologen! Just den Gesichtspunkt, unter dem unser
kritischer theoretisierender Sozialrebell den
Kapitalismus belichtet und für schlecht befunden haben
möchte, hat Marx nicht in Anschlag gebracht!
Eine Theorie, die seine Kritik des Kapitalismus
begründet, hat er zwar gehabt. Aber die taugt für unseren
Marx-Widerleger nicht viel,
weil Marx so Begriffe wie ‚Arbeiterklasse‘ und ‚abstrakte
Arbeit‘ einfach nicht ordentlich definiert, nie
dazugesagt hat, welche Absicht er mit ihnen verfolgt und
für welche sie eigentlich gut sein sollen, fürs
Kritisieren oder fürs Affirmieren. Genau genommen kann
nur Letzteres der Fall sein. Denn eine Theorie wie die
von Marx, die einfach nur erklärt, welche Interessen im
Kapitalismus wie und warum unter die Räder geraten; der
aus ihr resultierende praktische Schluss, die
Geschädigten sollten in ihrem eigenem Interesse eine
Produktionsweise zum Teufel hauen, bei der die Schaffung
des Reichtums auf ihrem bleibenden Elend beruht: Das ist
für den Radikalkritiker Kurz keine Kritik.
Als hätte Marx nicht mit der Parole: Nieder mit dem
Lohnsystem!
alle Flausen in Sachen ‚gerechter Lohn
fürs gerechte Tagwerk‘ gründlich erledigen wollen,
bezichtigt ihn der moderne Kritiker, mit seiner Ansprache
an die Arbeiter nur für die irrationale
Selbstzweckmaschine
und ihr fröhliches Weiterwirken
Partei genommen zu haben: Für diesen
Marx-Entlarver ist es genau
besehen dem Kritiker der politischen Ökonomie des
Kapitalismus zu verdanken, dass der Begriff der
sozialen Emanzipation von nun an in das kapitalistische
Tätigkeits-Prinzip (eingekerkert) wurde
und Marx mit
seiner bloßen Rede von einer ‚Arbeiterklasse‘ den Willen
ihrer Mitglieder auf ewig an die marktwirtschaftliche
Tretmühle
(173) gefesselt
hat. Die klappert also weiter vor sich hin, und zwar
nicht nur dank der Mithilfe von Marx und des späteren
Arbeiterbewegungsmarxismus
, sondern auch noch mit
einem weiteren perfiden Trick. Denn anstatt in seiner
eigenen Paradoxie zusammenzusinken, entschließt sich der
kapitalistische Weltgeist zum Weitermachen. Angesichts
des Massenelends und der Arbeitslosen, die er mit seinen
Maschinen produziert und mit denen er seine eigene
selbstzweckhafte Geldmaschine
bekanntlich
unterhöhlt, verwandelt er sich in noch einen
ökonomischen Mechanismus
. Der ist heute als
struktureller Wachstumszwang (…) bekannt
(189), ein Wesen, das man sich so
vorstellen muss, dass sich der Selbstzweck zu seiner
eigenen Expansion entschließt und sich der dann als Zwang
gegenübergestellt sieht, dem er unterliegt. So wissen
wir, wie kapitalistisches Wachstum geht: Das Akkumulieren
bricht deswegen nicht zusammen, weil immer
mehr Akkumulierer immer mehr akkumulieren
müssen und das dann genau deswegen auch
prompt tun: „Mit einem Wort: Der Kapitalismus hatte
sich in ein industrielles Schneeballsystem
verwandelt; er konnte überhaupt nur noch in dieser
Form weiterexistieren, während gewissermaßen auf seinem
logischen Grund weiterhin und unaufhebbar die Drohung des
Zusammenbruchs lauerte. Letztendlich muss jedes
Schneeballsystem einmal zusammenbrechen.“
(198)
Letzteres stimmt sicher. Die Frage ist nur, ob man deswegen auch den Kapitalismus als eine Selbstinszenierung zur Verhinderung seines eigenen Zusammenbruchs betrachten soll. Aber für alle Intellektuellen, die schon immer wussten, dass „es“ so nicht weitergehen kann, zumindest nicht gut, hat diese Denkfigur schon ihren Reiz.
Das System der nationalen Imperien
: Wie eine irre
Kostenrechnung zum Imperialismus führt
Wir streifen nur einige Bausteine, mit denen Kurz sein
Bild vom Kapitalismus, der es nie hinkriegt, für ein
gutes Leben zu sorgen, im Gleichschritt mit den
Zeitereignissen hält. Auch Bismarck und die
Sozialistengesetze nebst Sozialstaat laufen für unseren
Chronisten auf die schon bekannte Peinlichkeit hinaus,
dass der Kapitalismus zur Ernährung seiner Massen einfach
nicht imstande
ist – so peinlich es ist, auch
an der Schwelle des 20. Jahrhunderts und mitten in der
Expansion des industriellen Schneeballsystems war der
Ernährungsstand immer noch nicht merklich gestiegen
(216). Der Germanist in Kurz
belehrt uns darüber, dass man die Ahnung vom wahren
Wesen des Selbstzweck-Monstrums
(221), das sich in Gründerschwindel, der
Großen Depression, Börsen- und anderen Krisen – immer
kündigt der Kapitalismus an, wie reif er für seinen
Zusammenbruch ist, um den dann doch noch zu vertagen –
manifestieren sollte, bei Th. Mann herausspüren kann. Der
Sozialwissenschaftler hat herausgefunden, dass, damit
der kapitalistische Betrieb überhaupt noch laufen
kann
(230), ein gewisser
Staat immer mehr Krücken
zur Verfügung stellen
muss, usw. All das überrascht beim bisher erreichten
Stand des Wissens nicht mehr übermäßig. Spannender wird
es wieder beim Auftreten eines neuen Subjekts, des
Staates in seiner Eigenschaft des ideellen
Gesamtkapitalisten, der mit seinesgleichen in Verkehr
tritt. Und kaum nimmt der Autor dieses Subjekt in sein
kritisches Visier, ist auch dieses so recht keines mehr,
verfolgt nicht Zwecke, die es hat, sondern exekutiert
Notwendigkeiten, die ihm von einer inzwischen schon recht
gut bekannten Maschine diktiert werden: Der abstrakt
gewordene, nicht mehr an Personen gebundene
Funktionszusammenhang von Staat und Nation (…), der als
leviathanische ‚Überperson‘ auftrat, hatte nicht nur die
Rechts- und Infrastruktur-Verhältnisse etc. der
Konkurrenzsubjekte im Inneren der Nationen zu regulieren,
(…) da es auf der Weltebene keine dem Nationalstaat
entsprechende ‚weltstaatliche‘ regulierende Meta-Instanz
geben konnte, musste der nationale Staatsapparat als
Hilfs-, Garantie- und Durchsetzungsmacht hinter den
Außenbeziehungen ‚seiner‘ Unternehmen stehen
(251). Interessant, was aus
einem Staat so alles wird, betrachtet man ihn als
guter Politologe einmal als
abstrakten Funktionszusammenhang. Da steht über ihn
unverrückbar fest, dass er nichts anderes tut, als
Funktionen zu verrichten, also in jedem Fall für etwas
gut und nützlich ist. Hier zum Beispiel springt der
imperialistische Nationalstaat als Lückenbüßer für einen
nicht vorhandenen Weltstaat ein. Danken wir ihm also
einmal dafür.[5] Aber manchmal, das hat die
Logik dieses Gedankens eben in sich, funktioniert ein
Funktionszusammenhang eben auch nicht. Dann bleiben die
guten Werke aus, und wir haben wieder einen Grund für
kritische Bedenken, denn augenblicklich kündigt sich das
nächste Verhängnis an: Dass die internationale
Konkurrenz der nationalen Großsubjekte auf dem Weltmarkt
im Unterschied zur binnenökonomischen Konkurrenz keinen
juristischen und administrativen Rahmen entwickeln
konnte, machte sie zu einer zunehmend gefährlichen
Angelegenheit.
