Die vier Seiten des „Kurdenproblems“
Zwei Bürgerkriegsparteien, ein deutsches Ordnungswesen und ganz viel Humanität

Statt sich frei in die Neuordnung der Region zwischen dem früher sowjetischen Zentralasien und dem geächteten Irak einzumischen, sieht sich die Türkei zur Konsolidierung ihres Territoriums genötigt, durch Separatisten, die erfolglos auf ein imperialistisches Interesse an ihnen hoffen, wie es die Kollegen im Irak durch die bedingte Unterstützung der USA genießen. Deutschland nutzt die Abhängigkeit der Türkei – von Waffenlieferungen, Krediten, als EU-Aspirant –, zur Instrumentalisierung für die eigene bzw. die EU-Politik und trägt Einwände gegen die türkische, „eigenmächtige“ Staatsräson als Forderung nach Humanität beim Umgang mit Kurden vor. Sobald die kurdischen Teile des deutschen Ausländerproblems das mit einer Parteinahme und die Demokratie mit einer günstigen Bedingung für ihren Kampf verwechseln, werden sie von Politik, Polizei und Presse nachhaltig belehrt.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung

Die vier Seiten des „Kurdenproblems“
Zwei Bürgerkriegsparteien, ein deutsches Ordnungswesen und ganz viel Humanität

Um mit dem letzten Punkt anzufangen: Was ist wohl mit einem Menschen los, den angesichts von Fotos, auf denen deutlich sichtbar ein Schützenpanzer einen Menschen zu Tode schleift, nichts so sehr interessiert wie das Lieferland des Panzers bzw. genauer: die Beweisbarkeit seiner Herkunft? Oder mit einem, der seine „Gäste“ an weltbekannte Folterknechte ausliefert, weil sie sich an einer Autobahnblockade beteiligt haben? Oder mit einem, der bei der Anwendung von Recht und Gesetz keine Kompromisse duldet, auch wenn das die äußerste Härte für die Betroffenen bedeutet, und der im gleichen gedanklichen Atemzug die Änderung der Rechtslage fordert, wenn sie die gewünschte Härte gegen gewisse Leute nicht hergibt? Oder mit einem, der die Verzweiflungstat einer Selbstverbrennung unter die unverzeihlichen Ordnungswidrigkeiten einordnet und Todesangst als kriminelle Energie durchschaut?

Offenbar gar nichts weiter. Im ersten Fall wird sich ein deutscher Außenminister seiner weltpolitischen Verantwortung bewußt; im zweiten erinnert sich ein bayrischer Innenminister an seine politische Verantwortung vor Gott und Vaterland; im dritten denkt ein deutscher Kanzler laut über seine Verantwortung für den Rechtsstaat nach; im vierten Fall bekennt sich ein demokratischer Wahlkämpfer zu dem Geist der Toleranz und Ausländerfreundlichkeit, in dem er wiedergewählt werden möchte, damit er dann herrscht – der Geist und er selber. Und in allen Fällen kümmern sich deutsche Politiker um „das Kurdenproblem“.

Aber so einfach ist es wahrscheinlich wieder einmal nicht. Deswegen eins nach dem andern.

Die gestörte türkische Staatsräson

Die Türkei geht für ihre Staatsräson über Leichen – zumindest darin ist sie ein ganz normales modernes Staatswesen, das nicht aus Unmenschlichkeit, sondern nur aus besten politischen Gründen Untertanen drangsaliert und Gegner umbringt. Aktuelle Opfer sind hauptsächlich Kurden. Der gute Grund für ihre Unterdrückung ist ihr Kampf um Autonomie.

