Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Wie man über einen Terroranschlag auch berichten kann:
Das Moskauer Attentat liefert deutschen Journalisten jede Menge Salz für die „russische Wunde“

Der Terroranschlag in einem Moskauer Flughafen mit an die 200 Toten und Verletzten wird von den westlichen Staatschefs verurteilt. Nach dem Zitat dieser diplomatischen Pflicht schreiten die Russland-Kenner der deutschen Presse zur scharfen Analyse...

Während terroristische Anschläge gegen westliche Staaten für die Heimtücke und Feigheit der Täter sprechen und in deren krankhaft-fanatischem Weltbild begründet sind, drängt sich unseren westlichen Beobachtern angesichts des Attentats in Russland als erstes eine andere Frage auf: Wieso konnte dieser Staat seine Bürger nicht schützen?

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Wie man über einen Terroranschlag auch berichten kann:
Das Moskauer Attentat liefert deutschen Journalisten jede Menge Salz für die „russische Wunde“

Der Terroranschlag in einem Moskauer Flughafen mit an die 200 Toten und Verletzten wird von den westlichen Staatschefs verurteilt. Nach dem Zitat dieser diplomatischen Pflicht schreiten die Russland-Kenner der deutschen Presse zur scharfen Analyse. Dabei fällt den Anhängern der ausgewogenen Berichterstattung Folgendes auf und ein:

Moskauer Flughafen: Für Terroristen ein „Spaziergang“ …

Während terroristische Anschläge gegen westliche Staaten für die Heimtücke und Feigheit der Täter sprechen und in deren krankhaft-fanatischem Weltbild begründet sind, drängt sich unseren westlichen Beobachtern angesichts des Attentats in Russland als erstes eine andere Frage auf: Wieso konnte dieser Staat seine Bürger nicht schützen? Diese Frage nach dem Versagen des Staates kann von der anerkannten Unterstellung ausgehen, dass gegen den Angriff terroristischer Gewalt eben nur die Gewalt des Staates hilft. Dreht man diesen Grundsatz schlicht so herum, dass der Erfolg eines Terroranschlags daran liegt, dass der Staat ihn nicht verhindert hat, schauen die dortigen Machthaber und ihre Ordnungshüter gar nicht gut aus:

„Es war ein einfacher Weg zur Tat. Vermutlich nur ein kleiner Spaziergang, beginnend am Parkplatz nebenan, dann hinein durch den ungesicherten Seiteneingang, weiter in den engen Lift, der in der Regel mit Koffer schleppenden Menschen überfüllt ist. Ein Stockwerk hinauf, und der Täter stand in der Ankunftshalle.“ (Dieses Zitat und die weiteren Zitate jeweils aus der SZ und FAZ vom 26.1.bis 2.2.11).

Der Vermerk ein paar Zeilen später, dass der Eingangsbereich der Flughäfen auch in anderen europäischen Großstädten bequem und ohne große Kontrollen zu betreten ist nimmt am vernichtenden Urteil vom speziell russischen Schlendrian gar nichts zurück. Denn für diesen Befund kann der deutsche Journalist seine russischen Kollegen sprechen lassen:

So „wurde in den russischen Medien die Frage gestellt, was die Verantwortlichen in Moskau gegen die Terrorgefahr getan hätten. Von London wisse man, dass dort alles unternommen werde, um derartige Vorfälle auszuschließen. Moderne Technik werde dort eingesetzt, um Sprengstoff rechtzeitig zu entdecken, und Beamte, die Physiognomien lesen könnten, würden eingesetzt. Aber was geschehe in Moskau?“

Auch dass dort längst Nacktscanner eingeführt sind, übrigens ganz ohne ethisches Palaver, vermag das Urteil vom untätigen Sicherheitsapparat nicht zu korrigieren. Im Gegenteil darf unser Journalist als glaubhaftesten Kronzeugen den Präsidenten selbst zitieren, der Anarchie und Chaos auf dem Flughafen beklagte. Mit diesem Eingeständnis der Schwäche von oberster Stelle wird die Diagnose vom ohnmächtigen, d.h. in puncto öffentliche Kontrolle und Sicherheit impotenten Staat autorisiert, in dem Terroristen zu ihren Spaziergängen förmlich eingeladen werden. Nebenbei lässt unser Pressemann es sich nicht nehmen, auch noch wegen der, wie jeder hier weiß, sowieso manipulierten Vergabe der großen Sportspektakel nachzutreten. So sieht er im Attentat ein ernstes Warnzeichen auch im Hinblick auf die sportlichen Großereignisse wie Fußball-Weltmeisterschaft und Olympische Winterspiele, die in den nächsten Jahren Menschen aus aller Welt ins Land locken werden. Unsere ernste Sorge wegen der russischen Sicherheitsmängel gilt jedenfalls nicht bloß den Russen.

