NATO ohne Hauptfeind
Von der Abschreckung zur totalen Kontrolle

Das „Konzept“ der Abschreckung: Sicherung der Handlungsfreiheit der Nato angesichts des atomar bewehrten Willens der SU zur Gegenmacht. Nach dem Abdanken des Systemfeindes: Kontrolle über die Herstellung seiner Machtlosigkeit. Die neue Rolle der Nato: Kontrolle über den Gewalthaushalt der Staaten in einer durch und durch imperialistischen Welt. Die Strategie weltweiter Friedenssicherung und die Notwendigkeit passender Mittel.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

NATO ohne Hauptfeind
Von der Abschreckung zur totalen Kontrolle

Die NATO ist ein Kriegsbündnis.

Für die Liebhaber und Aktiven dieser Allianz wurde dieses schlichte Urteil ihrer Sache nie gerecht. Der Bedarf nach Wertschätzung verlangte mindestens Formeln des Typs: „Die Nato sichert den Frieden!“ – als ob der Zustand namens Weltfrieden und dessen Tagesordnung solche Behauptungen eindeutig als Kompliment mißverstehen ließen. Ganz treffend charakterisiert war für die Anwälte der waffenstarrenden Gemeinschaft ihre Sache von Anfang an durch die Darlegung höherer Ziele, die ihr zugrundeliegen: „Die Nato ist eine Wertegemeinschaft!“ Dieser Schutz- und Trutzbund verteidigt die Werte, denen kein sittliches Gemüt seinen Zuspruch versagen darf. Gegen alle Versuchungen und weltrevolutionären Übergriffe, die vom Reich des Bösen ausgehen, betet er an die Macht der Liebe. Auch daran durfte geglaubt werden.

Nun setzt das Kriegsbündnis sein Wirken auch in den 90er Jahren fort. Obwohl der Zusammenbruch des Reichs des Bösen nach der Auffassung von Beobachtern, die der Mission verständnisvoll zugetan waren, einen kleinen Zapfenstreich ermöglicht hätte. Die Gründe für das Weitermachen der Nato mit einem neuen Programm dementieren manche Legende, mit der diese ehrenwerte Institution bislang ihre Notwendigkeit verklärte.

Kleiner Rückblick, die Abschreckung betreffend

Ganz ohne Verklärung geht es freilich auch nicht ab, wenn sich Politiker und Generäle an der Zielsetzung abmühen, die ihnen eine neue weltpolitische „Lage“ für den weltweiten Gebrauch ihrer Gewalt „aufnötigt“. Im Zuge der Debatte, in der die neuen Probleme definiert, die Herausforderungen und Schwierigkeiten beschworen werden, kamen da mitunter nostalgische Töne auf. Verglichen mit der übersichtlichen Konstellation von gestern, der man mit der „Strategie der Abschreckung“ gerecht werden konnte, verglichen mit der Konfrontation, die dank dieser Strategie zu einem erfolgreichen Ende gebracht wurde, nimmt sich die heute zu bewältigende Aufgabe, die eben erst noch gelöst sein will, ziemlich komplex aus. Aus der Perspektive des Erfolgs sieht die Ära der Abschreckung so aus, als hätte da das Militär des freien Westens eigentlich alles im Griff gehabt; zumindest wäre in dieser Phase die Weltpolitik in erfreulich berechenbarer Weise der Nato zur Kontrolle überstellt gewesen. Diese Mißdeutung der Verhältnisse von gestern, die aus der Unfertigkeit, den Unwägbarkeiten der jetzt zu sichernden strategischen Fähigkeiten „gefolgert“ wird, übersieht ein paar Kleinigkeiten. Punkte, die den Nato-Führern durchaus Kopfschmerzen bereiteten:

– Die Abschreckung galt dem sowjetischen Willen zur Gegenmacht, der auch im Besitz der entsprechenden Fähigkeit war.

– Dieser Wille ging durch einen Krieg überkommener Machart nicht zu beseitigen; und die Risiken des Atomkriegs waren den Kriegsfachleuten vertraut genug, um es bei der Drohung mit ihm zu belassen.