(251 f.)
Für unseren modernen
Staatsapologeten geht die Kriegsgefahr also
nicht von Staaten aus, die die Konkurrenz in ihrem
Inneren organisieren, um sie nach außen gegen
Ihresgleichen aufmachen und gewinnen zu können. Nein,
die Konkurrenz
ist das Subjekt, das nach außen
nicht schafft, was sie im Inneren
hinkriegt. So lernen wir nicht nur, dass die
Weltgeschichte von abstrakten Wesenheiten und
Großsubjekten
gemacht wird, die ein großer Dichter
mit links verfertigt. Wir lernen vor allem auch, wie
bitter nötig in Anbetracht von deren ungezügeltem Wirken
da eine Macht ist, die den Gang der politischen Dinge im
Inneren wie nach außen unter Kontrolle hält, und wenn man
mit diesem I. Hauptsatz aus dem Grundkurs für
politologische Apologie des Staates im Kopf in die Welt
hineinsieht, entdeckt man in der immer wieder, was ihr
fehlt. So jedenfalls, wie der Staat als Souverän,
Monopolist aller Gewalt, in seinem Hoheitsbereich für
Kurz nicht Schöpfer und Garant des Rechtszustands ist,
sondern den, der offenbar vom Himmel gefallen ist,
lediglich reguliert
, so ist er auch nach Außen hin
das entsprechend armselige Würstchen, stipuliert nicht
sein eigenes Recht gegen andere Souveräne, treibt nicht
aus eigenem Interesse heraus Politik, sondern stellt sich
hinter
die Interessen, die er vorfindet. In etwa
so haben sich vor Kurz auch schon Andere den
Imperialismus verkehrt erklärt, und genau die sind es,
gegen die unser Kapitalismuskritiker vorgeht. Was immer
sich da die Marxisten
zum Zusammenhang von
kapitalistischer Ratio, Kolonialismus und Krieg gedacht
haben mögen: Ihr unglaublicher Fehler war, überhaupt noch
so etwas anzunehmen wie ein irgendwie nachvollziehbares
rationales Interessenkalkül
staatlichen Handelns
und überhaupt noch – wie gut oder wie schlecht begründet,
ist Kurz ohnehin egal – zu vermuten, dass alles, was
die Kapitalisten und der kapitalistische Staat tun, auch
gut für den Kapitalismus sein müsse.
(256) Da kann er doch nur laut lachen.
Gigantische Rüstungsprojekte mit riesigen
Militärhaushalten finanziert – ist doch typisch Irrsinn.
Denn hat sich das etwa gelohnt? Unter dem Strich und
gesamtwirtschaftlich betrachtet, muss diese Frage mit
einem klaren Nein beantwortet werden. Von Anfang bis Ende
haben der unselige Kolonialismus und die
Weltmacht-Ambitionen alle beteiligten ‚Mächte‘ insgesamt
viel mehr gekostet als sie letzten Endes einbringen
konnten.
(256) Da stellen
Staaten einmal so richtig schön ihre eigene gewaltsame
Natur und die des kapitalistischen Geschäfts vor Augen,
dem sie dienen; da beweisen sie praktisch, dass ihnen ihr
Recht über alles geht, ihnen der Erfolg, den sie für sich
und gegen andere wollen, so wichtig ist, dass sie
haufenweise den Reichtum vernichten, um den es ihnen
ausschließlich geht – und ihr Kritiker entnimmt ihrem
Wirken das Zeugnis, dass diese Produktionsweise
deswegen ein Irrsinn ist, weil sie sich per
Saldo nicht lohnt! Nichts als die Mehrung von
Reichtum im Sinn, und dann nicht einmal gescheit rechnen
können – das ist mal ein kritischer Einwand! Ein viel
besserer ideeller
Gesamtkapitalist, als es die
imperialistischen Staaten sind, teilt uns also mit, dass
die mit ihren Kriegen ein einziges Verlustgeschäft
betreiben, und damit wissen wir natürlich auch und sofort
wieder, was von denen zu halten ist, die Kriege dennoch
erst planen und dann führen: Tatsächlich ist die
koloniale Expansion ebenso wie die maritime
Rüstungspolitik nur als Ausdruck, Fortsetzung und
Verlängerung derselben verselbständigten und wahnhaften
Struktur zu begreifen, die schon die ‚abstrakte Arbeit‘
als solche und ihre Zuchtanstalten im Sinne eines Bentham
hervorgebracht hatte.
(256) Tatsächlich geht die Reihenfolge,
in der hier zum wiederholten Mal nichts begriffen wird,
genau andersherum. Erst hat sich unser Kritiker
dazu entschlossen, über die beständige Abstraktion von
allen realen Zwecken in die Welt das bestimmende Prinzip
hineinzusehen, dass sie eine einzige Zwecklosigkeit,
daher ohne Sinn und deswegen Wahnsinn
ist; und
dann begegnet ihm der auf Schritt und Tritt: Kaum
sieht man ihn wo hinein, hat man dort auch schon wieder
seinen nächsten Ausdruck
, und so geht’s dann
dahin. Nicht immer ganz bruch- und reibungslos
allerdings. Von einigen nachvollziehbaren Gründen für
Staaten, Krieg zu führen oder Länder zu erobern, hat auch
Kurz läuten hören, und dass es beim Ausbuddeln von
Bodenschätzen in Afrika und anderswo überhaupt nicht um
die gegangen wäre, will auch er nicht behaupten, wo das
sogar in allen ganz und gar unkritischen
Geschichtsbüchern steht. Also führt er teilrationale
Aspekte im Sinne der vorausgesetzten irrationalen
Produktionsweise
ein und konzediert auch für ihn
durchaus nachvollziehbare Motive, sich trotz des
allgemeinen Missverhältnisses von Kosten und Nutzen
imperialistisch zu verhalten
, etwa
„Zugriffsmöglichkeiten auf strategische
Rohstoffreserven“ (261). Doch
kaum hat er mit der Gelegenheit Bekanntschaft
geschlossen, dank seines kleinen Zugeständnisses an die
Existenz eines wirklichen politischen Zwecks endlich ein
Bisschen der kapitalistischen Wirklichkeit kritisieren zu
können, entschließt er sich, das doch besser sein zu
lassen und lieber bei der Kapitalismuskritik zu bleiben,
auf die er sich versteht. Die ist ja auch viel
gründlicher: Die Fortsetzung der Konkurrenz in den
politisch-militärischen Formen (…) musste ganz unabhängig
von irgendeinem positiven Nutzen als quasi zweckloser
(oder eben auch auf dieser Ebene selbstzweckhafter) Kampf
um ‚Interessensphären‘ ausgetragen werden.
(265)
So wissen alle guten Menschen der kapitalistischen Welt, dass sie nicht nur moralisch richtig liegen, wenn sie zum Krieg „Wahnsinn!“ sagen. Mit ihrer Weigerung, sich einen Begriff der Sache zu machen, haben sie selbige schon haargenau erfasst.
Die Biologisierung der Weltgesellschaft
fassen wir kürzer als Kurz. Dass von Darwin die rassistische Blutspur losgeht und beim Antisemiten Marx noch längst nicht aufhört, war uns auch schon bekannt. Die Widerlegung seines Theorems, dass das kapitalistische Schwein das Bewusstsein bestimmt und das Böse der Wertform ins Xenophobische entarten muss, liefert der bekennende Anti-Rassist höchstpersönlich, indem er es aufstellt. Außerdem kommt das Kapitel Auschwitz ja gleich.
