Polens Ärger mit den Kosten der Freiheit

Etliche Millionen Arme – das hat diese Regierung, die sich dem Kapitalismus verschrieben hat, erreicht. Doch der EU reicht das nicht: Sie dringt auf Abbau staatlicher Subventionen in der Kohle- und Stahlindustrie und auf Reform des Sozialwesens. Der Aufstand der Unzufriedenen ist Polens Ordnungsproblem.

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Polens Ärger mit den Kosten der Freiheit

„Alle Staaten Ost-Europas können erstmals seit dem Fall der Mauer und der Öffnung des Eisernen Vorhangs mit einem Wachstum ihrer Wirtschaft rechnen. Die Europäische Entwicklungsbank erklärte in London, im Durchschnitt würden die ehemals kommunistischen Volkswirtschaften im nächsten Jahr um 3,2% zulegen. Dramatisch verschlechtert hat sich aber der Lebensstandard vieler Menschen in Ost-Europa. Die Zahl der Menschen in Armut hat sich mehr als verzehnfacht – auf 170 Millionen.“ (WDR-2-Nachrichten, 8.11.99)

Zum Jubiläum melden sie es sogar im Radio: 10 Jahre Kapitalismus bedeuten, den Leuten geht es schlechter. 10 Jahre „Öffnung“ für die eisernen Gesetzmäßigkeiten der Marktwirtschaft bedeuten: Die Ökonomie dient dem neuen Zweck Wachstum, jenes bemisst sich in Zuwachsraten an Kapital; die Wirtschaft rechnet mit Gewinnen, ihre in Lohnabhängige verwandelten Werktätigen verarmen. Beschönigend an dieser offenen Auskunft ist zum einen das kleine „aber“: Der Lebensstandard vieler Menschen sinkt nicht trotz der Wende ins Freiheitslager – die „Transformation“ der osteuropäischen Gesellschaften in kapitalistische Gemeinwesen erfordert die Verelendung der Massen, und das nicht nur übergangsweise, sondern zusehends und dauerhaft. Die zweite kleine Lüge betrifft das vermeldete „Zulegen“ in Sachen Wachstum. Von dem ist in den zur Marktwirtschaft transformierten Ländern weit und breit nichts zu sehen, und in einem Land wie beispielsweise Polen hat es mit ihm so seine Besonderheiten.

Wachsende Armut: Ein bedauerlicher,aber heilsamer „Transformationsschock“

Die deutsche Presse verschweigt nichts. Sogar von den für hiesige Verhältnisse völlig belanglosen Protesten der Polen gegen die Regierung eines nun befreundeten Nachbarn berichtet sie gelegentlich:

„Polnische Rüstungsarbeiter stürmen Regierungsviertel! Mit Gummigeschossen, Wasserwerfern und Tränengas ist die polnische Polizei in Warschau gegen protestierende Arbeiter eines Rüstungsbetriebes vorgegangen. Sie forderten mehr Aufträge für ihre Fabrik. Die Demonstranten trugen Spielzeug-Maschinengewehre mit sich und drohten, mit echten Waffen aus ihrer Fabrik zurückzukehren.“ (FAZ, 25.6.99)
„Gewaltlose Krankenschwestern drohen mit Generalstreik! Narkoseärzte, Bauern, Bergleute, Traktorenbauer, Stahlkocher und seit 30 Tagen immer wieder Krankenschwestern, Hebammen oder Krankenwagenbesatzungen kommen in Regimentsstärke nach Warschau.“ (FAZ, 12.7.99)
„Die Bauern, insbesondere das Heer der nach Auflösung der Staatsgüter arbeitslos gewordenen Landarbeiter gehört zu den Verlierern der Wende in Polen. Die Unzufriedenheit der Landbevölkerung droht sich in immer heftigeren Protesten zu entladen.“ (FAZ, 24.7.99)

