Der deutsche Militarismus in der Zeitenwende

Kriegsbereitschaft heute

Seit dem Amtsantritt von Trump sorgen dessen machtvolle Initiativen, den Ukraine-Krieg zu beenden und einen Waffenstillstand zu verfügen, für Alarmstimmung in Deutschland: Es droht ein Frieden, der an „uns“ vorbei verhandelt wird. Die politisch Verantwortlichen hierzulande lassen keinen Zweifel daran, dass ein möglicher Friedensdeal, der für Russland erträglich ist, für sie unerträglich ist, sie sich also von den Verhandlungen umso mehr herausgefordert fühlen, ihre Feindschaft voranzutreiben und dafür zu einer eigenständigen, abschreckungsfähigen Militärmacht aufzusteigen.

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Der deutsche Militarismus in der Zeitenwende 
Kriegsbereitschaft heute 

Kein Zurück zu friedlichen Verhältnissen – vom Imperativ der Kriegstüchtigkeit

Seit dem Amtsantritt von Trump sorgen dessen machtvolle Initiativen, den Ukraine-Krieg zu beenden und einen Waffenstillstand zu verfügen, für Alarmstimmung in Deutschland: Es droht ein Frieden, der an „uns“ vorbei verhandelt wird. Die politisch Verantwortlichen hierzulande lassen keinen Zweifel daran, dass ein möglicher Friedensdeal, der für Russland erträglich ist, für sie unerträglich ist, sie sich also von den Verhandlungen umso mehr herausgefordert fühlen, ihre Feindschaft voranzutreiben und dafür zu einer eigenständigen, abschreckungsfähigen Militärmacht aufzusteigen. Zu ihrer Sicht auf die aktuelle Lage und was diese von ihr verlangt, liefert die deutsche Politik Klarstellungen am laufenden Band:

– Ein Waffenstillstand in der Ukraine bringt keinen Frieden, weil der Feind keinen Frieden zu unseren Bedingungen akzeptiert:

„Russland stellt mit Abstand die größte Bedrohung für die europäische Sicherheit dar. Putin geht auch nach den Angeboten für Waffenstillstandsverhandlungen und anderem mit unverminderter Härte gegen die Ukraine und ihre Zivilbevölkerung vor. Auch seine öffentliche Reaktion auf die Verhandlungen in Dschidda [amerikanisch-ukrainischen Verhandlungen über einen Waffenstillstand im Ukraine-Krieg, Anm. d. Red.] macht deutlich, dass er keinen Frieden will – jedenfalls keinen, der nicht unter seinen Bedingungen stattfindet. Auch wenn derzeit über eine Waffenruhe diskutiert wird, bleiben der Ausgang dieses Krieges und die langfristige Sicherheit der Ukraine ungewiss.“ (Rede von Boris Pistorius vor dem Bundestag zur Änderung des Grundgesetzes am 18.3.25)

– Ein Frieden in der Ukraine, der nicht zu unseren Bedingungen stattfindet, stärkt nur den Feind, vergrößert also nur die Gefahr, die von ihm ausgeht:

„Ein Diktatfrieden, ein Frieden in Unfreiheit, eine Kapitulation ... würde Putin nur dazu ermutigen, sich sein nächstes Ziel zu suchen.“ (Merz, 17.9.25)

– Die bloße Fähigkeit des russischen Feindes, seine Sicherheitsinteressen gegen uns zu verteidigen, fordert uns zur Kriegsbereitschaft heraus:

„Sowohl der BND als auch wir sagen, dass Russland seine Streitkräfte um das Jahr 2029 so weit rekonstituiert haben wird, dass es zu einem Angriff auf NATO-Gebiet in der Lage wäre. Das heißt nicht, dass Putin tatsächlich diesen Schritt geht, aber er könnte es. Deshalb geht es darum, dass wir nicht nur auf den günstigsten Fall hoffen dürfen, sondern uns auch auf den Worst Case vorbereiten müssen.“ (Pistorius-Interview im Handelsblatt, 5.10.25)

