Peter Sloterdijk
Posthumanistischer Menschenbildner gerät in tiefe Wasser

Weil „der Mensch“ zur „Entmenschung“ neigt, braucht er einen Dompteur, der ihm den Humanismus beibiegt. Leider hat der Humanismus so wenig zur Vermenschlichung der Welt beigetragen. Sloterdijk denkt vorwärts: Wenn Erziehung nichts fruchtet, muss auch Genveränderung angedacht werden dürfen, ohne dass er sich gleich Faschismus nachsagen lassen muss; und Deutschland hat endlich eine intelligente Debatte zwischen Philosophen und anderen zur Menschenverbesserung berufenen Geistern.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Gliederung

Peter Sloterdijk
Posthumanistischer Menschenbildner gerät in tiefe Wasser

Würde in öffentlichen Debatten, die Zeit und ihren Geist betreffend, öfter der Verstand als die Sorge um dessen Gesundheitszustand beim Rest der Menschheit die Feder führen, kämen die meisten von ihnen wahrscheinlich gar nicht erst zustande. Zum Beispiel die, die der Philosoph Peter Sloterdijk mit seinem Vortrag „Regeln für den Menschenpark. Ein Antwortschreiben zum Brief [Heideggers] über den Humanismus“ losgetreten hat. Die erlesene Zuhörerschar auf Schloss Elmau/Obb. hätte der immerhin ziemlich langen Rede zielsicher das eigentliche Thema entnommen, nämlich die Epochenfrage

„Was zähmt noch den Menschen, wenn der Humanismus als Schule der Menschenzähmung scheitert? Was zähmt den Menschen, wenn seine bisherigen Anstrengungen der Selbstzähmung in der Hauptsache doch nur zu seiner Machtergreifung über alles Seiende geführt haben? Was zähmt den Menschen, wenn nach allen bisherigen Experimenten mit der Erziehung des Menschengeschlechts unklar geblieben ist, wer oder was die Erzieher wozu erzieht? Oder lässt sich die Frage nach der Hegung und Formung des Menschen im Rahmen bloßer Zähmungs- und Erziehungstheorien gar nicht mehr auf kompetente Weise stellen?“ –,

und sie mit ein paar Argumenten ad acta gelegt:

Erstens, wie kommt dieser Mann überhaupt dazu, nicht nur seinen Bekannten, sondern gleich dem Menschen bzw. dem Menschengeschlecht „Zähmung“ und „Erziehung“ anzuraten? Es ist schon sehr zu bezweifeln, dass er solchen Kopfgeburten jemals begegnet ist und sie am Ende noch in flagranti bei der „Machtergreifung über alles Seiende“ – drunter geht’s wohl nicht – ertappt hat. Eine intellektuelle Schlamperei ist es außerdem, unter dem Gesichtspunkt der drohenden bzw. schon eingetretenen „Entmenschung“ so gut wie alles gleich zu behandeln, was einen Liebhaber des „Humanums“ stört – vom Krieg bis zur Talkshow kommt da einiges zusammen –, kein wirkliches Subjekt dafür gelten zu lassen und stattdessen überall dasselbe Subjekt und denselben Fehler dingfest zu machen. Und zwar ohne ein anderes Argument als die vorausgesetzte Unterstellung, ausgerechnet „der Mensch“ in seiner ganzen Abstraktheit neige seiner Art nach sowohl zur „Entmenschung“ als auch zur Betreuung durch besorgte Aufpasser – schon ist der Ruf nach dem Dompteur fertig! Wobei die gattungsgeschichtliche Eigenart nicht unerwähnt bleiben soll, dass der sorgenvolle Redner sich und seinesgleichen – wahrscheinlich Musterexemplare der natürlichen Auslese – sub specie „Schule“ und „Erzieher“ fröhlich von dem Kainsgeschlecht ausnimmt, dem er in seiner ungezogenen Normalform die schlimmsten Entgleisungen nachsagt.

Zweitens, und die Sache wäre auch schon erledigt gewesen, was will uns der Dichter mit seiner verfremdenden Darstellungsweise denn eigentlich sagen? Dass Hopfen und Malz verloren sind, wenn der Humanismus in seiner Doppelnatur als Selbst- und Fremderziehung sowieso nichts bewirkt? Dann hilft das angestrengte Grübeln über die „Hegung und Formung des Menschen“ ja ohnehin nichts, und der Weltuntergang ließe sich resigniert bei einem Bierchen abwarten. Oder dass der „Rahmen bloßer Zähmungs- und Erziehungstheorien“ allmählich überschritten werden muss, will man „den Menschen“ endlich wirksam Mores lehren oder wie das dann heißt? Das letztere wird wohl die publizistische Aufgeregtheit der letzten Zeit erzeugt haben, ist außer in der angeberischen Pose aber kaum ernst zu nehmen. Die – angesichts modischer Legenden über die Gentechnik womöglich „angedachte“ – Ersetzung der Menschenzähmung durch die mindestens ebenso gräusliche Menschenzüchtung hat schließlich einen Haken: Worin bestünde denn der genpolitische Quantensprung, wenn inskünftig nur noch Menschenmodelle mit dem implantierten Sloterdijk-Faktor die Erde bevölkern und ihre freiwillige Selbstkontrolle ohne ethische Schulmeister und deren fatale Experimente ausüben sollten? Falls es tatsächlich ein Gen für die Fähigkeit gibt, die letztendliche Verantwortung für jedes denkbare Übel „dem Menschen“ und seiner Unzulänglichkeit in die Schuhe zu schieben, sich mit den eigenen Anliegen als guten Willens um das allgemeine Wohl besorgt darzustellen, der beständig an der Böswilligkeit anderer scheitert, dann gibt es dieses „Gen“ ja schon längst; wo ist da ein evolutionspädagogischer Nachholbedarf?