Die Geschichte der Zweiten industriellen
Revolution
: Wie man geistig von Verdun mit dem Auto
direkt ins KZ kommt
Man hat bei diesem Kritiker äußerst wenig Chancen, seine
Auslassungen unter dem Gesichtspunkt zu betrachten, ob
denn überhaupt stimmt, was er sagt. Das liegt daran, dass
Kurz beim Reden über die diversen Gegenstände gar nicht
über sie urteilt, sondern an ihnen sein gegenstandsloses
Prinzip, den Kapitalismus als diese von ihm
gedachte subjektlos-irre Selbstzweckhaftigkeit, zur
Sprache bringt, die den Gang der Geschichte determiniert
und die Menschheit in den Abgrund reißt. Die Technik, aus
ein und demselben abstrakten und moralischen Sinnprinzip
eine Weltgeschichte zu drechseln, ist die der
Assoziation. Die unterscheidet sich bei unserem
Autor allerdings beträchtlich von der bekannten Übung,
einen Gedanken mit einem Apropos, mit einer Anknüpfung an
eine zufällig gleichartige Äußerlichkeit fortzuführen.
Unser Theoretiker nämlich vergleicht an den
verschiedensten Sachen, die er anspricht, immer wieder
das Gleiche. Er versinnbildlicht am Material der
Weltgeschichte seinen Sinn, indem er ihre markanten
Stationen erst gedanklich unter ihn subsumiert und sie
dann so präsentiert, dass sie ein einziges Bild des
immergleichen Prinzips sind, das den herrschenden
moralischen Verfall namens Kapitalismus regiert. Diese
Gedankenketten wollen nichts erklären und tun das auch
nicht, nicht einmal verkehrt. Sie sind die Manier, in der
ein weltanschaulicher Spinner
auf ein sich beim Leser einfindendes Kopfnicken beim
Wiedererkennen ein und desselben Abstraktums an den
disparatesten Phänomenen spekuliert, die der Stoff der
Historie bereitstellt. Das Prinzip dieses Denkens findet
man zum Beispiel auch in den Deutungen des Weltgeschehens
als Kette von Interventionen Außerirdischer vor, die Gott
heißen können, aber nicht müssen. Oder in der Idee einer
jüdisch-marxistischen Weltverschwörung. Oder in der
Entdeckung der Welt als Ausbund zum Himmel schreiender
Ungerechtigkeit, usw. Und unser Autor vollstreckt dieses
Prinzip eben nur auf seine Weise: Immer und überall und
an allem und jedem das Urteil verrückt
loszuwerden
– mehr hat er nicht zu sagen und mehr will er auch gar
nicht mitteilen. Denn mit dem geistigen Abnicken des ewig
sich wiederholenden Zusammenfallens von abstraktem
Prinzip und seiner historisch-empirischen Erscheinung
kann und soll der Leser sich ein ums andere Mal
verplausibilisieren, dass des Autors Assoziation
vom Prinzip zum selben Prinzip exakt die Notwendigkeit
trifft und nachzeichnet, der die Geschichte
unterliegt: Die Emanationen des Ewiggleichen, die da
aufeinander folgen, zeigen ja, dass die Historie anders
gar nicht verlaufen konnte
und genau so
musste
, wie des Dichters Feder es arrangiert hat.
Der Erste Weltkrieg: Die negative Gleichheit vor dem
Geld, die bis dahin nur unzureichend durchgesetzt war,
konnte nicht anders als in Form einer negativen
Gleichheit des Todes und der Verstümmelung in den
‚Blutmühlen‘ vorbereitet werden. Diese Urform der
aufsteigenden Benthamschen Demokratie des 20.
Jahrhunderts (…)
(350).
Henry Ford, sein Auto und das Fließband: Aber der in
Blutmühlen eingeschmolzene massendemokratische Typus
musste auch ökonomisch in eine neue Stufe der
kapitalistischen Systementwicklung hereingeholt werden.
Dafür bedurfte es des Übergangs zu bisher nicht
dagewesenen Formen der Massenproduktion und des
Massenkonsums.
(365) Und
als Summe von beidem das ‚Manifest des Futurismus‘:
Die ungeheure Aggressivität, die aus diesem Stakkato
wirrer Ideenbrocken und cholerischer Aufwallung
entgegenschlägt, zeigt den Geisteszustand des
aufkommenden Vollkapitalismus an, in dem sich die schon
auf den Schlachtfeldern eingeübte masochistische Hingabe
des ‚männlichen‘ Ernst-Jünger-Subjekts an die Maschine
mit einem sadistischen Rausch der Geschwindigkeit
verbindet, der auch auf den zivilen Straßen buchstäblich
über Leichen rollt.
(412)
Und so zu. Selbstverständlich weiß unser Autor auch zum
Thema Auschwitz ganz genau, wie es dazu kommen konnte.
Wie üblich ist auch ein Konzentrationslager bei ihm ein
Prinzip, das – letztlich
, versteht sich – auf sich
selbst in seiner nur unterschiedlichen Erscheinungsweise
verweist
, wie das in der modernen Kritik so heißt,
wenn ein Schluss prätendiert sein will: Letztlich
verweist das KZ im Mikro- wie im Makro-Maßstab auf die
zwanghafte Natur des Kapitalismus überhaupt, dessen
ganzes Fabrik- und Arbeitssystem nie etwas anderes war
als die ins Alltagsleben übersetzte Militärdespotie.
(487) Also lassen wir uns von
den faschistischen Völkermördern wieder zurück zum
Autobauer verweisen – eine fordistische
Massendisziplinierung
, die in der deutschen
völkischen Erscheinungsform
erstens
zwangsläufig
zum Programm des Massenmordes
werden
und das dann zweitens auch noch musste.
Und von dem dann noch weiter und wieder dorthin zurück,
wo wir schon öfter waren und wo sich inzwischen auch
Stalin mit seinen sowjetischen Staatsverbrechen
(460) eingefunden hat:
Durch die Projektion auf die Juden sollte die negative
Seite der ‚abstrakten Arbeit‘ aus dem fordistischen
Arbeitsparadies verschwinden, ohne den Kapitalismus als
solchen überwinden zu müssen. Blieb es bei Ford und
Stalin eine bloße Projektion im Interesse
system-funktionaler Ziele, so wurde diese Projektion bei
Hitler zu einem Selbstzweck sui generis.
(491)
Es macht den Reiz dieses Denkens aus, von seiner eigenen Projektion nie mehr loskommen zu müssen. In den diversen Projekten der Weltgeschichte findet man sie wieder, aber genau so gut auch in den Projizierungen der Akteure derselben, auf die man von deren Machenschaften einfach zurückschließt, so dass sie sich mit allem, was sie je gedacht, gewollt und getan haben, einfach herauskürzen und man wieder bei sich und seinem Einfall angelangt ist. En passant glückt es einem dann sogar noch, eine Steigerungsform für das Selbst vom Selbstzweck zu erfinden, und schon wieder hat ein ganz Anderer einmal mehr das Rad der Geschichte genau so um sich selbst herum weitergedreht, wie alle anderen zuvor. Ein abstrakter Gedanke, unter den Alles passt und den man überall sieht – wunderbar. Weltanschauung sui generis und at its best, zwar nicht modern, aber eben sauradikalkritisch.