… mitten durch den „Polizeistaat“

Russland fehlt es also an innerer Kontrolle und Ordnungsmacht. Doch bevor man sich über diese Kritik aus westlichen Redaktionsstuben wundert, liest man auch schon das eher vertraute Gegenteil: In kaum einem Land gibt es bezogen auf die Zahl der Bevölkerung so viele Sicherheitsbeamte wie in Russland, das eine ganze Armee von Sicherheitspolizisten und Geheimdienstbeamten beschäftigt. Aber wenn Medwedjew sozusagen ganz im Sinne der Anmahnung unserer Presse auf jene Anarchie als Antwort ankündigt: Wir brauchen die totale Kontrolle, das ist der einzige Ausweg, fragt der SZ-Journalist prompt: Aber wo soll die einmal enden? Diese Frage ist bereits die Antwort, welche sich erneut mit einer russischen Stimme, diesmal passend aus den Kreisen der Opposition, beglaubigen lässt: Wir haben jetzt schon einen Polizeistaat.

Ob man an der russischen Exekutive also bemängelt, dass sie ein schlapper Haufen und de facto nicht präsent ist, oder ob man sie umgekehrt unter den seit einem Jahrhundert bewährten Verdacht stellt, auf die totale Überwachung aus zu sein, gleich gut: Dass die zwei Vorwürfe irgendwie nicht zusammenpassen, braucht den geneigten Leser nicht zu stören, immerhin sind es schon zwei Vorwürfe. Und miteinander kombiniert, werden sie für die russischen Apparatschiks ja erst richtig blamabel: Ein Polizeistaat, der nichts unter Kontrolle hat, ist quasi doppelt blöd. Umgekehrt aber: Wäre er effizient, wäre er mindestens widerlich.

Führungsstärke? Nichts dahinter!

Womit sich unseren Beobachtern die nächste Frage aufdrängt: Wo ein zum Polizeistaat aufgeblasener Herrschaftsapparat so ohnmächtig dasteht, sind Zweifel anzumelden, ob die politische Führung ihren Stall im Griff hat. Fehlt es ihr womöglich an Durchsetzungsvermögen? Der Präsident scheint immerhin Tatkraft zu demonstrieren: Medwedjew hat die von ihm angeordneten Untersuchungen nicht abgewartet. Noch bevor geklärt ist, wer eine Mitschuld an dem Anschlag von Domodedowo trägt, hat er erste Entlassungen in den Sicherheitskräften angeordnet. Weitere sollen folgen. Das kennen wir doch irgendwoher. Liest sich, als wäre dieser Russe zusammen mit hiesigen politischen Lichtgestalten auf dieselbe Kaderschule gegangen, was ihm aber vor dem Urteil unserer Gutachter wenig nützen würde: Sorgt das Setzen politischer Zeichen dieser Art hierzulande vielleicht für ein paar geschmäcklerische Stildebatten, steht in seinem Fall außer Frage, dass es sich um einerseits willkürliche wie andererseits hilflose Versuche handelt, eine Führungsstärke zu inszenieren, die er nicht hat. Beweis: Sonst wäre sein Sicherheitsapparat nicht dieser zahnlose Papiertiger, in dem nur die Korruption funktioniert. Was hierzulande beste politische Sitte ist, nämlich statt einem Grund in der Sache Schuldige zu ermitteln und folglich das Personal auszutauschen, womit man Qualitäten als Aufräumer und Durchgreifer beweist, hört sich bei dem russischen Präsidenten eindeutig nach schäbigem Bauernopfer an:

„Medwedjew zeigte Trauer, aber er begann sogleich damit, nach den Schuldigen zu suchen, und er fand sie unter jenen, die für die Sicherheit auf dem Flughafen zuständig sind.“

 So aber lassen unsere Journalisten einen russischen Führer nicht aus der Schusslinie kommen. Wenn dortzulande etwas versagt, dann sind es nicht einzelne Figuren, sondern es ist das marode System insgesamt. Und deswegen können der politische Chef und sein Sicherheitsapparat wirklich nichts richtig machen. Sind sie nach dem Chaos um Deeskalation und Rückkehr zur Ordnung bemüht, gerät das schon wieder zum Beleg, dass die vermeintliche Souveränität bloße Demo, nichts als Schein ist: Die russischen Behörden haben die Devise vorgegeben, den emotionalen Ausnahmezustand rasch zu beenden. Nur zwanzig Minuten war der Flughafen nach dem Anschlag geschlossen, dann dauerte es nicht mehr lange, bis im üblichen Behördenjargon gemeldet wurde: ‚Alles im planmäßigen Regime‘. Und wenn das Chaos angedauert und Panik um sich gegriffen hätte! Den ätzenden Kommentar dazu kann man sich denken. Feine Unterschiede gibt es eben auch hier: Hätten westliche Ordnungskräfte so schnell für Normalität gesorgt, hätten sie durch besonnenes Handeln ihre Krisentauglichkeit bewiesen. In Moskau aber wurde von oben eine Ruhe angesagt, die es dort gar nicht geben kann:

„Die Patrouillen der Polizei an den Metrostationen wurden verstärkt, aber während am Montagabend die Miliz deutlich sichtbar war und auch in die Waggons zustieg, war die Fahrt am Dienstag schon wieder wie zuvor. Ein paar Moskauer schauten die mitfahrenden Passagiere kurz an, dann vertieften sie sich in die Zeitung oder schlossen die Augen. Ein stiller Kampf gegen die Terrorangst.“

Ein echt komischer Polizeistaat, der zuerst – typisch Regime – den Bürgern das Ende ihrer Angstgefühle verordnet, um sie dann mit ihrer Angst und ohne Polizei allein zu lassen.

