Der letzte Arbeitskampf der IG Metall
Die Gewerkschaft entschließt sich zu ihrer „schwersten politischen Niederlage seit Jahrzehnten“

Die patriotische Gewerkschaftsforderung nach gleichen Lebensverhältnissen in Ost und West behandeln Staat, Kapital und Öffentlichkeit als Sabotage am Standortvorteil des Ostens. Dem öffentlichen Entzug der Anerkennung entnimmt die Gewerkschaft das Aus ihrer Lebenslüge, als „Gegenmacht“ für die Vereinbarkeit von Lohn und Profit sorgen zu dürfen, und zerfleischt sich im Streit um die aufgemachten Alternativen der Selbst-Gleichschaltung oder / bzw. Bedeutungslosigkeit.

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Der letzte Arbeitskampf der IG Metall
Die Gewerkschaft entschließt sich zu ihrer „schwersten politischen Niederlage seit Jahrzehnten“

Der verlorene Kampf um die 35-Stunden-Woche in der Metall-Branche im Osten: Ein absurdes Gewerkschaftstheater in 5 Akten

1.

Es fängt ganz sachte an: Die Metall-Gewerkschaft fordert für ihre Leute im Osten des vereinigten Vaterlands die Gleichstellung in Sachen Wochenarbeitszeit mit den Metallern im alten Bundesgebiet. 13 Jahre nach der „Wiedervereinigung“ und der großherzigen Zusage „gleicher Lebensverhältnisse“ in Ost und West durch die Machthaber der Nation, nach 13 Jahren tarifvertraglich zugestandener Schlechterstellung der ehemaligen realsozialistischen Werktätigen – genauer: der kleinen Minderheit, für die der real existierende Kapitalismus deutscher Nation überhaupt noch oder wieder in der Metall-Branche lohnende Verwendung hat – sollen wenigstens bei der Wochenarbeitszeit die speziellen Nachteile für die Beschäftigten abgebaut werden, mit denen die im Osten tätigen Firmen sich ihren Sondervorteil vor – meistens ihren eigenen – Standorten im Westen der Republik, ihre Sonderprämie für ihre großzügige Bereitschaft zur Benutzung ostdeutscher Arbeitskräfte, gesichert haben. Politisch voll korrekt findet die IG Metall ihre Forderung, des Beifalls aller wohlmeinenden Patrioten würdig; dies um so mehr, als die Arbeitgeberseite selber schon vor Jahresfrist die Aufnahme entsprechender Verhandlungen zugesagt hat; für die Unternehmer auch leicht zu verkraften, zumal die große Errungenschaft keinesfalls überfallartig, sondern bröckchenweise, verteilt über volle fünf oder sechs Jahre, eingeführt werden soll; zu Sonder- und Ausnahmeregelungen für Betriebe, deren Ertragskraft für die Ansprüche ihrer Eigentümer zu wünschen übrig lässt, ist die Gewerkschaft wie immer sowieso bereit. Einen Kontrapunkt zu dem allgemeinen Gejammer über eine angebliche „Überreglementierung“ der Arbeitswelt, zu dem „Trend“ zur durchgreifenden Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Allgemeinen und zu dem neuesten Konsens über die Notwendigkeit längerer Arbeitszeiten im Besonderen will die Gewerkschaft damit freilich schon auch setzen und demonstrieren, dass sie sich durch ihre demonstrativ schlechte Behandlung durch den Kanzler bei der Verkündung der neuerdings geltenden Richtlinien nationaler Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in der „Agenda 2010“ weder einschüchtern noch gleichschalten lässt, vielmehr über eigene „Konzepte“ verfügt und für deren Durchsetzung auch Druck zu machen vermag. Dadurch, dass sie andererseits dann doch nicht mehr verlangt als die Einlösung eines alten politischen Versprechens und eines Stücks gar nicht „bloß“ sozialer, sondern nationaler Gerechtigkeit, meint sie ihre Kritiker bis hinauf zur Regierung moralisch ausmanövrieren und die Gegner ihres Vorgehens ins Unrecht setzen zu können. Entsprechend offensiv baut sie sich gegen den Arbeitgeberverband auf, der seinerseits, ganz im Sinne der allgemeinen nationalen Offensive gegen überkommene Standards beim Lohn und bei den Arbeitsbedingungen, alle gewerkschaftlichen Wünsche ablehnt und den Untergang der Branche in Ostdeutschland beschwört, so als würde ihr gesamter Ertrag ausschließlich in den paar halben Stunden erarbeitet, die nach und nach pro Woche wegfallen sollen. Durch ihren ersten Erfolg, einen Abschluss für die – letzten paar – Arbeiter in der ostdeutschen Stahlindustrie, sieht die Gewerkschaft sich praktisch bestätigt und erklärt sich kampfbereit – wie in den alten Tagen der 35-Stunden-Sonne, als den westdeutschen Metall-Unternehmen das grandiose Geschäft abgerungen wurde, im Zuge der realen Anpassung der Arbeitszeiten an den jeweiligen Betriebsbedarf die nominelle durchschnittliche Netto-Anzahl der Wochenstunden auf 35 festzulegen.

Soweit die Exposition des Dramas.

2.

Im zweiten Akt betätigt sich die Arbeitgeberseite, zur Überraschung der Gewerkschaft, sehr entschlossen als Scharfmacher; und zur offenkundig noch viel größeren Überraschung der IG Metall bekommt sie dafür die rückhaltlose Unterstützung aller politischen Instanzen und die ungeteilte Zustimmung der so ungemein pluralistischen öffentlichen Meinung der Nation. Die Metaller beginnen und eskalieren ihre Streikaktionen nach dem alt-vertrauten Drehbuch: demonstrativ, ohne Schädigungsabsicht, unter ständiger Beteuerung ihrer unbedingten Bereitschaft, dem Verhandlungspartner entgegenzukommen, um bloß in irgendeiner Form die „35“ in den neuen Manteltarifvertrag hinein zu bugsieren. Genau das verweigern die vereinigten Arbeitgeber. Offensiv wie lange nicht mehr gehen sie gegen den Streik vor: mit Polizeischutz und betrieblicher Rundum-Versorgung für Streikbrecher; mit Hubschrauber-Transporten von Rohmaterial und Fertigprodukten über die Köpfe der Streikenden hinweg; mit gerichtlich erwirkten Zwangsgeldern gegen den Gewerkschaftsvorstand, um an anderer Stelle Blockade-Versuche zu unterbinden. Und zugleich mit einer indirekten Ausweitung des Arbeitskampfes auf Firmen im Westen der Republik, speziell auf Großbetriebe der Auto-Industrie, des allerheiligsten Bestandteils der nationalen Wirtschaft, denen – angeblich oder wirklich – die Bauteile ausgehen und ein paar Tage Kurzarbeit auf alle Fälle ganz gut in ihr konjunkturgemäßes Produktions-Management hineinpassen. Dabei geht es den Unternehmern gar nicht einmal um die materielle Schädigung der Gewerkschaft – so wie seinerzeit beim Arbeitskampf um die Einführung der 35-Stunden-Woche ins westdeutsche Arbeitsleben, als die Gewerkschaft mit preiswerten Schwerpunktstreiks an ausgewählten Stellen den Effekt von Flächenstreiks erzielen und für die betroffenen Belegschaften das Kurzarbeitergeld in Anspruch nehmen wollte, worauf Arbeitsminister Blüm diese schlaue Strategie mit „Klarstellungen“ zur Gesetzeslage durchkreuzte und daraufhin die „kalten“ Aussperrungen zu Lasten der gewerkschaftlichen Streikkasse zunahmen. Viel wichtiger und vor allem für die IG Metall viel härter ist der beabsichtigte und erzielte moralische Effekt: Die Belegschaften alt-bundesdeutscher Großunternehmen werden gegen ihre streikenden ostdeutschen Kollegen in Stellung gebracht, denen sie einen unverhofften Betriebsurlaub zu verdanken haben; und wenn sich die Masse der betroffenen „Mitarbeiter“ bei VW, Opel & Co nicht übermäßig aufregen lässt, so zetern die zuständigen Betriebsratsoberen und die Gewerkschaftsspitzen in den „geschädigten“ Tarif-Bezirken um so mehr. Auch da gibt es zwar immer noch welche, die die gewerkschaftliche Solidarität über den beflissenen Betriebsegoismus stellen. Im Großen und Ganzen treffen Journalisten, Meinungsforscher und Fernsehreporter unter Gewerkschaftern, die etwas zu sagen haben, unter Metallarbeitern im Osten wie im Westen der Republik und unter den Leuten „auf der Straße“ aber praktisch nur auf Kronzeugen für das längst feststehende Urteil, das die Verantwortlichen bereits vorformuliert haben: Erstens passt dieser Streik überhaupt nicht in „die Landschaft“, und die Vorstellungen der IG Metall sind schlicht nicht von dieser Welt (so der Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Wirtschaft, SPD-Mann Wend). Zweitens ist ein Arbeitskampf selbst dann, wenn man gegen das Anliegen einer Angleichung der ost- an die westdeutschen Arbeitszeiten letztlich nichts haben darf, in den aktuellen Krisenzeiten ganz fehl am Platz – SPD-Fraktionschef Müntefering warf der IG Metall vor, sie erhebe die ‚an sich berechtigte Forderung‘ nach einer schrittweisen Verkürzung der Wochenarbeitszeit von 38 auf 35 Stunden in einem ‚kritischen Augenblick‘ (FAZ, 24.6.). Und dass die „Fernwirkungen“ der Aktion die heiligsten Kühe am deutschen Industriestandort treffen, kann drittens überhaupt nicht hingenommen werden.