Das System der totalitären Weltmarkt-Demokratien
:
Wie die Menschen im Kapitalismus immer irrer werden
Und was machen die atomisierten Subjekte
im
Kapitalismus sonst noch, außer beim Arbeiten immer nur
vor sich hin, sinnvergessen
, allein der
Selbstverwertungsmaschine
überantwortet, ohne
Geborgenheit
, innere wie äußere? Richtig, da war
noch was außerhalb der von Bentham erfundenen Blut-,
Tret- und sonstigen Mühlen, mit denen sie beschäftigt
sind. Zu tun haben sie auch noch mit einem gleichfalls
wenig Freude verheißenden Ding: Ein Staat herrscht über
sie und zwiebelt sie, panoptisch selbstregulativ
,
wie wir schon früh erfahren durften. Doch so, wie der
zeitgenössische Mutant des Monsters von Hobbes sich zwei
Kapitel zuvor bei seinem Wirken nach Außen eingeführt
hat, ahnt man schon, dass er auch beim Einsatz seiner
politischen Macht im Inneren seines Hoheitsgebiets nicht
so ganz Herr seiner selbst ist. Zwar ist es schon eine
politische Macht, die sich da auch für unseren
Kritiker flächendeckend und bis in den letzten Winkel des
Alltagslebens hinein über die Subjekte erstreckt. Aber es
ist – das wissen wir im Grunde bereits seit Hobbes –
keinesfalls die, mit der die Menschen alltäglich in Form
der Gesetze Bekanntschaft schließen, die ihnen
vorschreiben, was sie zu tun und zu lassen haben. Was bei
dieser Macht den Zweck des Einsatzes ihrer Rechtsgewalt
betrifft, verhält es sich damit auch keineswegs so, dass
sie mit ihrer Unterwerfung der Subjekte unter ihre
rechtlichen Setzungen die Interessen und Gegensätze
überhaupt erst schafft, mit und in denen die dann als
Eigentümer in die Konkurrenz um den Erwerb von Geld
einsteigen. Nein, das bürgerliche Herrschaftswesen ist
als das glatte Gegenteil von all dem zu begreifen, was
man bei einigermaßen unvoreingenommener Betrachtung von
ihm zu wissen vermeint. Die in ihm ausgeübte Herrschaft
ist erstens zweck- und grundlos, daher ihrem Begriff nach
totalitär
. Und als dieses Prinzip, Herrschaft um
ihrer selbst willen zu sein, verrät sie dann zweitens,
worin sie ihren guten Grund gleichwohl hat. Es ist der
bekannte, für alles Schlechte verantwortliche: In
diesem Sinne ist der politische Totalitarismus zu
übersetzen oder zu dechiffrieren als die spezifische
‚Verpuppungsform‘ eines viel allgemeineren, viel tiefer
greifenden sozialökonomischen Totalitarismus der
historisch ihrer Reife und Vollendung entgegengehenden
kapitalistischen Produktionsweise insgesamt. Die
eigentlichen, tiefer liegenden Elemente dieses
Totalitarismus sind (…) zum einen in den ökonomischen
Formbestimmungen von nunmehr ‚totaler
Kommerzialisierung‘, ‚totaler Arbeit‘ etc., zum andern in
den sachlichen, stofflich-materiellen, bis zur
Mikro-Ebene des Alltags reichenden Ablagerungen dieser
totalitären kapitalistischen Daseinsform (zu suchen).
(527) Also suchen wir
zusammen mit einem Psycho-Pathologen des
Alltagslebens den Totalitarismus einer
Daseinsform an den Formen eines totalitaristischen
Daseins auf und dechiffrieren die Subjekte entsprechend
als kleine zweibeinige Automaten, die nichts sind und die
nichts wollen, weil sie in allem, was sie sind und
wollen, als Exekutoren eines totalen Sachzwangs
herumlaufen, der immer totaler wird, Irre also, die für
den Irrsinn der Welt stehen.
Daher stellt sich schnell heraus, was beim Autofahren
Sache ist. Ein Hitler erfindet den Volkswagen, und schon
ist der Kritiker im Bilde: Die Liebe der Nazis zum
Auto sagt viel über das Auto selbst.
Und was verrät
das Objekt der Begierde uns über den Charakter seines
Liebhabers im Einzelnen? Dass der faschistische Terror in
Chrom glitzert und vier Räder hat, quasi, weil nämlich
in der totalen Automobilmachung gewissermaßen das
faschistische Element in allen fordistischen
Gesellschaften, auch in den Nachkriegs-Demokratien,
seinen zentralen Ausdruck (fand)
(553). Dann die Freizeit. Die hat ihre
Ursprünge in den Irrenhäusern des 18. Jahrhunderts
(565), hieß bei den Nazis
dann Kraft durch Freude und stellt neben dem Auto die
zweite Säule der gesellschaftlichen Herrschaft dar.
Letztere hat man sich vorzustellen wie ein unsichtbarer
Virus, der sich auf der Festplatte des Unterbewusstseins
der Subjekte einfrisst und ihnen ihre Gedanken diktiert,
kaum machen sie sich irgendeinen über irgendetwas: Es
sind weniger spezifische Gegenstände des Denkens und
Empfindens, die diesen gesellschaftlich konditionierten
Charakter des Bewusstseins ausmachen, als vielmehr die
allgemeine Form aller überhaupt denkbaren
Bewusstseins-Inhalte, die das Individuum botmäßig machen.
(…) der Griff nach dem Unbewussten enthüllt am
deutlichsten den totalitären Charakter des Kapitalismus –
und macht diesen Totalitarismus gleichzeitig unsichtbar,
soweit der Zugriff gelingt.
(571) Gut, dass wenigstens einer dem
ausgekommen ist und den Pawlowschen Hund, der in uns sein
Unwesen treibt und jedem Gedanken, bevor er gedacht wird,
sein pro-kapitalistisches Universalpräservativ überzieht,
auf die Couch gelegt hat. Wüssten wir doch sonst nicht,
wie diese Herrschaft auch noch als Demokratie vonstatten
geht. Nämlich so, dass hinter
den bekannten drei
Gewalten des Staates, über die uns der Autor eher nichts
erzählt hat, die uns dafür umso bekanntere stumme
‚vierte Gewalt‘ herrscht – die strukturelle Gewalt des
totalitären Marktsystems
(577). Die inszeniert natürlich wie
gewohnt eine ökonomische Selbstzweck-Orgie
(593), so dass man sich auch
über das Waldsterben, das Ozonloch und den Wassermangel
auf der Welt nicht mehr zu wundern braucht.
Welcher elitäre Socken sich auch immer über die Unkultur des Plebs, das Massenbewusstsein im Allgemeinen, den Massentourismus im Besonderen und die Geistlosigkeit des zeitgenössischen Subjekts überhaupt ausgelassen hat, das dem Götzen Mammon hinterherläuft – der Kritiker teilt allen zusammen mit, wie sehr sie damit Recht haben und dass man sich die Leute doch nur anzuschauen braucht, schon sieht man’s. Wer sich schon immer an seiner Einsicht gelabt hat, dass die Demokratie eher keine diskursive Ermittlung einer vernünftigen Lebensplanung ist, obwohl die von Habermas doch versprochen war – der Kritiker nickt milde und einsichtsvoll und fügt hinzu, dass es einfach eine Überallmacht ist, die das richtige Leben versaut. Wer schon immer ein ökologisches Bewusstsein hatte und den kapitalistisch betriebenen Ruin von Mensch und Natur auf die Unmoral eines verantwortungslosen Strebens nach Profit zurückführte – auch der liegt genau richtig und erfährt, dass man zu Letzterem auch einfach nur Selbstzweck sagen kann. Wer immer also und mit welcher verkehrten Begründung auch immer zu irgendetwas seine konstruktiv-kritische staatsbürgerliche Meinung hat und sich sicher ist, dass für so manchen beklagenswerten Zustand im kapitalistischen Laden eine Pflichtverletzung an höherer Stelle verantwortlich ist, wird von unserem Kritiker erst einmal bedingungslos ins Recht gesetzt. Dann wird ihm zusätzlich zu verstehen gegeben, wie man sich das Auseinanderfallen von Ideal und Realität modern-kritisch als zum Himmel schreienden Irrsinn zu erklären hat, und damit kann er sich dann den Schuldigen auch noch mit wunderschön komplizierten Wortschöpfungen aus ‚total‘ und ‚Selbstzweck‘ immer wieder von neuem aufbauen. Und wenn ihm das zu abstrakt wird, geht er einfach zum nächsten Auto und schaut sich seinen Begriff an.
Die Geschichte der dritten industriellen
Revolution
: Wie das Ende unaufhaltsam naht
Vor kurzem hat der Chronist des Kapitalismus eine
Entdeckung gemacht. Seinem geschulten Auge wird der
Horizont einer neuen Systemkrise sichtbar
, und je
länger er hinsieht, desto deutlicher wird ihm, was er da
gesehen hat: Diese besteht, wie sich mit immer
größerer Deutlichkeit zeigt, in einer gewissermaßen
finalen Mobilisierung des kapitalistischen
Selbstwiderspruchs
(641).