– Allerdings sollte zugleich die Handlungsfreiheit der Nato-Staaten, allen voran der USA, durch die sowjetische Gegenmacht in keiner Erdgegend beschränkt werden. Insofern mußte die Allianz ständig, und ihre Führungsmacht schon gleich, im Rahmen des famosen „Gleichgewichts des Schreckens“ auf der Durchsetzung ihrer freiheitlichen Anliegen bestehen.

– Also auch riskieren, daß aus den „regionalen“ und „begrenzten Konflikten“, die der Westen gewinnen wollte, der große Waffengang wurde. Die Abschreckungsstrategie war weltkriegsträchtig.

– In jedem Konfliktfall und daneben ständig in der Rüstungsdiplomatie mußte die Gegenmacht zum Nachgeben gebracht werden. Der Preis war die Anerkennung des Feindes, der zur Beseitigung anstand, als die andere „Supermacht“.

– Daß die Bemühung, den Hauptfeind zum rückzugsbereiten Sich-Einrichten in der Abschreckungsstrategie zu bringen, von Erfolg gekrönt war, ist eine Sache. Eine andere ist es, dies als quasi unausweichliche Konsequenz dieser Strategie hinzustellen. Die Wahrheit liegt eher darin, daß sich die Gegenmacht – gewissermaßen als Dank für die Anerkennung – nicht genauso unnachgiebig aufgeführt hat.

– Gerade der Frontstaat Deutschland hat allen Grund, die Abschreckungsära nicht zu beschönigen. Immerhin zeugen zwei Jahrzehnte Ostpolitik, die Vorneverteidigung und die Pershing-Raketen nicht nur vom forschen „Selbstbewußtsein“ dieses Nato-Mitglieds. Die BRD hat in der von ihr mitgetragenen Strategie auch das Dilemma durchlebt, im dazugehörigen Ernstfall Kriegsschauplatz zu werden. Los wurde sie ihre prekäre „Lage“, die ihr aus der Strategie erwuchs, nicht durch ihre gesteigerte Kriegsbereitschaft, sondern durch die friedliche Kapitulation der perestrojka-besessenen SU.

Mit diesen und manch anderen Risiken mußten die Bündnispartner kalkulieren, weil sie die Abschreckung praktizieren wollten. Und als so langsam zur Gewißheit wurde, wovon friedliebende Antikommunisten immer nur geträumt hatten; als die noch vorhandene Sowjetunion ihren Willen fallen ließ, die Rolle der Gegenmacht zu behalten, zeichnete sich ganz nebenbei eine kleine Richtigstellung ab. Sie betrifft die landläufigen Auffassungen darüber, was der freie Westen mit seiner Abschreckung wollte.

Zögerlicher Abschied, wg. „Bedrohungswandel“

Die Richtigstellung kam von der Nato selbst, obgleich diese Behörde weniger mit der Verbreitung von Kenntnissen über sich als mit Kriegsplanung und -führung befaßt ist. Zunächst einmal wies sie jene Stimmen zurück, die angesichts des Wandels in der Sowjetunion behaupteten, das Konzept westlicher Sicherheit, so wie die Nato es verstanden hatte, sei überholt. Als wollten Wörner und Co. alle blamieren, die sich naiverweise auf das Feindbild, auf die Ideologie der Nato berufen, hielten sie an ihrer eigentlichen Aufgabe fest. In dieser Ideologie ist das westliche Bündnis die Wirkung und die Sowjetunion die Ursache; die Allianz stellt eine Reaktion auf bedrohliche Umtriebe des kommunistischen Ostens dar; und ihr Vorgehen gehorcht dem Schema der Verteidigung. Dem stand nun – Friedensnobelpreis hin, Warschauer Pakt kaputt her – der Realismus einer Organisation gegenüber, die auch „ohne Feindbild“ davon überzeugt war, gegenüber dem Osten einiges erledigen zu müssen. Die Nato nahm wohlwollend zur Kenntnis, daß sich der sowjetische Wille verflüchtigte, was die politische und militärische Konfrontation mit der freien Welt angeht; und sie begutachtete die Fähigkeit, die da in Gestalt der Roten Armee weiterexistierte, als bleibende Gefahr für den Weltfrieden.