Für eine souveräne Regierung ist ein solcher Kampf erstens an und für sich schon Hochverrat und Terrorismus. Zweitens stört er ganz entscheidend die höchst wichtige „regionalpolitische Initiative“, zu der die türkische Republik sich durch den Golfkrieg der USA gegen Saddam Husseins Irak und durch das unbefriedigende Ergebnis des amerikanischen Sieges herausgefordert gesehen hat. Sie tut nämlich alles, um bei der von der UNO gestatteten De-facto-Abspaltung des kurdischen Nordens des Irak von Saddams Herrschaftsbereich eine entscheidende Rolle zu spielen und darüberhinaus zur Ordnungsmacht für die gesamte Region aufzuwachsen, aus der die Sowjetmacht – einstweilen ersatzlos – verschwunden ist. Dabei sieht sich die Türkei durch Separatisten im eigenen südöstlichen Grenzland behindert, die aus dem Interesse des Westens am Autonomiewunsch der irakischen Kurden den entgegengesetzten Schluß gezogen haben, jetzt oder nie hätte die nationale Emanzipation des Kurdenvolkes – wie wenig auch immer ein einheitliches Staatsvolk – eine Chance. Statt das Interesse Westeuropas und Amerikas an einer Eindämmung und Entmachtung des arabischen Nationalismus irakischer wie des islamischen Fundamentalismus iranischer Machart als Chance und Freibrief für die Entfaltung einer eigenständigen Ordnungsmacht nach Osten hin ausnutzen zu können, muß man in Ankara beträchtliche Kräfte auf die Befriedung der eigenen Ostprovinzen verschwenden. Und nicht nur das: Bei dieser Kraftanstrengung weiß die türkische Regierung sich von ihren NATO-Partnern abhängig, auf deren Interesse sie ihre Ambition auf Bevormundung einer ganzen Region gründet; die stehen aber gar nicht bedingungslos hinter der türkischen Sache. Zumindest der eine große Partner hat sogar gerade erst auf dem Balkan tatkräftig bewiesen, wie weit er seine Sympathie mit erfolgversprechenden Separatisten treiben kann, wenn es ihm paßt, nämlich bis zur Einrichtung ganz neuer souveräner Staaten; genau der gibt nun Ratschläge für eine höfliche Behandlung kurdischer Autonomiewünsche zum Besten.

Für eine souveräne Bündnisnation kann es daraus nur den einen Schluß geben, die Sache um so schneller aus eigener Kraft zu einem eindeutig erfolgreichen Ende zu bringen, das auch allen moralisch verbrämten Einmischungen von außen ein Ende macht. Diese Zielsetzung läßt Differenzierungen beim Ruhestiften nicht zu. Zwar unterscheidet die türkische Staatsgewalt durchaus zwischen guten und bösen Kurden; allerdings nach dem rigorosen Grundsatz, daß es Kurden im Sinne einer eigenständigen Volksgruppe überhaupt nicht gibt, sondern nur Türken oder Terroristen. Entsprechend viele Landesbewohner fallen unter die letztere Kategorie und werden nach dem allen Demokraten vertrauten Sittenkodex der Terrorismusbekämpfung behandelt, der einem Staat jede Menge präventiver Notwehr gestattet.

Vom befreundeten Ausland, das unter seinen türkischen Gastarbeitern auch solche aus Kurdistan beherbergt, wird selbstverständlich verlangt, daß es sich der politischen Kriminalisierung alles Kurdischen anschließt. Allerdings fehlt es an Mitteln, den eigenen Bürgerkriegsstandpunkt auswärts durchzusetzen. Stattdessen tönt von dort die Gegenforderung zurück, die Sache so zu bereinigen, daß die „Gastländer“ keine Last mit dem Teil ihrer türkischen Minderheit haben, gegen den zu Hause Krieg geführt wird. Das macht der türkischen Regierung ihre Aufräumarbeit nicht leichter, sondern dringlicher.

Die ohnmächtige Gegengewalt der Kurden

Die Kurden – von der türkischen Staatsmacht als politökonomisch wenig nützlicher Teil des türkischen Staatsvolks dementsprechend schlecht behandelt, als transnationaler, zu unerlaubtem Grenzverkehr und völkischer Abweichung neigender Bergbewohnerhaufen unter besondere Aufsicht gestellt, von einer volkseigenen Führung für eine volkseigene Autonomie politisiert, daraufhin von der Armee umfassend unter Terrorismusverdacht gestellt und entsprechend terrorisiert – halten ihren Kampf nicht nur für die ihnen aufgezwungene Gegenwehr, sondern für eine gerechte Sache, die eigentlich die Unterstützung aller wohlmeinenden politischen Kräfte verdient. Auf die Hilfe des Weltkommunismus können sie dabei nun endgültig nicht mehr bauen; sie geben ihre Aufstandsversuche aber auch nicht auf, obwohl sie keine Chance haben, den hochgerüsteten NATO-Frontstaat zu besiegen. Sie setzen darauf, von den auch für die Türkei maßgeblichen imperialistischen Mächten als Problemfall gewürdigt zu werden, der anders als durch pure Unterdrückung geregelt werden sollte. Womöglich haben sie sogar aus der Einrichtung einer Kurdenschutzzone im Irak den Schluß gezogen, bewaffneter Widerstand gegen eine als imperialistisch denunzierte Zentralgewalt könnte sich lohnen.

Politisierte Kurden im Ausland versuchen in demselben Sinn, nicht bloß Mittel für ihren verzweifelten Kampf daheim zu organisieren, sondern auf ihr gerechtes Anliegen aufmerksam zu machen und um politischen Rückhalt zu werben – mit den Mitteln der öffentlichen Demonstration, von denen sie meinen, daß eine formvollendete Demokratie sie ihnen bietet. Auf die Verschärfung des türkischen Vorgehens gegen ihre Leute in der Südost-Türkei haben sie mit Versuchen reagiert, sich gleichfalls verschärft, nämlich mit ohnmächtiger Gewalt bis hin zu Konsulatsbesetzungen und sogar Selbstverbrennungen, Gehör zu verschaffen.

