Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Regierungskrise von Schwarz-Gelb:
Über die Tücken demokratischen Regierens in schlechten Zeiten

Das politisierte Deutschland ist unzufrieden. Die Nation steckt mitten in der Krise, steht vor großen ‚Herausforderungen‘, wie man so sagt – und die Regierung, die doch eine stabile Mehrheit hat? Sie regiert nicht, oder zumindest miserabel, meinen durch die Bank die öffentlichen Anwälte Deutschlands. Die schwarz-gelbe Koalition, angetreten als „Wunschbündnis“, „zerfällt“ (alle Zitate sind den einschlägigen Medien wie SZ, FAZ, Spiegel, ARD usw. im Zeitraum Mai bis Juli 2010 entnommen), die Wochen im Mai und Juni würden als „Chronik des Versagens“ in die deutsche Geschichte eingehen, das erste Nachrichtenmagazin der Republik seufzt nach guter Führung und ruft gequält: „Aufhören!“

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Die Regierungskrise von Schwarz-Gelb:
Über die Tücken demokratischen Regierens in schlechten Zeiten

Das politisierte Deutschland ist unzufrieden. Die Nation steckt mitten in der Krise, steht vor großen ‚Herausforderungen‘, wie man so sagt – und die Regierung, die doch eine stabile Mehrheit hat? Sie regiert nicht, oder zumindest miserabel, meinen durch die Bank die öffentlichen Anwälte Deutschlands. Die schwarz-gelbe Koalition, angetreten als Wunschbündnis, zerfällt (alle Zitate sind den einschlägigen Medien wie SZ, FAZ, Spiegel, ARD usw. im Zeitraum Mai bis Juli 2010 entnommen), die Wochen im Mai und Juni würden als Chronik des Versagens in die deutsche Geschichte eingehen, das erste Nachrichtenmagazin der Republik seufzt nach guter Führung und ruft gequält: Aufhören!

Um eine Diagnose, warum da den regierenden Ministern und ihrer Chefin im Jahre 2010 so gar nichts mehr gelingen will, sind die aufgebrachten Zeitgenossen nicht verlegen: Das Regierungspersonal versagt, weil es unfähig ist. Die Regierung kann es einfach nicht!, lautet der ebenso einfältige wie vielfach vorgetragene Vorwurf, ob es nun um Steuerfragen, die Defizite bei den Krankenkassen, um die Laufzeitverlängerung von Atomkraftwerken oder die Frage der Zukunft der Bundeswehr geht.

Diese demokratische Ungehörigkeit gegenüber dem höheren Führungspersonal ist in einer Hinsicht die sehr angemessene Quittung für dessen Angewohnheit, sich als zum Erfolg veranlagte Herrscherfiguren zu präsentieren. Dementsprechend treten die Damen und Herren vom nationalen Lenkungsausschuss mit dem Gestus vor ihr Volk, dass sie im Prinzip alles und alle im Griff haben – die Sachthemen der Nation und ihre inner- und außerparteilichen Konkurrenten. Schließlich haben sie den ersten und wichtigsten Test auf ihre Führungsfähigkeit schon bestanden: Sie haben sich in der demokratischen Konkurrenz durchgesetzt und sich als Sieger von Wahlen die Kompetenz zur Macht erworben. Sie sind für alles und alle zuständig, und das ist in der Demokratie das Fundament für die Lebenslüge politischer Führerfiguren: Mit ihrer Zuständigkeit verfügten sie auch über die nötige Sachkompetenz, ihre Politik sozusagen unausweichlich zum Erfolg zu führen: Tag für Tag präsentieren Merkel, Westerwelle und Co. ihre politischen Re- und Konzepte und inszenieren sich ihrem Publikum als unwiderstehliche Erfolgstypen.

Wenn der nationale Erfolg ausbleibt oder unsicher wird, dann hapert es allerdings oft mit der glaubwürdigen Inszenierung des „Machers“: Die Rezepte gehen nicht auf, innerparteiliche Kritiker melden sich penetrant mit Alternativen zu Wort, der regierungsinterne Streit findet kein Ende – und mit der dergestalt angegriffenen Erfolgstüchtigkeit wird auch die Sachkompetenz der handelnden Personen fraglich. Die Öffentlichkeit liest die bornierte Gleichung von Erfolg und politischer Kompetenz des Regierenden mit umgekehrtem Vorzeichen und fordert bessere Anführer, die die Nation aus der Krise führen.