Die letzten Zuckungen dieses Systems also
endlich, quasi, und einigermaßen gespannt fragen wir uns,
was uns entgangen ist, der Seher aber gesehen hat. Die
Massenarbeitslosigkeit
ist ihm als Erstes
aufgefallen. Uns zwar auch schon seit längerem, ihm dafür
aber anders. Dass es sie gibt, ist für
ihn schon wieder ein Beweis, dafür nämlich, dass
das Subjekt, das dies bislang konnte, sie
nicht mehr verhindern kann. Der Staat, der mit
seinen Eingriffen immer in die Bresche gesprungen ist und
dafür gesorgt hat, dass die im und für den Kapitalismus
Unbrauchbaren kein so arges Problem sind, der ist es, der
jetzt seine Aufgaben nicht mehr wahrnimmt: Der Staat
dankt ab
(642) – und
deswegen treten die Arbeitslosen als
Gesellschaftskatastrophe der globalen ‚strukturellen
Massenarbeitslosigkeit‘ in Erscheinung.
(650) Und unser
freudianischer
Geldtrieb-Experte kennt die Schuldigen für
diese Katastrophe nur zu gut: Der Staat hat eingesehen,
dass er gegen das Grundgesetz seiner Ökonomie – das
ökonomische ‚Es‘ beharrt gegen jede rationale Einsicht
auf seinem dunklen Trieb, die Welt in eine gigantische
Ansammlung von Waren zu verwandeln und gleichzeitig die
Massen auf das Existenzminimum herunterzudrücken; ihm
diese logische Unmöglichkeit ausreden zu wollen, ist
ungefähr so Erfolg versprechend wie der Versuch, ein
fleischfressendes Raubtier auf Vegetarier umzuschulen
(656) – nichts mehr
ausrichten kann, und zieht sich daher zurück. Der
letzte Weg
(670), der ihm
noch bleibt, ist, zu deregulieren und zu privatisieren,
was und wo immer nur möglich. Er stiehlt sich also aus
seiner sozialen Verantwortung heraus, und die Folgen
eines Prozesses, in dem ein buchstäblich
irregewordener Kapitalismus seine sämtlichen Sicherungen
ausbaut und seine Rahmenbedingungen niederreißt
(663), arrangieren sich ganz
zwanglos zum Bild vom Untergang des Systems:
Billiglohnverhältnisse
, für die Kapitalisten und
Sozialpolitiker im Verein mit den Gewerkschaften sorgen;
ein von oben dekretiertes Armutsniveau
, neue
Massenarmut
, allgemeine Dehumanisierung des
kapitalistischen Medizin- und Gesundheitswesens
,
kurz: alle Phänomene, mit denen die politischen und
ökonomischen Manager des modernen Kapitalismus
eindrucksvoll ihre Absichten unter Beweis stellen, wie
sie ihren Standort herzurichten gedenken, dokumentieren
für einen Oswald Spengler der
Postmoderne das Gegenteil. Die
Ohnmacht, die da im Standort regiert. Die zum
Himmel schreiende Unvernunft. Den
Irrsinn, der da waltet – dass das alles auch
ganz anders geregelt werden könnte, kommt niemandem mehr
in den Sinn
(712) –, aber
nicht mehr lange, weil der politische Wärter des
Irrenhauses sich ja verabschiedet hat. Je mehr die Armut
vorankommt in ihrem Dienst an der Vermehrung des
Reichtums, desto klarer wird ihm, der das alles ja viel
vernünftiger regeln könnte, was er schon immer wusste –
der Verfall der kapitalistischen ‚Wertschöpfung‘
(683) ist da. Einfach so, so
einfach.
Auch an der Selbstzweckmaschine
namens Geld ist
für Kurz das Ende förmlich zu greifen.
Kasinokapitalismus
heißt sein
Stichwort für die finale Krise der kapitalistischen
Akkumulation im engeren Sinn, und auch da ruft er die
Phänomene dazu auf, das Gegenteil dessen zu bezeugen,
wovon sie zeugen. Massenarbeitslosigkeit und Massenelend
zeigen also nicht, was es heißt, wenn rentable Arbeit
verrichtet wird; sie zeigen, dass die gar nicht
mehr verrichtet werden kann. Die
Akkumulation fiktiven Kapitals an den Börsen ist nicht,
was sie ist; sie ist die Fiktion einer
Akkumulation, welche dort, wo sie stattfinden sollte,
nicht mehr stattfindet. Eine
finanzkapitalistische ‚Geisterakkumulation‘
(729) also, simulierter
monetärer Reichtum
(742),
Geld in der Geldform Blase
(738) und Kredit in der Eigenschaft
Nichts
(742). Und
schon ist das Konstrukt fertig, mit dem sich der
Kapitalismus erfolgreich als hoffnungsloser Schwindel
durchschauen lässt, seine eigene Noch-Existenz
vorzutäuschen: Die Arbeitslosen, die es gibt, beweisen,
dass es den Boom an den Börsen, den es fraglos auch gibt,
deswegen geben muss, damit keiner
merkt, dass die Arbeitslosen in Wahrheit ja den
kapitalistischen Nicht-mehr-akkumulieren-Können-Boom
beweisen – die strukturelle Massenarbeitslosigkeit und
Massenarmut ist ein Indikator dafür, in welch
phantastischem Ausmaß das ‚fiktive Kapital‘ aufgeblasen
wird, um einen ungebremst weitergehenden
Akkumulationsprozess simulieren zu können.
(731)
Schließlich und endlich bringt dann das Ende
der Nationalökonomie
(748) das Fass zum Überlaufen. Das
geschieht im Wesentlichen durch das schon eingangs
besprochene Verfahren, mit dem Kurz hier einfach alle
Ideologien, die jemals zum Stichwort ‚Gobalisierung‘
erfunden wurden,[6] für bare Münze nimmt und sie
zum Zeugen dafür verwendet, was er in der Wirklichkeit
als wirklich sieht: Das ökonomische Zentrum des
modernen Konstrukts ‚Nation‘ wird vom Krisenkapitalismus
weggespült.
(750) Zwar
will auch Kurz nicht gleich so weit gehen, die
Nationalstaaten komplett von der Bildfläche verschwinden
zu lassen. Aber ausgehöhlt
stellen sie sich ihm
eben schon ziemlich dar, und da sieht er an ihnen dann
doch so manches, was für ihn unzweideutig auf ein und
denselben Orkus hinausläuft. So haben manche Verlierer in
der weltweiten Konkurrenz ums Geld nur eine
bedeutungslose eigene Währung, manche Sieger wollen ihrer
Währung noch mehr Bedeutung verleihen und schaffen sich
dazu einen Euro – für Kurz ist das kein Problem, weil
beides dasselbe, nämlich eine Auflösungserscheinung
der Nationalökonomie
. (754) Und so zerfällt die Welt, je mehr
man hinschaut. Was macht der Standort? Weg ist er,
transnational
(755)
geworden. Der Staat, gibt’s den wenigstens nach Außen
noch? Kaum mehr zu sehen: Die Politik schlägt auch als
so genannte Außenpolitik keine hohen Wellen mehr
(755). Ja, heißt das am Ende,
dass der Kapitalismus auch noch den Imperialismus
erledigt hat? Genau, das heißt Globalisierung: „Das
bedeutet auch das Ende des alten nationalen Imperialismus
(…) In der entkoppelten Sphäre der ‚Nicht-Orte‘ wird
territoriale Herrschaft sinnlos, in welcher Form auch
immer.“ (760) Dass dann,
wenn Leviathan sich verdünnisiert, es sofort wieder
losgeht mit dem Alle gegen Alle, dass dann Autofahrer,
Nazis, Todesschwadronen, Sloterdijks und andere Unholde
privat wieder frisch und fröhlich den Faden
weiterspinnen, den die Benthams geknüpft haben, versteht
sich ja von selbst, und so ist alles prächtig arrangiert
für die endemische Zerstörung der menschlichen
Gesellschaft überhaupt
(780). Brrrrr, alles putt.