Doch weder mit dem bewaffneten Kampf vor Ort noch mit politischen Manifestationen in den Heimatländern der Menschenrechte haben die Kurden bislang ihrem Anspruch auf ein eigenes „Selbstbestimmungsrecht“ eine Schutzmacht oder eine politische Perspektive verschafft; ihr Aufruhr paßt derzeit in kein relevantes imperialistisches Kalkül hinein. Für ihre Sache bringen sie nur soviel zuwege, wie sie selber vor Ort mit ihren Waffen leisten; im wesentlichen also Opfer auf der eigenen Seite. Und die bringen ihrer Führung auch auswärts noch nicht einmal moralische Pluspunkte ein.

Die deutschen Aufsichtsansprüche

Die Türkei-Politik der BRD folgt drei klaren Maximen: den kleinasiatischen Staat für die Ordnungspolitik des Westens nützlich machen und dafür an die NATO anbinden; das große Land als Außenstelle des deutschen Arbeitsmarkts benutzen, in beiden Richtungen, je nach Konjunkturlage; beides, ohne der Nation die Erfüllung ihrer eigenen Interessen zuzugestehen, soweit diese über den Dienst an den imperialistischen Bedürfnissen der NATO und ihres westeuropäischen Hauptpfeilers hinausgehen. Daraus ergibt sich die deutsche Stellung zum „Kurdenproblem“ der Türkei.

Als NATO-Vorposten ist die türkische Republik hoch willkommen, auch nach ihrer Umdefinition vom Frontstaat im Süden der europäischen Sowjetunion zum Sprungbrett für die Kontrolle der Staaten des Mittleren Ostens. Für ihre einschlägigen Dienste wird sie vom deutschen Partner – in den letzten Jahren besonders massiv – mit Waffen ausgestattet. Die gewünschte Funktionalität des östlichsten NATO-Staats leidet nun allerdings unter dessen innerem Krieg: Er verpulvert dort Kräfte, und zwar völlig ohne jeden Nutzen für die Sache der NATO und die Interessen seiner Waffenlieferanten. Schlimmer noch: Er führt so etwas wie einen Krieg, leistet sich also eine hohe Kraftanstrengung nur für sich und gibt damit ein Beispiel der nationalen Eigenmächtigkeit, zu der er sich berechtigt weiß – und die seinen aufmerksamen Bündnispartnern schon des längeren ein bißchen zu weit geht. So etwa im Irak-Krieg – der, nebenbei, dem wichtigsten europäischen Bündnispartner, Deutschland, selber die Gelegenheit zu einem ersten Einsatz im Sinne der neuen NATO-Weltordnungsaufgabe bot: die Bundeswehr durfte Bombenangriffe von osttürkischen NATO-Basen aus auf den Irak mit Abwehrraketen absichern: Da stießen weitergehende türkische Offensivprojekte und Ansprüche auf Zuständigkeit fürs irakische Kurdistan u.a. auf deutschen Widerstand. Den türkischen Anträgen, sich im UNO-Auftrag und im NATO-Verbund friedenstiftend in Ex-Jugoslawien als europäische Ordnungsmacht einzumischen, wird erst recht nicht entsprochen, auch wenn angeblich noch so dringlich Bodentruppen für die Dreckarbeit gesucht werden. Und im gleichen Sinn interessiert man sich in Bonn für die türkische Kurdenpolitik: Mit Verweis auf die gewährte Waffenhilfe wird das Recht angemeldet, beim Einsatz türkischer Macht mitzuentscheiden; und mit dem Zynismus des interessierten Aufsehers rät man den Befehlshabern, es doch einmal mit friedlichen Methoden zu probieren, wenn mit Gewalt immerzu kein Friede herzukriegen ist.