So erhielt die Sowjetunion den lieblichen Status eines Schutzobjekts für die Nato – sie mußte davor bewahrt werden, wieder in die Rolle einer Konkurrenzmacht bei der Gestaltung des Weltfriedens zurückzufallen. Der Rückzug war zwar anerkanntermaßen eingeleitet, aber noch nicht vollendet. An noch ausstehenden Unterschriften unter Abrüstungsabkommen ermittelten die Abschreckungsstrategen dasselbe wie an den sowjet-internen Auseinandersetzungen um Führungskompetenzen bei der – zu dieser Zeit noch angestrebten – Erneuerung der Union: Gorbatschow war der Mann vor Ort, seine Politik stand für die Abkehr von der Feindschaft, die die östliche Großmacht jahrzehntelang praktiziert hatte. Die Nato genehmigte sich die Beförderung zur einzigen Garantiemacht des Weltfriedens, in deren Zuständigkeit auch die Aufsicht über die Fortsetzung und Vollendung des weltpolitischen Rückzugs der SU zu fallen hatte. Großzügig anerkannte das westliche Bündnis sogar „legitime Sicherheitsinteressen der Sowjetunion“, befürchtete aber weltöffentlich einen Rückfall in überholte Positionen. Man rechnete schlicht mit Maßnahmen zur Rettung des Staates, die dessen innere Krise – zu der sich die Perestrojka längst ausgewachsen hatte – durch die Ausrufung des Notstandes beenden würden. Und zugleich den Verfall des weltpolitischen Gewichts rückgängig gemacht hätten, das mit der Roten Armee steht und fällt.

In dieser Phase hat sich die Nato als Instanz definiert, die das Sterben des Feindes überwacht und die Unumkehrbarkeit des Prozesses garantiert, in dem die SU sich Zug um Zug von ihrer Qualität als alternative, konkurrierende Supermacht verabschiedete. Ironischerweise tauften die westlichen Paten der Perestrojka die Gefahr, der es Herr zu werden galt, „Instabilität“ – eine reichlich komische Bezeichnung angesichts des Umstands, daß die erwünschte Stabilität die des Zerfalls der Macht war. Die Krise der feindlichen Staatsmacht sollte ihren Gang gehen, wobei die freiheitlichen Strategen sich durchaus im Klaren darüber waren, daß das Produkt der Zersetzung keineswegs Null sein würde, sondern neue Mächte im Entstehen begriffen waren. Und erst seitdem dieses Ergebnis feststeht, seitdem der Hauptfeind definitiv abgewickelt ist, hat die Nato beschlossen, daß ihre Strategie zu einem echten Ende gekommen ist.

Der Wandel der Bedrohung – oder: Die neue Lage aus der Sicht der NATO und von ihr hergestellt

Damit steht die Nato aber auch vor einem neuen Anfang. Denn die Sowjetunion, die friedlich kapituliert hat, war zwar einige Jahrzehnte der Fall für den freiheitlichen Gewaltapparat, aber eben nur ein Fall. Dies ist die erste Klarstellung des Bündnisses, wenn es der Welt mitteilt, daß seine Abwicklung wegen des Entfallens einer Bedrohung des höchsten Kalibers nicht in Frage kommt.

Die Nato mag zwar so, wie es sie gibt, nur entstanden und ausgebaut worden sein, weil mit der SU ein weltkriegsfähiger Gegner in der Lage war, sich samt seinem verkehrten System zu halten und den westlichen Ansprüchen auf die Staatenwelt entgegenzustellen. Ihre Mission jedoch ist darin, in der weltpolitischen Herausforderung namens Sozialismus, nicht begründet – also auch mit deren Ende nicht beendet.

