Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Rechtschreibreform
Neues aus dem nationalen Irrenhaus
Die Aufregung um die Rechtschreibreform hat verschiedene Facetten, die alle lächerliche Übertreibungen sind.
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Rechtschreibreform
Neues aus dem nationalen
Irrenhaus
Anfang August drohen das scharfe ‚ß‘, Fragen der
Silbentrennung und die Regeln der Kommasetzung die
ganze Republik auf den Kopf
zu stellen. Das Thema ist
politisch ungefähr so heiß wie die Steuerreform und die
innere Sicherheit, auch hier geht es um die
Grundrechte der Bürger
, um die Verläßlichkeit
staatlichen Handelns
, um den Bestand der
Sprachgemeinschaft
, so daß der Rückfall in den
Obrigkeitsstaat
, das Chaos
, eine Beschädigung
der nationalen Identität
absehbarerweise nur noch
durch ein Machtwort des Bundesverfassungsgerichts
abzuwenden sind.
Es muß ja so kommen: Nun geht es nicht mehr nur um die
Rechtschreibung, sondern…
, weil es um viel größere
Fragen geht als die der richtigen Silbentrennung…
,
beginnen Kommentare zur Rechtschreibreform, in denen sich
ein auf allen Seiten reichlich vorhandener, politisierter
Verstand zu Wort meldet, der gewohnheitsmäßig an allem
und jedem einzig nach der höheren, nationalen Bedeutung
fahndet und deswegen nichts mehr als das zu nehmen
gewillt ist, was es ist. Da ein nationaler Nutzen, der
die Reform rechtfertigen würde und Einwände gegen sie gar
nicht erst aufkommen ließe, nicht recht greifbar ist, sie
politischerseits bis hinauf zum
Bundespräsidenten auch schon für überflüssig
wie ein Kropf
befunden worden ist und mittlerweile
auch ihre Befürworter nicht mehr viel mehr für sie in
Anschlag bringen wollen, als daß ein Abblasen des
beschlossenen und bereits auf den Weg gebrachten Projekts
das größere Übel für die Nation wäre, entbrandet
unvermeidlich eine Debatte über die Frage:
‚Dürfen die das?‘ – so daß das ‚Was‘, das die
Gemüter erhitzt, für die Beteiligten kein Thema mehr ist.
Keinem von ihnen kommt es in den Sinn, einfach den Krampf
zu kritisieren, der herauskommt, wenn
Kultusministern, die auch einmal mit einer
großen Reform ihre Tatkraft unter Beweis stellen wollen,
eine Vereinheitlichung der Orthographie im gesamten
deutschsprachigen Raum
dringend erforderlich
erscheint; wenn sie dafür Pädagogen zu Rate
ziehen, die beschlossen haben, daß die Rechtschreibregeln
verkehrt sein müssen, wenn die Kinder beim Rechtschreiben
Fehler machen, und, statt der Jugend das Schreiben
beizubringen, ihr Verlangen nach einer einfacheren
Rechtschreibung in die Tat umsetzen; und sich
Sprachwissenschaftler dazugesellen, die nicht
die Regeln erklären wollen, denen die Sprache gehorcht,
sondern ihr Ideal der Einfachheit und Einheitlichkeit an
sie anlegen, von daher zu dem Befund gelangen, daß
Ausnahmen die Abwesenheit von Regeln bestätigen, allein
aus der Vielzahl der bestehenden Regeln den Schluß
ziehen, daß die Mehrzahl von ihnen überflüssig sein muß,
und den praktischen Beweis abliefern, daß man auch mit
weniger und einfacheren Regeln auskommen kann, wenn man
deren Anwendungsvorschriften entsprechend vervielfältigt
und kompliziert. Statt dessen melden sich lauter Leute zu
Wort, die ihr unbedingtes Recht auf die alte
Rechtschreibung einklagen, dazu die Ersetzung von ‚ß‘
durch zwei ‚s‘ und ähnlich läppische Änderungen zu einem
Anschlag auf die höchsten Rechts- und Kulturgüter der
Nation aufblasen und im Bewußtsein ihres auf diese Weise
erst wohlbegründeten Rechts für den nüchternen Befund
einfach nicht mehr zugänglich sind, daß sich wirklich nur
im einen oder anderen Fall die Schreibweise der mehr oder
minder bedeutsamen Mitteilungen ändern soll, die sie in
der Sprache zum Ausdruck zu bringen belieben. Dichter
& Denker sehen ihre grundgesetzlich geschützte
Freiheit zum Dichten & Denken gefährdet – eine
unzulässige Sprachlenkung und Sprachbeeinflussung
–, als würden neue Trennungsregeln etwas an dem höheren
Blödsinn ändern, den sie zu Papier bringen.
Eltern, die das, was ihren gepierceten
Analphabeten in der Schule vermittelt wird, mit Bildung
verwechseln müssen, sehen wesentliche Bildungs- und
Erziehungsziele
bedroht. Und so geht es dann vor
Gericht. Dort haben Juristen die Frage zu
entscheiden, ob die das dürfen, die Kultusminister, oder
ob so einen Krampf nur der Bundestag beschließen darf. Da
sie sich nicht einig werden, ob eine Reduktion der
Kommaregeln von 52 auf 9 einen wesentlichen
Eingriff in den Kulturbesitz des Volks darstellt, die
Reform in einem Land gestoppt, im nächsten genehmigt
wird, steht es mit dem länderübergreifend angelegten,
großen Wurf insgesamt nicht mehr so gut. Das ruft die
Schulbuchverlage auf den Plan, die davor warnen,
daß bei einer Stornierung der Reform ihnen Verluste ins
Haus stehen, und das selbstverständlich für ein
hervorragendes Argument dafür halten, daß sich die
Menschheit auf eine andere Rechtschreibung umzustellen
hat. Da eben das nun ohne höchstrichterliche Entscheidung
nicht mehr zu haben ist, haben die Journalisten
einen neuen Fall, an dem sie feststellen können, was sie
an allen sonstigen großen und kleinen Vorhaben der
Politik auch feststellen: Die Unfähigkeit der Politiker,
am Standort Deutschland längstfällige Reformen
durchzusetzen – oder wenigstens entschlossen abzublasen,
damit es eine einheitliche Gesetzeslage und keine
Anarchie
gibt. Also ist es höchste Zeit, daß der
Bundeskanzler die Rechtschreibung zur Chefsache
erklärt und eine Kommission einberuft, damit in dem von
ihm regierten Irrenhaus wieder Ruhe einkehrt.