Der Sache der Politik wird diese schöne demokratische Kultur, in der die staatliche Politik als Erfolgsfrage des Führungspersonals von oben inszeniert und von unten kritisch beurteilt wird, nicht ganz gerecht. Die politischen Erfolgsbedingungen der Nation richten sich dann doch nach etwas anderen Gesichtspunkten als denen, ob der richtige Minister mit dem passenden Konzept gut dasteht. Steuerpolitik, die Wachstumsbranche ‚Gesundheit‘ oder nationale Energiefragen halten für die demokratische Politik so manche objektive Tücke bereit, vor allem dann, wenn sich die Widersprüche und Interessengegensätze des nationalen Kapitalismus gerade etwas zuspitzen.

1.

Die Regierung liegt im Steuerstreit, im Frühsommer 2010 nicht nur mit den besser verdienenden Steuerflüchtlingen, sondern in der Hauptsache mit sich selbst. Trotz wegbrechender Steuereinnahmen und sich anbahnender Rekordverschuldung beharren der Wahlsieger Westerwelle und seine FDP auf der Einlösung ihres zentralen Wahlversprechens, die Bürger um 16 Mrd. € zu entlasten. Steuersenkung, in gewöhnlichen Zeiten ein schönes Angebot der Regierenden an die Geld verdienende Mittelschicht, mit dem Politiker ein durchaus respektables wirtschaftspolitisches Instrument handhaben – wenn die politische Kalkulation mit ihm aufgeht: Wenn in der Nation dann tatsächlich soviel mehr verdient wird, dass der Fiskus bei gesenktem Steuersatz seine Verluste kompensiert; und wenn die Wirtschaft am Ende gar um soviel mehr wächst, dass die Staatskasse insgesamt sogar mehr einnimmt, dann empfängt die Einlösung eines zunächst kritisch beäugten, des Populismus verdächtigten Wahlversprechens die höhere Weihe der steuerpolitischen Kompetenz des Politikers, der es gemacht hat.

Gekommen ist es im Frühjahr 2010 anders: Westerwelle, der große Steuerexperte, steckt mit seinem „Rezept“ in einem objektiven Dilemma der deutschen Staatsfinanzen: Seine Koalition will unter dem Eindruck von Euro- und Staatsschuldenkrise nämlich auch raus aus dem Schuldenstaat, also die gerade beschlossene Rekord-Neuverschuldung um ein Signal der Sanierung der Staatsfinanzen ergänzen. Deshalb haben Kanzlerin und Finanzminister dem Außenminister machtvoll widersprochen – Steuersenkungen seien angesichts der Haushaltslage unfinanzierbar –, so dass sich die Steuersenkungspartei FDP am Ende nur mit der absurden Schwundstufe Senkung des vollen MwSt.-Satzes für Hotelübernachtungen im Umfang von 1 Mrd. schmücken kann. Nicht gerade ein Ergebnis, mit dem sich ein Politiker glaubwürdig als Gestalter des Wirtschaftserfolgs einer potenten Nation wie Deutschland inszeniert, schon gleich nicht, wenn später die eigene Partei der öffentlichen Kritik recht gibt und den Rückzug antritt: Mit dem politischen Misserfolg ist endgültig bewiesen, dass Westerwelle und Lindner nicht Wirtschaftskompetenz praktizieren, sondern bloße Klientelpolitik, also die Kumpanei der Politik mit Sonderinteressen betreiben.