Man erfährt von Gewinnern und Verlierern, von Machern und Opfern der polnischen Wende; von dem Gegensatz, in den sich der Staat, der Organisator der Reformen, zu den in Massen Reformbetroffenen setzt; von den Verdammten dieser Erde (SZ, 25.9.99), die es inzwischen nicht nur in brasilianischen Elendsvierteln, sondern gleich hinter Oder und Neisse zu besichtigen gibt. Die Kenner der Szene bestreiten noch nicht einmal, dass die brotlos gemachten Arbeiter und Bauern Gründe für ihren Ärger haben – und entwickeln dabei eine Anteilnahme, die einigermaßen widerlich ist. Eine Presse, die von purer Existenzangst bald der ganzen einkommensabhängigen Bevölkerung berichtet, hakt als allergrößte Selbstverständlichkeit ab, dass Lohnarbeit für die, die von ihr leben müssen, ein taugliches Lebensmittel offenkundig nicht ist. Wenn Waffenschmieden, Energiekapitale und Landbesitzer für Teile der Lohnarbeiterschaft keine profitable Verwendung haben oder Krankenhäuser kein Geld für ihre Angestellten, dann gibt es eben keine Beschäftigung und für die Unbrauchbaren nichts zu beißen. Bei diesem einfachen Sachgesetz der Marktwirtschaft deckt sich für die westlichen Armutsberichterstatter die Feststellung der Notwendigkeit der Nöte, die das kapitalistische System seinen besitzlosen Massen beschert, mit deren Unabänderlichkeit, die der Pole nun am eigenen Leib erfährt und zu ertragen hat:

„Das Heer der Kleinbauern, aber auch viele Bergleute oder Stahlarbeiter wissen, dass sie überflüssig sind. Immer deutlicher spüren nun die Polen insgesamt, dass keiner mehr sicher sein kann, den erlernten Beruf auch bis zum Rentenalter ausüben zu können – ein Transformationsschock, den die Regierung allenfalls lindern kann.“ (FAZ, 24.9.99)

Kluge Köpfe aus Frankfurt a.M. versetzen sich in die Gemütslage der polnischen Überbevölkerung – und entwickeln ganz viel Verständnis. Kalt erwischt von einer Karriere vom realsozialistischen Werktätigen und Parzellenbauern zum disponiblen Lohnempfänger, Saisonarbeiter, Schuldenbauern, Basarhändler oder einfach nur Erwerbslosen, taumelt die menschliche Manövriermasse der Transformation „schockiert“ ins Regierungsviertel, um sich dort als überflüssig zu melden: Was die Einführung des Kapitalismus an ihm vollzogen hat, „spürt“ der überzählig gemachte Pole als sein Schicksal, gegen das er sich ein letztes Mal vergebens sträubt: „Allenfalls lindern“ können die Regierenden sein Elend…

Mit diesem nüchternen Vermerk, dass die polnische Regierung für die Ernährung ihrer zunehmend vorhandenen, kapitalistisch aber unnützen Armen einfach nichts tun „kann“, lassen die öffentlichen Berichterstatter durchblicken, in welcher Hinsicht es die polnische Staatsgewalt ihnen recht zu machen hat: Erstens hat sie das Transformationsprogramm – Polens Eingliederung in die Bollwerke von Freiheit und Markt, NATO und EU – ohne Rücksicht auf die Pauperisierung des Volkes durchzuziehen; und zweitens soll sie die Opfer des Systemwechsels auch politisch bei der Stange halten, wie auch immer. – Mit diesem Antrag liegt die öffentliche Meinung voll auf politischer Linie. Die Eingemeindung Polens und weiterer Ex-„Satelliten“ des Ostblocks kommt voran und soll unumkehrbar sein. Einsprüche gegen die Folgen des Übertritts zu Kapitalismus und Demokratie lassen das westliche Kriegsbündnis und der europäische Wirtschaftspakt, die sich nach Osten erweitern, nicht gelten: Nicht vom polnischen Staat, der um seinen nationalen Ertrag aus NATO- und baldigem EU-Beitritt bangt, und erst recht nicht von dessen lohnabhängigen Untertanen, die den Ertrag der reformierten Staatsräson für ihr kärgliches soziales Dasein vermissen.

Die EU-Beitrittsperspektive für Polen: Mehr oder minder ein Abbruchunternehmen

Die militärische Eingemeindung Polens ist zur weitgehenden Zufriedenheit ihrer westeuropäischen Paten vollzogen; das Zeugnis für den ökonomischen Sektor fällt hingegen nicht so gut aus.