Die zweite Klarstellung wendet sich ausdrücklich gegen die Erwartung, daß mit dem Abdanken des über seine Maßen gerüsteten Hauptfeindes die Rolle der Gewalt für die freiheitliche Politik schwinden müsse. Gegen das Geschwätz von gestern, demzufolge noch jeder Rüstungsauftrag vom Kreml erzwungen wurde, hält die Nato nun die Lehre bereit, daß sich die Bedrohung eben verändert habe; und überhaupt sollten sich die Völker, allen voran ihre gar nicht mehr existenten Friedensbewegungen endlich darauf einstellen, daß die Ausstattung ihrer Staaten mit einem schlagkräftigen Militär etwas „Natürliches“ ist. Die Freiheit, sämtliche Werte und – ganz banal – die Interessen der Nationen, die für das endlich siegreiche System geradestehen, sind nämlich immer bedroht. Die Sowjetunion war ein Sonderfall von Bedrohung schließlich dadurch, daß sie die Aufsicht über die Staatenwelt und die ihr einbeschriebenen Gefahrenquellen störte. Sie hat die stets fällige militärische Kontrolle über die immer wieder zu Irrwegen bereiten Souveräne des Globus, zu der sich das westliche Bündnis entschlossen hatte, empfindlich in Frage gestellt. Jetzt, da dank Gorbatschow der Erledigung dieser Aufgabe nichts mehr im Wege steht, muß sie umso gewissenhafter erfüllt werden.

In einer dritten Klarstellung enttäuscht die Nato alle Spekulationen, die die Frage betreffen, ob die künftigen Ordnungsaufgaben denn unbedingt von ihr, der nordatlantischen Allianz, wahrgenommen werden müßten. In Erinnerung daran, daß die Bedrohung durch den Weltkommunismus doch zumindest der Anlaß für diese außergewöhnliche Form des dauerhaften Militärbündnisses gewesen ist, kam ganz vorsichtig eben dieses Problem zur Sprache – und die Nato hat es erledigt: Das Bündnis, das zur Beseitigung der sowjetischen Konkurrenz getaugt hat, ist und bleibt ein vorzügliches Instrument zur Wahrnehmung des jetzt erreichten Monopols. Es muß sich zwar auf den Wandel der Bedrohung einstellen, aber dann ist es genau das Richtige für die Gestaltung der Weltordnung in der postsowjetischen Ära. Mit der Auskunft, es sei kein anderes Instrument dieser Klasse „in Sicht“, haben die Führungsmächte des Westens ihren Entschluß bekanntgegeben, daß sie weiterhin gemeinsame Sache machen. Wie früher, unter der Last des zu einigen Untaten fähigen Gegners, einigen sie sich auf die Verteilung von Kosten und Kompetenzen ihrer Nationen – im Bündnis. Und dort wie auch in anderen gemeinschaftlichen Instanzen der Weltpolitik wird auch über erlaubte wie gebotene Sonderwege verhandelt, die das eine oder andere nationale Interesse für unverzichtbar hält.

Die neue Rolle der NATO

Ganz nebenbei, aber sehr deutlich, hat das Kriegsbündnis damit das Amt definiert, für das es sich als einzigen Kandidaten vorsieht:

– Die maßgeblichen Herrschaften aus den Hauptquartieren sind sich einig, daß mit der Bekehrung sämtlicher Völker des ehemaligen Ostblocks zur Marktwirtschaft die Welt auf keinen Fall in Ordnung ist. Jetzt, da die gesamte Staatenwelt am gleichen Strang zieht, das einzig wahre System zu ihrer Staatsraison erhoben hat, halten sie die Schaffung einer neuen Weltordnung für angezeigt. Dafür ist ihnen ihr überkommener Gewaltapparat, dessen leidige Notwendigkeit sie ewig den kommunistischen Verbrechern zur Last gelegt haben, gerade recht. Ihr Dienst gilt ab jetzt einer kapitalistisch ausgerichteten Völkerfamilie, deren marktorientierten Drang nach Geld und Macht sie für eine einzige Ansammlung von Risiken halten. Diesen Risiken wollen sie durch die Ausübung unzweifelhaft überlegener Gewalt beikommen, die dauerhaft in ihren vereinigten Streitkräften präsent bleiben muß. Ohne den Anflug von Scham, auch ohne die Befürchtung, daß sie mit diesem Bedarf an Gewalt dem freiheitlichen System und seinem Weltmarkt nicht gerade friedensbringende Qualitäten attestieren, kommen sie zur Sache: Der weltweite Siegeszug des Kapitalismus ist der Grund für den jederzeit fälligen Einsatz ihrer Kriegsmaschinerie. Die Nato rüstet sich zum unanfechtbaren Hüter des Weltkapitalismus her; als die Generalversicherung der auf dem Weltmarkt errungenen und noch zu erringenden Erfolge ihrer führenden Mitglieder geht diese Allianz gegen alle vor, die ihre Niederlagen nicht einfach hinnehmen. Die also die Gewalt als das Mittel der Politik entdecken und dieses Mittel für sich anzuwenden suchen, statt es den dazu befugten kapitalistischen Herrennationen zu überlassen.