Die steile Karriere Westerwelles vom Steuerexperten, der in der Koalition die Linie vorgibt, zum bloßen Ideologen, der sich finanzpolitischen Realitäten verweigert, ist insofern einerseits ein kleines Lehrstück über die Kompetenz von Politikern: Die hängt offenbar ganz an der glaubwürdigen Inszenierung von Erfolgstüchtigkeit, und deren erstes Gebot ist die Durchsetzung in der Konkurrenz um die Definitionshoheit über den Gebrauch der staatlichen Macht. Interessanter ist andererseits an diesem Fall, dass sich in Sachen „Steuerpolitik“ in der gesamten Regierung niemand so richtig als Erfolgsfigur in Szene zu setzen weiß: Immerhin haben Kanzlerin und Finanzminister dem lächerlichen Koalitionsbeschluss, mit einer Förderung des Hotelgewerbes irgendwie das Wachstum am Standort D wieder anzukurbeln, zugestimmt. Der umgekehrte Weg zur Sanierung des Haushalts, die Einnahmeseite zu verbessern, wird in der Regierung ja genauso ausgeschlossen: Steuererhöhungen gehen schon gleich nicht, wenn am Standort schon zu wenig verdient wird, denn damit würde gewiss jedes erwartbare Wachstum a priori kaputt gemacht.

Offenbar misslingt in dieser finanzpolitischen Lage die Profilierung mit Steuerkonzepten nicht deshalb, weil es den Regierenden an Tatkraft u.Ä. gebricht, sondern weil sie mit ihrem Streit auf ein objektives Dilemma ihrer politischen Lage stoßen: Sie misstrauen den beiden Optionen ihrer Macht, die Staatskasse zu sanieren, weil die privatwirtschaftliche Grundlage, von der die staatliche Gewalt lebt, momentan zu wenig Wachstum dafür hergibt.

2.

Im Gesundheitsressort ist der Arzt und Politiker Rösler mit einem gewissen Aplomb angetreten und hat sein politisches Schicksal mit der Durchsetzung einer grundlegenden Strukturreform des Gesundheitswesens verknüpft – der Systemwechsel müsse her, um den Dauerpatienten Gesundheitswesen finanziell langfristig zu stabilisieren. Die großartige Idee der FDP und ihres Ministers heißt Kopfpauschale. Jeder Bürger zahlt gleich viel für seine Gesundheit!, lautet der gesundheitspolitische Anfall von Egalitarismus, mit dem die Wurzel des Übels gepackt ist: das System der einkommensorientierten Beiträge, mit dem der Staat zu viel Rücksicht auf unterschiedliche Einkommen nimmt, eine ungerechte Umverteilung zwischen Sekretärin und Direktor organisiert und sich mit den kleinen Beiträgen der Niedrigverdiener die chronischen Defizite im System schafft. Alles andere im System kann bleiben, aber das muss sich ändern. Die Arbeitgeber überweisen ihren bisherigen Anteil den Arbeitnehmern, dann geht sie die Gesundheit ihrer Belegschaft nichts mehr an, die Gesundheitskosten sind endlich von den Arbeitskosten entkoppelt – und fertig ist die Laube!

Gekommen ist es auch hier etwas anders. Schon die schlichte Berechnung eines derartigen Pro-Kopf-Beitrags – die Gesamtheit der Umsätze in der Gesundheitsbranche geteilt durch die Gesamtzahl der Kassenmitglieder – ergibt einen Betrag, der einen großen Teil der Einkommen der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten auffrisst. So müssen auch Rösler und seine FDP einräumen, dass zur Herstellung eines bezahlbaren Beitragsniveaus ein steuerfinanzierter Sozialausgleich notwendig ist. Dieser wiederum, so rechnet ihm dann der Finanzminister vor, würde soviel kosten, dass zu seiner Finanzierung der Einkommenssteuersatz auf 70 % steigen müsste. Der Gesundheitsminister bringt also die große auf eine kleine Kopfpauschale herunter: Nun geht es nur noch um die pauschalierte Erhöhung der Zusatzbeiträge, welche die Kassen erheben dürfen, doch auch diese 30 € pro Kopf und Monat sind für ansehnliche Teile der Beitragszahler bereits zuviel, so dass Rösler auch da einen Sozialausgleich einbaut. Das lehnt nun die CSU endgültig ab: Soviel Bürokratie! Für sowenig Effekt!! – so dass sich am Ende der große Reformwille und die Sachkompetenz des Ministers in eine stinknormale Beitragserhöhung um knapp ein Prozent und eine Entschränkung der Zusatzbeiträge, die allein die Kassenmitglieder zu tragen haben, auflösen. Der Öffentlichkeit ist klar, dass die Hoffnung auf einen Befreiungsschlag im Gesundheitswesen entweder am zu großen Ehrgeiz eines reformfreudigen, jungen Ministers oder an reformunfähigen, risikoscheuen Politikern oder an zu wenig Mut gegenüber den mächtigen Lobby-Interessen zuschanden geworden ist, weshalb anstelle einer Strukturreform mal wieder nur der Beitragszahler zur Kasse gebeten wird. Und das müsste jedenfalls nicht sein, wenn nur mal gescheit regiert werden würde, lautet kurz gefasst die öffentliche konstruktive Kritik, die sich nicht darum kümmert, dass sich in der chronischen Unbezahlbarkeit von Gesundheit der Aberwitz ausdrückt, dass der Gebrauchswert ‚Gesundheit‘ erfolgreich machtvollen Geldinteressen unterworfen ist.