Einigkeit herrscht zwischen Unternehmern, Politikern, Experten und nicht wenigen modernen Arbeitervertretern überdies viertens in der interessanten Einschätzung, dass der Streik der IG Metall vor allem ein Bärendienst an den Metallern des Ostens selber ist, weil er leichtfertig zentrale Wettbewerbsvorteile des Ostens gefährdet, nämlich die geringeren durchschnittlichen Arbeitskosten, längere Arbeitszeiten und höhere Flexibilität (der Präsident des Verbandes der Automobilindustrie Gottschalk; SZ, 24.6.). Dasselbe in den Worten des Wirtschaftsministers: Clement erklärte, Ostdeutschland verliere im Fall der Arbeitszeitverkürzung einen wichtigen Standortvorteil: ‚ich fürchte, das wird Arbeitsplätze kosten.‘ (FAZ, 23.6.) Der Lobbyist und sein Minister – sind sich in dem Punkt einig, und wer in Wirtschaftsredaktionen und -instituten etwas Kompetentes zu sagen hat, ist sowieso derselben Meinung: Mit den regionalspezifischen Nachteilen, die die Arbeitskräfte im Osten hinzunehmen haben, steht und fällt der Vorteil – nicht der der Geschäftswelt, die in ihrem Appetit auf viele schlecht bezahlte Arbeitsstunden ihrer „Mitarbeiter“ offenkundig so unersättlich ist wie zu den Zeiten des von Marx kritisierten Wirtschaftswissenschaftlers Senior; auch nicht der der Staatsgewalt, die den Klassen-Egoismus ihrer kapitalistischen Arbeitgeber gerade zur alleingültigen Staatsräson erhebt: Auf dem Spiel steht „der Vorteil“ des Ostens der Nation; der einzige Vorteil nämlich, den die lohnabhängige Menschheit in diesem Elendswinkel der neuen BRD dem Geschäftsinteresse konkurrenztüchtiger Unternehmer und für die Bedürfnisse des Staatshaushalts zu bieten hat und der folglich mit dem einzigen Plus zusammenfällt, das diese guten Leutchen sich selber zuschreiben und ausrechnen können. Sonst ist an ihnen nämlich nichts dran, womit sie sich ein Interesse des Kapitals, das Wohlwollen der Staatsmacht und für sich selber einen Arbeitslohn verdienen könnten, als eben ihre nur wenig eingeschränkte und besonders billige Verfügbarkeit für besonders lohnende Geschäfte. Ihr Interesse, zu erträglichen Bedingungen einen Lohn zu verdienen, von dem sie einigermaßen leben können, zählt wenig; ihre Not, überhaupt benutzt und entlohnt zu werden, gilt umgekehrt als ihr einziges Lebensbedürfnis; so vollständig sind sie unter ihre Funktion als dienstbare Manövriermasse subsumiert und mit ihrer Lohnabhängigkeit in eins gesetzt, dass alle Welt ihnen ihre schlechte Behandlung als ihr auszeichnendes Qualitätsmerkmal und als ihre einzige Lebenschance zuerkennt und niemand sich deswegen den Vorwurf des Zynismus zuzieht.

Über die Forderung der IG Metall, den ostdeutschen Metallern endlich wenigstens die gleichen Arbeitszeiten wie den westdeutschen zuzugestehen, ist damit das nationale Verdikt gefällt: Was die Gewerkschaft für politisch besonders korrekt hält, ist in Wahrheit ein Anschlag auf die Standort-Qualitäten der Ostzone der Republik und auf das Recht der dortigen Lohnabhängigen, sich im gesamtdeutschen Konkurrenzkampf der Betriebe vergleichen und verschleißen zu lassen. Ihr Streik ist Sabotage an der einzigen Chance, die das Kapital den Bewohnern dieser Landstriche gewährt – und die die Betroffenen deswegen mit Klauen und Zähnen verteidigen sollten, gegen „ihre“ Gewerkschaft (rät der Klassenkämpfer vom Dienst in der Süddeutschen-Redaktion: SZ, 24.6.). Die Sprecher der Unternehmerseite, sonst durchaus bemüht, die vaterländischen Verdienste herauszustreichen, die sie sich mit ihrem hoch subventionierten Zugriff auf ostdeutsche Arbeitskräfte erwerben, können da nur beipflichten und steuern aus lauter Verantwortung für den Standort Ostdeutschland die Drohung bei, sie sähen sich durch das Vorgehen der Gewerkschaft genötigt, ihre Engagements in den neuen Ländern zu überdenken (BMW und andere) und womöglich mit ihren Fabriken weiterzuziehen in Länder, wo man die Gelegenheit, sich konkurrenzlos billig ausbeuten zu lassen, noch als prachtvolles Lebensmittel zu schätzen weiß: Gottschalk fügte hinzu, er wolle zwar nicht den Exodus vom Standort Deutschland vorantreiben. Doch zeige eine Umfrage unter VDA-Mitgliedern ohnehin einen verstärkten Trend zu Investitionen im Ausland, besonders in Osteuropa und Ostasien. (SZ, 24.6.) Um diesem Trend entgegenzuwirken und dem Vaterland seine patriotischen Unternehmer zu erhalten, setzt der oberste Lobbyist aller deutschen Unternehmer noch eins drauf und erinnert die öffentliche Gewalt vorsorglich daran, was die herrschende Klasse von ihr erwartet: Arbeitgeberpräsident Hundt forderte, Arbeitskämpfe wie den aktuellen zu verbieten. (AZ, 23.6.) Einem christlichen Arbeiterfreund wie dem CDU-CSU-Fraktionsvize Merz und einem liberalen Gegner aller überflüssigen Staatseingriffe wie dem FDP-Vorsitzenden Westerwelle nimmt der Mann damit das Wort aus dem Mund. Die ergreifen zwar auch nicht gleich eine entsprechende Gesetzesinitiative, hetzen dafür aber gegen jeden gewerkschaftlichen Einfluss auf Arbeitswelt und Sozialpolitik, als glaubten sie tatsächlich an ihren Popanz einer übermächtigen Gewerkschaft, die Deutschlands Arbeitsmarkt in babylonischer Gefangenschaft hielte, steuern so das Ihre zur Ächtung der real existierenden Arbeitervereine bei, soweit die sich noch eine Mitsprache in Lohnfragen und sozialpolitischen Belangen herausnehmen, und leisten auf die Art ihren Beitrag dazu, dass es zu so unschönen Maßnahmen wie einem Streikverbot gar nicht erst kommen muss. Die amtierenden Verantwortungsträger der Republik werden in demselben Sinn aktiv. Ostdeutsche Ministerpräsidenten verwahren sich dagegen, dass die IG Metall den Ruf Ostdeutschlands als Investitionsstandort ruiniert, und lassen sich mit dieser Botschaft vor den Toren bestreikter Betriebe ablichten; der sächsische Landeschef Milbradt steuert seine eigene Verschwörungstheorie bei: ‚Hier wird für die Interessen der westdeutschen Betriebe gestreikt. Es geht offenbar darum, keine weiteren neuen Arbeitsplätze im Osten entstehen zu lassen.‘ (FR, 23.6.); auch Angela Merkel hält ‚den ganzen Streik für aberwitzig‘ (ebd.). Und der Kanzler in seiner besonnenen Art verlangt sofortigen Streikabbruch, lieber eine Stunde früher als später, und das Tag für Tag immer dringlicher.

So kommt es, wie es kommen muss, nämlich zum dritten Akt, dem ersten Höhepunkt des gewerkschaftlichen Dramas.

3.