Wahrscheinlich würde das deutsche Interesse an der Kurdensache aber noch nicht einmal bis zu diesem gewaltfreien Ratschlag reichen, gäbe es nicht so spezielle zivile Beziehungen Deutschlands zur Türkei und ihren Volksgruppen. Mit diesem großen Land mit seinen vielen kapitalistisch unnützen Leuten hat der Exportweltmeister nämlich einen Außenhandel eigener Art arrangiert: Sein Volk wurde als Arbeitskräftereservoir definiert und für den Bedarf der westdeutschen Industrie in der Phase ihres Weltmarktaufschwungs massenhaft importiert. Viel mehr an Geschäftsgelegenheit hat die Türkei für deutsche Ansprüche nicht zu bieten. Die Mitgliedschaft in der EG bleibt ihr verwehrt; ihre Nationalökonomie wäre kein Beitrag zur Macht des deutsch-europäischen Kapitalismus, und als Entwicklungsprojekt will das deutsche Europa sie nicht haben.[1] Und Freizügigkeit für türkische Arbeitskräfte nach EG-Norm war nie erwünscht und wäre heutzutage geradezu eine Gefahr. Von den ehemals gerufenen Massen sind nun aber etliche in Deutschland zu Hause; und die sind nach allen Regeln der Ausländerpolitik als Problem definiert: Reguläre Einwanderer sind sie nicht – laut allerhöchster Definition ist Deutschland nun einmal „kein Einwanderungsland“! –; als reguläre Minderheit, sei es mit dem „Minderheitenschutz“ ausgestattet, den die Bonner Politiker ihren Kollegen in Ankara für das wilde Kurdistan empfehlen, sei es unter anerkannter Protektion ihres Herkunftslandes, wie z.B. Deutschland sie über gewisse Donauschwaben und Wolgadeutsche beansprucht, sind sie ebensowenig anerkannt. Sie sind „Gastarbeiter“ mit minderem Rechtsstatus geblieben und nach dem alles entscheidenden Urteil des nationalen kapitalistischen Arbeitsmarktes überflüssig geworden. Einfach wegwerfbar sind sie aber auch nicht; da steht die offiziell befreundete Staatsmacht im Weg, der man nicht einfach ein Millionenheer von Leuten zurücküberstellen kann, die in der Türkei noch weniger gebraucht werden als hierzulande. Daß sie deswegen – einstweilen – hierbleiben dürfen, rechnet Deutschland sich als wirtschafts- und sozialpolitischen Freundschaftsdienst an der Türkei hoch an.

In diese Idylle bricht nun der innertürkische Befreiungs- und Befriedungskrieg ein: Eine starke Minderheit definiert sich als kurdisch und begeht schon damit nach türkischen Maßstäben Hochverrat; ein großer Teil davon wiederum ergreift Partei für den Kampf der Kurden im Südosten Kleinasiens und ist damit in türkischer Sicht ein Terroristenhaufen. Von ihrem deutschen Partner verlangt die Regierung in Ankara, daß sie sich dieser Lagebeurteilung anschließt und gegen Kurdenvereine vorgeht.

Nun gibt es für die deutschen Behörden dafür gar keinen Grund. Warum sollten sie den Büttel der Türken spielen und einen Bürgerkrieg gewinnen helfen, von dem die NATO nichts hat, der im Gegenteil eher den deutschen Argwohn weckt? Andererseits haben sie noch weniger Grund, erklärten inneren Feinden des NATO-Partners einen Freiraum zu gewähren. Also bestehen sie erst einmal darauf, daß beide Seiten in Deutschland von ihrem Kriegszustand abstrahieren: Ausländer sollen ihre heimatlichen Konflikte gefälligst „nicht bei uns“ austragen. Doch wieso ausgerechnet „bei uns“ nicht? Die Rechnung geht nicht auf, daß den Kurden, kaum haben sie die deutsche Grenze passiert, schlagartig alles egal ist, was mit ihnen und ihresgleichen drei Urlaubsländer weiter angestellt wird; die türkische Regierung sieht erst recht nicht ein, warum ihr Feldzug gegen erklärte Kurden außerhalb ihrer Grenzen enden soll.

Damit hat auch Deutschland sein „Kurdenproblem“; und das nimmt es beiden Kampfparteien übel – je nach dem in etwas unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Konsequenzen. Der türkischen Regierung wird zugemutet, daß deutsche Polizeiminister nach anderen Kriterien zwischen harmlosen Türken aus Kurdistan und PKK-Terroristen unterscheiden als die türkische Armee; daß die Bekämpfung des ganzen Problems, wenn schon mit NATO-Waffen, dann jedenfalls nicht auf deutschem Boden geschieht; und daß man diesen Waffen ihre deutsche Herkunft nicht ansehen soll, weil eine Macht wie Deutschland nicht als Helfershelfer in den rein nationalen, ansonsten ganz unzweckmäßigen Schlächtereien anderer Staaten erscheinen will. Deswegen gibt es laufend wohlmeinende Einmischungen in innertürkische Angelegenheiten, und Anfang Mai mußte die türkische Armee glatt zwei Wochen länger als versprochen auf ein paar Panzer warten. Die Kurden auf der anderen Seite kriegen ein rigoroses Politikverbot; unpolitische Volkstumspflege wird ihnen großzügig gestattet und kleinlich überwacht, weil die Abgrenzung zum politischen Protest gegen den türkischen Terror ohnehin absurd und deswegen eine Frage der polizeilichen Definition ist; und vor allem gibt es für keinen Kurden in Deutschland eine Sicherheit vor Rücksendung an die Staatsmacht, die gegen seine Sache Krieg führt. Wer auf den Schutz deutscher Behörden vor politischer Verfolgung durch die türkischen Behörden rechnet, dem wird klargemacht, daß das deutsche Asylrecht keine derartige Berechnung zuläßt: Grundsätzlich spricht ohnehin kein NATO-Partner der türkischen Republik die Hoheit über ihre Bürger und die Rechtmäßigkeit ihres „Anti-Terrorismus“ ab; und im Einzelfall entscheiden am Ende deutsche Asylrichter darüber, ob einem armen Tropf aus Kurdistan der Nachweis gelungen ist, daß er ganz persönlich aus rein politischen Gründen verfolgt wird – Folter allein, das hat ein hohes deutsches Gericht schon vor längerem befunden, ist als ortsübliche Sitte und deswegen nicht als Asylgrund zu werten – und daß es für ihn – dies die neueste verbindliche Klarstellung des zuständigen Bundesgerichts – auch wirklich in keinem Winkel der Türkei ein ruhiges Plätzchen gibt.