Rösler, Söder, Seehofer und Co führen nämlich ein sozialpolitisches Experiment fort, das deutsche Regierungen seit gut einem halben Jahrhundert unverdrossen betreiben: Die deutsche Politik ringt ihrer Gesellschaft, die auf Geldvermehrung und sonst nichts aus ist, nicht weniger als den staatlich gewollten Nutzen einer flächendeckenden, (noch) jedermann zugänglichen Volksgesundheit ab, die sich im Prinzip am Stand der Technik und Wissenschaft orientiert. Dafür brauchte es schon immer ganz viel bürokratische Gewalt des Staates, weil sehr unversöhnliche Interessen konstruktiv im Sinne dieser einen großen sozialstaatlichen Leistung aufeinander bezogen werden müssen. Auf der einen Seite stehen nämlich – so hat es die Politik gewollt und verfügt – als Anbieter und Lieferanten von Gesundheitsleistungen nur privatwirtschaftliche Interessen, die ganz schlicht auf die Behandlung von Krankheit als Quelle der Mehrung ihres Geldvermögens setzen. Auf der anderen Seite stehen als Einnahmen im Gesundheitswesen – zumindest im Prinzip – nur die vom deutschen Sozialstaat beschlagnahmten Lohnanteile all derer, die sich in der Marktwirtschaft als Arbeitnehmer verdient machen dürfen. Eine gewagte Kombination, aus der immerhin nicht weniger als ein halbwegs gesundes, jedenfalls allzeit leistungsbereites und –fähiges Volk als nationale Arbeitskraft herauskommen soll. Gewagt insofern, als die privatwirtschaftlichen Erfolge den im System verankerten Widerspruch chronisch zuspitzen: Die Gesundheitsunternehmen wachsen, nehmen also immer mehr an Geld in Beschlag – und treffen als Quelle ihrer Bereicherung auf in Krankenkassen zusammengeschlossene Arbeitnehmer, deren nationales Gesamteinkommen tendenziell weniger wird, weil die werten Arbeitgeber ihrerseits ihre Personalkosten – noch ein Erfolg – permanent reduzieren, indem sie Niedriglöhne bezahlen, Belegschaften verkleinern und überhaupt soweit wie möglich sozialversicherungspflichtige Beschäftigung abschaffen. Die Regierung selbst hat all das gefördert. Die Krise ihrerseits untergräbt mit Kurz- und Leiharbeit die Einnahmequelle des Systems nochmals. Das momentane Ergebnis dieses Experiments ist bekannt: Die Volksgesundheit, so wie sie die Politik in ihren Sachleistungskatalogen definiert, ist mal wieder und eigentlich immer: zu teuer.

Daraus folgt für die Koalitionäre nur eines: Die existierende Finanzquelle muss ergiebiger werden, und so testen die schwarz-gelben Gesundheitspolitiker auch 2010 aus, was das vermehrt in Beschlag genommene Nettoeinkommen der bedürftigen Patienten hergibt, um die marktwirtschaftliche Angebotsseite der Gesundheit bei Laune zu halten. Keines der gültigen widerstreitenden Interessen in diesem System soll nämlich aufgegeben werden, und trotzdem soll es seinen nationalen Dienst tun: Der selbstbewusste Ärzte- und Apothekerstand soll zufrieden sein, die Gesundheitsindustrie weltmarktfähig bleiben, die Arbeitskosten dürfen nicht teurer werden, ‚Gesundheit‘ soll aber dennoch nicht einfach nach Kassenlage rationiert werden. In der demokratischen Konkurrenz um die Fortführung dieses Widerspruchs mit einer großartigen Alternative, einem Systemwechsel aufzutreten, der ein für allemal die Probleme löst, das ist und bleibt die so große wie absurde Versuchung eines jeden Ministers, die freilich seinen politischen Konkurrenten die große Chance bietet, ihn als inkompetenten Amtsinhaber zu blamieren…

3.