Die „kaukasische Spur“ führt … zum Kreml

Nachdem unsere Journalisten im Befund vom ohnmächtigen russischen Gewaltapparat auch noch ihr Bild von der russischen Seele untergebracht haben, die sich in dumpfem Gleichmut übt, weil ihr sowieso nichts anderes bleibt, handeln sie den auswärtigen Grund für den antirussischen Terror ab. Der heißt die kaukasische Spur. Ist natürlich nicht bloß Spur, sondern für unsere Presse ausgemacht, dass die Aufständischen den Krieg solange aus dem Kaukasus in die russischen Städte tragen, bis der Kreml ihre Lebensbedingungen spürbar verbessert hat. Eine Wortwahl und Betrachtungsweise, wie sie sonst für die Bewertung terroristischer Gewalt nicht gerade üblich sind. Der Terrorist ist so gesehen ein eingereister Krieger, was in der hiesigen Werteskala auf jeden Fall ein Aufstieg zu nennen ist. Man stelle mal das hier gültige Porträt eines antiwestlichen Taliban daneben: ein menschenverachtender Fanatiker der abgründigsten Art! Dagegen der antirussische Terrorist: in dem Sinn gar kein Terrorist, vielmehr ein Aufständischer, der das Opfer sozialpolitischer Vernachlässigung ist, eine verzweifelte Kreatur, deren Armut, Arbeitslosigkeit und mangelnde Bildung als die sozialen Wurzeln des Terrorismus unser Verständnis finden.

Dabei lässt sich der darin enthaltene Vorwurf, die Russen zögen sich durch unsoziale Politik ihre Terroristen selbst heran, gerade auf sie schlecht anwenden, weil ihr Präsident selbst es angeblich so ähnlich sieht: Medwedjew setzte im Nordkaukasus anders als sein Vorgänger Putin nicht nur auf Gewalt, sondern auf einen sozialen Ansatz. Aber all die russischen Gelder zum wirtschaftlichen Aufbau Tschetscheniens bringen dem russischen Staatsmann dann doch keinen Bonus bei unseren Russlandkritikern, weil sie nämlich in den kaukasischen Sand gesetzt sind, was man daran sieht, dass der Krieg dort und der Terror zuhause eben weitergehen.

Wenn Medwedjew dann am Tag nach dem Attentat als erstes die unnachsichtige Vernichtung von Terroristen im Nordkaukasus fordert, tut er nach hiesigem Urteil nicht, was jeder westliche Staatsführer im gleichen Fall macht. Sondern er verrät, was unsere Presse schon ahnte, dass seine soziale Offensive so ernst nicht gemeint war, weshalb nun wieder die Fratze der Gewalt hervortritt. Andererseits wird in der Politik der Härte genau das Übel festgemacht, das den Terrorismus erst recht provoziert: Die Sicherheitskräfte gehen oft genug auf bloßen Verdacht äußerst rigoros gegen mutmaßliche Aufständische vor, was ein Grund für den Zulauf zu den Kämpfern in den Wäldern ist. Selbstredend ist der Verdacht gegen unsere terroristischen Feinde stets begründet, wenn im „Sumpf“ gestochert wird und mit diskreter Zurückhaltung Nester ausgehoben werden.

Wenige Zeilen weiter merkt man freilich, dass es unseren Schreibern sowieso nicht um die Gewalt oder den verkehrten politischen Weg geht, sondern dass in ihrer Sicht das Ziel selbst der Fehler ist, will sagen: Das kommt eben davon, wenn man sich fremde Völker einverleiben will, seit ewigen Zeiten eine Erbsünde des russischen Imperialismus, egal ob zaristisch oder sowjetisch: Seit Jahrhunderten wird der Kaukasus aus Sankt Petersburg oder aus Moskau blutig niedergeworfen und blutig verteidigt. Russlands Anspruch auf staatliche Souveränität in seiner Provinz – man tituliert sie als inneres Ausland und Russlands Zone der Ohnmacht – wird somit zum fortdauernden Unrecht erklärt, für das die Terror-Attentate die folgerichtige Quittung sind. So landet die journalistische Aufbereitung eines terroristischen Anschlags gegen den russischen Staat zielsicher bei diesem Staat selbst als dem eigentlichen Grund. Sollte einem dergleichen hier bei einer Talkrunde über den westlichen Krieg gegen den Terror einfallen, wäre man sofort als Al-Kaida-Sympathisant enttarnt oder zumindest als übler Zyniker, der das Opfer zum Täter erklärt.