So einfach könnte man die 100000. Wendung des in der Tat aus der Geschichte des abendländischen Denkens bekannten Homolupus-Theorems abtun, wenn der Autor die Sache nicht ausgewalzt und die maßgebliche Öffentlichkeit nicht ziemlich aufgeregt darauf reagiert hätte. Da es aber so gekommen ist, sind ein paar zusätzliche Bemerkungen zur Rede vielleicht doch angebracht.

Die Geburt des Humanismus aus dem Geiste des Briefwechsels

Diese Zwischenüberschrift ist natürlich nicht ironisch gemeint. Historisch gesehen war es nämlich so, dass die alten Römer zwischen ihren diversen Eroberungsfeldzügen gern ein Denkpäuschen einlegten und sich von den noch älteren Griechen erzählen ließen, dass der Mensch an sich nicht ganz stubenrein ist und der Läuterung durch passende Vorbilder bedarf. Also gingen sie in sich, hörten auf die Freunde –

„Wenn heute hier in deutscher Sprache von humanen Dingen die Rede ist, dann verdankt sich diese Möglichkeit nicht zuletzt der Bereitschaft der Römer, die Schriften der griechischen Lehrer zu lesen, als wären sie Briefe an Freunde in Italien.“ (alle Zitate nach der inzwischen in der Zeit 38/99 abgedruckten Rede Sloterdijks), und beförderten, nachdem sie sich wieder gefangen hatten, fortan erbauliche Botschaften an die vielen Völker, die sie so besuchten:[1]
„Das latente Thema des Humanismus ist also die Entwilderung des Menschen, und seine latente These lautet: Richtige Lektüre macht zahm.“ Ich sage nur panem et circenses: „Man kann den antiken Humanismus nur verstehen, wenn man ihn auch als Parteinahme in einem Medienkonflikt begreift – das heißt als Widerstand des Buches gegen das Amphitheater und als Opposition der vermenschlichenden, geduldigmachenden, besinnungsstiftenden philosophischen Lektüre gegen den entmenschenden, ungeduldig aufbrausenden Sensations- und Berauschungssog in den Stadien.“

In diesem Sinne gingen die Jahre ins Land. Während die Massen sich in den Arenen an Christen-, Ketzer- und Judenverfolgung berauschten, förderten auf der anderen Seite Dutzende humanistischer Gymnasien die philosophische Lektüre, so dass seitdem kein besinnungsstiftendes Gespräch mehr ohne „homo homini lupus“ bzw. „nihil humanum me alienum puto“ über die Runde geht. Da wahres Menschentum insofern schon von der Entstehungsgeschichte dieses Ideals her mit der Buch- und Briefkultur eng verwandt ist, lassen sich die Totenglocken einer solch verzopften Vorstellung natürlich voraushören. Amphitheater und Stadien haben – in moderner Form, versteht sich – überlebt, aber…

„… die Epoche des nationalbürgerlichen Humanismus ist an ein Ende gelangt, weil die Kunst, Liebe inspirierende Briefe an eine Nation von Freunden zu schreiben, auch wenn sie noch so professionell geübt würde, nicht mehr ausreichen könnte, das telekommunikative Band zwischen den Bewohnern einer modernen Massengesellschaft zu knüpfen.“ Spätestens mit „den aktuellen Vernetzungsrevolutionen ist die Koexistenz der Menschen in den aktuellen Gesellschaften auf neue Grundlagen gestellt worden. Diese sind, wie sich ohne Aufwand zeigen lässt, entschieden post-literarisch, post-epistolographisch und folglich post-humanistisch.“ Kurz: „Die Ära des neuzeitlichen Humanismus als Schul- und Bildungsmodell ist abgelaufen, weil die Illusion nicht länger sich halten lässt, politische und ökonomische Großstrukturen könnten nach dem amiablen Modell der literarischen Gesellschaft organisiert werden.“

So kann’s gehen. Da braucht „der Mensch“ den freundschaftlichen Rat wohlmeinender Gönner, um nicht zum immer währenden Hooligan zu verwildern; eigentlich würden alle miteinander auch gern irgend so ein „Band“ knüpfen; – aber bums! brechen Telekommunikation und Vernetzung über die fast schon zivilisierte Gesellschaft herein, und der Zirkus – im altrömischen Sinn – geht von vorne los.

Die Krise des Humanismus im Lichte der Seinslehre

In der Tat, keine zweitausend Jahre nach dem Siegeszug der amiablen Pennälergesellschaft war es auch soweit. Der zweite Weltkrieg offenbarte in humanistischer Hinsicht eine ziemliche Bildungskatastrophe, und kein Geringerer als Heidegger musste, in einem „Brief über den Humanismus“, sowohl der Menschenidolatrie als auch dem immerzu gut gemeinten Briefeschreiben als Veredelungsinstrument einen insgesamt verfehlten Ansatz bescheinigen.

„Das Wort Humanismus muss aufgegeben werden,“ (Sloterdijk referiert einen „Teil von Heideggers Strategie“) „wenn die wirkliche Denkaufgabe, die in der humanistischen oder metaphysischen Tradition bereits als gelöste erscheinen wollte, in ihrer anfänglichen Einfachheit und Unausweichlichkeit wiedererfahren werden soll. Zuspitzend gesprochen: Wozu erneut den Menschen und seine maßgebliche philosophische Selbstdarstellung im Humanismus als die Lösung anpreisen, wenn sich gerade in der Katastrophe der Gegenwart gezeigt hat, dass der Mensch selbst mitsamt seinen Systemen metaphysischer Selbstüberhöhung und Selbsterklärung das Problem ist?“

Oh, dieses Problem. Jetzt steht also nicht nur die Telekommunikation, sondern gleich noch der Mensch selbst – in seiner Realform – dem Humanum oder der Idealform des Menschen entgegen. Die Unterscheidung „des Menschen“, wie er ist, von dem, was er nach Meinung seiner philosophisch-kulturwissenschaftlichen Betreuer sein soll, kommt einem zwar nicht übermäßig neu vor; dafür hätte es die „Katastrophe der Gegenwart“ auch nicht unbedingt gebraucht. Aber worin besteht nun, wenn dieser Abgrund schon zum ältesten Gedankenerbe der Menschheit zählt, eigentlich das bisher übersehene Problem? Zum einen darin, dass die bisherige Thematisierung der menschlichen Zwiespältigkeit zu wenig radikal ist, nämlich theoretisch:

„…es werden die drei kuranten Hauptheilmittel in der europäischen Krise von 1945: Christentum, Marxismus und Existentialismus Seite an Seite als Spielarten des Humanismus charakterisiert, die sich nur in der Oberflächenstruktur voneinander unterscheiden – schärfer gesagt: als drei Arten und Weisen, der letzten Radikalität der Frage nach dem Wesen des Menschen auszuweichen.“

Zum anderen darin, dass der Humanismus auch wieder zu radikal ist, nämlich praktisch:

„Tatsächlich deutet Heidegger die geschichtliche Welt Europas als das Theater der militanten Humanismen; sie ist das Feld, auf dem die menschliche Subjektivität ihre Machtergreifung über alles Seiende mit schicksalhafter Folgerichtigkeit ausagiert. Unter dieser Perspektive muss sich der Humanismus als natürlicher Komplize aller nur möglichen Greuel anbieten, die im Namen des menschlichen Wohls begangen werden können. Auch in der tragischen Titanomachie der Jahrhundertmitte zwischen Bolschewismus, Faschismus und Amerikanismus standen sich – aus Heideggers Sicht – lediglich drei Varianten“ (schon wieder) „derselben anthropozentrischen Gewalt und drei Kandidaturen für eine humanitär verbrämte Weltherrschaft gegenüber…“

Also zusammengefasst: Zwar ist schon der Humanismus mit seiner Botschaft eines „eigentlichen“ menschlichen Wesens, nach dem sich die Angehörigen der Gattung seltsamerweise nie richten, idealistisch genug. Er weicht vielleicht weniger seiner eigenen „Frage“ aus, bestimmt aber jeder Befassung mit Grund und Zweck staatlicher Maßnahmen, politischer Bewegungen, privater Umtriebe usw., weil ihm sowieso alles als Äußerung der „Menschennatur“ gilt und mehr als der Unterschied des Faktischen zum moralisch Anstehenden einfach nicht interessiert. Einem Denker wie Heidegger ist das aber noch viel zu wenig Idealismus. Gerade da, wo er selbst die Überhöhung „aller möglichen Greuel“ durch einen guten, humanen Auftrag bemerkt haben will, hört er nicht die Absage an ein kleinliches, interessengeleitetes Urteil heraus, sondern umgekehrt erst recht eine Art Materialismus, Orientierung an außerphilosophischen Interessen – eben „Machtergreifung übers Seiende“ –, dichtet im wahrsten Sinne politische Mordsfolgen hinein und empfiehlt dagegen seine eigene „Pastoralphilosophie“ (Sloterdijk). Zur wahren Bescheidung, die dem Menschen als Berufung genauso in die Wiege gelegt ist wie sein böser „Anthropozentrismus“ mit dem Hang zur „Titanomachie“, gehört halt doch was Höheres, wie man im Schwarzwald weiß. Um nicht wieder den lieben Gott oder ein vergleichbares metaphysisches Ebenbild des Menschen, der ein Problem ist, gleichzeitig als Lösung bzw. Aufsichtsinstanz zu empfehlen, greifen wir mal nach einem (fast) noch umfassenderen Allgemeinen und nennen es „Sein“:

„Wenn philosophisch Grund gegeben ist für eine Rede von der Würde des Menschen, dann deswegen, weil eben der Mensch der vom Sein selbst“ (ach, von dem!) „Angesprochene und, wie Heidegger als Pastoralphilosoph zu sagen beliebt, zu seiner Hütung Bestellte ist.“

Wer sich darunter nichts Rechtes denken kann, führe sich a) vor Augen,

„dass dieses Hüten keine frei gewählte Bewachungsaufgabe im eigenen Interesse darstellt,“ (Pfui Teufel! – auch wenn die Idee des Seins-Hütens aus eigenem Interesse so ihre Reize hat) „sondern dass die Menschen vom Sein selbst als Hüter angestellt werden. Der Ort, an dem diese Anstellung gilt, ist die Lichtung oder die Stelle, wo Sein aufgeht als das, was da ist.“

Ist ihm dann b) klar geworden, dass „das, was da ist“, eine einzige Verpflichtung darstellt, der sich niemand durch „frei gewählten“ Firlefanz entziehen kann, dann müsste auch klar sein, worum es bei diesem Geraune geht. Um ein Ideal der Menschenerziehung, das den Humanismus aber sowas von in den Schatten stellt, „eine über alle humanistischen Erziehungsziele weit hinausweisende besinnliche Askese“ nämlich, die „den Menschen“ diesmal nicht seiner Schlechtigkeit, sondern gleich seiner Nichtigkeit innewerden lässt. Ohne jede Vorstellung vom besseren Menschsein würde mit dieser recht grundsätzlichen Bescheidungshaltung c) eingelöst, was philanthropische Episteln bisher immer nur versprochen haben – wenigstens die Form des Postulativs haben humanistische und posthumanistische Menschenbild(n)er gemein:

„Nur kraft dieser Askese würde eine Gesellschaft der Besinnlichen jenseits der humanistischen literarischen Sozietät sich formieren können; es wäre dies eine Gesellschaft aus Menschen, die den Menschen aus der Mitte rückten, weil sie begriffen hätten, dass sie nur als ‚Nachbarn des Seins‘ existieren – und nicht als eigensinnige Hausbesitzer oder als möblierte Herren in unkündbarer Hauptmiete.“