Norbert Röttgen, Amtsleiter im Bundesumweltministerium, verfolgt ehrgeizige Klimaziele, was man so hört: Die Energie-Auflagen für die deutsche Wirtschaft sollen verschärft werden, den im Koalitionsvertrag beschlossenen Laufzeitverlängerungen für AKWs sollen enge Grenzen gezogen werden, die mit den abgeschriebenen Kraftwerken dieser Brückentechnologie verdienten Profite soll im Wesentlichen der Staat abschöpfen, um mit den Milliarden alternative Energien zu fördern. Eigentlich eine schöne Herausforderung für einen Minister, also eine Gelegenheit, seine Kompetenz in seinem Schlüsselressort herauszustellen und sich damit im Kabinett durchzusetzen, v.a. dann, wenn man zur politischen Führung einer Nation gehört, die sich als Vorreiter im Klimaschutz versteht, in der die Umstellung der nationalen Energieversorgung also oberste Priorität hat. Aufgestachelt hat Röttgen mit seinen Vorschlägen und Initiativen nur Widersacher, in der Regierung, der eigenen Partei und den Vertretern mächtiger Kapitalinteressen in den Energiekonzernen.

Gegenstand des recht unversöhnlich geführten Streits sind zwei Fragen: Wie soll die bereits beschlossene Laufzeitverlängerung der AKWs ausfallen –moderat oder eben ein paar Jahre länger –, und in welcher Weise beteiligt sich der Staat an den dadurch anfallenden Gewinnen: Gibt es eine Brennelementesteuer und/oder eine andere Art der Gewinnabschöpfung? Eigentlich eher zweit- bis drittrangige Fragen, möchte man denken, angesichts der nationalen Schicksalsfrage, von der die genannten Alternativen bloß Facetten sind, wie Röttgen meint.

Immerhin geht es insgesamt um nicht weniger als die Umwälzung einer entscheidenden Produktionsbedingung des gesamten deutschen Kapitalismus, die selber ein globales Geschäft in größtem Maßstab einschließt: Die Versorgung des gesamten Standorts mit Energie, die jeder braucht, alle etwas kostet und deshalb eine nationale Reichtumsquelle erster Güte darstellt, soll umgestellt werden. Bis gestern gab es dafür ein Konzept, das in der Nation ziemlich fraglos gebilligt war: Deutschland sollte weltweit eine Vorreiterrolle im Klimaschutz spielen. Im Zuge dieses anspruchsvollen Vorhabens sollte bekanntlich mit staatlich mobilisierten Milliardensubventionen die heimische Energieproduktion von Öl, Gas und Atom in gewichtigen Anteilen auf Wind, Sonne und Biomaterial umgestellt werden, ausgehend von der Kalkulation, dass die überkommenen Energieträger künftig zu teuer und zu unsicher verfügbar würden. Deutschland sollte sich dabei einen technischen Vorsprung verschaffen, damit Tempo und Umfang der Umstellung bestimmen und so den anderen Staaten auf dem internationalen Konkurrenzfeld der CO2-Reduktion Wettbewerbsdaten vorgeben, an denen sich alle zu orientieren hätten. Je schneller und umfassender – so die Berechnung – Deutschland seine Energieproduktion umstellt, umso mehr kann es dem Rest der Welt mithilfe der EU Vorschriften machen und den zukünftigen Weltmarkt mit alternativen Energien strategisch dominieren. Wahrlich eine weitreichende imperialistische Perspektive, die jedoch zweifelhaft geworden zu sein scheint, wenn der Umweltminister der Klimanation Nr. 1 mit seiner Zukunftsoption öffentlich demontiert wird.