Die amtierende Regierung[1] hat den Auftrag der EU wohl erhört: „Transformation“ verlangt nicht einfach nur den Willen, Kapitalismus zum Mittel der Nation zu machen, sondern die tätige Bereitschaft, dafür die ganze Nation umzukrempeln. Die Koalition unter Jerzy Buzek setzt das Werk ihrer Vorgänger fort und hält unverrückt an der für Europa tauglichen Transformation Polens als Gebot der Stunde fest. Dem Kriterium der Anschlussfähigkeit genügt die Zerstörung, die ein Jahrzehnt Marktwirtschaft in Polens Nationalökonomie angerichtet hat, nämlich noch nicht; deshalb hat auch diese Reform-Regierung eine weitere „Strukturreform“ angepackt, die der „Umstrukturierung der Problembranchen Stahl, Bergbau, Rüstung, Eisenbahn sowie Landwirtschaft“ gewidmet ist. Die Schließung weiterer unrentabler Betriebe trägt den rein geldpolitischen Zielsetzungen – Entlastung des Staatshaushalts, Senkung der Inflationsrate unter 10%, Stabilisierung des Außenwerts des Zloty – Rechnung, mit denen Polen von der EU eine gewisse Rücksichtslosigkeit im Umgang mit diesen Industriesektoren aufgeherrscht wurde. Und genau an dieser lässt es die polnische Regierung für den Geschmack der EU noch immer missen:

„EU-Unterhändler van der Pas: Die Positionen beider Seiten seien nicht unvereinbar, doch habe die EU-Kommission Zweifel an der polnischen Umsetzungskapazität für den zeitgerechten Wandel in grundlegenden Wirtschaftszweigen.“ (NZZ, 12.5.99)

Generell Lob gebührt der Reformpolitik, die in Polen die kapitalistische Grundrechnungsart durchgesetzt und etabliert hat. Der eingeführte Sachzwang eines – im nationalen wie globalen Maßstab – kapitalistisch rentablen Produzierens hat gleich nach seiner Einführung bei ziemlich vielen Industrie- und Agrarbetrieben dafür gesorgt, das sie mangels lohnender Gewinnaussichten gar nicht erst mit einer Eröffnungsbilanz aufwarten konnten. Diesen ersten Kosten der Verpflichtung der Gesellschaft auf die Produktion von Mehrwert und das Verdienen von Weltgeld, die mit der alten Rechnungsart und nationalen Arbeitsteilung restlos aufgeräumt hat,[2] folgen seitdem weitere nach: Fabriken, die nach Gewinn- und Verlustrechnung arbeiten, minimieren ihre Verluste durch Ausdünnung der Belegschaften und machen zu, wenn keine Aussicht auf ein Geschäft besteht. Die Herrichtung Polens für die Marktwirtschaft ist also gelaufen, noch nicht aber die fertige Anpassung der heimischen Ökonomie an die Anforderungen des europäischen Marktes: Die Forderung, diese endlich zu vollziehen, kleidet die EU in den „Zweifel“ an der Bereitschaft ihres Beitrittskandidaten, „den zeitgerechten Wandel in grundlegenden Wirtschaftszweigen“ hinzukriegen. So unterzieht die Kommission alle nennenswerten Sphären eines polnischen Geschäftslebens einer Prüfung, die zum einen deren Konkurrenzfähigkeit im europäischen Vergleich betrifft, zum anderen aber auch den polnischen Staat mit dem Verdacht ins Visier nimmt, womöglich aus falsch verstandener Rücksicht auf die eigene Ökonomie fällige Abbruchmaßnahmen zu verschleppen:

– Zur Umstrukturierung der Kohleindustrie setzt die aktuelle Staatsmacht auf ein Nebeneinander von Verringerung der Belegschaft, Drosselung der Produktion und Aufgabe von Zechen.

„Für den Bergbau plante die Regierung 1999 einen radikalen Stellenabbau und die Schließung besonders unrentabler Zechen, von denen einige 1998 beim Verkauf von 1 t Kohle 30 Zloty Verlust machten. Bis 2002 sollen im Bergbau von 220000 Beschäftigten (1998) nur noch 138000 arbeiten. Die polnische Regierung hoffte, dass die verbleibenden Gruben ab 2001 wieder Gewinne erzielen.“ (Harenberg-Jahrbuch aktuell 2000)