So verschroben das alles klingt, die Botschaft ist schon deutlich. Während das alte Menschenbild vom Schwein, das nach Höherem strebt, die Notwendigkeit der moralisch-antimaterialistischen Ertüchtigung oder „Menschenzähmung“ noch irgendwie begründen wollte, sich somit an sein alter ego – das immer fragwürdige „Eigen“interesse – anwanzte, kommt das neue vom Sein, das sich Hüter bestellt, im Gewand einer sowieso unabweisbaren, naturgegebenen Zwangsläufigkeit daher. Der Mensch soll sich nicht mehr aus Einsicht in die unerwünschten Folgen seines Handelns fügen, sondern lieber einsehen, dass das Sich-Fügen überhaupt seine „wesentlichste“ Bestimmung ist. Menschen sind Wesen, „die sich zusammennehmen, um dem Ganzen zu entsprechen,“ erfahren wir nun. Und obwohl die Einleitung zu dieser schicksalhaften Erleuchtung in der hochaktuellen Beschwörung dessen bestanden hat, dass sie das nicht sind – Krieg und Größenwahn allenthalben –, besteht die ganze Welt ab sofort nur noch aus Belegen, dass die Seinshüter rundweg nichts anderes zu tun haben, als sich und andere an die Kandare zu nehmen. Auch wenn sie das womöglich selbst nicht merken: Warum sprechen Menschen beispielsweise bzw. halten scharfsinnige Reden? Natürlich um sich und andere zu „behausen“, im Gefühl der irgendwie verbindenden Heimat (im Sein) „Besinnung zu stiften“ und dem anmaßenden Interessenmüll („Hausbesitzer!“) die gebührende Abfuhr zu erteilen. Richtig, Menschen bauen auch Häuser. Man ahnt, warum:

„Denn sobald die sprechenden Menschen in größeren Gruppen zusammenleben und sich nicht nur an Sprachhäuser, sondern auch an gebaute Häuser binden, geraten sie ins Kraftfeld der sesshaften Seinsweisen. Sie lassen sich nunmehr nicht mehr nur von ihren Sprachen bergen, sondern auch von ihren Behausungen zähmen.“ [2]

Genau genommen allerdings nicht von ihren Behausungen, sondern von ihresgleichen; mitten in der unbestimmten Welt des Seins und der menschlichen Selbstzähmung kommt glatt so etwas wie die Machtfrage auf. Damit das Sein, das ein Haus ist, nicht ohne Hüter bleibt, bestellt es sich auf der Lichtung außer sesshaften Plaudertaschen ein paar tatkräftige Hausmeister extra:

„Wo Häuser stehen, dort muss entschieden werden, was aus den Menschen, die sie bewohnen, werden soll; es wird in der Tat und durch die Tat entschieden, welche Arten von Häuserbauern“ (naja) „zur Vorherrschaft kommen.“

Die Überwindung des Humanismus

Mit diesem Bild aus dem Innenleben einer Vorstadtsiedlung ist Heidegger ausgereizt, und Zähmungstheoretiker Sloterdijk kann sich Nietzsche zuwenden, den er für stärkeren Tobak hält. Kurz im „Zarathustra“ geblättert, ein Zitat mit den Worten „zahm“ und „Haustier“ gefunden – „Tugend ist ihnen das, was bescheiden und zahm macht: damit machten sie den Wolf zum Hunde und den Menschen selber zu des Menschen bestem Hausthiere.“ – und der Philosoph kann die moralkritische Fundstelle als Manifest eines Menschenbildungsprogramms neuer Art verkaufen.

„Mit der These vom Menschen als Züchter des Menschen“ (ja, darum geht es) „wird der humanistische Horizont gesprengt, sofern der Humanismus niemals weiter denken kann und darf als bis zur Zähmungs- und Erziehungsfrage: Der Humanist lässt sich den Menschen vorgeben und wendet dann auf ihn seine zähmenden, dressierenden, bildenden Mittel an – überzeugt, wie er ist, vom notwendigen Zusammenhang zwischen Lesen, Sitzen und Besänftigen. Nietzsche hingegen … wittert einen Raum, in dem unvermeidliche Kämpfe über Richtungen der Menschenzüchtung beginnen werden – und dieser Raum ist es, in dem sich das andere, das verhüllte Gesicht der Lichtung zeigt.“

Die oben eröffnete Machtfrage zwischen den Häuslebauern setzt sich nämlich darin fort, dass die mit der „Vorherrschaft“ das ewige Belehren der Übrigen irgendwann leid sind und anfangen, sich einen Nachwuchs nach eigenem Bilde heranzuziehen. Ohne Scheu vor Übertreibungen lässt sich die Selektion, die durchaus auch an ABC-Schützen vorgenommen wird, dann als sozialdarwinistischer Auftakt zur Genmanipulation interpretieren:

„Dass die Domestikation des Menschen das große Ungedachte ist, vor dem der Humanismus von der Antike bis in die Gegenwart die Augen abwandte,“ (war das vorhin nicht noch sein einziges, großes Thema?) „dies einzusehen genügt, um in tiefes Wasser zu geraten. Wo wir nicht mehr stehen können, dort steigt uns die Evidenz über den Kopf, dass es mit der erzieherischen Zähmung und Befreundung des Menschen mit den Buchstaben allein zu keiner Zeit getan sein konnte. Gewiss war das Lesen eine menschenbildende Großmacht – und sie ist es, in bescheideneren Dimensionen, noch immer; das Auslesen jedoch – wie auch immer es sich vollzogen haben mag – war stets als die Macht hinter der Macht im Spiel. Lektionen und Selektionen haben miteinander mehr zu tun als irgendein Kulturhistoriker zu bedenken willens und fähig war, und wenn es uns bis auf weiteres (?) auch unmöglich scheint, den Zusammenhang zwischen Lesen und Auslesen hinreichend präzise zu rekonstruieren, so ist es doch mehr als eine unverbindliche Ahnung, dass dieser Zusammenhang als solcher seine Realität besitzt. Die Schriftkultur selbst hat bis zu der kürzlich durchgesetzten allgemeinen Alphabetisierung scharf selektive Wirkungen gezeitigt; sie hat ihre Wirtsgesellschaften tief zerklüftet und zwischen den literaten und den illiteraten Menschen einen Graben aufgeworfen, dessen Unüberbrückbarkeit nahezu die Härte einer Spezies-Differenz erreichte.“