Die Sache nimmt eine unerwartete Wendung. Statt den Streik – wie schon so manchen anderen – auf ein paar symbolische Aktionen zurückzufahren, die Tarifautonomie einmal mehr in schwarzen Särgen zu Grabe zu tragen, den Verhandlungsprozess in die Länge zu ziehen und am Ende den Verzicht auf das anfängliche Anliegen als bestmöglichen Kompromiss zu verkaufen, erklärt die IG-Metall-Führung selber und höchstpersönlich in Gestalt ihres Vorsitzenden Zwickel von Samstag auf Montag den Streik für gescheitert und bricht ihn ab; letzteres nebenbei ganz ohne Rücksicht auf satzungsgemäße Umständlichkeiten wie eine erneute Urabstimmung, vor allem aber unter demonstrativem Bruch mit der altehrwürdigen gewerkschaftlichen Tradition, noch das mieseste Ergebnis irgendwie schönzureden. Von höchster Stelle wird statt dessen die entgegengesetzte Parole ausgegeben, der mächtige Kampfverband der deutschen Metallarbeiter hätte die schwerste Niederlage seit Jahrzehnten erlitten: eine lächerliche Selbstbezichtigung angesichts der lächerlich bescheidenen Forderung, die die IG Metall verloren gibt; lachhaft aber vor allem, weil gar keine Rede davon sein kann, dass die Gewerkschaft eine Niederlage erlitten hätte. Ganz aus eigenem Entschluss stellt sie ihren Kampf ein; das ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, wo ihre Aktionen Wirkung zeigen, nämlich die – wie sehr auch immer von der Gegenseite übertriebenen – Fernwirkungen nämlich auf Autokonzerne mit großem Einfluss auf die Verhandlungsposition des Arbeitgeberverbandes. Und niemand anders als die Gewerkschaft legt regelrecht Wert darauf, dass dieser Entschluss noch nicht einmal als ihre eigene, auf Grundlage eigener Berechnungen getroffene Entscheidung zur Kenntnis gebracht und genommen wird, sondern ausdrücklich als Fehlschlag, und zwar als einer der grandiosesten Sorte, in ihre Annalen eingeht. In diese Diagnose schließt der Gewerkschafts-Chef gleich alle sozialpolitischen Abwehrversuche mit ein, mit denen die Gewerkschaften in letzter Zeit bei der Regierung nichts erreicht haben, und resümiert:

„Der ergebnislose Streik sei ‚eine Niederlage der gesamten IG Metall‘ und nicht ein Betriebsunfall aufgrund ‚handwerklicher Mängel‘. Das Scheitern des Bündnisses für Arbeit, die Agenda 2010 der Bundesregierung und die Streikniederlage stellten ‚eine historische Zäsur‘ dar.“ (FR, 4.7.)

Augenblicklich brandet Beifall auf. Die ganze gewerkschaftsfeindliche Welt, Politik, öffentliches Expertentum und die Arbeitgeberlobby sowieso, sieht sich vollinhaltlich bestätigt, durch ihren Gegner selbst ins Recht gesetzt, und feiert ihren Triumph – stellvertretend für alle das seriöse Hetzblatt der nationalen Bourgeoisie in seinem Leitartikel:

„Ist eine Welt ohne Gewerkschaften denkbar? Die Selbstzerfleischung der IG Metall läßt die Idee einer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung, in der Gewerkschaften nur noch eine marginale Rolle spielen, nicht mehr ganz so abstrus klingen wie noch vor ein paar Jahren… Die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts könnten aus der Rückschau einmal als Prozeß der kreativen Zerstörung erscheinen, in dem sich Deutschland zu der Einsicht durchrang, daß der Arbeitsmarkt ein Markt wie jeder andere ist. Und daß genau dies dem Wunsch der Leute nach Beschäftigung mehr Rechnung trägt als die Anmaßung von Gewerkschaften und Verbänden, sie könnten, kollektiv und einheitlich für alle, den Preis der Arbeit bestimmen… Günstiger und gerechter geht es allemal zu, wenn Arbeitnehmer und Betriebe auch die Arbeitskosten als Wettbewerbsfaktor einsetzen. Daß dies zu einem Wettlauf nach unten führe, ist eine Behauptung, die immer mehr als Propaganda der Gewerkschaften durchschauen.“ (usw.: FAZ, 3.7.)

Um den Erfolg ist es beim Streit um ein paar lächerliche halbe Stunden nomineller wöchentlicher Arbeitszeit in ostdeutschen Metallbetrieben also in Wahrheit gegangen, da hat der Fachmann aus Frankfurt ohne Zweifel recht: Bei der Bestimmung der Löhne und bei der Festlegung der Bedingungen, zu denen sie bezahlt werden, soll grundsätzlich nur ein einziger Gesichtspunkt zum Zuge kommen, nämlich das Wettbewerbsinteresse des lohnzahlenden Unternehmens; das Bedürfnis, mit der Arbeit und von dem Lohn irgendwie leben zu können, muss nicht nur dahinter zurückstehen, es hat aus der Festlegung des Preises der Arbeit als irgendwie berücksichtigenswerter Teilaspekt überhaupt zu verschwinden – und mit diesem Interesse auch die soziale Partei, die für das bedingte Recht dieses Aspekts traditionell eintritt und Betroffene organisiert: Die Entmachtung der Gewerkschaft steht an, und ihre Niederlage im Osten ist ein erster Etappensieg.

Eben weil das so eindeutig klar ist, fragt man sich natürlich, was eigentlich in die IG Metall gefahren ist, dass sie ihren Gegnern einen solchen Erfolg schenkt und den sogar ausdrücklich groß redet. Und man holt sich vom Vorsitzenden eine Antwort ab, die dieses Rätsel zwar gar nicht auflöst, dem parteiischen Publikum aber so gut gefällt, dass sie ihm sofort einleuchtet – und die Gewerkschaft bestreitet damit den kompletten vierten Akt ihres Trauerspiels:

4.

Gewerkschaftsboss Zwickel überführt die Ausrufung einer historischen Niederlage und des Notstands seiner Organisation bruchlos und ohne weitere Erläuterungen in Ermittlungen zur Schuldfrage und geht auf seinen für Tariffragen zuständigen Stellvertreter und designierten Nachfolger Peters los: Der hätte die schädlichen Auswirkungen eines Streiks im Osten auf den gesamt-nationalen Geschäftsgang, vor allem aber die geschlossene nationale Ablehnungsfront und die verheerenden Konsequenzen des Arbeitskampfes für den guten Ruf der IG Metall nicht bloß sträflich unterschätzt; er hätte bei der Vorbereitung der Aktion die zu erwartenden Reaktionen schuldhaft verschwiegen und den Gesamtvorstand absichtlich getäuscht; sonst hätte man nämlich die Finger davon gelassen. Nur auf Grund gezielter Fehlinformationen durch seinen Vize hätte er, Zwickel, für das unselige Abenteuer grünes Licht gegeben:

Frage: Was sind die Hauptursachen der Niederlage?
Zwickel: Die in der IG Metall für die Tarifpolitik Verantwortlichen haben systematisch unterschätzt, dass eine Auseinandersetzung um die Arbeitszeitverkürzung zumindest so einen Konflikt mit den Arbeitgebern ergeben würde wie 1984 im Westen. Damals allerdings unter Bedingungen, die für uns deutlich günstiger waren. Daher von Beginn meine Warnung.
Frage: Aber die Arbeitgeber hatten doch im letzten Jahr eine Verhandlungsverpflichtung abgegeben, wonach 2003 über die Arbeitszeitverkürzung verhandelt werden sollte.
Zwickel: Die Verpflichtung wurde überbewertet, weil sie keinen justiziablen Wert hat. Des Weiteren wurde der Abschluss in der Stahlindustrie überbewertet. Man hat geglaubt, dass die Metallindustrie diesen Abschluss mehr oder weniger übernehmen würde. Und es wurde die Rolle von VW und anderen großen Firmen falsch eingeschätzt. Vor allem die Großen haben sich sehr verbandstreu verhalten. Aus guten Gründen. Je länger man bei schwacher Absatzlage in der Deckung bleibt, desto billiger wird der Tarifvertrag. Das hätte man auf unserer Seite wissen müssen.“ (Tagesspiegel, 4.7.)
„Der scheidende IG-Metall-Chef Klaus Zwickel hat personelle Konsequenzen in der Gewerkschaftsspitze nach der Streik-Niederlage in Ostdeutschland gefordert. Es gebe Personen, die ‚Verantwortung tragen und Konsequenzen ziehen müssen‘, sagte Zwickel…, ohne Namen zu nennen. Er warf aber Peters und dem ostdeutschen Bezirksleiter Düvel vor, den Vorstand über die Folgen des Streiks getäuscht zu haben.“ (FR, 4.7.)