In dieser Form will der Staat die Kohleproduktion „gesundschrumpfen“ und deren Rest sichern. Dafür, dass er die „Strukturreform“ nicht gleich als pure und flächendeckende Demontage seines Zechenwesens durchzieht, kennt der polnische Staat – wie jeder ideelle Gesamtkapitalist – gute nationalökonomische Gründe: Energieversorgung und Infrastruktur des Landes sind ganz auf den Abbau der einheimischen Stein- und Braunkohle zugeschnitten; die Kohle ist Exportartikel, nach Europa, Russland und in die Ukraine, also wesentlicher Devisenbringer; ersatzweiser Import würde die negative Handelsbilanz nur weiter belasten; außerdem sollen die aufgebrachten Investitionen von durchschnittlich 150 Millionen DM pro Grube nicht umsonst gewesen sein. Dem gegenüber steht die rein negative wirtschaftliche Bilanz: Ein Teil der Gruben ist zahlungsunfähig; sie zahlen weder Kredite an Banken zurück, noch Steuern oder den Arbeitgeberanteil in die Sozialversicherung ein; die schwindende gesamtgesellschaftlich gezahlte Lohnsumme und der geschäftliche Niedergang gerade der energieintensiven Branchen führte 1998 zur absoluten Senkung der Binnennachfrage nach Kohle; überdies dezimiert die russische Finanzkrise ihre Ausfuhr. So darf die Bevölkerung nach 10 Jahren Marktwirtschaft erstmals erfahren, wie gut sich in der vernünftigsten aller Wirtschaftsweisen unverkäufliche Halden von Heizstoff mit frierenden Menschen in Warschau und anderswo vertragen. Deren Obrigkeit ist das freilich die geringste Sorge. Vielmehr plagt den polnischen Staat die Frage, was er angesichts des vernichtenden Urteils des (Welt-)Marktes zur Erhaltung seiner „Problembranche Nr. 1“ noch tun kann bzw. will. Die Potenz zu gewinnbringenden Rationalisierungen in den verbliebenen Zechen, die deren Wettbewerbsfähigkeit vielleicht sichern könnten, ist sehr begrenzt: Den Firmen fehlt bei sinkenden Erlösen die Kapitalmasse zur „Modernisierung“, die der Staat, der auf „Privatisierung“ und „Sparhaushalt“ setzt, ihnen auch nicht spendieren mag. Dennoch überlässt er seinen Bergbau nicht einfach dem Schiedsspruch der kapitalistischen Konkurrenz und schmeißt ihn weg – und genau daran stört man sich in Europa.

Nach dem Willen des Vereins, dem es beitreten will, soll sich Polen jeder Korrektur an seinem maroden Bergbau enthalten. Die EU droht ihrem „Musterknaben“, ein Verzögern der Stilllegung unrentabler Gruben mit dem Verzögern von Polens EU-Mitgliedschaft zu beantworten; wie überall im Osten, erkennt Europa auch in Polen die „Erblast“ des Sozialismus nicht als Entschuldigung an und besteht stur auf Wettbewerbsgleichheit: Eine andere als die unternehmerische Bilanz des Kohleabbaus will es nicht gelten lassen, jeder politische Eingriff in diese Rechnung wird dem Kandidaten als unzulässige Verfälschung der Gesetze der freien Konkurrenz ausgelegt, die er mit seinem Beitrittsantrag doch gebilligt hat.[3]

– Ähnlich verhält es sich mit dem zweiten Streitobjekt, der Stahlindustrie. „Umstrukturierung“ nach dem Willen Polens heißt hier Reduktion von Produktionskapazitäten und Personalbestand bei paralleler Suche nach einem „strategischen Investor“ aus dem Ausland, der zumindest in die großen Hütten in Kattowitz oder Krakau einsteigt. Daneben beantragt Polen bei der EU, „erhöhte Quoten für seine Walzerzeugnisse“ zuzulassen und „EU-Importe auf 15% der Inlandsnachfrage zu beschränken“. Beidemal erhält Polen den Bescheid, dass die Umstrukturierung nach dem Willen der EU anders auszusehen hat:

„Schon länger schwelen die Auseinandersetzungen zwischen Warschau und Brüssel über die Perspektiven der teilweise stark defizitären polnischen Stahlindustrie. Nicht sehr erfreulich für die Kommission, dass sich Warschau bei der schrittweisen Senkung der Einfuhrzölle für Stahlprodukte nicht an die Vorgaben des Assoziationsabkommens hält… Die veranschlagten staatlichen Beihilfen nähren die Befürchtung, der polnische Staat wolle möglicherweise der einheimischen Stahlindustrie unter die Arme greifen.“ (Handelsblatt, 27.5.98)