Ganz unparteiisch also besteht die deutsche Staatsgewalt darauf, daß das Kurdenproblem eigentlich gar nicht hierher gehört – schließlich hat sie von den importierten Gastarbeitern billige Arbeit und sonst nichts gewollt, schon gar keinen politischen Standpunkt.

Die Gastlichkeit der Demokratie

Zur Bewältigung des deutschen Kurdenproblems im Geiste des inneren Friedens und der NATO-Partnerschaft kommen im „Superwahljahr“ noch ein paar ergänzende Gesichtspunkte und Initiativen hinzu. Die demokratischen Wahlkämpfer haben die jüngsten Ohnmachtsdemonstrationen von Kurden in Deutschland zum Anlaß für eine eigene Machtdemonstration genommen. Mit der kurzfristigen Lahmlegung einiger Autobahnabschnitte um Ostern herum haben die kurdischen Demonstranten tatsächlich einen deutschen Nerv getroffen; Verzweiflungstaten, nämlich versuchte Selbstverbrennungen, blieben daneben eher unbeachtlich. Darauf reagiert die Führung der Nation mit all der Brutalität, derer der Rechtsstaat, und dem Zynismus, dessen die Demokratie fähig ist.

Die Kurdenaktion wird als Gewaltverbrechen eingeordnet, die demonstrativ zum Ausdruck gebrachte Verzweiflung über die Unterdrückung in der Türkei als politkriminelle Energie definiert. Wie zum Hohn versichern Kommentatoren aus allen politischen Richtungen, nun hätten die Kurden sich aber alle Sympathien verscherzt und ihrem eigenen Anliegen am allermeisten geschadet – als hätte ihre Sache bis dahin Wohlwollen und Unterstützung erfahren; bewiesen ist mit dieser Heuchelei jedenfalls die nicht wiedergutzumachende Verabscheuungswürdigkeit der kurdischen Übergriffe auf den freien Straßenverkehr. Und nicht nur verbal wird diese Botschaft in die Welt gesetzt. Sie wird praktisch beglaubigt durch Großaufgebote und kompromißlose Einsätze der Polizei, wenn Kurden sich treffen, ein Schauprozeß gegen „Rädelsführer“ in Szene gesetzt wird oder auch nur die falschen Fahnen auf einer 1.Mai-Kundgebung der Gewerkschaft auftauchen – nach dem Motto: Je massiver das Gewaltaufgebot des Staates, um so gefährlicher die betroffenen Täter.[2]