Einen Arbeitskampf in dem Sinn hat man also gar nicht gewollt; und weil man sich dann doch in eine von vornherein abgelehnte Kampfsituation hineinmanövriert hat, kommt man nicht umhin, sich erstens selbst ins Abseits zu stellen und zu schämen und zweitens den dafür verantwortlichen „Personen“ den Rücktritt, der hauptverantwortlichen Unperson außerdem den Rückzug von der Kandidatur zur Zwickel-Nachfolge „nahe zu legen“. Der angesprochene Vize lässt den Vorwurf selbstverständlich nicht auf sich sitzen: Er war ehrlich davon überzeugt und will sich mit dem Vorstand auch darüber einig geworden sein, dass ein Kampfeinsatz nach herkömmlichem Muster für ein materiell so bescheidenes, dazu national so moralisches Ziel wie die „Gleichstellung“ der Metall-Arbeitnehmer Ost mit denen im alten Bundesgebiet kein allzu negatives Echo finden würde und dass eventuelle schädliche Auswirkungen auf Westbetriebe im Allgemeinen und deren Belegschaften im Besonderen politisch durchaus zu bewältigen sein müssten, erstens, weil die vom Flexi-Streik-Konzept ausgehenden Fernwirkungen relativ gering ausfallen dürften, und zweitens, weil geklärt war, dass eventuell kalt Ausgesperrte Kurzarbeitergeld beanspruchen (Peters, Erklärung, 3.7.), die gesamtdeutsche Streikkasse insoweit also verschont bleibt. Dass ohne derartige Rückversicherungen ein Arbeitskampf ein Ding der Unmöglichkeit ist und auch er, Peters, von dem Streik im Osten abgeraten hätte; dass die Macht der großen IG Metall also von der Gunst der vorgegebenen Bedingungen, einem entgegenkommenden Stillhalten der mächtigen Arbeitgeber der Nation und dem Wohlwollen des Gemeinwesens mit seiner öffentlichen Meinung und seinen Arbeitsämtern abhängt; dass die Gewerkschaft durch die Abfuhr, die sie sich eingehandelt hat, in eine ziemlich tiefe Krise geraten ist: in all diesen Punkten ist der Vize sich mit seinem Chef völlig einig. Nur und genau deswegen ist er nicht etwa über den Streik anderer Meinung als Zwickel, sondern durch dessen persönliche Vorwürfe zutiefst beleidigt; und auf der Ebene schlägt er zurück: Peters warf Zwickel mangelnde Solidarität vor. Er wisse, dass er nicht dessen Kandidat sei, habe aber vergeblich auf eine ‚sachliche, fachliche Zusammenarbeit‘ gehofft. (FR, 4.7.) Und Gewerkschaftsboss will er nach wie vor werden. Jetzt erst recht.

Genau genommen weiß man jetzt zwar immer noch nicht, weshalb die IG Metall sich dazu entschlossen hat, ihren Arbeitskampf im Osten so plötzlich abzubrechen und dieses Ende, zusammen mit ihren anderen halbherzigen und vorzeitig eingestellten Protestaktionen gegen die neue deutsche Sozialreformpolitik, zur epochalen Niederlage und Grundsatzkrise hoch zu stilisieren. Die Republik hat aber ein anderes Thema, das sie sowieso viel interessanter findet: das persönliche Zerwürfnis in der Vereinsspitze, die Gemeinheiten, die da ausgetauscht werden, und – den Kampf zweier Linien, den alle Welt darin entdeckt. Denn ganz ohne Zweifel war es ja Zwickel, der mit dem freiwilligen Eingeständnis einer Niederlage das Vorgehen der IG Metall und damit auch deren vom nationalen Konsens abweichenden Standpunkt in der Frage sozialer Gerechtigkeit im Lande ins Unrecht gesetzt hat. Also verdient der Mann Applaus und das Etikett des Reformers, der begriffen hat, dass ein mit dem Betriebswohl nicht von vornherein deckungsgleiches Arbeiterinteresse eine pure Fiktion, der Einsatz dafür ein Bärendienst am Standort wie an dessen lohnabhängigen Insassen und das Konzept einer gewerkschaftlichen Gegenmacht gegen die herrschenden ökonomischen Interessen schlicht obsolet ist. Demgegenüber hat sich Vize Peters mit der von ihm zu verantwortenden misslungenen Streikaktion einmal mehr als Traditionalist geoutet, der einfach nicht wahr haben will, dass Arbeitnehmer Arbeit und sonst gar nichts brauchen und dass die Vorstellung, es bliebe da für eine Gewerkschaft noch etwas zu fordern oder gar durchzusetzen, schlechterdings „nicht von dieser Welt“ ist. In diesem Sinne begleiten alle, die vorher schon gegen den Streik gehetzt haben, nun den Zank zwischen Zwickel und Peters mit parteiischen Stellungnahmen und wohlmeinenden Ratschlägen, dass er sofort und wie er am besten beizulegen wäre:

„Arbeitgeber-Präsident sorgt sich um IG Metall … …warnte Gesamtmetall-Präsident Martin Kannegiesser die Gewerkschaft vor einem Fall in die Bedeutungslosigkeit. ‚Wenn die IG Metall jetzt allein mit einer Nabelschau reagiert, dann wird sie keinen sinnvollen Beitrag in unserer Volkswirtschaft leisten können. Und langfristig vielleicht auch keine Rolle spielen‘,… ‚Wir brauchen durchsetzungsfähige Gewerkschaften… Vor allem aber brauchen wir Gewerkschaften, mit denen wir gemeinsam erarbeiten können, wie wir stärker werden können in diesem Land.‘ Dies müsse Vorrang haben vor Verteilungsfragen.“ (FR, 4.7.)
„Der Kanzler kritisiert Führungskrise der IG Metall. … Die Gewerkschaft solle sich ein Beispiel an der reformfreudigen IG Bergbau-Chemie-Energie nehmen… ‚Die machen das richtig.‘ Hinter dem Machtkampf verberge sich ‚nur an der Oberfläche ein persönlicher Konflikt‘. In Wahrheit gehe es um Strukturfragen, ‚die schnell beantwortet werden müssen‘. Wie die Sozialdemokraten, so müßten auch die Gewerkschaften ‚eine neue Balance zwischen Freiheit und Solidarität‘ finden. ‚Wir brauchen Gewerkschaften, die einen Kompromiß mit den Arbeitgebern erreichen können‘, sagte der Kanzler an die IG Metall gerichtet. Bundesinnenminister Schily (SPD) hatte dem designierten IG-Metall-Vorsitzenden Peters erst vor zwei Tagen die Eignung für das Spitzenamt abgesprochen.“ (usw.: FAZ, 12.7.)

Sogar die Frankfurter Allgemeine rückt von ihrer Diagnose einer Knebelung der Nation durch ein unheiliges Tarifkartell aus vorgestrigen Gewerkschaften und feigen Unternehmervertretern ab und macht einen Vorschlag zur Güte, wie eine Arbeiterorganisation sich heutzutage beliebt machen könnte:

„Das hat es noch nicht gegeben: Zuerst spricht Innenminister Schily dem designierten IG-Metall-Vorsitzenden Peters die Führungskompetenz ab. Jetzt verurteilt derselbe Bundeskanzler, der noch vor Tagen davor gewarnt hatte, die Gewerkschaften zu demütigen, offen deren gesamte Politik… Daß ein solcher Stimmungswechsel, ein solcher Affront inzwischen gefahrlos (?) möglich ist, verrät, wie schlimm es um die größte Industriegewerkschaft der Welt bestellt ist: Sie liegt am Boden, und jeder kann sie mit Füßen treten.“ „Die deutschen Gewerkschaften kommen nicht umhin, ihren Frieden mit den veränderten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen zu machen. … Sie müßten mithelfen, das Gesundheitswesen transparenter zu machen, Wettbewerb zu ermöglichen, ineffektive Beschäftigungsprogramm abzubauen und die Beitragsfinanzierung sozialpolitischer Aufgaben zu beenden. Sie könnten werben für einen neuen gesellschaftspolitischen Konsens, der Eigenverantwortung ermöglicht, Leistungsbereitschaft belohnt und die Bevormundung, bisweilen gar Entmündigung durch Staat und Tarifkartell beendet. Nur mit einem solchen Programm ließe sich der Mitgliederschwund noch stoppen“ – dann würde wahrscheinlich sogar die FAZ-Redaktion beitreten. (FAZ, 12.7.)

Das hilft der Gewerkschaft enorm; und so treibt das Drama unaufhaltsam auf seinen letzten Akt zu.

5.