So also geht das Ende, wenn man die Zeichen richtig liest, die an der Wand stehen. Das wiederum geht so, dass man alle Formen, in denen der moderne Standort-Kapitalismus seine Fortschritte macht, stur als Beweis des Rückschritts nimmt, den der Kapitalismus machen muss, weil er nicht mehr so bleiben kann, wie er einmal war. Und schon entpuppt sich einem der Gang der Dinge als ein einziges hoffnungsloses Notprogramm zur Vermeidung des Unvermeidlichen, wobei man sich überhaupt nicht davon irritieren zu lassen braucht, dass von diesen Dingen und ihrem Gang einfach nichts zu der Deutung passt, mit der man beides begleitet. Bei allen Fortschritten, die die kapitalistische Nutzbarmachung rentabler Arbeit macht, deutet man auf die, die dabei nicht benutzt werden, und hat seinen Beweis dafür, dass das Ausbeuten einfach nicht mehr klappen kann, weil sich das Arbeiten ja offensichtlich nicht mehr rentiert. Denselben Beweis liefern einem Aktienkurse, weil die ja nicht so hoch wären, steckte das viele Geld in der Ausbeutung und nicht in Aktien. Und wenn der Staat, der mit seinen Gesetzen auch ein einziges Zeugnis von Ohnmacht ist, mitten im Prozess seiner laufenden Selbstauflösung doch noch einen Krieg führt, so macht auch das nichts. Man hat perfekt kontrafaktisch zu denken gelernt, und nennt das Ganze einfach das ‚letzte Gefecht‘.
Epilog
: Wie es trotzdem weitergehen kann
Wie andere im Fall des Kommunismus postum, so hat auch R.
Kurz dem Kapitalismus in einem „Schwarzbuch“ den
Totenschein ausgestellt, den der mit seiner Gründung vor
300 Jahren vorformuliert hat.[7] Jetzt wartet er. Er könnte
sich zwar vorstellen, dass man alle vorhandenen
Ressourcen so nutzen könnte, dass allen Menschen ein
gutes, genussvolles Leben frei von Armut und Hunger
gewährleistet wird.
(782)
Aber wer soll das in die Hand nehmen, den Kapitalismus
stillzulegen, bevor er platzt? Er könnte sich zwar
vorstellen, dass das Räte tun könnten, es vielleicht auch
eine gewisse Linke im weitesten Sinne
sein könnte,
die allein dafür in Frage
kommen könnte
(788). Aber die hat ja ganz
andere Sorgen. Die ist ja unumkehrbar zum integralen
Bestandteil der kapitalistischen Krisenverwaltung, der
sozialen Repression und Barbarisierung der Verhältnisse
geworden
(788). Und den
Bock zum Gärtner hat man ja schon einmal mit Marx
gemacht. Zwar wäre der direkteste und beste Weg schon ein
Umsturz, eine Massenbewegung
, die Staat und
kapitalistische Produzenten schlicht entmachtet
(791). Aber wer und wo soll
die sein? Da ist hinten und vorne nichts in Sicht von der
doch so bitter nötigen radikalen Gegenbewegung
. Da
darf man sich also nicht täuschen und muss der
ungeschminkten Wahrheit ins Auge sehen: Die schönste
Zukunftsmusik
mit ihren feinen
emanzipatorischen
Träumereien hat wirklich
ausgespielt
(791). Was
tun wir da? Geht denn wirklich gar nichts mehr? Doch, es
geht schon noch was. Wenn Kritiker des kapitalistischen
Ladens – derzeit – schon keine Resonanz finden: Dann
machen wir eben ein positives Programm daraus,
dass sonst nichts läuft! Wenn schon kein Subjekt da ist,
das einem die nötige Revolution macht, so ist man doch
wenigstens selbst noch eines, ein
Subjekt. Wenn man da mit der
revolutionären Kritik bei sich beginnt, ist immerhin
„eine Kultur der Verweigerung möglich“
(792), und indem wir die
pflegen, beweisen wir uns, dass das Kritisieren nach wie
vor Sinn macht. Kapitalismus? – Nein danke! sagen wir
einfach, Geldwirtschaft? – Ohne uns! Wir sind und bleiben
konsequent kritisch und links, lassen die Irren mit sich
allein – und sie auf dem Wege wissen, dass wir ihrem
Untergang wenigstens erhobenen Hauptes beiwohnen können.
Demonstrativ verweigern wir jede Mitverantwortung für
‚Marktwirtschaft und Demokratie‘
. Die gründliche
Absage, die wir dem Kapitalismus und all den Subjekten,
die sich in ihm tummeln, schon erteilt haben, machen wir
einfach immer wieder und immer wieder. Das macht zuerst
jeder für sich, und dann schauen wir, dass wir eine
kleine Gemeinde von unermüdlich rackernden Absagern
werden. Denn selbst wenn es nur wenige sind, die im
Zerfallsprozess des Kapitalismus eine neue innere Distanz
gewinnen können
(792):
So, als beleidigte Leberwurst,
die auf innere Emigration geht und sich literarisch Luft
macht, als kritische Monade in linken Kreisen und bei der
‚Süddeutschen Zeitung‘ vorbeiweht und mit der Weisheit
aufwartet, dass das abstrakte Denken der kritischen
Kritik des Herrn R. Kurz die einzige Emanzipation ist,
die noch geht: Die Gedanken sind frei, auch wenn sonst
gar nichts mehr frei ist
(792) – so lässt sich’s gerade noch
aushalten im falschen Leben.[8]
Dieser Gestus also ist es, der gut ankommt hierzulande. Die Pose der Kritik oder die Kritik als Pose; die Attitüde des radikalen ‚Anti-‘; der Kitzel des methodischen Dagegen-Seins ohne Anspruch und unter explizitem Verzicht auf theoretische Kritik wie praktische Konsequenzen, die aus der zu ziehen wären: Das ist das intellektuelle Bedürfnis, das der Schriftsteller bei nicht wenigen weckt und befriedigt. Kein eigenes Urteil über die kapitalistische Welt revidieren und auch sonst nichts in ihr ändern zu müssen, und ihr doch die denkbar gründlichste Absage machen zu können – das ist der Genuss, für den man sich durch 800 Seiten pflügen darf. Offenbar bedient der Dichter die geistige Elite perfekt mit dem, wonach sie verlangt, nämlich mit einer Gelegenheit, sich lektürehalber auch außerhalb von Studium und höherer Laufbahn geistig über den Gang der Welt in jeder Hinsicht erhaben zu wissen und sich in der vorgestellten Überlegenheit über alles und jeden zu ergehen. Mit einer einzigen Formel die Welt nicht nur komplett und im Unterschied zu allen anderen Idioten der kapitalistischen Tretmühle zu durchschauen, sondern sie auch noch als irrsinnigen Selbstlauf ein für allemal abzuhaken – das bringt’s enorm, fürs Selbstbewusstsein. Und unterhaltsam ist es obendrein, wenn an Dichtern und Denkern, Fabrikanten und Staaten, an den Hungernden wie an den Reichen der letzten 300 Jahre Zeitgeschichte immer wieder ein und dieselbe leicht fassliche Vorstellungsfigur vom kapitalistischen Sinn als einer weltgeistigen Nullstelle aufscheint. Wenn sich einem die Geschichte gleichsam als bunter Bilderbogen darbietet und man einfach nur zuzusehen braucht, wie sich die unterschiedlichsten Akteure immer wieder und immer mehr in demselben Verhängnis verrennen, von dem sie nichts wissen, man selber aber schon von Anfang an alles. Die Geschichte als Comic-Strip, der Kapitalismus als Parabel vom Lemming: So geht moderner Anti-Kapitalismus, wundert uns nicht mehr, dass er so gut ankommt.