Natürlich verstehen die etablierten kapitalistischen Staaten das Bedürfnis ihres östlichen Kollegen, der Grundstoffindustrie, also dem Fundament ihrer industriellen Produktion, Märkte zu sichern und Kredite zu spendieren – sie halten es bei sich ja selber so. Aber sie billigen es eben nicht. Wenn sie Polen in ihren Binnenmarkt aufnehmen, verlangen sie nicht nur, dass sich dort ansässiges Kapital dem europaweiten Rentabilitätsvergleich aussetzt und dessen Ausgang anerkennt; sie stellen auch klar, dass der polnische Markt damit ihr Markt zu sein hat.[4] Entsprechend fundamental fällt die Missbilligung nationaler Subventionspraktiken in Polen aus: Wenn dieser Staat auf Berücksichtigung seiner Rückständigkeit pocht und seinen Stahlmarkt vor fremden Produkten schützen will, zieht dies seine Europafreundlichkeit in Zweifel. Wer zu spät kommt, den bestrafen der Weltmarkt und die EU-Kommission: Ursprünglich vorgesehene Fördergelder werden unter Verweis auf Polens „mangelnde Sanierung im Stahlbereich“ um 40 Millionen Ecu gekürzt.

– Ein dritter Knackpunkt verdeutlicht einen weiteren Anspruch, den Polen mit seinem Anschluss an Europa zu erfüllen hat: die Reform des Sozialwesens, ein Kernpunkt des Forderungskatalogs der EU (SZ, 25.9.99). Den angemeldeten Reformbedarf teilen Polens Machthaber insofern, als sie auf Grundlage ihrer neuen Staatsräson auch selbst eine neue Besichtigung der Bedürfnisse ihrer Arbeiter und Bauern vornehmen. Der Beschluss, auch die letzten noch staatlich betriebenen Sphären ihres Kapitalismus – Montan, Rüstung, Eisenbahn – von den Überresten der sozialistischen Beschäftigungspolitik zu befreien und die Zahl der angewandten Lohnarbeiter um mindestens 30% zu kürzen, zieht das Urteil nach sich, dass für unrentable Arbeiter nicht nur jeder Zloty Lohn, sondern auch jeder Lohnersatz unzweckmäßig verausgabtes Geld ist. Ernährung und Versorgung ist nun auch im geläuterten Polen endlich Privatangelegenheit, in die der Staat sich nicht einmischt. Und bei dem, was er allenfalls noch für die Betreuung seiner Massen übrig hat, stellt sich auch in seinem Fall eine im ganzen kapitalistischen Westen verbreitete Erkenntnis ein: Das Volk ist zu teuer – und zwar in dem Maße, wie die gültigen Kalkulationen, denen er es aussetzt, immer weniger Leuten den Verkauf ihrer Arbeitskraft erlauben. Streng nach der sozialstaatlichen Klassen=Kassen-Logik, die Summe für die todsicher eintretenden Wechselfälle eines Proletarierlebens vom Lohn der aktuell Benutzten abzuzweigen, werden die Sozialkassen klamm, je mehr Ausgemusterte ihrer bedürten. Kaum hat Polen eine solide Arbeitslosenquote von 11% und ein stetig anwachsendes Heer verwahrloster Tagelöhner, im Ausland tätiger Dienstboten und Spargelstecher, bewegt sich die mit der Wende eingeführte Sozialkasse ZUS „zielstrebig auf einen Bankrott zu“; Leistungen werden gestrichen, Renten kommen nicht mehr pünktlich. Da hilft nur eins: Runter mit den Ansprüchen ihrer Empfänger. Vom Sozialstaat lernen, das heißt eben auch: Renten, Gebisse, Sozialhilfe und andere ruhmreiche Insignien des Goldenen Westens sind eine reine Kostenfrage, ihre Finanzierung deshalb ein Luxus, den eine moderne Nation sich einfach nicht mehr leisten kann.

„Auch die zum Jahresbeginn eingeleitete Reform des Gesundheitswesens tut sozial weh, weil sie endgültig mit der Illusion aufräumt, ärztliche Leistungen seien wie im früheren staatlichen System mehr oder weniger kostenlos zu haben.“ (HB, 8.2.99) „Sie macht Schluss mit dem sozialistischem System der Rundumversorgung auf niedrigem Niveau.“ (SZ, 25.9.99)