Der beginnt mit einer unvorhergesehenen Wendung, die dem Publikum noch einmal heftige Anteilnahme abnötigt: Nicht der allgemein geächtete Peters verabschiedet sich in den Vorruhestand; der vom Betonkopf zum Hoffnungsträger aller Reformfreunde avancierte Chef kapituliert vor den Kräfteverhältnissen in seinem Verein und dem Kunstgriff seines Vize, an seinem Anspruch auf die Position des ersten Vorsitzenden festzuhalten und den als Reformer anerkannten Kollegen Huber aus Baden-Württemberg für den zwischenzeitlich aufgekündigten Plan einer Kandidatur als neuer zweiter Mann zurückzugewinnen. Kurz vor dem ohnehin fälligen Ende seiner Amtszeit nimmt Zwickel seinen Abschied. Das Aufsehen, das er damit erregt, nutzt er immerhin, um ein letztes Mal seiner Verantwortung für die Zukunft der deutschen Gewerkschaftsbewegung nachzukommen und seinen designierten Nachfolger gründlich schlecht zu machen:

„Mit diesem Schritt übernehme ich ausdrücklich nicht die alleinige Verantwortung für die tarifpolitische Niederlage in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie… Die Hauptverantwortung für den verlorenen Arbeitskampf tragen der für die Tarifpolitik verantwortliche 2. Vorsitzende (Jürgen Peters) und der Bezirksleiter von Berlin, Brandenburg und Sachsen (Hasso Düvel). Sie haben zu keinem Zeitpunkt die geringste Bereitschaft gezeigt, persönliche Konsequenzen aus dieser politischen Verantwortung zu ziehen.“ (Zwickel in seiner Rücktrittserklärung; dies und das Folgende nach FR, 22.7.)

Mit der diplomatischen Gegenerklärung von Peters – Ich bedaure sehr, dass wir unter solchen Bedingungen auseinandergehen müssen… – und einer zukunftsweisenden Klarstellung von Huber – …die IG Metall nicht weiter in eine innere Zerreißprobe zu treiben und ihre Handlungsfähigkeit zu erhalten. – ist die Farce erst einmal auf Eis gelegt, bis zur Wiedervorlage auf dem vorgezogenen Gewerkschaftskongress Ende August. Bis dahin und dafür und überhaupt gibt der abgetretene 1.Vorsitzender seinem Verein als sein quasi metaphysisches Vermächtnis jedoch folgende schöne Aufgabe mit auf den Weg:

„Die IG Metall muss in der Wirklichkeit ankommen, nicht um sich anzupassen, sondern um sie wirksam beeinflussen zu können.“

Das Problem muss man erst einmal haben. Wie Deutschlands mächtigste Gewerkschaft es gekriegt hat und worin es eigentlich besteht: das ergibt sich allerdings weder aus den Animositäten zwischen zwei Arbeiterführern noch aus den drei Stunden Wochenarbeitszeit, an denen angeblich Sein oder Nicht-Sein des Industriestandorts Ostdeutschland hängt.

Vom Drang eines Arbeitervereins, als wirksame Einflussgröße im real existierenden Kapitalismus „anzukommen“; von seiner Lebenslüge, er hätte genau das geschafft; und von einer Kündigung, die ihn voll erwischt

1.

Die Frankfurter Rundschau will von dem „Traditionalisten“ Peters wissen: Was gilt es denn aus Ihrer Sicht auf jeden Fall zu bewahren?, und der IG-Metall-Vize eröffnet seine Antwort mit der tief schürfenden Erkenntnis: Wer in die Gewerkschaft eintritt, will seine soziale Lage verbessern. (FR, 17.7.) Der bleibende Ausgangspunkt aller gewerkschaftlichen Aktivität ist dem Mann also allemal noch erinnerlich: Die „soziale Lage“ von Lohnabhängigen bedarf notwendigerweise der „Verbesserung“, weil das vom Kapital oktroyierte Arbeitsleben sonst nur schlecht bis gar nicht auszuhalten und vom verdienten Lohn auch nicht besser zu leben ist; um da etwas zu erreichen, müssen die Betroffenen sich zusammenschließen und Druck auf ihre Anwender machen. So geradlinig will ein deutscher Gewerkschafter heute zwar gar nicht mehr verstanden sein; auch ein „Traditionalist“ wie Peters fände diese Paraphrase seiner grundsätzlichen Bemerkungen zu Sinn und Zweck von Gewerkschaften sicher viel zu radikal. Doch wenn sein Club – so Peters im Weiteren – die Ansprüche der Einzelnen stärken will, um ihre Stellung auch in der Gesellschaft zu verbessern, dann geht man da offenbar doch noch irgendwie davon aus, dass die „Stellung“ freilich nicht aller, sondern der auf Lohnarbeit angewiesenen „Einzelnen“ „in der Gesellschaft“ schwer zu wünschen übrig lässt und kollektive Aktion not tut, um sie zu „verbessern“.

Schon sehr weit jenseits des Horizonts einer modernen Gewerkschaft liegt freilich die Entscheidung, die mit der Einsicht in die Notwendigkeit organisierter Solidarität unter Lohnabhängigen eigentlich und nach wie vor fällig wird; nämlich: wie mit dieser Notwendigkeit umzugehen ist. Ganz selbstverständlich ist es ja nicht, dass man den verspürten „sozialen Verbesserungs“-Bedarf nicht anders als mit dem Beitritt zu einem Verein beantwortet, der auch nach weit über hundertjährigem Wirken noch nicht entscheidend weiter gekommen ist als bis zu der stets erneuerten Nötigung, sich kollektiv an der Ohnmacht und der schlechten „Stellung in der Gesellschaft“ abzuarbeiten, die Lohnarbeiter und Gehaltsempfänger als „Einzelne“ auszeichnet. Im Gegenteil: Wenn es in dieser Gesellschaft schon nicht langt, einen Beruf zu ergreifen und arbeiten zu gehen; wenn man sich als normaler Arbeitnehmer noch neben der Arbeit selber die Mühe machen, Zeit und Geld opfern und sich einer Art Kampfverband anschließen muss, um den Arbeitgebern Arbeitsbedingungen und -löhne abzutrotzen, mit und von denen es sich leben lässt; dann spricht wahrhaftig nicht viel für die „Lösung“, sich auf Dauer mit dieser Doppelbelastung abzufinden und mit einer doch immer wieder äußerst verbesserungsbedürftigen „sozialen Lage“ herumzuschlagen. Dann spricht sogar einiges gegen die Entscheidung, die Mühsal der Lohnarbeit durch die Sisyphus-artigen Mühseligkeiten eines dauernden Zusatz-Engagements für erträgliche Lohnarbeitsbedingungen zu vergrößern, und sehr viel für den organisierten Versuch, diese Notwendigkeit selber endlich einmal aus der Welt zu schaffen. Damit legt man sich zwar mit den eingerichteten „sozialen Verhältnissen“ an, den zu „Verhältnissen“ verfestigten herrschenden Interessen nämlich und der politischen Macht, die deren Herrschaft garantiert. Doch mit denen muss sich einer, der seine „soziale Lage“ überhaupt „verbessern“ will, ohnehin herumstreiten. Und wenn man es nicht darauf anlegt, sie zu beseitigen, dann tut man diesen „Verhältnissen“ mit aller Streiterei und allem Kampfeinsatz bloß den Gefallen, nicht mehr und nicht weniger als die eigene Funktionstüchtigkeit zu erhalten und damit das Funktionieren des ganzen Ladens zu sichern. Gegen den Widerstand der Nutznießer des ökonomischen Systems sorgt dessen lohnabhängige Manövriermasse auf die Art dann bloß dafür, sich für ihren Dienst am Nutzen anderer in Schuss und einsatzbereit zu halten: So zynisch ist das kapitalistisch wirtschaftende Gemeinwesen konstruiert, und so fragwürdig ist deshalb jedes Bemühen der Betroffenen um eine Verbesserung ihrer sozialen Lage, das von einer Abschaffung dieser „Lage“ Abstand nimmt.

Zu genau dieser fragwürdigen „Lösung“ hat die Gewerkschaft sich entschlossen. Sie will eine Korrektur der „sozialen Verhältnisse“ erreichen, die es den Lohnabhängigen erlaubt, exakt das zu bleiben, als was sie vorgesehen sind und gebraucht werden: lohnabhängige Arbeitskräfte in permanent prekärer, verbesserungsbedürftiger Lage. Im System und damit dem System der Lohnarbeit seine Lohnabhängigen erhalten: Das ist die gewerkschaftliche Antwort auf all die Nötigungen, die dieses System seinen abhängigen Arbeitskräften aufmacht.

2.