– Politische Ökonomie braucht die Nato deswegen nicht zu treiben, genausowenig wie in ihren Gremien und Planungsstäben über das gerechte Zustandekommen und Verteilen des Reichtums auf der Welt moralisiert werden muß. Das Handwerk, dem sich dieses Bollwerk der Freiheit verschrieben hat, gilt allein dem Einsatz von Gewalt und der Verteilung der dazu erforderlichen Mittel. Und die neue Rolle, die das westliche Kriegsbündnis ohne seine Infragestellung durch ein ähnliches im Osten übernommen hat, schließt eine Befassung mit verletzten Interessen und ihrer Würdigung aus. In diesem Amt, dessen Schutzobjekt mit „kapitalistischer Weltmarkt“ durchaus korrekt bezeichnet ist, kennt man nur ein verletztes Interesse: das in Anspruch genommene Recht auf den weltweiten Gebrauch von Gewalt; die Befähigung, jede Bedrohung von anderer Seite unterbinden zu können; die Verfügung über die passende Ausstattung dafür, daß die militärische Gewalt für keine Nation ein Mittel der Politik wird – es sei denn, sie ist von der Nato mit einer Lizenz und Gerät dazu befugt worden.

Mit diesem Programm hat das atlantische Bündnis seine Erneuerung eingeläutet. Das Abräumen der Sowjetunion ist für die Nato gleichbedeutend mit der Praktizierung eines weltweiten Gewaltmonopols – jetzt erst ist rücksichtslose Abschreckung möglich, und deshalb wird auch das Nötige unternommen, um sie in Gang zu bringen. Daß in der öffentlichen Debatte und in den Beschlüssen des Bündnisses, die den neuen Notwendigkeiten gelten, ein schönes Argument nicht mehr vorkommt, hat dem Ruf des Projekts und seiner Macher nicht geschadet. Der Schein irgendeiner Not(wendigkeit) zur Verteidigung ist sang- und klanglos entfallen – die Sicherung des Friedens bewegt niemanden mehr, außer Politiker und Militärs.

Strategie heute

Die kümmern sich nämlich um den lieben Frieden, indem sie ihre militante Friedensbewegung auf Vordermann bringen. Die Armeen und Waffen, über die sie gebieten, sind zunächst einmal auf die alte Bedrohungslage und -lüge zugeschnitten, auf vielfältige Krisenszenarios mit Fulda-Gaps, Tiefe des Raumes, Mehrfach-Sprengköpfen und atomaren Gefechtsfeldwaffen etc. Die neue Bedrohungslage erheischt kriegerische Fertigkeiten und Geräte etwas anderen Typs, was manche Umrüstung nach sich zieht. Daß einige der fälligen Veränderungen als „Abrüstung“ verkauft werden, dürfte unter verständnisvollen Begleitern und Kritikern des Projekts wiederum sofort einleuchten – schließlich sind einige der alten Kampfmittel für die neuen Szenarios unbrauchbar und damit überflüssig. Die Freude, die über ihre Abschaffung aufkommt, ersetzt die Mühe des Zweifelns an einem Programm, das nicht mehr durch „Verteidigung“, sondern durch weltweites „Eingreifen“ Frieden stiftet. Daß es heutzutage kein „out of area“ mehr gibt, ist jeder Boulevard-Zeitung des mächtigen Westens längst vertraut. Mit der höflichen, aber saudummen Frage, ob sich das globale Eingreifen eigentlich mit dem Völkerrecht vertrage, befaßt sich Ex-Kriegsminister und Jurist Scholz aus Deutschland. Der hat keine Bedenken, das fällige Zuschlagen „völkerrechtlich zu verankern“, so daß die Truppen entsendenden Nationen auf das Opfer dieses Berufungstitels verzichten können. Derweil regt ein Genscher an, „die Produktion von Atomwaffen unter Strafe zu stellen“, womit er nichts gegen das Bündnis gesagt haben wollte. Eher hat er auf die Dialektik hingewiesen, die im ersten dicken veröffentlichten Papier der Nato nach ihrer Wende zum Tragen kam. Die Organisation, „unverzichtbarer Garant der Sicherheit ihrer Mitglieder“, hat diesem Dokument zufolge einerseits die Aufgabe, „Agent der Veränderung“ zu sein; andererseits fungiert sie als „Quelle der Stabilität“, was den Generalstäben beides recht sein kann. Sie müssen schlicht den Kontrollwahn, der mit der Beseitigung des Iwan aus ihren Berechnungen realistisch und im Recht ist, in passende Truppenstärken und Ausrüstungen umsetzen.