Logisch folgt aus dem Bundeskanzleramt und dann im Chor aller politisch Verantwortlichen und Meinungspluralisten auf die Anklage der Urteilsspruch: Die auffällig gewordenen Kurden haben „ihr Gastrecht verwirkt!“ Es geht also nicht nur um die Klarstellung, daß Autobahnstaus in eindeutig verkehrter politischer Absicht – ein Protest entrechteter Schweinepestmäster läßt die Rechtslage schon etwas anders aussehen – den höchsten Volkszorn verdienen, den ein anständiger Wahlkämpfer sich ersehnt, um ihn zu bedienen. Viel schlimmer, also noch viel schöner: Ausländer wurden in flagranti dabei ertappt, wie sie sich ihre Duldung verscherzt haben. Als Gast in Deutschland hat der Ausländer nämlich im wesentlichen das Recht, die Schnauze zu halten und sich anzupassen – zum Beispiel an eine politische Kultur, der ein paar Gemetzel in der Südost-Türkei keinen Autobahnstopp wert sind. Sonst fliegt er raus – die Gelegenheit, ihren wahlberechtigten Ausländerfreunden das zu versprechen, haben die Wahlkämpfer sich allesamt nicht entgehen lassen. Keiner, der nicht nachdrücklich „die ganze Härte des Gesetzes“ gegen die kurdischen Autobahngangster gefordert hätte – ein schönes Bekenntnis dazu, was brave Bürger am Gesetz so schätzen: die Gewalt, die da mit vollem Recht daherkommt. Wo das Recht die gewünschte Gewalt nicht hergibt, gehört es nach dem kurdischen Autobahnfriedensbruch entsprechend geändert; das hat der Kanzler zornbebend – „ganz und gar unerträglich…“ – gleich in Auftrag gegeben. Denn eine Gesetzeslage, die der offiziell ausgerufenen Empörung über ausländische Politkriminelle nicht voll Genüge tut, womöglich sogar Umstände auferlegt, kann unmöglich als respektables Recht durchgehen – die passenden Vorschriften dagegen sind schon allein deshalb ohne Rücksicht und sofort zu vollstrecken, weil die Hoheit des Rechts nichts anderes erträgt.

Es bleibt also nicht beim wahlkämpferischen Versprechen, Deutschland von ausländischen Geisterfahrern zu säubern. Dem politischen Schuldspruch folgt der Strafvollzug auf dem Fuß: Abschiebung – in die Türkei, die für kurdische Aktivisten allemal Verwendung hat. Urteile der unabhängigen Justiz werden dafür nicht abgewartet; sogar Anklagen gegen Rädelsführer, ansonsten ein Fest für politisch mitdenkende Staatsanwälte, sind in diesem Fall kontraproduktiv, unerwünscht und werden unterlaufen, weil sonst ein Ausländer mit verwirktem Gastrecht auf einmal doch unter deutsches Recht fällt – und wenn es das Strafrecht ist: Am Ende erschleicht sich da einer unter dem Vorwand einer Untersuchungshaft oder einer zudiktierten Gefängnisstrafe ein Bleiberecht, statt in der Türkei seiner ausländergemäßen Behandlung zugeführt zu werden. Für Kurden steht auf Sperrung deutscher Autobahnen eben türkisches Gefängnis mit Folter und Todesstrafe. Und wenn dann doch noch irgendeine internationale Flüchtlingskonvention im Weg steht und eine liberale Justizministerin, die auf dem Luxus einer rechtmäßigen Abwicklung auch noch des Abschiebens besteht, dann blüht die rechtsstaatliche Phantasie auf. Dann wird öffentlich überlegt, ob man von der Türkei nicht ein „gläsernes“ Spezialgefängnis für ihre zurücküberstellten Abweichler verlangen sollte. Oder es wird ganz einfach nicht in die Türkei abgeschoben, in der ertappte Kurden nichts zu lachen haben, sondern in die West-Türkei, deren Respekt vor den Menschenrechten und Flüchtlingskonventionen über jeden Zweifel erhaben ist, auch wenn es weiter östlich unter demselben Gewaltmonopolisten schon einmal eher staatsterroristisch zugeht. Oder der zuständige Minister weiß von einer Abschiebung von Kurden überhaupt nichts: Seine Behörden kennen nur Inhaber türkischer Papiere…

In diesem Sinn wird erbarmungslos abgeschoben – Dableibendürfen ist eine Gnade, und die wird ausdrücklich nicht gewährt. Das soll, über den Kurdenfall hinaus, abschreckend auf Ausländer wirken; vor allem auf die hier schon vorhandenen, die sich einbilden, sie hätten in der deutschen Demokratie ein anderes Recht als das rheinlandpfälzisch definierte Gastrecht aufs Abgeschoben-Werden, sobald man es verwirkt hat. Die Zuständigen tun alles, um Deutschland für drangsalierte und dadurch notgedrungen politisierte Ausländer so ungemütlich zu machen, daß sie geradesogut gleich wegbleiben können. Mit dem „Superwahljahr“ hängt dieser tatkräftige Einsatz insoweit zusammen, als da nach gemeinsamem demokratischem Beschluß die Ausländerfeindschaft wahlbekämpft werden muß: Anzünden ab sofort überflüssig!