Die Entscheidung hat Folgen. Sie erspart der Gewerkschaft nichts, weder den immer neuen Streit mit den Arbeitgebern noch die allfälligen Auseinandersetzungen mit den Staatsanwälten des kapitalistischen Erfolgs der Nation. Den Mitgliedern bleibt erst recht kein Aufwand erspart. Fortwährend dürfen sie die Erfahrung machen, dass ihr Interesse, Lohnarbeit nicht bloß leisten zu müssen, sondern davon auch leben zu können, bei aller Systemkonformität den Eigentümern des nationalen Wirtschaftslebens ebenso wie dessen politischen Sachwaltern fremd ist und bleibt. Gegen die herrschenden Interessen und den unpersönlichen Funktionalismus der kapitalistischen Nationalökonomie müssen sie ihren Standpunkt geltend machen; mit der Androhung von Störungen oder mit wirklicher Behinderung des laufenden Betriebs; woraus stets von neuem denkbar klar hervorgeht, dass das angemeldete Interesse selber eine einzige Störung des eigentlichen Gangs der Dinge ist. Ihm trotzdem Anerkennung zu verschaffen, bei den entgegengesetzt interessierten Arbeitgebern und bei den politischen Verwaltern des nationalen Wachstums: Das ist fortan das Ziel gewerkschaftlicher Betätigung – und deren bleibender Widerspruch. Denn mit ihrem unvermeidlich störenden Auftreten will die Gewerkschaft partout nicht stören. Wenn sie den Anspruch ins Spiel bringt, dass der Preis, den die Unternehmer für Arbeit zu zahlen bereit sind, einen kompletten Lebensunterhalt für die davon abhängigen Arbeitnehmer, bis ins hohe Alter und womöglich auch noch für eine Familie, hergeben soll, dann legt sie Einspruch ein gegen die einzig maßgebliche ökonomische Bemessungsgrundlage für den Lohn – die dafür gekaufte Arbeit muss den Unternehmer reicher machen, und zwar erstens ordentlich und zweitens unter härtesten Konkurrenzbedingungen. Mit ihrem Einspruch will sie jedoch auf gar nichts anderes hinaus, als den Lohnabhängigen die Subsistenz zu verschaffen, die sie brauchen, um stets von neuem rentable Arbeit abzuliefern. Deswegen will sie sich auch überhaupt nicht an dem ökonomischen Interesse vergreifen, dem sie dasjenige ihrer Leute an einem Lebensunterhalt entgegenhält, erkennt vielmehr die Abhängigkeit des Lohns selber von der gelungenen Bereicherung des Unternehmens, das ihn zahlt, ganz grundsätzlich an. Den Widerspruch des Lohnsystems, die unvereinbar gegensätzliche Bestimmung des Arbeitsentgelts – notwendige Kost für lohnende Arbeit auf der einen, der maßgeblichen Seite, Lebensmittel für die andere, die arbeitende Seite –, nimmt die Gewerkschaft voll auf sich und agiert entsprechend: Lohn fordert sie in bewusstem und erklärtem Respekt vor dem Profitinteresse und den Rentabilitätsrechnungen der lohnzahlenden Arbeitgeber; die Konjunkturen des Kapitals erkennt sie als die vorgegebene Größe an, von der sich die Möglichkeiten, vom verdienten Entgelt zu leben, als definitiv abhängige Variable ableiten. Dass sie trotzdem nicht bloß die Unternehmer, sondern auch die politische Verwaltung des Gemeinwesens grundsätzlich gegen sich haben, irritiert gewerkschaftliche Interessenvertreter überhaupt nicht, beflügelt sie im Gegenteil in ihrem Bemühen um eine offizielle Lizenz für ihr konstruktiv gemeintes Forderungswesen. An die öffentliche Gewalt wenden sie sich auch, voller Vertrauen in die Möglichkeit eines großen gesellschaftlichen Interessenausgleichs und in die Bereitschaft der Staatsmacht, ausgerechnet dafür zu sorgen, wenn sich stets von neuem herausstellt, dass der für Arbeit gezahlte Preis für die Reproduktion der gesamtgesellschaftlich benötigten und vorhandenen Arbeitskraft immerzu doch nicht reicht: Die Gewerkschaften betätigen sich als Lobby der Armut, die mit dem Wachstum des Kapitals fortlaufend mit reproduziert wird, setzen sich für deren Betreuung gemäß der Leistungskraft des Gemeinwesens ein – und geraten damit in den nächsten Widerspruch zu den herrschenden Interessen, den sie schon wieder überhaupt nicht austragen wollen. Sie stören damit nämlich alle staatlichen Haushaltsrechnungen und bekennen sich prompt dazu, ganz gewiss keine öffentliche Kasse überfordern zu wollen.

Aus dieser Praxis erwächst das programmatische Selbstverständnis der Gewerkschaftsbewegung. Mit dem Ideal der sozialen Gerechtigkeit verschreibt sie sich der Vereinbarkeit des Unvereinbaren, nämlich des Interesses von Lohnarbeitern an Existenzsicherheit, das sie organisiert und repräsentiert und damit auch auf das Maß des von ihr für vertretbar Erachteten reduziert, mit der Profitkalkulation kapitalistischer Unternehmer und dem Kassenstandpunkt der öffentlichen Hand. In diesem Sinne macht sie Lohn- und Sozialpolitik und empfiehlt sich als Kraft des „sozialen Ausgleichs“. In dieser vornehmen Funktion verlangt sie Anerkennung: von den Unternehmern als Tarifpartei und Vertragspartner, mit dem sich allemal ein soziales Einvernehmen erzielen und der gerechte Lohn „finden“ lässt; vom demokratischen Gemeinwesen, Staatsgewalt und freie öffentliche Meinung inklusive, als berufener Anwalt aller Sozialfälle, der bei der Zumessung von Überlebenshilfen an Arbeitslose und Alte, Kranke und Paupers das rechte Maß finden hilft. Den „sozialen Ausgleich“, den es nicht gibt, stellt sie her; konsequenterweise auf eigene Rechnung, nämlich so, dass sie jedes Stück Anerkennung für ihre Rolle als verbindliche Vertretung des Arbeitnehmerinteresses in der Nation mit Abstrichen vom vertretenen Interesse bezahlt – oder umgekehrt: Mit Entgegenkommen zu Lasten und Nachteil ihrer zur „Klientel“ degradierten Mitglieder erkauft die Gewerkschaft sich die Lizenz, als kollektiver Anwalt aller Lohnabhängigen und des systemeigenen Elends zu fungieren.

Die Notwendigkeit, mit Betriebsstörungen drohen zu können und gelegentlich auch wirklich damit zu drohen oder sogar zu operieren, wird die Gewerkschaft damit zwar immer noch nicht los; dazu ist die Gegenseite sich viel zu sehr ihrer materiellen Interessen bewusst und über die Störung im Klaren, die für sie mit dem Anspruch ihrer Manövriermasse verbunden ist, vom Lohn nicht bloß leben zu müssen, sondern auch mit Anstand leben zu können. Eine systemtreue Gewerkschaft nimmt jedoch zu ihrer eigenen Organisationsmacht, nämlich zur Einsatzbereitschaft ihrer Mitglieder, eine kritisch-ablehnende Stellung ein: Nur im Notfall und für den Ausnahmefall, dass die Gegenseite ihr den gebührenden Respekt verweigert, möchte sie darauf zurückgreifen müssen. Für ihren Anspruch auf Mitwirkung bei der nationalen „Lohnfindung“ und bei der Ausgestaltung eines gerecht ausgleichenden Sozialsystems beruft sie sich viel lieber auf die konstruktive Rolle, die sie hierbei schon immer gespielt hat und auch weiterhin im Geiste besten Einvernehmens auszufüllen gedenkt; und am liebsten ist es ihr und eigentlich auch nur gerecht, wenn sie sich darauf gar nicht zu berufen braucht, weil ihr Mittun für Arbeitgeber und Politiker längst zur Selbstverständlichkeit geworden ist. Was sie ihren Mitgliedern an Solidarität und Kampfbereitschaft zumutet, reduziert sich so auf den pünktlich abzuliefernden Mitgliedsbeitrag, der es dem Apparat gestattet, sich um alles zu kümmern. So verschiebt sich tatsächlich ganz praktisch die Machtbasis der Gewerkschaften: weg vom einsichtigen Willen der organisierten Arbeitnehmer, für aushaltbare Arbeitsbedingungen und ausreichende Löhne zu kämpfen; hin zu der Bereitschaft der maßgeblichen Instanzen des Gemeinwesens, eine offizielle Arbeitervertretung als kollektiven Vertragspartner und als Gemeinwohl-orientierte Lobby für Lohnarbeit und Armut in Anspruch zu nehmen und in dieser Funktion auch zu würdigen.

3.