Wenn der baden-württembergische CDU-Standorthüter von vier AKWs dem Umweltminister wegen der viel zu eng begrenzten Laufzeitverlängerung den Rücktritt nahe legt, dann macht er den Standpunkt geltend, dass seine Atomkraftwerke jetzt und nicht erst in spekulativer Zukunft konkurrenzlos billig und weitgehend unabhängig vom Ausland Strom liefern. Sie sind ein Bombengeschäft in Baden-Württemberg. Fraglich ist nur, weshalb die Fraktion, die für eine längere Nutzung dieser Energiequelle eintritt, dem nationalen Projekt, für das Röttgen steht, nun so feindlich und einflussreich entgegen tritt. Offenbar gibt es in Teilen der politischen Führung Zweifel an der führenden Konkurrenzposition Deutschlands beim großen, globalen Zukunftsgeschäft mit den Techniken der regenerativen Energie, die auf dem Klima-Gipfel in Kopenhagen nicht weniger geworden sind. In dieser Lage halten sie die Abschaltung einer funktionierenden energiepolitischen Standortwaffe für ganz unverantwortlich, zumindest solange der Erfolg der neuen noch gar nicht gesichert ist. Andererseits wird deren zukunftsträchtiger Erfolg gerade durch die länger laufenden AKWs behindert: Eine erhebliche Verlängerung der Atomlizenz beschädigt angeblich die Investitionsbereitschaft in neue Energien und bringt die Rentabilität von bereits getätigten Investitionen in Kraftwerke der Zukunft in Gefahr: Der Atomstrom ist zu billig, zumal die Regierung gerade ihre Subventionen in Solar- und Windindustrie abbaut und damit die regenerative Energie verteuert. Die Alternative, dann auch den Atomstrom durch neue Abgaben erheblich zu verteuern und aus Teilen dieser Einkünfte wiederum die Regenerativen zu fördern, bringt die vier AKW-Betreiber gegen die Regierung auf: Zusätzlich zur schon beschlossenen Atomstromabgabe will der Finanzminister zusätzlich eine Brennelementesteuer als Beitrag der Wirtschaft zur Sanierung der Staatsfinanzen erheben. Damit, darauf verweisen EON & Co ausdrücklich, wird genau das private Geschäft geschädigt, aus dessen Gewinnen die Finanzmacht kommen soll, aus der die Zukunftstechnologien global konkurrenzfähig gemacht werden sollen ...

Folgerichtig tritt der Standpunkt des gegenwärtigen Geschäfts auch Röttgens Konzept entgegen, den deutschen Standort durch eine Verschärfung der staatlichen Sachzwänge in der CO2-Reduktion voranzubringen. Der Wirtschaftsminister, der beim Klimaschutz bremst, betätigt sich als Sachwalter dieses Standpunktes: Die Aufgabe und vermehrte Belastung der bisherigen Energieträger verursacht jetzt ganz allgemein nichts als Kosten, die – nicht erst seit der Wirtschaftskrise, aber da erst recht – dem deutschen Kapitalismus nicht zuzumuten sind. Schon gleich nicht, wenn immer deutlicher wird, dass sich die Staaten, die in der Konkurrenz um das zukünftige Geschäft mit der Energie auf Augenhöhe mit Deutschland sind, von Deutschland und seinen CO2-Standards gar keine Vorschriften machen lassen: Das haben China, Brasilien oder die USA hinreichend klargestellt, und in technischer Hinsicht sind sie bei der Umstellung der Energieträger und dem daraus folgenden Geschäft auf Deutschlands Technologie und Kapital nicht angewiesen. Insgesamt also auch das keine guten Umstände, um sich als Brückentechnologieminister glanzvoll in Szene zu setzen…

4.

Unser beliebtester Mann in Berlin ist jetzt Verteidigungsminister. Die knapp 150 toten Afghanen am Kundusfluss hat er mit tatkräftigem Krisenmanagement gut überstanden, und mit seinen volkstümlichen Einlassungen, er könne schon verstehen, dass Deutschlands Soldaten die Zustände und Vorgänge in Afghanistan als Krieg erlebten, hat er sogar richtig Punkte gemacht, ganz ohne selbst sagen zu müssen, dass sich die Nation in einem Krieg befinde. Damit hat Guttenberg das Bedürfnis der Öffentlichkeit und des Volkes nach Ehrlichkeit der Führung in Kriegsfragen mit der verlogenen deutschen Kriegslegende, Deutschland diene dort recht eigentlich einem internationalen zivilen Aufbauprogramm, vorerst etwas versöhnt.