Die Rolle des Buches kann von diesem Vielschreiber scheint’s gar nicht hoch genug angesetzt werden. Erst ist es die Alternative zur allseitigen Enthemmung, besänftigt die wüsten Triebe seiner Leser und dient so der Widerwärtigen Zähmung: eine Himmelsmacht. Dass es diese Kulturleistung, wie manch historische Erfahrung zeigt, leider nur für einen kleinen Kreis Auserwählter zustande bringt, darf dann sogar als eigentlicher Witz der Geschichte angesehen werden: Als „Macht hinter der Macht“ regeneriert sich die Spezies der Gebildeten (Sloterdijk et al., die Gemeinschaft der Menschenzähmer eben) und diktiert den Analphabeten oder Illiteraten, woran sie sich zu halten haben.

Wer mag da noch darauf herumreiten, dass nach eigener Aussage des Philosophen er und seinesgleichen auch keine rechte Ahnung (mehr) haben, wozu sie ihre Schäflein denn abrichten wollen; zum Lesen im Sitzen ja schon mal nicht, wg. Erfolglosigkeit. Dass die Mächtigen der Schriftkultur in einer Zeit, wo „Menschen mehr und mehr auf die aktive oder subjektive Seite der Selektion geraten“, jedenfalls schwer das Sagen haben und Menschen nach ihrem Bilde zusammenzüchten, steht für ihn auch so außer Frage. Das stimmt ihn kritisch – aber nicht gegen die imaginierte Macht der kulturellen „Gattungspolitiker“, sondern gegen die falsche Bescheidenheit, mit dem diese ihre insgeheime Herrschaft zu bemänteln pflegen:

„Da bloße Weigerungen oder Demissionen“ (beim Auslesen) „an ihrer Sterilität zu scheitern pflegen, wird es in Zukunft wohl darauf ankommen, das Spiel aktiv aufzugreifen und einen Codex der Anthropotechniken zu formulieren. Ein solcher Codex würde rückwirkend auch die Bedeutung des klassischen Humanismus verändern – denn mit ihm würde offen gelegt und aufgeschrieben, dass Humanitas nicht nur die Freundschaft des Menschen mit dem Menschen beinhaltet; sie impliziert auch immer – und mit wachsender Explizitheit –, dass der Mensch für den Menschen die höhere Gewalt darstellt.“

Der mit der tieferen „Einsicht“ für den barbarischen anderen, versteht sich. Was da als Feststellung einer immer expliziteren Erziehungsgewalt daherkommt, ist mit anderen Worten eine Intellektuellenschelte der modernen Art. Auch Sloterdijk kann sich für das Lager der Dichter und Denker natürlich keinen anderen Auftrag vorstellen als den, die tumbe Mehrheit direkt oder indirekt mit den „Regeln ihrer Selbsthaltung“ zu versorgen, die sie allein nicht zustande bringt. „Angesichts eines Zivilisationsprozesses, in dem eine beispiellose Enthemmungswelle anscheinend unaufhaltsam rollt,“ gehört es allerdings zur verantwortlichen Ausführung dieses Auftrags, dass die Intelligentsia sich endlich einmal zu ihm und damit auch zu ihrer privilegierten Rolle bekennt, statt z.B. in endlosen „herrschaftsfreien Diskursen“ zu versacken.[3] Das abgekürzte Volksbildungsprogramm besteht mithin darin, dass die Philosophenkönige erst mal ihre Führungsrolle ernst nehmen müssen, damit sie überhaupt zur Vereinbarung der Leitlinien ihrer sanften Überredung kommen können, die in einem letzten Schritt die Humanisierung der entfesselten Menschheit besorgen wird, wenn diese einmal das Stadion verlässt. Oder noch kürzer, man erinnere sich doch zurück an Plato, der den Führungsauftrag der Besserdenkenden zusammen mit seinem heiklen Hauptproblem auch schon angemahnt hat:

„Platos gefährlicher Sinn für gefährliche Themen trifft den blinden Fleck aller hochkulturellen Pädagogiken und Politiken – die aktuelle Ungleichheit der Menschen vor dem Wissen, das Macht gibt.“ „Was nun den platonischen Zoo und seine Neu-Einrichtung anbelangt, so geht es bei ihm um alles in der Welt darum, zu erfahren, ob zwischen der Population und der Direktion eine nur graduelle oder eine spezifische Differenz besteht.“

Dürfen wir raten? Oder ist der Schluss zu voreilig, dass einer, der so fragt bzw. den gefährlichen Plato verständnisinnig so fragen lässt, selbstverständlich von der artspezifischen Differenz seiner Aufgeblasenheit vom populationsmäßigen Rest ausgeht? Die „Direktion“ des sogenannten Menschenparks soll sich also nicht so haben und sich eingestehen, dass egalitäres Gedankengut bei der Veredlung der Affen letztendlich fehl am Platze ist. Schließlich sind Menschenbilder immer elitär. Und demokratisch ist das Bekenntnis zur Herrschaft der höheren Gewalt schon lang, wenn man’s genau nimmt:

„Des weiteren konstatierte Sloterdijk die Verwandlung der ‚Diskursdemokratie‘ in eine ‚Erregungsdemokratie‘; dies müsse schon auf Grund der hohen, durch demokratischen Diskurs nicht steuerbaren Einwohnerzahlen westlicher Demokratien akzeptiert werden. Allerdings gelte es nun, ‚die Arbeit des Erregens zu konvergieren‘.“ (SZ vom 20.9.)

Die Einwohnerzahl! Wer sagt’s denn.