Bei diesem schönen Geschäft – Nachgiebigkeit bei der Interessenvertretung gegen Anerkennung als Interessenvertreter – hätte es von Gewerkschaftsseite aus ewig bleiben können. Ihre Kontrahenten haben sich damit jedoch nie wirklich abgefunden. Für die hat sich der Widerspruch zwischen ihrem – dem herrschenden privaten wie öffentlichen – Interesse an rentabler Lohnarbeit und dem Gesichtspunkt eines halbwegs gesicherten Lebensunterhalts für Lohnabhängige auch durch noch so viel gewerkschaftliches Entgegenkommen überhaupt nicht aufgelöst. Die Gewerkschaft kann noch so einsichtig und zurückhaltend auftreten: Die Unternehmer machen immer wieder deutlich, dass ein kollektiv vereinbarter Preis für Arbeit und jede Einschränkung ihres Rechts zu intensiver und extensiver Ausnutzung der Arbeitskraft ihrer Belegschaften für sie letztlich den Tatbestand einer unzumutbaren Geschäftsschädigung erfüllt; und die Organisationsmacht der Gewerkschaft haben sie allemal im Verdacht, sie wäre im Grunde Freiheitsberaubung und ein Anschlag auf ihr Menschenrecht auf Eigentum. In demselben Sinn erinnern die fürs Wirtschaftswachstum politisch Verantwortlichen immer wieder einmal daran, dass es sich bei den Mitspracherechten, die sie der Gewerkschaft gewähren, um reine Konzessionen handelt und eine eigenständige Gewerkschaftsmacht, die ihr Gewaltmonopol tangieren könnte, als undemokratisch und verfassungswidrig anzusehen wäre.

Dennoch, auch damit hätten Deutschlands Gewerkschaftler weiterhin gut leben können – die Gegenseite jedoch will nicht mehr. Aus Gründen des krisenhaft verschärften Konkurrenzkampfes der Nationen und ihrer „global player“[1] kündigt sie, was sie sich bisher an Zugeständnissen hat abringen lassen oder auch nur rückwirkend als unzweckmäßige bis schädliche Konzession einordnet: Der SPD-Kanzler lässt das „Bündnis für Arbeit“ scheitern und weist der Gewerkschaftsseite öffentlich die Schuld zu. Mit seiner „Agenda 2010“[2] stellt er sie vor die Wahl, allen bis eben noch laut vorgetragenen sozialpolitischen Bedenken gegen die neue deutsche Sozialstaats-Räson noch viel lauter abzuschwören oder der politischen Ächtung als Haufen ewiggestriger „Bremser“ zu verfallen, deren Votum nur mehr dafür gut ist, offensiv missachtet zu werden. Er scheut sich auch nicht, die vom Staat bislang gewährte Tarifautonomie ausdrücklich unter den Vorbehalt zu stellen, dass sie sich als Instrumentarium für ein umfassendes Programm zur Absenkung des nationalen Lohnniveaus bewährt, und damit geradezu die Existenzfrage für Deutschlands Gewerkschaftsbewegung aufzuwerfen:

„Ich erwarte, dass in den Tarifverträgen ein flexibler Rahmen für Entlohnung und Beschäftigung geschaffen wird. Ich erwarte, dass sich die Tarifparteien auf betriebliche Bündnisse einigen, wie das in vielen Branchen bereits der Fall ist. Geschieht das nicht, wird der Gesetzgeber handeln.“ (Schröder in seiner „Agenda“-Rede vom 14.3.)

Die sozialdemokratische Standortverwaltung entzieht dem Interesse an einem lohn- und sozialpolitisch abgesicherten nationalen Lebensstandard oberhalb der Elendsgrenze die immer schon bedingte und begrenzte Berechtigung, die der bundesdeutsche Sozialstaat ihm bislang erteilt hat, und widerruft konsequenterweise die Ermächtigung der Gewerkschaft, dieses Interesse in Eigenregie, sozialpartnerschaftlich und sozialhaushaltsverträglich aufbereitet, geltend zu machen. Prompt geht auch der Tarifpartner der Gewerkschaft in die Offensive: Die Arbeitgeberverbände verschiedener Branchen – die öffentlichen Arbeitgeber, gestützt auf ein neues wegweisendes Gesetz zur Verringerung der Beamtenvergütung, vorneweg, die vom Bau gleich hinterher – fordern Verhandlungen über ausdrückliche Lohnsenkungen. Für ihre Bereitschaft, überhaupt noch tarifliche Rahmenvereinbarungen zu treffen, verlangen sie weit reichende Öffnungsklauseln, die quasi beliebige Abweichungen nach unten erlauben. Der IG Metall verweigern die ostdeutschen Verhandlungsführer sogar, obwohl ihnen alle gewünschten Ausnahmeregelungen zugestanden werden, jedes bislang gewohnte formelle Entgegenkommen und damit den Respekt als Vertragspartei, mit der man einvernehmlich im Geschäft bleiben möchte. Das Ganze wird begleitet von einem gewaltigen öffentlichen Gezeter über die „Übermacht“ der Gewerkschaften in Deutschland und über den „Würgegriff“, in dem sie den Arbeitsmarkt hielten; Klagen, die in ihrer Lächerlichkeit über nichts weiter Auskunft geben als über ihre Maßstäbe, das allerdings sehr deutlich: Zu mächtig ist die organisierte Arbeitervertretung der Nation einzig und allein für Leute, die ihr gar keine Macht mehr gestatten und keinerlei Einfluss mehr zubilligen wollen – und die außerdem spätestens über den so grandios gescheiterten Streik der IG Metall in Ostdeutschland mitgekriegt haben, dass Staat und Wirtschaft in den Gewerkschaften keinen ernst zu nehmenden Gegenspieler mehr haben.

Denn tatsächlich setzt die mächtige deutsche Gewerkschaftsbewegung dem Angriff auf das Arbeitnehmer-Interesse, das sie vertritt, und auf ihren eigenen „sozialen Status“ als anerkannte Vertreterin dieses Interesses nichts entgegen. Zwar erinnert sich die Vereinsleitung angesichts ihrer öffentlichen Demontage durchaus noch daran, dass sie eigentlich in ihrer Mitglieder-„Basis“ über eine eigene, unabhängige gesellschaftliche Machtposition verfügt. Gegen die Aufkündigung des „Bündnisses für Arbeit“, die Durchsetzung einer neuen Sozialpolitik und die Verweigerung jeglichen Respekts der Regierenden vor der Arbeitnehmerorganisation ruft sie zu Demonstrationen auf; die Einladung des Kanzlers an die Gewerkschaftsspitzen, auf einem eigens anberaumten Treffen im Kanzleramt ihre Absage an die Regierungspolitik zu widerrufen und Ergebenheitsadressen abzuliefern, wird demonstrativ ausgeschlagen. Die als traditionell militant geltende Unterabteilung des Gesamtvereins, die IG Metall, traut sich für eine Forderung, mit der sie ihre politische Korrektheit unter Beweis stellt, sogar einen Streik, der sie als Machtfaktor beglaubigen soll. Doch dann läuft doch alles anders: Die mühselig und unentschlossen genug in Gang gebrachte Demonstrationswelle wird rechtzeitig vor ihrem in Aussicht gestellten Höhepunkt am „Kampftag der Arbeiterbewegung“, dem 1. Mai, abgebrochen. Die Absage an das Versöhnungstreffen mit der Regierungsspitze wird zwar nicht widerrufen, im Nachhinein aber von mehreren Vorständlern als schwerer strategischer Fehler kritisiert, mit dem man sich bloß ins Abseits völliger Einflusslosigkeit bugsiert habe; statt einer machtvollen Gegenposition wird also nur ein fundamentales Zerwürfnis innerhalb der Gewerkschaftsführung sichtbar. Und der Streik der IG Metall nimmt den geschilderten Verlauf vom mehr schlecht als recht organisierten Aufbegehren zum selbstinszenierten Widerruf der eigenen Kampfbereitschaft.

Das alles zeugt nicht etwa von Ohnmacht oder von Resignation. Das absurde Theater, das Deutschlands Gewerkschaften aufführen, dokumentiert das Dilemma, in das sie durch die Offensive ihrer SPD-Regierung und ihres Tarifpartners gestürzt werden, und die Entscheidung, zu der sie sich gerade durchringen. Staat und Arbeitgeber stellen sie knallhart vor die Alternative: Entweder sie machen den Schwenk der Republik zur Negation jedes eigenständigen Arbeiterinteresses an akzeptablen Arbeits-, Entlohnungs- und Sozialversicherungsverhältnissen, zur Annullierung jedes anderen gesellschaftlichen Bedürfnisses als desjenigen nach Arbeit pur unter dem alleinigen Kriterium der Rentabilität, mit, verzichten dementsprechend auf jede Option, sich per Mobilisierung ihrer Mitglieder als gesellschaftliche Gegenmacht aufzubauen, betätigen und erklären sich als Erfüllungsgehilfen der angesagten Standortpolitik und ernten dafür die Anerkennung des Gemeinwesens – oder sie verweigern sich, verfallen dann aber allgemeiner Ächtung und werden mit einer Politik der Nicht-Anerkennung in ihrer bisherigen Rolle als tragende Säule der Demokratie fertiggemacht. Mit diesem Ultimatum zerstört die herrschende Macht die Lebenslüge der Gewerkschaft: sie bräuchte keine Wahl zu treffen zwischen dem Arbeitnehmer-Interesse an einiger Existenzsicherheit und dem marktwirtschaftlichen Gemeinwohl, dem Wachstum des kapitalistischen Eigentums, sondern könnte beides miteinander versöhnen; sie bräuchte sich deswegen auch nicht zwischen eigener Organisationsmacht und politischer Ermächtigung zu entscheiden, sondern könnte sich gerade deswegen der respektvollen Anerkennung ihrer gewichtigen konstruktiven Rolle in der Gesellschaft durch ihre Partner in der Wirtschaft und an der Staatsspitze sicher sein, weil sie über ihre Mitglieder die lohnabhängige Basis des ganzen Ladens so gut im Griff hat. Ihre geschätzten Kontrahenten kündigen den Schein auf, um den herum sie ihr gesamtes Organisationsleben und öffentliches Auftreten aufgebaut hat: den Schein, mit den nötigen Abstrichen auf ihrer Seite und ein wenig Entgegenkommen auf der anderen ließen sich die unvereinbar gegensätzlichen Interessen von Staat und Kapital einerseits, den Betroffenen andererseits an der Lohnarbeit wunderbar vermitteln, und sie wäre dafür zuständig, hätte es im Prinzip geschafft und wäre deswegen den Mächtigen im Lande so willkommen, dass sie sich um ihren Stellenwert, um Anerkennung und Einfluss nie mehr zu sorgen hätte.