An diese schöne Profilierung in einem anerkanntermaßen schwierigen Ressort knüpft Guttenberg mit seiner Debatte um die Abschaffung der Wehrpflicht an. Er weiß natürlich, dass er da an etwas Wichtiges im politischen Alltag Deutschlands rührt: Immerhin geht es ja um den kompletten Umbau der deutschen Armee, wie sie seit 60 Jahren organisiert ist. Etwas sonderbar an seiner politischen Initiative ist dann allerdings die Art und Weise, mit der er den sicherheitspolitischen Reformbedarf anmeldet. Guttenberg argumentiert gar nicht militärstrategisch, sondern macht in seiner sicherheitspolitischen Grundsatzrede, mit der er die Nation etwas aufregt, vor seiner versammelten Generalität ausgerechnet den vom Finanzminister verhängten Sparzwang im Haushalt zum Ausgangspunkt seiner Überlegungen zur Zukunft der Bundeswehr:

„Der mittelfristig höchste strategische Parameter, quasi als conditio sine qua non, unter dem die Zukunft der Bundeswehr gestaltet werden muss, ist die von mir schon apostrophierte Schuldenbremse, ist das globalökonomisch gebotene und im Verfassungsrang verankerte Staatsziel der Haushaltskonsolidierung.“ (Guttenberg am 26.5.)

Die Bundeswehr soll umgekrempelt werden, und der politische Chef des Militärs ruft die Schuldenbremse, ein finanzpolitisches Manöver der deutschen Regierung, mit dem man die Geldspekulanten beeindrucken will, zum höchsten strategischen Parameter des deutschen Militärs aus. Schon eigenartig, dass der Verteidigungsminister seine Tatkraft und Sachkompetenz ausgerechnet als Sparkommissar in Szene setzt, der die Vorgaben des Finanzministers pflichtschuldigst erfüllt, so dass der neue sicherheitspolitische Bedarf der Nation – festgemacht an der Abschaffung der Wehrpflicht – quasi als Abfallprodukt haushälterischer Sparsamkeit zustande kommen soll. Das finden die werten Kabinetts- und Parteikollegen untragbar: Keine Sicherheitspolitik nach Kassenlage, lautet der erste Einwand gegen Guttenberg, womit Kauder, Ramsauer und die anderen aber gar nicht zur Sache kommen. Stattdessen versuchen sie, den reformfreudigen, jungen Minister zu entzaubern, indem sie seine Art, wie er die Dringlichkeit des Anliegens präsentiert, schlecht machen – und dabei noch viel absurder über die Sache reden, als Guttenberg selbst: Wo bleiben die Zivildienstleistenden, wenn die Wehrpflicht weg ist?! „Für die Kosten von 40 Kilometer Autobahn“ kann man doch nicht einen Eckpfeiler unseres Gemeinwesens mal eben kippen, usw. usf. – Beiträge zu einer strategischen Planung der Nation sind das eher nicht. Fast möchte man glauben, die politische Führung lenkt mit dieser Art Wehrpflichtdebatte mehr von der Sache ab, als sich ihr zu stellen, wenn sie ausgerechnet da, wo man eine imperialistisch zielführende Debatte um die wuchtigsten Gewaltmittel der Nation erwartet, ein formvollendetes Ränkespiel um die Zurechtweisung eines erfolgreichen Ministers aufführt. Was ist da eigentlich los, wenn Deutschlands Politiker derart verlogen und mit abseitigen Begründungen ihren zukünftigen militärstrategischen Gewalthaushalt auf die Tagesordnung setzen?

Klar ist, dass die Regierung Reformbedarf in Sachen Armee hat. Die Bundeswehr schleppt immer noch Merkmale eines Volksheers mit zigtausend schlecht ausgebildeten Rekruten mit, die einer Weltkriegsoption entstammen, die seit 20 Jahren passé ist. Für die gegenwärtigen, sog. internationalen Einsätze, taugt sie nur bedingt: Die Klagen über die Mängel einer Armee, die mit einer Sollstärke von 250 000 Mann an ihre Grenzen stößt, wenn 8000 Soldaten im Einsatz rund um den Globus sind, sind notorisch.