Eine Art Kulturkampf

Immerhin fallen Fragen dieses Kalibers offensichtlich auf fruchtbaren Boden. In der einfacheren Fassung, wer denn heutzutage mit welchem Rechtstitel die Meinungsführerschaft der politisch-philosophischen Gesinnungswarte beanspruchen darf, versteht sie erstens jeder Teilnehmer der entstandenen „Sloterdijk-Debatte“ und steht zweitens nicht an, aus seinen Blickwinkeln etwas dazu beizusteuern.

Die einen folgen – ohne nähere Befassung mit seinem Wortschwall – dem Gestus des Redners, der es ja darauf anlegt, beim Streifzug durch 2000 Jahre Philosophie mit irgendwelchen politisch-aufseherischen Nutzanwendungen anzugeben. Was bleibt da hängen:

„Warum verwendet Sloterdijk das Wort ‚Selektion‘? Wenn ich dieses Wort in diesem Kontext höre, denke ich unwillkürlich an die Selektion an der Rampe von Auschwitz. Ist das nur mein Problem?“ (E. Tugendhat, Zeit 39/1999)

Natürlich ist es das nicht. Es gehört schließlich zu einer spezifisch deutschen Denktradition, bei gewissen Worthülsen (Selektion, Züchtung, Elite/Herrenmensch, usw.) einfach den dummen Inhalt des Gedankens beiseite zu lassen, um desto intensiver vor der latenten Faschismusgefahr zu warnen, die ausgerechnet im Sprachgebrauch lauern soll. Die politische Einsortierung trägt zwar weder zur Kritik irgendwelcher Auslesevorgänge – die es ja auch in demokratischen Staaten geben soll, z.B. die Verknüpfung von Berufszugängen mit Schulleistungen – noch zur Ablehnung der Sloterdijkschen Eliteideologie etwas bei. Sie bringt aber die beachtliche Sorge zum Ausdruck, dass gerade deutsche Denker sich bitteschön einer besonders sorgfältigen Einkleidung ihrer Ideen befleißigen sollten, wenn sie die ansonsten wohl gelittene Allerweltsweisheit der anstehenden Läuterung der Menschheit aufwärmen.[4]

Da Sloterdijk die Tabuverletzung auf diesem metademokratischen Feld gewiss auch gesucht hat, schrecken demokratische „Alarmisten“ ihrerseits nicht vor Beiträgen zum verschwörungstheoretischen Weltbild zurück. Während der eine so tut, als müsste er die Idee der volksmoralischen Vormundrolle der Intelligenz gegen eine Riege von Gleichheitsfanatikern erst durchsetzen, konstruieren andere noch schönere Zusammenhänge:

„Man sieht, auch in dieser Kontroverse geht es nur um das eine: um die Stellung der deutschen Gesellschaft zum Judentum und zur Massenvernichtung. Vom wohlinszenierten Eklat auf Schloss Elmau, von der gezielten Provokation jüdischer Teilnehmer über das frivole Spiel mit sozialdarwinistischen Züchtungsphantasien bis hin zum verschwörungstheoretischen Weltbild und der unverhüllten Drohung vom Ende der Toleranz“ (Letzteres bezieht sich auf einen Brief an Habermas, siehe unten) „– der Tisch ist gedeckt und das Feld bereitet.“ (M. Brumlik, FR 18.9.99)

Also wenn man das nicht „sieht“! Wieso kommen die Aufpasser über den Geisteszustand der Nation nur reihum so zielstrebig zur Aufdeckung von Intrigen und Freimaurerkartellen unter ihresgleichen? Die eine Seite sieht sich vom letzten Gefecht der „kritischen Theorie“ und einer habermashörigen Medienmacht umzingelt, die andere sieht einen rechten Geheimbund im Aufwind, der – obzwar auf verzwickte Weise – die bekannte Stellung zum Judentum bezieht. Und das alles wegen eines eher schwadronierenden Vortrags?

Es muss wohl so sein, dass „Auschwitz“ für deutsche Meinungsbildner ein schier unbezahlbares Argument abgibt. Die Erinnerung daran versichert ihren Kontroversen, so abgehoben sie ansonsten sein mögen, nicht nur eine umwerfende politische Bedeutung, auch wenn zwei Monate später kaum noch ein Hahn danach kräht. Sie erlaubt es außerdem, jede – den Konjunkturen der aktuellen Politik folgende – Wendung der zeitgeistigen Themenlage als schwere „Lehre aus der Geschichte“ vorzutragen. Was, außer Talkshows und Horrorvideos im Fernsehen, ist denn das schlagendste Beispiel für die „beispiellose Enthemmungswelle“ unseres Jahrhunderts, die nach Aufsicht durch die Berufenen drängt und die endlose Wiederholung gleichmacherischer Phrasen verbietet? Und was verbietet umgekehrt das leichtfertige Spiel mit elitär-sozialdarwinistischen Begriffen und Anspielungen? Na also.

Der „Spiegel“ jedenfalls muss das abgewogene Resümee ziehen:

„Sichtbar bleibt ein intellektueller Skandal: Der einst linke Vordenker Sloterdijk… redet ungeniert … von der gezielten genetischen Selektion unter Führung einer kulturellen Elite. … Noch vor zehn Jahren hätte ein derartiges ‚Zarathustra-Projekt‘ (‚Die Zeit‘) in der breiten Öffentlichkeit Zorn und Empörung ausgelöst. Doch die intellektuelle Hegemonie einer gesellschaftskritischen ‚politischen Kultur‘ ist längst Geschichte.“ (Der Spiegel 36/1999)

Das wär’s gewesen. Als intellektueller Hegemon Skandalnudeln an den Pranger der Geschichte stellen, das hat ein „Spiegel“-Redakteur schon immer für politische Hochkultur und für gesellschaftskritisch gehalten. Wenn die „breite Öffentlichkeit“ den Unterschied zwischen „linkem“ Moralisieren und „rechtem“ Elitefundamentalismus aber gar nicht mehr richtig mitkriegt, vergeht ihm dagegen fast die Lust am Warnen.