Das einzige politisch ehrenwerte Bedenken gegen diese Art, mit frechen Kurden kurzen Prozeß zu machen, wird von denselben Leuten gleich miterledigt. Es ist ehrenwert, weil es mit dem Schicksal der Kurden in der Türkei – der dortgebliebenen wie der dorthin abgeschobenen – gar nichts weiter zu tun hat, um so mehr mit dem gepflegten deutschen Selbstbewußtsein, Aufsichtsmacht und nicht Erfüllungsgehilfe eines drittrangigen Partnerstaats zu sein. Die Türkei steht unter Verdacht, aus Deutschland gelieferte Waffen zum Niedermachen von Kurden zu mißbrauchen, statt damit auftragsgemäß für die NATO östlich von Anatolien Sicherheit zu produzieren. Was mindestens insofern ein Unterschied ist, als die Deutschen hier einen sehen wollen und die türkischen Freunde gerade nicht. Das mögen soziale und vor allem deutsche Demokraten den Befehlshabern in Ankara nicht durchgehen lassen; sie fordern genaueste Untersuchungen und einen Tagesbefehl an den NATO-Partner, sich an die Ideale des Minderheitenschutzes zu halten. Die Deckungsgleichheit von imperialistischem Stolz und humanitärer Heuchelei gefällt auch dem liberalen Außenminister so gut, daß er ein paar Waffenlieferungen aufhält. Bis sein Kollege Verteidigungsminister herausgefunden hat, daß NATO-mäßig alles in Ordnung ist: Ausdrücklich grünes Licht fürs Verschieben von Waffen und Kurden!

Gegen diese Linie der nationalen Führung wird tatsächlich 1 Protest von unten rege: Einzelne Kirchengemeinden betätigen sich als Refugien des Mitleids mit besonders ungerecht behandelten Ausnahme-Kurden und deren Weib und Kindern und entziehen sie in einem öffentlich bekannten Akt des zivilen Ungehorsams dem Zugriff des Abschieberechts. Offenbar gibt es – bemerkenswert genug im neuen Deutschland – ein paar gute Nachbarn, die die „Befindlichkeit“ „ihrer“ Kurden auf dem Abschiebeflug in die Türkei nachempfinden und gute Bekannte nicht gleich vom Standpunkt des Polizeirechts her beurteilen. Ihren Kirchenoberen geben sie damit freilich nur Grund zu bedenklichem Kopfwackeln; nach neuester christlicher Lehre und kirchlicher Rechtslage sind demokratische Entscheidungen moralisch unanfechtbar. Und ihr bayrischer Innenminister bietet seine Polizei zur Gegendemonstration auf: Sie schleicht um die Kirche, um eine Kurdenfamilie zu fangen. Vor dem Image des Bluthunds hat dieser Minister keine Berührungsängste; er hält es für attraktiv. Der Mann weiß, wie er sein Volk haben will, damit es ihn wählt. Und er weiß, wie ein deutscher Demokrat sich im „Superwahljahr“ 94 anstrengen muß, um die gleichgesinnte Konkurrenz auszustechen.