Die vermeldete Freude gilt dem Umstand, dass Kranke für schlechtere medizinische Leistungen künftig teurer bezahlen müssen – was Körper und Geldbeutel schmerzt, die Patienten aber auch von der wahnhaften Illusion befreit, an der sie 40 Jahre litten: Sie könnten einfach so zum Arzt, wenn’s wehtut. Wobei die Praxis, die Polens Postsozialisten anpacken, um auch ihren Gesundheitsbereich marktwirtschaftstauglich zu machen, mit „schlechter“ und „teurer“ noch verniedlichend umschrieben ist: Die Nation leitet den Aufbau ihres Kapitalismus gleich mit dem Eingeständnis ein, dass sie die für einen Sozialstaat westlichen Zuschnitts nötigen Mittel gar nicht hat. Das hindert sie aber überhaupt nicht daran, jetzt das Pillendrehen, Zusammenflicken und Pflegen auf Geschäftsrechnungen zu gründen und zur Finanzierung des Geschäfts die 7,5% des sinkenden Bruttolohns einzusammeln, die dafür garantiert nicht reichen. Das trifft: Die meisten Patienten, die sich fragen müssen, ob sie sich Kranksein leisten können; die Kliniken, die jetzt zusehen, welche Therapien und Geräte bezahlbar sind; schließlich das Pflegepersonal, dem erklärt wird, dass nach überdotierten Krankenschwestern, Hebammen oder Krankenwagenbesatzungen kein Bedarf besteht.

Wenigstens auf diesem Feld, bei der Verarmung ihrer rundumversorgten Lohnabhängigen, dürfte die ehemalige Volksrepublik Polen den Kernpunkt des Forderungskatalogs der EU getroffen haben.

Am Prinzip des Forderungskatalogs ändert das aber nichts. Die Europäische Union erweitert sich nach Osten: Sie erwählt und sortiert die Aufnahmekandidaten, bestimmt Modalitäten und Konditionen des möglichen Beitritts, die von den jeweiligen Bewerbern zu erfüllen sind. Ob es ihnen gelingt, sich für Europa hinlänglich herzurichten, entscheidet sich an 2 Prüfsteinen: Erstens haben sie alles zu unternehmen, ihre Marktwirtschaft anschlussfähig zu machen. Entweder das im Land ansässige Kapital erringt europäisches Konkurrenzniveau – oder es rechnet sich nicht und verdient sich damit zusammen mit seinen lebendigen Elementen seine eigene Brachlegung. Nur diese geschäftliche Bilanz zählt: Darauf besteht die EU gegenüber allen potenziellen Neumitgliedern. Zweitens haben die deshalb alles zu unterlassen, was einer politischen Korrektur an dieser Bilanz ähnelt. Nationale Erhaltungsmaßnahmen wichtiger Unternehmen und Branchen, erst recht die Behinderung eines offenen Zugangs europäischen Kapitals zum eigenen Markt: Beides unterliegt dem Verdikt eines nicht hinnehmbaren „Protektionismus“ und gilt als Indiz für einen mangelnden Willen zur Öffnung für Europa.

Wenn die EU-Kommission die Nationalökonomien der Beitrittsstaaten als tendenzielle Abbruchunternehmen ins Auge fasst und an dem praktischen Vollzug ihres Urteils die Beitrittswilligkeit ihrer Kandidaten testet, dann verpasst sie ihnen zugleich einen neuen Status ihrer Mitgliedschaft: Den hinzukommenden Ländern Ost-Europas wird nachdrücklich bedeutet, dass sie Mitglieder sind, an deren Entwicklung kein Interesse besteht. Sie werden in den vergrößerten Markt „integriert“ und haben sich dafür „fit“ zu machen: Eine Prämie für die Erfüllung der weitgehend unverhandelbaren Eintrittsbedingungen wird nicht in Aussicht gestellt; „Kohäsions- oder Strukturfonds“ als Kompensation für die absehbaren Schäden, die sie bei ihren Anstrengungen erleiden, sich für Europa tauglich zu machen, sind auf sie nicht übertragbar. Je mehr es in Polen ökonomisch bergab geht – wegen der Anstrengungen des Landes, den in der „Agenda 2000“ niedergelegten Standards zu genügen –, desto nachdrücklicher besteht die EU darauf, dass der Weg der Eingemeindung alternativlos ist. Andere Perspektiven lässt die EU nicht gelten, und die polnische Regierung pflichtet dem im Prinzip nur bei: Draußen zu bleiben aus Europa kommt für sie nicht in Frage.