Wertvolle Klarstellungen…

Sloterdijk selbst hat auch nachgelegt. Sobald ihm bekannt wurde, dass sein Redemanuskript vom Kollegen Habermas der politischen Unkorrektheit verdächtigt und befreundeten Journalisten zur Kommentierung zugesteckt wurde, ließ er sich einen Monat Zeit, um ziseliert zurückzuschlagen:

„Ich betrachte bis auf weiteres Ihre Auslassungen als bloße Irrtümer, die Sie revidieren können… Bitte beachten Sie die Formulierung ‚bis auf weiteres‘. Sie drückt aus, dass ich der Obergrenze meiner Toleranz nahe bin. … In Anspielung auf den von uns beiden heftig kritisierten Carl Schmitt habe ich in meinem letzten Buch … einen Satz formuliert, der, wenn er zutrifft, erkennen lässt, dass Sie sich noch immer um die Rolle des Souveräns der deutschen Diskurs-Produktion bemühen, auch nach (!) ihrer Emeritierung.“ (Offener Brief in Zeit 37/1999)

Vorausgesetzt, diese Lesart trifft zu, lässt diese Einlassung zumindest erkennen, dass der Beleidigte schon vor dem hässlichen Intrigenspiel dieser Tage mit dem Problem schwanger ging, wer in der „deutschen Diskurs-Produktion“ eigentlich was darf. Wer das wissen will, kann sich bis an die (gerichtliche?) „Obergrenze meiner Toleranz“ einen Streit um irgendwelche Inhalte sparen – worauf übrigens nicht einmal der Kontrahent in einem nachfolgenden Leserbrief insistiert –, zumal das zum „inhumanen Erbe des ideologiekritischen Denkstils“ gehören würde, der sowieso überholt ist:

„Er reklamiert für sich die volle Subjektivität (als direkten Zugang zur Wahrheit) und spricht dem Anderen eben diesen Zugang ab.“

Zweimal ein direkter Draht zur Wahrheit, das ist ja wirklich einmal zuviel; und dank des Hinweises auf die Emeritierung des Gegenspielers lässt sich unschwer erschließen, wessen „Zugang“ langsam in die Mottenkiste gehört.

In dieser Hinsicht ist Sloterdijk, da er dank der öffentlichen Aufregung jetzt immer sagen muss, was ihn wirklich umtreibt, eine schöne Klarstellung gelungen. In einem FOCUS-Interview (Heft 40/1999) ordnet er seine Zähmungs- und Züchtungsprobleme endlich richtig ein. Erst verdeutlicht er, dass das mit der „Menschenzüchtung“ sowieso nur in einem extrem übertragenen Sinn gemeint war:

„Man muss endlich begreifen, dass Menschen seit jeher ‚gemacht‘ werden, und zwar in allen Kulturen: allerdings bisher nur durch ein Zusammenspiel von Klassen- und Kastenregeln, Heiratsregeln und Erziehungsregeln – das sind alles Selektions- und Kombinationsregeln. Inzwischen kommen zusätzliche biotechnische Optimierungen in Sicht.“

Er wollte also nur auf die heutzutage wohl bekannte Tatsache hinweisen, dass der Mensch seines Glückes Schmied in dem Sinne auch wieder nicht ist, weil ihn das Schicksal eben entweder in die eine oder die andere Etage hineinpflanzt. Was entgegen lebensferner Gleichheitsvorstellungen auch nicht weiter schlimm ist, vielmehr der allseitigen „Optimierung“ und insgesamt der Gesundheit dient:

„Ich interessiere mich für menschliche Immunitätsverhältnisse im Ganzen. Ich frage, wie bringen Menschen dieses Wunder zu Stande, dass sie in der Welt sind, dass sie sich in dieser riesenhaften Offenheit, die die Welt vor uns aufmacht, behaupten können.“

Fragt er. Und schon ist das Wunder, dass jemand angesichts dieser riesenhaften Offenheit überhaupt das Bett verlässt, kein Wunder mehr. Er entscheidet sich eben kurz zwischen Enthemmung und Entwilderung, die jetzt sogar das Moment der Immunisierung gegen… äh… zuviel Welt aufweist. Letzten Endes landet er nolens volens bei dem trostreichen Gedanken, dass die Welt eine offene Psychiatrie und der Mensch bestens in ihr aufgehoben ist, was man sich auch in anderen Bildern klarmachen kann:

„Es ist nicht damit getan, dass man alles vor Kant und Hegel als falschen Zauber abtut. Die Quintessenz des metaphysischen Zeitalters, so mein Resümee, bestand darin: Die Seele des Menschen steht mit dem Weltgrund und mit dem Ganzen in einer Art Intimbeziehung. Deren letztes Modell bleibt doch auch die Mutter-Kind- oder die Vater-Kind-Beziehung. Die Übertragung von intrauteriner Immunität auf den kosmischen Horizont – aus diesem Projekt entwickeln sich alle Kulturen. … Sei sie nun durch eine Vernunft regiert oder vom Willen eines Schöpfers getragen, die Welt kennt kein Exil, man kann aus ihr nicht herausfallen, ja sie ist Heimat.“

Und damit sie das bleibt, brauchen wir unsere guten Hirten als Mutter- und Vaterersatz. Hätte der von Heidegger berührte und an Nietzsche nicht irregewordene Neuplatoniker uns das doch gleich gesagt. Aber nein, immer provokant sein wollen, weil das mit dem Weltgrund und dem intrauterinen Ursprung der Kultur sonst wieder kein Schwein interessiert hätte!

So braucht Sloterdijk sich über die Folgen seiner Rede allerdings auch nicht zu beklagen.

… und die Rückmeldung des Humanismus

Ausgesprochen philosophisch sind übrigens die Beiträge einer zweiten Abteilung Diskussionsteilnehmer, der Fachleute zum Thema „Gentechnologie“. Anders als die politisch Aufgeregten liegt bei ihnen das Hauptargument darin, dass umgekehrt Sloterdijk mehr Aufregung verbreitet als das Thema verdient hat.