Aus den Verlautbarungen der Nato, der an ihr beteiligten Regierungen und deren Diplomatie geht mittlerweile so etwas wie eine „Linie“ hervor, der sich die verantwortlichen Demokraten widmen:

– Die militärisch zu betreuende Welt weist eigentlich keinen Feind mehr auf – sie beherbergt lediglich eine Ansammlung von größeren, mittleren und kleinen Mächten. Und manche von denen stellen mit ihren nationalen Anliegen ein Risiko dar, dem abgeholfen werden muß.

– Darunter fallen erst einmal die Zerfallsprodukte der Sowjetunion, die mit ihrem nationalen Aufbruchswillen und dem ererbten Kriegspotential des alten Hauptfeindes selbstredend lauter Fälle für westliche Kontrolle darstellen. Das Ideal der westlichen Weltordner ist eindeutig die Beseitigung des unseligen Erbes. Der entsprechende Antrag an die neuen Souveräne wird zwar nicht als Aufforderung zum umstandslosen Wegwerfen der Waffen gestellt, sonst aber schon. Den Nationalisten, die in der Aufteilung der Sowjetunion das Gorbatschow’sche Zersetzungswerk vollendet haben, wollten die Demokraten einerseits ihre Anerkennung nicht versagen, indem sie ihnen mit dem ersten Schwung von Botschaftern gleich ein Ultimatum schickten, in dem es heißt: Begebt euch eurer Machtmittel – der einzigen, die ihr angesichts des ökonomischen Zusammenbruchs habt! Insofern wurde der Wille der neuen Staaten, respektable Mächte ohne Feindschaft gegenüber dem Westen zu werden, akzeptiert. Die Fähigkeit, die den Neugründungen aus dem Nachlaß erwächst, wurde jedoch sofort zum problematischen Attribut dieser Nachfolgemächte – und zum Gegenstand einer neuen „Abrüstungsdiplomatie“ erklärt. Diese Diplomatie ist schon deswegen für den Westen erfolgversprechend, weil die östlichen Partner ihren Übergang zum Kapitalismus mit der Hilfe der Wirtschaftsmächte, in Abhängigkeit von den erpressungsträchtigen Techniken des Weltmarkts bewerkstelligen wollen. Hilfe wird vornehmlich für die Verschrottung von Waffen zugesagt, und eine beantragte „Einbindung“ in die Nato unterbleibt. Das wäre nämlich ein Zugeständnis, das so etwas wie ein bleibendes Recht auf russische Bewaffnung und die Teilhabe an der militärischen Verantwortung für die Welt bewirkt!