Daher darf sie sich auch der weiteren Aufgabe widmen, die innere Stabilität ihres Landes zu garantieren – und auch da muss sich die polnische Regierung ermahnen lassen. Die Massenproteste beweisen: Der soziale Friede lässt sehr zu wünschen übrig. In den Griff zu kriegen, was Europa aufrührt: Dafür haben Polens Ordnungskräfte zu sorgen.

Proteste gegen Europa: Ein polnisches Ordnungsproblem

Im September 1999 organisieren die verschiedensten Reformbetroffenen einen Massenprotest gegen die polnische Regierung, der in einem Marsch der Unzufriedenen in Warschau mündet. Sie fordern Lohn, Sicherung der Arbeit, Sicherung der Landwirtschaft, Rücknahme der Gesundheitsreform, Subventionen, Agrarimportverbot, Protektionismus. Der populäre Bauernführer Lepper agitiert für Volkssozialismus und eine Volksfront zwischen Bauern und Arbeitern, welche die Errungenschaften Volkspolens gegen die Reformen aus dem Solidarnosclager verteidigen soll. Er wettert gegen die Regierung, die im Solde der Weltbank und des IWF steht und dem Westen in den Hintern kriecht und ruft zu deren unblutigen Sturz auf (SZ, 25.9.99).

Der Aufstand der Unzufriedenen ist in doppelter Beziehung ein Produkt des polnischen Aufbruchs in die Abhängigkeit vom europäischen Imperialismus.

Zum einen erzeugt der Staat mit den Notwendigkeiten, die er seiner Gesellschaft verordnet, notwendig „Reformbetroffenheit“. Sein Transformationswerk mit EU-Perspektive reformiert das Erbe von Planwirtschaft und „Rundumversorgung“ weg und saniert die Ergebnisse einer Dekade Kapitalismus explizit auf Kosten der ökonomischen Basis, deren Rentabilität er verlangt. Um diesem Imperativ gerecht zu werden, wird das nationale Wirtschaftsleben weiter dezimiert, werden weitere Werften und Höfe geschlossen und weitere Lohnarbeiter brotlos gemacht. Dafür kennt der Staat, der dem Kapitalstandort Polen verpflichtet ist, in seiner neuen Räson schon genug eigene Gründe; aber dass er diesen Standort auch noch im europäischen Rentabilitätsvergleich und unter Aufsicht der EU hochzuziehen hat, erzeugt einiges an „Reformbetroffenheit“ mehr: Manche Abbruchmaßnahme, die aus nationalen Gründen vielleicht nicht so oder nicht so schnell erledigt worden wäre, muss Polen wegen Europa vollstrecken und gegen die von ihr Betroffenen durchsetzen. Der Staat opfert Teile seiner Nationalökonomie für die EU. Die Abwicklung des industriellen Mittelstandes, die Kürzungen beim staatlichen Dienstpersonal und die weitere Verarmung eines ohnehin schon auf den Status der Subsistenzwirtschaft regredierten Bauernstandes: All das findet in dieser Radikalität nur statt, weil die Nation ihre EU-Beitrittskriterien zu erfüllen hat und dies im Prinzip auch will. Und genau dies: dass alle polnischen Regierungen trotz unattraktiver Beitrittsaussichten auf der Alternativlosigkeit dieses einmal zum „Erfolgsweg“ der Nation bestimmten Kurses beharren, bringt die „Verlierer der Wende“ vom Konkurskapitalisten bis zum Metallarbeiter gegen ihre europafreundliche Obrigkeit auf.