Einer meint z.B. – bei allen moralischen Bedenken, die Weiterungen aufwerfen könnten –, dass optimierende Eingriffe in die menschliche Evolution doch längst stattfinden, ohne einen großen Skandal zu verursachen:

„Man denke nur an die Veränderungen der auch biologischen Zukunft von Homo sapiens sapiens durch solch relativ unkontroverse technische Leistungen wie die Erfindung von Brillen, die Entwicklung von Antibiotika oder die Produktion von Insulin.“ (W.C. Zimmerli, Zeit 40/1999)

Mit Sloterdijks Anliegen, der auf wirkliche „Kultureingriffe“ in den natürlichen Gang der Dinge wie phantastische „Optimierungen“ gleichermaßen nur anspielt, hat das nun wenig zu tun, weil keines der Beispiele den Zweck der moralischen Besserung erkennen lässt. Macht aber nichts, weil die Idee mit dem „anthropotechnischen Codex“ auch von jedem Bioethiker stammen könnte, von wo sie laut Zimmerli sowieso stammt. Von der genetischen Beratung bei Erbkrankheiten über ihre eventuelle gentechnische Therapie bis hin zur „enhancement therapy“, wie die vorläufig letzte Eingriffsstufe im amerikanischen Original heißt, öffnet sich auch jenseits der Zähmung der Enthemmten ein weites Feld ethischer Fragen. Anders gesagt, von Fragen, die sich nicht mit der Beurteilung von Interessen, sondern mit ihrer Sortierung in erlaubte und unerlaubte, gebotene und verbotene befassen. Eben solcher, denen z.B. zu den aus Amerika schon länger bekannten Samenbanken, die mit blauäugig-blonden Einsteins als möglichem Nachwuchs werben, nicht der Verdacht einfällt, dass Anbieter wie Nachfrager solcher Güter wohl nicht richtig ticken, sondern immer nur das schwer zu beantwortende („Codex“ fehlt ja noch, siehe oben) „Dürfen die das?“ oder die an der menschlichen Selbstbestimmung orientierte Sorge, dass der blonde Einstein womöglich lieber ein spanischsprachiger Baseballspieler geworden wäre.

Umgekehrt kann man Sloterdijks Gedankenflug vom Brief zur Züchtung folgen, um ihn dann – auch das ist in der heutigen Zeit noch möglich! – auf einen immanenten Widerspruch seines „Arguments“ hinzuweisen. Gerade wenn der Zustand des Humanums Überlegungen zur Genetik oder Eugenik nahe legt, führen diese schnurstracks wieder zum Ausgangspunkt zurück:

„Das Argument, dass das Projekt des Humanismus durch Menschenzüchtung abgelöst werden soll, widerlegt sich schon dadurch, dass sich die Genetiker über die Ziele einig werden müssten – und dann wären wir wieder bei der Frage nach der Humanität. Genetiker wie Ethiker müssten erst einen Konsens über den gewünschten, den wünschbaren Menschen erzielen.“ (L. Honnefelder, Philosoph und Bioethiker, Der Spiegel 39/1999)

Wie man es dreht und wendet, der Streit um die Humanität scheint auch nach zweitausend Jahren, in denen unterschiedlichste „Menschenbildner“ allesamt in etwa dasselbe erzählt haben, nichts von seiner Attraktivität verloren zu haben. Jüngster Stand: Über den unerwünschten, den abzulehnenden Menschen in seiner Unzivilisiertheit, Enthemmtheit, Verwilderung usw. sind wir uns einig. Aber ob das wünschbare Modell zukünftiger Baujahre Raucher oder Nichtraucher, dick oder dünn, Sloterdijk- oder Habermas-Anhänger sein soll und ob solche Kriterien überhaupt der Würde des Reagenzglases gemäß sind, das wird wahrscheinlich auch die geklonten Generationen noch beschäftigen.

[1] Ein ergreifendes Beispiel dieser Brieffreundschaft steht seit der Eingemeindung Südtirols in Bozen. Mussolini – ein Spätrömer – ließ dort einen Triumphbogen mit den echt humanistischen Worten errichten: Von hier aus haben wir den Barbaren Sprache und Kultur gebracht.

[2] À propos Zähmen. Der schon rein sprachliche Zusammenhang von domus und domes-ticatio weist zwangsläufig auf noch ein Problemfeld hin, das bisher sträflich vernachlässigt wurde: Mit der Zähmung des Menschen durch das Haus beginnt zugleich das Epos von den Haustieren. Ha! Der Mensch und die Haustiere – die Geschichte dieser ungeheuerlichen Kohabitation ist noch nicht auf angemessene Weise zur Darstellung gebracht worden, und erst recht haben die Philosophen bis heute nicht wahrhaben wollen (!), was sie selbst inmitten dieser Geschichte zu suchen haben. Nur an wenigen Stellen ist der Schleier des Philosophenschweigens (hört, hört) über das Haus, den Menschen und das Tier als biopolitischen Komplex gerissen, und was dann zu hören war, waren schwindelerregende Hinweise auf Probleme, die für Menschen bis auf weiteres zu schwer sind. Hiervon ist noch das geringste der innige Zusammenhang zwischen Häuslichkeit und Theoriebildung – denn man könnte durchaus so weit gehen, die Theorie als eine Spielart von Hausarbeit zu bestimmen, oder vielmehr als eine Art von Hausmuße. … Und das ist noch das geringste! Faß ihn, Bello!

[3] In meiner Selbstlektüre bedeutet diese Passage eine Auseinandersetzung mit einer Gruppe von Personen, die ich mit einem Ausdruck des 18. Jahrhunderts als ‚schöne Seelen‘ bezeichnen möchte. (SZ vom 20.9.)

[4] Andere haben es da besser: „Kein britischer oder französischer Denker, der bei Nietzsche schöpft, muss um seinen Ruf bangen. Gibt es für die Deutschen nur den Nietzsche der Nazis und nie mehr jenen Nietzsche, der den Wilhelminismus brandmarkte?“ (Zeit 41/1999)