So wird den Jelzins und Krawtschuks mit der offiziellen Anerkennung gleich das ebenso offizielle Mißtrauen mitgeteilt. Eine neue Mit- und mögliche Konkurrenzmacht soll aus ihren Gründungen nicht werden. Genausowenig mag sich die Allianz durch Zusagen an einzelne Nationen im Osten eine voreilige Parteilichkeit bei den inneren Streitereien um das Erbe einhandeln – von diesen verspricht sie sich eher etwas ganz anderes als die Beteiligten: daß die anstehenden Konflikte die neuen Nationen schwächen. Das Ende des Hauptfeindes hat ein Resultat zu erbringen, das dem universellen Aufsichtsbedürfnis entspricht – also keine Macht im Osten, auf die man Rücksicht zu nehmen gezwungen ist. Und was man den Rechtsnachfolgern des Sowjetreiches nicht zukommen lassen will – daß sie mit den Gewaltmitteln der Weltmacht aus sich erneut unkontrollierbare Staatswesen formen – das soll auch Dritten verwehrt sein.

– Die zweite Sorte Staaten, die aus der Perspektive eines weltweiten Gewaltmonopols zur „Bedrohung“ ernannt werden, gehören nicht zum Osten, sondern – unabhängig vom Breitengrad – zum „Süden“. Das sind Nationen, die im Rahmen des Ost-West-Gleichgewichts verschiedene Funktionen erfüllten und aus dem Interesse der beiden weltpolitischen Lager an ihnen ihre „Lebensmittel“, Geld und Waffen in wechselnden Anteilen bezogen. Diese Staaten können zwar keinen Krieg gegen die Nato oder eine ihrer Großmächte gewinnen, stellen aber eine Gefahr dar, sooft sie eine Veränderung der Landkarte in ihrer Region anstreben, die die Nato nicht bestellt hat. Schon ihre Fähigkeit, durch Drohung mit Gewalt ein bißchen regionale Hegemonie herzustellen, ist ein Vergehen gegen die „neue Weltordnung“, jene Abwechslung von „Stabilität“ und „Veränderung“, welche die Nato sich vorbehält.

Zu ihnen gehören Ölstaaten und Schwellenländer, islamische Abenteurer und andere Exoten, denen das Mittel ‚Krieg‘ bzw. Bewaffnung für ihre Ambitionen entzogen gehört. Mit der neuen Optik der westlichen Allianz stehen sie alle in dem Verdacht, neue Saddams zu werden. Zu unterbinden ist deshalb, daß sie – falls Geld vorhanden – sich aus den Arsenalen der aufgelassenen Sowjetunion bedienen und Atomwaffensöldner anheuern. Letztere gehören in die Rüstungsbetriebe der Nato. Und das, was sie sich nach den Maßstäben des neuen Kurses an unerlaubtem Zeug anschaffen bzw. aufgebaut haben, muß ihnen weggenommen werden. Auch wenn es aus Lieferungen stammt, die aus einer Exportnation mit Nato-Mitgliedschaft kamen…

– Dergleichen soll ziemlich häufig vorkommen; und die Bemühungen der wichtigsten Mächte in der Allianz um geschäftsförderliche Kundschaft wie politisch zuverlässige Partner in aller Welt verweist auf den Widerspruch in der neuen Linie der Nato. Die euro-amerikanische Partnerschaft zur Beaufsichtigung der Staatenwelt steht nämlich im Gegensatz zur Konkurrenz zwischen den Beteiligten; zur Konkurrenz, in der sie sich am national gegliederten Weltmarkt nach Maßgabe ihres Geldes und auf Kosten der anderen Wirtschafts- wie Nato-Mächte bedienen.

Dieser Widerspruch hat in seiner ganzen Grundsätzlichkeit bei der Erneuerung der Nato kaum eine Rolle gespielt. Und zwar weniger deswegen, weil in den Strategiediskussionen die politische Ökonomie ein ungeliebtes Fach ist.