Auf das Elend, das ihnen selbst beschert wird, genauso wie auf den unübersehbaren Ruin des Landes machen sich die betroffenen Massen in Polen ihren eigenen, sehr polnisch gefärbten Reim. Unter Kommunismusverdacht stand etwa ein Bauer Lepper, der die Unzufriedenen anführt, gewiss noch nie; wenn dieses Sinnbild des aufrechten, fleißigen Polen einen „Volkssozialismus“ beschwört, dann steht ihm und seinen – nicht wenigen – Anhängern vor Augen, dass ihr geliebtes Polen bis vor kurzem noch ein funktionierender Industriestaat war, in dem das Volk sein Auskommen hatte. An den Sozialismus mit seiner Planwirtschaft, mit der der Industriestaat Polen immerhin funktioniert hatte, wollen sie sich dabei nicht erinnern, dafür aber umso mehr daran, dass dieses Land ausweislich seiner Vergangenheit keineswegs von Haus aus reif zum Abbruch ist. Daher steht für sie fest, dass ihr Land allein vom Kurs der Regierenden in den Ruin regiert wird, den dann auch noch sie auszubaden haben: Es sind polnische Patrioten, die da gegen den offiziellen Nationalismus Polens mobil machen, weil dessen Vertreter den Bestand der Nation aufs Spiel setzen. Gar nicht das kapitalistische Geschäft, dessen Gesetzen die Regierung ihre Volksmassen unterwirft, sondern Ausverkauf und Vaterlandsverrat zeichnen für sie dafür verantwortlich, dass Volk und Nation so darniederliegen. Nicht in der Subsumtion des Volkes unter die nationale Zwecksetzung liegt für sie der Grund allen Elends in Polen, sondern in der Auslieferung Polens an fremde Nationen; nicht darin, dass und wofür sie regiert werden, ist für sie der Skandal, sondern dass sie von Kriechern regiert werden, die sich vor dem mächtigen Westen nur ducken statt ihm ordentlich auf polnisch Paroli zu bieten: Dagegen stehen sie auf. Unter Berufung auf die verbreiteten sozialen Nöte wie auf die wirtschaftliche Zugrunderichtung des Landes formiert sich ein unzufriedener, daher alternativer Nationalismus zu einem „Marsch der Unzufriedenen“ und begehrt gegen eine un-polnische Führung auf, die vor internationalen Banken & Blutsaugern kuscht und anständige Arbeiter & Unternehmer um die Früchte ihrer Mühen prellt. Die nationale Frage, ob Europa eine Erfolgsperspektive für Polen ist, erfährt ihre kongeniale national-sozialistische Absage von unten: Nein, dieses Bündnis betrügt Volkspolen um all seine Rechte, und dieser Standpunkt sorgt im Land nicht nur für mächtig Krawall: Er bringt schon auch eine für jeden politischen Verantwortungsträger, dem es um sein Polen geht, gar nicht so leicht von der Hand zu weisende nationale Alternative zur Sprache.

Und die EU? Sie ignoriert die Nöte ihres Anschlusskandidaten, sein Volk geschlossen für Europa aufzubringen, und legt ihm ein letztes Konvergenzkriterium vor: Moderne europataugliche Staaten behandeln die sozialen Nöte, die ihr Projekt auf die Tagesordnung setzt, als Ordnungsproblem und sorgen dafür, dass ihre Insassen Ruhe geben. Und da zeigt die polnische Regierung dann, was sie von der Demokratie gelernt hat und wie europareif sie an dieser Front zumindest ist: Während sich in Warschau eine hochgerüstete Polizei den Demonstranten beim „Marsch der Unzufriedenen“ gegenüber stellt, macht ein Plan die Runde, am Stadtrand einen eigenen Platz für Großdemonstrationen herzurichten. Sollen die Unzufriedenen doch merken, dass Polen einfach keine Alternative hat, ihr Protest daher auch überhaupt keinen richtigen Ansprechpartner und Folgen sowieso nicht. Aber selbstverständlich nimmt ihnen keiner das Menschenrecht auf freie Meinung weg.

[1] Seit Herbst ’97 eine Koalition aus der Wahlaktion Solidarnosc und der Freiheitsunion, deren Finanzminister, „Schocktherapeut“ Leszek Balcerowicz, die Glaubwürdigkeit des Anschlusswillens an die EU personifiziert.

[2] Zum Aufbruch der Nation ins kapitalistische Europa, siehe GegenStandpunkt 1/2-96, S.79: Das Modell Polen.

[3] Auch die Weltbank verweigert Polen im Herbst 1999 die Auszahlung der ersten Tranche eines Kredits über 300 Millionen $, der zur „Restrukturierung des polnischen Bergbaus“ vorgesehen war: Die nur 41 Zechenschließungen des Jahres 1998 seien ein „ungenügendes Sanierungsprogramm“.

[4] Polens „mögliche“ Anstrengungen, seiner Stahlindustrie „unter die Arme zu greifen“, sind schon deshalb ein Unding, weil sie unseren einschlägigen Bemühungen entgegenstehen: Immerhin hat EKO Stahl Eisenhüttenstadt dank tatkräftiger „Beihilfen“ aus Deutschland und der EU gerade ein Konkurrenzwerk an die Staatsgrenze gestellt, dessen „strategisches Ziel“ neben der Rohstahlkonkurrenz zu den polnischen Hütten darin besteht, diese als Zulieferer westlicher Automobilfabriken (Opel, VW Poznan, etc.) auszuschalten.