[1] Diese Entscheidung ist längst klar; es hat aber bis zum 8. Mai dieses Jahres gedauert, bis sich ein deutscher Politiker vom Kaliber des Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion auch einmal offen und öffentlich dazu bekannt hat. Und zwar mit einer ideologischen Begründung, die es in sich hat: Die Türkei, so Wolfgang Schäuble vor christlichen Unternehmern, kann nicht EU-Mitglied werden, weil sie nicht zum christlich-abendländischen Kulturkreis gehört (siehe z.B. SZ vom 9.5.94). Das hört sich doch schon etwas anders an als das alte NATO-Geschwafel von den demokratischen Werten, die gemeinsam verteidigt werden und um deretwillen auch die Türkei „zu uns“ gehört, oder die bisher üblichen verlogenen Brüsseler und Bonner Vertröstungen, demnächst und nach Lösung gewisser ökonomischer und Freizügigkeitsprobleme könne man über einen EG-Beitritt der Türken durchaus einmal reden, oder der heuchlerische Verweis auf „die Menschenrechte“, die die Türkei auch im Südosten Kleinasiens erst besser respektieren müßte, bevor ein Beitritt zur europäischen Oberliga in Frage käme. Die Absage ist fundamental und kompromißlos, weil an einem Kriterium festgemacht, an dem die türkische Republik schlechterdings nichts ändern kann: Sie ist ein für allemal zu anders, um jemals „dazu“ gehören zu können. Genauer gesagt: noch nicht einmal die Türkei als Staat, der sich ja eine gar nicht anti-christlich-abendländische Verfassung gegeben hat und diese notfalls noch an EU-Normen anpassen könnte, sondern ihre Leute mit ihrer fremden Religion und Kultur: die sind für gute Europäer auf immer und ewig zu fremd, als daß man mit ihrem Staat jemals so richtig gemeinsame Sache machen könnte. So meldet sich der pur kulturvölkisch begründete Abgrenzungswille als Argument in der Außenpolitik zurück. Christ Schäuble findet das nicht bloß im Interesse des Abendlandes nötig; er empfiehlt seinen vom Herrn Jesus inspirierten Klartext darüberhinaus als Mittel und gute Möglichkeit, den aufgeregten islamistischen Fundamentalismus zu beschwichtigen, der sich in der Türkei breitmacht – und merkt offenbar noch nicht einmal, wie er damit seine Erkenntnis einordnet: Den bornierten fundamentalistischen Verdacht, die Türkei sollte um ihre „morgenländisch-islamische“ Tradition betrogen werden, möchte er entkräften, indem er einen kongenialen Unvereinbarkeitsbeschluß von deutsch-abendländischer Seite hinzugesellt. Zum „Wir wollen nicht zu euch!“ ein ebenso fundamentalistisches „Wir wollen euch auch gar nicht!“ – auf der Basis finden Nationalisten und Fremdenhasser unterschiedlicher Nationalität zueinander. So drückt der 2. Mann der CDU in Bezug auf die EU und auf sämtliche Türken genau das aus, was sich so mancher christlich-abendländische Europa-Bürger in Bezug auf sein Heimatkaff und die dort ansässigen Türken auch schon gedacht hat: Gehört nicht hierher – raus damit! Nach derselben Logik werden übrigens gelegentlich jüdische Grabsteine umgeworfen und Synagogen angezündet. Aber Schäuble leistet damit seinen christlich-demokratischen Beitrag zur allseits geforderten politischen Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus und zur Reintegration abweichender Ausländerfeinde ins nationale Stimmvieh. (Und selbstverständlich ist die moderne Sozialdemokratie sogleich zur Stelle, um diesen Schlager nicht dem politischen Gegner allein zu überlassen: Die Gewerkschaftsbewegung in Gestalt des IGChemie-Vorsitzenden und SPD-MdB Hermann Rappe sieht das mit der Unvereinbarkeit von Türkei und EU genauso.) Schäuble unternimmt mit seiner Klarstellung allerdings nicht eine Demonstration von der Art, die die Feuerwehr anschließend löschen könnte. Er macht nicht bloß Wahlkampf mit den Mitteln des wahlwerbewirksam heuchlerisch verpackten Türkenhasses. Er drängt auch nicht nur auf eine neue Ideologie in außenpolitischen Fragen: eine Ideologie, die den Fetisch der supranationalen Werte verwirft und den Fetisch der nationalen Identität und der quasi angeborenen, jedenfalls irreversiblen Unvereinbarkeit der verschiedenen Staatsbürgerrassen an dessen Stelle setzt. Wer so brutal die alten europa-ökonomischen Kalkulationen mit der Türkei – also gegen ihre EG-Mitgliedschaft – in einen christlich-fundamentalistischen Abgrenzungsbeschluß übersetzt, wer mitten in der Umstellung der deutschen Politik auf Deutschlands „neue Weltordnung“ so offen kultur-rassische Unterscheidungen als außenpolitische Gesichtspunkte rehabilitiert und reaktiviert, der will der deutschen Außenpolitik selber eine klare Orientierung verpassen; nämlich eine Leitlinie für die Unterscheidung, wen Deutschland sich als Partner greifen soll und wo die Grenze zu der Staatengattung gezogen werden muß, die für alles, was Deutsche als Entgegenkommen verstehen, nicht in Frage kommen. Nur folgerichtig, daß Schäuble seine Ausschlußverfügung gleich auch explizit auf Rußland erstreckt hat, das zwar irgendwie christlich, aber auf gar keinen Fall so – nämlich so abendländisch kultiviert – wie wir ist.

[2] Eine agitatorische Sonderleistung hat in diesem Zusammenhang die Süddeutsche Zeitung erbracht. Dem Blatt ist nicht verborgen geblieben, daß der Polizeiaufmarsch zur Eröffnung des Prozesses gegen kurdische Konsulatsbesetzer in München in einem grotesken Mißverhältnis zu dem Häuflein fernzuhaltender Sympathisanten der kurdischen Sache stand und für weit mehr Verkehrsstau sorgte als alle kurdischen Demonstrationszüge. Ihr Reporter Fabritius mochte diese Diskrepanz aber weder auf sich beruhen lassen noch schlicht durch einen Glückwunsch zur offensichtlich abschreckenden Wirkung einiger Tausendschaften bayrischer Polizisten rechtfertigen. Für diesen Dialektiker hat die Unterstützerszene, indem sie sich dem erwarteten – als Beweis ihrer Gefährlichkeit offenbar geradezu erhofften – Krawall entzog und nicht erschien, ihre besondere politkriminelle Perfidie entlarvt: „Warum man die Kurden-Kader nicht ins belagerte“ (steht so da, ohne „-“) „München schickte“: „Ziel der PKK und ihrer deutschen Helfer: Den Rechtsstaat als ‚Polizeistaat‘“ (das selbstredend in „-“) „vorführen.“ (SZ, 13.4.94)