Vielmehr bemerkt das politisch-strategische Denken auf seinem ureigensten Feld, was es an einer kollektiven Gewaltausübung hat. Denn das ist aus dem Bündnis geworden, weil sein Anlaß immerhin 40 Jahre fortbestand: Die nationale Berechnung im Umgang mit dem Souveränitätsmittel Militär war Gegenstand gemeinsamer Beratung, Entscheidung und Arbeitsteilung. Was im Prinzip für jede Nation eine Beschränkung darstellt, weil sie sich ihrer Freiheit begibt, je nach den Konjunkturen der Konkurrenz zu rüsten, Bündnisse zu schließen oder zu lösen, Krieg zu führen – das ist hier zum „Sachzwang“ geraten, dem zu gehorchen von Vorteil ist. Ganz abgesehen davon, daß die Mitglieder in Sachen Weltmarkt gut gefahren sind mit ihrer Beteiligung, können sie auch auf dem Felde der politischen Macht ansehnlichen Gewinn konstatieren: Die Vereinigung ihrer sicherheitlichen Belange, das Zusammenlegen ihrer militärischen Potenzen ist immerhin die institutionalisierte Beteiligung am Geschäft des weltherrschaftlichen Aufsichtswesens – wie sollten Staaten etwa der zweiten Garnitur wie die europäischen Mächte dies als Vorbehalt bedauern, der ihnen Verzicht aufzwingt? Mit ihren Konkurrenten aus der Abteilung „Wirtschaftsmächte“ nicht nur kredit- und krisenmanagementsmäßig verbunden, sondern auch allen Angriffen gegenüber gefeit zu sein, die sich Dritte gegenüber ihrem weltweiten Erfolgskurs vornehmen könnten – das ist erst einmal eine Errungenschaft. Zumal die speziell nationalen Vorhaben in das Bündnis und seine Programmatik eingebracht werden.

Dies geschieht auch jetzt wieder im Rahmen der Erneuerung der Nato, wenn die Rechte und Pflichten ihre Aufteilung erfahren. Der Wille, Sonderwege zu beschreiten und aus der gemeinsamen Beaufsichtigung der ordnungsbedürftigen Welt ohne Kommunismus auszusteigen, kam gar nicht erst auf. Und die danach klingenden Vorstöße – etwa der Franzosen, die die WEU für zeitgemäß halten – führen zu einer Debatte um die Verteilung von Kompetenzen und Finanzierung, von regionalen und nationalen Zuständigkeiten, die alle in der Nato ihren Platz bekommen. Diese Allianz berücksichtigt in ihrer inneren Funktionsteilung inzwischen die speziellen Sicherheitsinteressen der gewichtigen Nationen ebenso wie von Instanzen namens EG, KSZE und WEU. Und dies ist vorerst der Weg, auf dem sich Nationen von der Unterordnung unter das Bündnis emanzipieren, die es bzw. Amerika ihnen abverlangt. Eine Kündigung der vereint ausgeübten Weltherrschaft, die eine Renationalisierung der weltpolitischen Strategie einleiten würde, stand nicht auf der Tagesordnung – ebensowenig wie nationale Unternehmungen in Sachen Machtzuwachs (siehe Annexion der DDR und Ost-Erschließung) Kritik auf sich zogen.

Damit haben die Realisten des neuen Kurses ihre Ideale sicher ebensowenig begraben wie ihre Gegensätze – sie wissen lediglich die aktuellen Kräfteverhältnisse und die ihnen einzeln wie gemeinsam verfügbaren Mittel als den Maßstab ihrer Macht zu würdigen.

Deshalb treten sie erstens gemeinsam, zweitens in eigener – von den „Freunden“ gebilligter – Mission an, um das Aufkommen anderer Mächte zu unterbinden. Sie legen durch Auswärtsspiele aller Art den Status sämtlicher Mitglieder der Staatenwelt – der alten wie der neuen – fest. Denn zu tolerante Zulassungsbestimmungen wären eine Teilung der Macht, die sie bis auf weiteres ihrem exklusiven Club vorbehalten, der auch die Aufnahme neuer Mitglieder selber regelt. Die Legitimation dazu haben sie – in der UNO verschaffen sie sich noch eine zusätzliche, da die den Moralisten der Weltpolitik das „Eingreifen“ so verständlich macht. Das Zuschlagen und Bomben, Morden und Brennen als Pflicht, die „uns“ aus dem Völker- und Menschenrecht obliegt – dieses beim Golfkrieg eingeführte Muster des demokratischen Zynismus erbringt dann den Sinn, den Leichen nun einmal fordern.