PS.
Nun bereichert der Autor also auch noch regelmäßig das
‚SZ-Magazin‘ mit seinen Einsichten, zur Theorie vom
Meisterkoch gibt’s vom Meisterkritiker das Rezept für die
beste politische Kritik. Der Trick: Das staatsbürgerliche
Genörgel der öffentlichen Meinung mit dem Senf des noch
viel verantwortlicheren ideellen Gesamtstaatsbürgers
bestreichen und so lange mit Heißluft überziehen, bis die
Ohnmacht der Machthaber aus dem Rohr tropft! Dann nämlich
treten erst die wahren Versäumnisse ans Licht, die die
Regenten des Gemeinwesens sich zuschulden kommen lassen.
Über Reformstau
, mangelnde Gestaltungskraft
und andere untrügliche Indizien, dass da oben keiner
ordentlich hinlangt, klagen ja viele. Aber nur einer
weiß, wovon das zeugt: Von einer politischen Herrschaft,
die ihren Namen verdient, kann hierzulande einfach nicht
die Rede sein. Das sieht man allein schon an denen, die
fürs Regieren verantwortlich sind. Müntefering zum
Beispiel. Der spricht generell nur Nullsprache
,
und wenn er den Mund aufmacht, dokumentiert er den
gemeinsamen Nullinhalt aller Parteien
. So ist das
mit der Macht in Deutschland. Es gibt sie einfach nicht.
Und was es von ihr gibt, ist „nicht
nennenswert“: An die Macht, die schon keine
mehr ist, kommt man am besten mit einer Politik, die
schon keine mehr ist. Mir wird dabei ganz anders, aber
leider nicht besser. Warum überhaupt noch die
Inszenierung von politischen Wahlen, wenn die Regierung
nicht nennenswert regieren und die Opposition nicht
nennenswert opponieren kann?
. Sicher, irgendwie
Politik gemacht wird ja schon. Von Schily zum Beispiel.
Der ist sogar Hardliner einer restriktiven
deutschnationalen Asyl- und Ausländerpolitik.
Aber
kaum hat Politik mal einen Inhalt, ist der garantiert der
falsche. Muss denn Ausländerpolitik unbedingt
deutschnational sein? Kann man das überhaupt noch
deutschnationale Politik nennen, wenn uns
– ja:
uns allen! – Amnesty International schwere
Menschenrechtsverletzungen vorwirft
? Die Neger
schaffen bei sich daheim die Apartheid ab – und wir hier?
Unser Gesetzgeber ist schon wieder eine einzige Null. Der
verpasst wirklich jede Gelegenheit, das Ansehen
Deutschlands in der Welt zu mehren, renoviert pausenlos
sein Ausländerrecht, aber: Der endgültige Bruch mit
dem Blutsrecht wurde vertagt.
Das ist typisch. Tut
einfach nichts, die Politik, und schon fließt wieder Blut
auf deutschen Straßen. Dann Möllemann. Typischer
Nullinhalt wieder, aber diesmal Riesennullnummer mit dem
Inhalt Möllemann
, eindeutig null Politik, nur
wirtschaftsliberale Marktfrömmigkeit
, was zeigt,
wer im Land die Macht übernommen hat: Die
Marktmenschheit
wird direkt von der Börse
reguliert
. Über seinen Erfolg haben sich manche
gewundert. Wachtmeister Kurz hat ihn schon immer kommen
sehen. Null Politik geht umso besser, je größer die
politischen Nullen sind, die sie nicht betreiben. Die
anderen jammern alle nur immer über das Fehlen
politischer Inhalte
. Einer aber weiß, dass sie
unwiederbringlich dahin sind. Er hat sie nämlich
höchstpersönlich in Luft aufgelöst: Die Inhalte dieser
Gesellschaft sind verbraucht. Markt oder Staat, Jacke
oder Hose, Pest oder Cholera – nichts Neues unter der
Sonne. Deswegen gibt es auch keinen Unterschied zwischen
Politik und Popkultur mehr. (…) Wenn alle Inhalte sowieso
gleich und deshalb überflüssig sind, erscheint offensiv
verfochtene Inhaltslosigkeit schon wieder originell.
Es scheint auch keinen Unterschied mehr zu geben zwischen
einem politischen Kommentar und offenem Blödsinn. Man
muss letzteren nur offensiv genug verfechten. Dann ist er
schon wieder so originell wie Witzigmanns Geheimnis der
besten Bockwurst.
[1] Siehe dazu GegenStandpunkt 2-92, S.59: „Robert Kurz: Der Kollaps der Modernisierung. Honeckers Rache – der Untergang des Abendlandes – linksherum“. GegenStandpunkt 4-96, S.73: „Was sich mit Marx doch alles anstellen lässt! Die linke Kontroverse um das radikalste Menschenbild“. Vgl. auch den Beitrag von Freerk Huisken in ‚Konkret‘ Nr. 3-2000: „Untergang mit Perspektiven – Bemerkungen zum ‚Manifest gegen die Arbeit‘ der Gruppe Krisis“.
[2] „Fetisch“ heißt das immer wiederkehrende Schlüsselwort, mit dem Kurz seinem Programm bescheinigt, haargenau dem Wesen der kapitalistischen Wirklichkeit zu entsprechen. Während Marx, bei dem der Kritiker da Anleihe nimmt, mit dem „Fetisch“ der Waren- und Geldform die Kritik einer politischen Ökonomie zusammenfasst, in der sich die mit Geld wirtschaftende Menschheit einem Ensemble von Sachzwängen unterwirft, die sie selber schafft, zieht Kurz es vor, dem Begriff die Entdeckung einer Methode der kapitalistischen Bewusstseinsbildung zu entnehmen. „Notwendig falsch“: diese Attribute will schon auch ein Kurz an die Adresse des bürgerlichen Denkens loswerden. Aber nicht darüber, dass er die Fehler dieses Denkens aufdeckt und widerlegt und sie auf das praktische Interesse als den Grund zurückführt, die Welt als einzige Bedingung für sich zu interpretieren. Für ihn ist der Kapitalismus eine wesentlich erkenntnistheoretische Problemstellung; das System der Geldvermehrung verlegt dem Bewusstsein die Bedingungen der Möglichkeit, sich nichts darüber vorzumachen; es ist für Kurz ein einziger Fetisch und riesiger „Verblendungszusammenhang“, der seine eigene Undurchschaubarkeit organisiert und nur deshalb Bestand hat, weil ihm dies erfolgreich gelingt. Und die Lösung dieses Problems nimmt Kurz sich vor, indem er stellvertretend für alle, die in ihm so notwendig bewusstlos und befangen zugange sind, den Kapitalismus als eine einzige konstruierte Undurchschaubarkeit demaskiert: Es geht schon, den Kapitalismus einmal in einem anderen Lichte zu besehen – das ist das Versprechen, mit dem Kurz alle Ideologen der bürgerlichen Welt zum „Umdenken“ anhalten möchte und das er mit seinem dicken Buch einlöst.