Eben diese längst geläufige Praxis – Truppen zu stellen für NATO- oder UN-geführte Einsätze – gibt denn auch in etwa die Blaupause für die Strukturreform ab, die Guttenberg im Auge hat: Ca. 100 000 Mann weniger, dafür hochprofessionell, flexibel und natürlich mit bestem mobilem Gerät. Nur: Genau die Kriegseinsätze, mit denen die jetzige Bundeswehr als Interventionsarmee schon in Afghanistan, im Kosovo oder vor der libanesischen Küste agiert, sind gar nicht die strategische Option, die deutsche Regierungen mit allem Nachdruck verfolgen und von denen sie zufrieden gestellt würden. Vielmehr werden die Beschaffungsmaßnahmen dafür erheblich gekürzt, und auch den Verlautbarungen Guttenbergs selbst zum Afghanistan-Krieg ist zu entnehmen, wie bedingt die Regierung zu diesem Krieg steht, von dem man noch nicht einmal klar sagen darf, dass er ein Krieg sei; und von dem nur soviel klar ist, dass er nicht wirklich „unser Krieg“ ist. CDU-Sicherheitspolitiker geben deshalb auch bei Gelegenheit zu verstehen, dass die Rolle des Truppenstellers in der Art eines militärischen Dienstleisters für begrenzte, fremdbestimmte Aufgaben und eine ganz darauf zugeschnittene, deutlich verkleinerte Bundeswehr nicht den Ansprüchen deutscher Politik an Kriegsfähigkeit genügt:

„Eine signifikante Reduzierung der Bundeswehr entspricht weder dem Stellenwert noch dem Selbstverständnis Deutschlands noch den Erwartungen, die unsere Verbündeten an uns stellen.“ (E.-R. Beck, sicherheitspolitischer Sprecher der CDU/CSU, FAZ, 12.7.)

Was einer Welthandelsmacht und militärischen Mittelmacht wie Deutschland an Kriegs- und Militäroption entsprechen würde, ist kein Geheimnis: Eine Rolle, die sich nicht einfach in der Stellung von Truppen unter fremdem Kommando erschöpft, sondern in der man selbst als Interventionsmacht Einsätze bestimmt und Einsatzzweck und Lagedefinitionen nach eigenem Ermessen beschließt. Bloß: Ein politisches Bekenntnis dazu ist andererseits von der deutschen Regierung auch nicht zu hören. Die Bündnisfähigkeit und Einsatzfähigkeit der Bundeswehr als Reformziele und die politischen Kontroversen über deren Erreichung sind insoweit die angemessen abstrakte Ausdrucks- und unsachliche Verfahrensweise für die unbeantwortete Frage, auf welche Kriege die Nation, die sich über ihren wirklichen strategischen Status im Unklaren ist, sich in Zukunft vorzubereiten hat. Mit diesen Reformzielen wird der Schein einer selbstbestimmten militärstrategischen Perspektive erweckt, die zu definieren und zu praktizieren Deutschland aber tatsächlich gar nicht in der Lage ist. Das Ziel der Bündnisfähigkeit der Bundeswehr für NATO oder EU sieht vornehm von den real existierenden Differenzen und Vorbehalten ab, wie sie die Regierung im Bündnisalltag bei jedem Einsatz unter amerikanischem Oberkommando rund um den Globus im Streit um Truppenkontingente, Bündnislasten oder Abzugsperspektiven austrägt. Die Formel kündet davon, dass sich die deutsche Regierung dazu keine nationale oder europäische Alternative vornimmt, also keine ausdrückliche Aufkündigung der kaum mehr gemeinsamen Sache mit den USA in Frage kommt, obwohl keine der militärischen Optionen in den Bündnissen die Ansprüche der Nation wirklich zufrieden stellt. In diesem strategischen Dilemma der deutschen Sicherheitspolitik ist die Frage nach dem Fortbestand der Wehrpflicht eine eher abseitige Gretchenfrage (Guttenberg) für die deutsche Wehrmacht. Insofern hat er von der Kanzlerin schon den passenden Auftrag bekommen: Ohne Denkverbote soll er über die Zukunft der Bundeswehr nachdenken…