Das stürzt die Gewerkschaft in tiefste Verlegenheit. Denn erst einmal hat, kennt und will sie zu der Rolle der gesellschaftlichen Vermittlungsinstanz, die ihr gekündigt wird, keine Alternative. Hinter die erste Grundsatzentscheidung, den Arbeitnehmern im kapitalistischen Gemeinwesen eine aushaltbare Heimat zu schaffen, will sie auf gar keinen Fall zurück; von einer solchen Option will sie noch nicht einmal etwas wissen; und den Weg zu machtvoller Gegenwehr hat sie sich auch praktisch längst verbaut: Dank langjähriger Erziehungsarbeit ist der Basis die Möglichkeit eines organisierten Aufbegehrens gegen ihre allseits angesagte zunehmend schlechtere Behandlung durch Arbeitgeber und Sozialpolitiker genau so fremd wie der von gemeinwesentlicher Verantwortung durchdrungenen Führung. Mit der Preisgabe ihrer Lebenslüge, die ihr zugemutet wird, dem Verzicht auf den Schein eines eigenständigen und eigenverantwortlichen Vermittlungswerks zwischen Staat, Kapital und Arbeitnehmerinteresse, tut die Gewerkschaft sich aber auch nicht leicht. Bloßer Auftragnehmer der Gegenseite zu sein, der man formell immer als gleichberechtigter Partner und einflussnehmender Ratgeber gegenübergetreten ist; bloß noch Öffnungsklauseln zu Händen von Betrieben und Betriebsräten zu unterschreiben und den Sozialreformen der Regierung zu applaudieren, ohne dabei als eigenständige „Säule der Demokratie“ respektiert zu werden: Dazu mag Deutschlands traditionsreiche Gewerkschaftsbewegung sich auch nicht entschließen. Jedenfalls nicht so ohne Weiteres: Immerhin hält sie sich selber noch für eine autonome Macht in der Gesellschaft. Andererseits will sie mit dieser Macht definitiv auf nichts anderes als auf allgemeine Anerkennung hinaus; und die wird ihr gerade in dem Maße entzogen, wie sie darauf besteht, als eigenständiger Machtfaktor Anerkennung zu finden.

Das Dilemma ist nicht aufzulösen. Aber es ist produktiv: Es spaltet die Gewerkschaften. Die Fraktion der „Traditionalisten“ kämpft, unverwüstlich und tatsächlich „unbelehrbar“, für die Fortsetzung des verantwortungsvollen Vermittlungsgeschäfts, dem durch die Gegenseite gerade die Grundlage entzogen wird: für die Versöhnung der entgegengesetzten Interessen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch bewährte Tarifpolitik – Peters im FR-Interview: Es gibt Einigkeit in der IG Metall, dass wir die gesamtwirtschaftliche Produktivität und die Preissteigerungsrate als Maßstab für die Tarifpolitik anlegen plus eine Umverteilungskomponente. In welchem Verhältnis, ist der jeweiligen Tarifrunde vorbehalten. – sowie für eine machtvolle sozialpolitische Ratgeberrolle der Gewerkschaft – Ich bin der Meinung, dass eine Organisation wie die IG Metall eine hohe politische Verantwortung hat und dass sie sich ins Politik-Geschäft einmischen muss. Diese Kraft und diese Stärke, die will ich der IG Metall erhalten, insbesondere nach dem Debakel jetzt. Größere Probleme sieht der designierte neue Vorsitzende dabei nicht, außer im Personalbereich: Wir brauchen einen Personalvorschlag, der zu einer Integration der IG Metall beiträgt und uns wieder zu alter Stärke führt. (FR, 17.7.) Gegen diesen Standpunkt – und natürlich vor allem gegen den Mann, der ihn repräsentiert – sind die „Reformer“ bereits mit der Ausrufung einer epochalen Niederlage ihres Vereins und einer historischen Zäsur in die Offensive gegangen. Diese Deutung des Geschehens ist nämlich alles andere als eine objektive Bilanz. Sie ist ein Programm: Die Gewerkschaft soll sich zu dem Standpunkt durchringen, mit ihrer gesamten bisherigen „Gegenmacht“-Politik grundsätzlich gescheitert zu sein. Der von oben aufgemachten Erpressung – Einordnung in den neuen nationalen Konsens über die Alleingültigkeit des Imperativs ‚Wachstum‘ und die Schädlichkeit jedes abweichenden Arbeitnehmerinteresses oder politische Ächtung und gesellschaftliche Irrelevanz – soll sie sich stellen, um die einzig in Frage kommende Entscheidung zu treffen: für die Lizenz, mit Staat und Wirtschaft einer Meinung zu sein; gegen die Illusion, man hätte als Gewerkschaft die Aufgabe und die Macht, irgendein fiktives Recht der Leute auf irgendeinen Lebensstandard hochzuhalten, um es mit den wirklich maßgeblichen Interessen zu versöhnen. Der vom Vorstand verordnete Streik-Abbruch in Ostdeutschland, die Diagnose, aus eigener Schuld mit unangemessenen Forderungen auf dem Bauch gelandet zu sein, die Verknüpfung dieser Episode mit allen anderen ergebnislosen Protestaktionen der letzten Zeit zum Bild einer einzigen Gesamt-Niederlage: Für die „Fortschritts“-Fraktion ergibt das alles zusammen den unwiderleglichen praktischen Beweis – nicht für die harte kapitalistische Wahrheit, die die Gewerkschaft seit mehr als hundert Jahren erbittert verleugnet, nämlich für die Unvereinbarkeit von Arbeiter-Interesse und Gewerkschaftsmacht mit den Ansprüchen des bürgerlichen Staates und seiner kapitalistischen Elite; vielmehr für die Unumgänglichkeit der praktischen Entscheidung, die alte Lebenslüge der Organisation, die Arbeit am großen Klassen-Kompromiss, durch Selbst-Gleichschaltung zu ersetzen. Dabei haben die Reformfreunde sogar völlig recht, wenn sie für ihr Programm nicht irgendein noch nicht verwirklichtes Ziel, sondern „die Wirklichkeit“ als Kronzeugen in Anspruch nehmen. Denn so ist es ja tatsächlich: „Realistisch“ war die Politik des gerechten Interessenausgleichs immer nur insoweit und so lange, wie die Gegenseite – notgedrungen oder berechnend – einen Schein von Anerkennung für die Gewerkschaft und deren affirmativen Lohnarbeiter-Standpunkt übrig hatte. Die kapitalistische Wirklichkeit war immer unversöhnlich. Wenn deren Manager nun ihre Zugeständnisse an den Mitwirkungswillen der Gewerkschaft widerrufen, dann bleibt diesem Verein letztlich gar nichts anderes übrig, als bei der Anerkennung dieser Realität „anzukommen“. Das ist dann freilich auch sein letzter Fortschritt.

Dass der Vorkämpfer dieser „Reform“, der alte IG-Metall-Chef Zwickel, in der Personal-, also der innerorganisatorischen Machtfrage den Kürzeren gezogen hat und sein „traditionalistischer“ Vize Peters ihn nach seinem vorzeitigen Rücktritt bereits ersetzt, ist eine letzte der kleinen Ironien, die die Geschichte der Arbeiterbewegung noch auf Lager hat.

[1] Diese Gründe sind hier nicht Thema. Näheres dazu steht in dem Artikel Macht und Ohnmacht der Politik in Krisenzeiten in GegenStandpunkt 4-02, S.73.

[2] Siehe dazu auch GegenStandpunkt 2-03, S.33: Die große ‚Reformrede‘ des Kanzlers zur ‚Zukunft des Sozialstaats‘.