[3] Wann immer er auf Marx zu sprechen kommt, belehrt uns Kurz daher über das Janusköpfige dieses Denkers. Das, wozu er Marx macht: zum Sprungbrett fürs tiefsinnige Variieren des Themas vom schnöden Mammon, der die Welt regiert, nennt er den „‚esoterischen‘… Aspekt der Marxschen Theorie“ (786). Den liebt und schätzt er natürlich über alles, weil es eben eine feine Sache ist, die Kritik des Kapitalismus von Marx auch noch unter Berufung auf ihren Stifter aus dem Verkehr ziehen und an ihre Stelle die eigene kapitalismuskritische Methode als Ersatz rücken zu können. Insofern gilt: „Die Marxsche Theorie ist nicht widerlegt“ (789). Aber eben nur insofern. Denn alles andere von Marx, also so ziemlich alles, was der Mann nach den in seinen jungen Jahren verbrochenen – und nicht umsonst so geheißenen – „philosophisch-ökonomischen Manuskripten“ zu Papier gebracht hat, ist absolut nicht „emanzipatorisch“. Das alles ist bloßer „Arbeiterbewegungs-Marxismus“, aus dem nur immer dieser abgenudelte Klassenkampf mieft, der ja schon deswegen keine Emanzipation von diesem System sein kann, weil doch die Arbeiterklasse mittendrin ist und mitmacht in diesem System. Vorsicht also mit diesem Marx! Nur wo Marx „gegen den Strich gebürstet wird“, vorne also Marx steht und hinten Kurz herauskommt – nur dort ist Marx drin.
[4] Apropos „kommunikationslos“ wäre er, der Kapitalismus, und deswegen sein System so beschissen. Das ist wieder so ein absichtsvoller metonymischer Fehlgriff, der nichts als falsche Vorstellungen erweckt. Es ist nämlich eine Sache zu behaupten, dass in diesem System das Produzieren und Verteilen nicht nach dem gesellschaftlichen Bedarf ausgemacht und geplant werden. Eine ganz andere ist es, im Zeitalter von Handy, Film und Fernsehen zu behaupten, es wäre zu wenig oder gar überhaupt keine „Kommunikation“ unterwegs – und das wäre der Grund für so manche „Paradoxien“ in der Abteilung Produktion und Konsumtion. Da hätte einem, dem das affirmative Gesinnungswesen in dieser Gesellschaft so verhasst ist, ja schon auch auffallen können, dass deren Mitglieder sich zu viel unterhalten. Ihr an den Tag gelegtes Desinteresse an einer vernünftigen Planung ihres Lebens wissen sie nämlich sehr gut durch das Interesse zu kompensieren, sich in dem Leben zu bewähren, in das es sie nun einmal verschlagen hat. Also lassen sie sich genau so gerne von allen sagen, worauf es in dem anzukommen hat, wie sie umgekehrt allen anderen mitteilen, welche Siege, Teilsiege, aber auch Niederlagen sie bei dem Bemühen zu verzeichnen haben, als selbstbewusste Statisten der Marktwirtschaft über die Runden zu kommen. Aber „Kommunikation“ würde ein Kurz den überaus regen sprachlichen Verkehr eben nicht nennen wollen, mit dem die kapitalistische Menschheit ihr Mitmachertum begleitet, zu Attributen der eigenen Persönlichkeit stilisiert oder sich sonst wie zum Genussmittel aufbereitet. Dieser feine Begriff steht für ihn einfach stellvertretend für das Ideal des guten Lebens, das der Kapitalismus so beharrlich negiert, also tauft er das Ideal auf „Kommunikation“ um, damit er wieder etwas Feines hat, das er im Kapitalismus vermissen kann.
[5] Wiederum ist es eine Sache zu bemerken, dass im inter-nationalen Konkurrenzwesen ein den Nationen übergeordnetes Recht nicht vorhanden ist, und den Grund zu wissen, warum dem so ist. Dann weiß man auch, dass das Fehlen einer Macht über denen, die sich als höchste Recht setzende Mächte gegenüberstehen, für jeden dieser Souveräne ein dauernder Stachel ist, sich mit seiner Macht gegen die der anderen durchzusetzen. Eine andere Sache aber ist es, das Fehlen einer weltstaatlichen „Meta-Instanz“ zu bemerken und aus dem dann den Schluss zu ziehen, dass sich die Macht dieser Nationen an dem Mangel, über sich keine Macht stehen zu haben, in allem nur blamieren kann, was sie auf den Weg bringt, es also allenfalls „Hilfs“-Mächte und ähnliche Surrogate von Macht sind, die da Weltpolitik treiben. Zum gründlichen Abwinken gegenüber einer Befassung mit den wirklichen Zwecken und Interessen der realen Mächte taugt das freilich schon.
[6] Zur Kritik dieser Ideologien steht alles Nötige in GegenStandpunkt 4-99, S.77: „‚Globalisierung‘ – Der Weltmarkt als Sachzwang“
[7] Er ist übrigens nicht der erste mit dem Versuch, den Anti-Kommunisten mit einer linken Dublette kommen zu wollen. In der Tour, auf Leichen und andere Schandtaten zu deuten, um das betreffende System als verbrecherisch zu entlarven und ins moralische Abseits zu stellen, hat sich schon vor Kurz ein ‚Livre noir du capitalisme‘ versucht. Die französischen Linken beschränken sich über weite Strecken – und das macht sie in Maßen noch lesbar – darauf, die längst vergrabenen tatsächlichen Schandtaten in Erinnerung zu rufen, die kapitalistisches Geschäft und bürgerliche Staatsgewalt erst zur weltweiten Durchsetzung und dann zur Perfektionierung dieses famosen Systems vollbrachten, so dass man sich – wenn man will – in die Einzelheiten der Ökonomie des Sklavenhandels ebenso vertiefen kann wie in die der US-imperialistischen Eroberung des südamerikanischen Kontinents. Auf diese „Schwarzbücher“ hat Kurz seines noch draufgesetzt. Mit derselben Technik: Man deute nur auf Fakten, und schon sprechen die für sich, hat er die Phänomenologie des Kapitalismus herbeizitiert – um sie für das sprechen zu lassen, als was er sie deutet und als was er sie auch von allen seinen Lesern gerne gedeutet hätte. Wie jeder politische Enthüllungsjournalist „enthüllt“ also auch er keine Wahrheiten, liefert keine Einsichten über seinen Gegenstand, sondern schreibt über den eben ein „Schwarzbuch“, und als dieses ist sein Buch nur voll mit allem, was jeder seiner Leser – wenn nicht schon genau so gewusst, so doch im Prinzip wenigstens: – schon immer gemutmaßt und geahnt hat: Auch er bedient ein moralisches Scheidungsbedürfnis, das er fix und fertig vorfindet, versorgt ein bloß abstraktes anti-kapitalistisches Ressentiment mit dem Stoff, an dem es sich weiter unterhalten kann.
[8] Selbstverständlich hat Kurz, der die bohrende Frage nach der „konkreten Verwirklichung“ schöner linker Ideen gut kennt, auch auf sie eine „konkrete“ Antwort. Ein „Palaver“ stellt er sich vor, ein, wie er selbst sagt, „ewiges ‚Gequatsche‘“ – mit dem Zweck, „alles zu bereden und abzuwägen“ (788)! Aus. Nicht um der Wahrheitsfindung willen, auch nicht eines sonst wie praktischen Nährwerts wegen wird gequatscht. Alles immer bereden! heißt der chinesische Imperativ, mit dem die philosophische Kunst des Hinterfragens von Allem zur gesellschaftskritischen Avantgarde mutiert. Denn weil das außer Kurz und seinen Anhängern sonst niemand tut, ist das eben subversiv: Mitten im Kapitalismus geht sie doch, die Emanzipation, als Verein freier Menschen e.V. Bei dem aber, was sich da so zusammentut, sich von allen real existierenden Zwängen des bürgerlichen Ladens einfach nicht betroffen gibt, womöglich auch noch das Internet als Teil der „Produktivkräfte der Dritten industriellen Revolution“ (788) zum Kommunikationsforum erklärt und den Rechten so wenigstens die zivilisatorische Errungenschaft einer Website streitig macht, steigt man besser nicht ein. Im Fernsehen hat der Meinungsaustausch von Staatsbürgern, die aus höherer verantwortlicher Warte aus die Niederungen des gemeinen bürgerlichen Materialismus moralisch beäugen und im Hinblick auf ihre Bedeutung für den Sittenverfall der abendländischen Zivilisation durchleuchten, immerhin den kleinen Vorteil, dass man einfach ausschalten kann, wenn der Quatsch im Quatschen zu viel wird.