– Wir müssen also im Verbund mit den europäischen NATO-Partnern so aufrüsten, dass wir eigenständig in der Lage sind, die Friedensbedingungen auf dem europäischen Kontinent zu diktieren:

„Deswegen wird es letztlich auf uns ankommen, auf uns Europäerinnen und Europäer. Wir müssen für unsere eigene Sicherheit und die unseres Kontinents sorgen, und zwar deutlich mehr, deutlich besser und deutlich geeinter als in den vergangenen Jahrzehnten.“ (Rede von Boris Pistorius vor dem Bundestag zur Änderung des Grundgesetzes am 18.3.25)

– Nur eine militärische Überlegenheit und kompromisslose Bereitschaft zum Krieg sorgt für Frieden, weil wir nur mit wirksamer Abschreckung unsere Sicherheitsinteressen gegen den Feind durchsetzen können:

„Wir selbst müssen und wir werden unsere eigene Verteidigungsfähigkeit und unsere Verteidigungsbereitschaft beständig weiter ausbauen. Dabei leitet uns ein ganz einfacher Grundsatz: Wir wollen uns verteidigen können, damit wir uns nicht verteidigen müssen. Wir nennen diesen Grundsatz seit Jahrzehnten Abschreckung. Es gibt wenige Lehren aus der jüngeren Geschichte, die sich so passgenau auf die Gegenwart übertragen lassen wie diese, denn diese Lehre ist einfach: Stärke schreckt Aggression ab, Schwäche hingegen lädt zur Aggression ein.“ (Regierungserklärung Merz, 14.5.25)

– Bei einem konventionellen Landkrieg gegen die russische Atommacht im Verbund mit den europäischen NATO-Partnern kommt es in erster Linie auf „uns“ an:

„‚Wir werden in den nächsten Monaten und den nächsten Jahren alles tun, um den Frieden, die Freiheit und die territoriale Integrität des Bündnisgebiets zu schützen.‘ Deutschland habe dabei eine ‚außerordentlich wichtige Funktion‘, sagte Merz. ‚Unsere geostrategische Lage ist die Drehscheibe in Europa – ob wir das wollen oder nicht.‘“ (Tagesspiegel, 28.8.25)

Gegen Russland kriegsfähig und -bereit – echt jetzt?

Deutschlands regierende Kriegsvorbereiter geben sich redlich Mühe, den – einstweilen – unerschütterlichen Kriegswillen ihres russischen Feindes nach den Regeln der Kunst staatsbürgerlicher Meinungsbildung zu erklären: Putin, dem Autokraten, geht es um Eroberungen; um Osteuropa als Einflusssphäre, die er mit niemandem teilen will; letztlich um die Wiederherstellung des Sowjet-Imperiums, weshalb vor allem die baltischen Staaten um den Fortbestand ihrer Autonomie fürchten müssen. Er hat es darüber hinaus auf die Einheit der europäischen Nationen abgesehen, auf deren politische Kultur, auf die demokratische Freiheit überhaupt. „Wir“ haben es mit russischem Imperialismus zu tun; der muss per Abschreckung in die Schranken gewiesen werden: in der Ukraine, und auf längere Sicht ganz grundsätzlich durch einen neuen Eisernen Vorhang an der NATO-Ostgrenze, weil der blutige russische Angriffskrieg sonst immer weitergeht. Die schrankenlos aggressiven Absichten Moskaus sind an schon laufenden russischen Vorstößen abzulesen, die „uns“ schon jetzt hybrid-kriegerisch herausfordern: Drohnen über europäischen Militäranlagen, für die kein anderer als Russland haftbar zu machen ist; prorussische Einflussnahme auf Deutschlands freiheitliche Meinungsbildung; die Gefahr feindlicher Sabotage an der digital vernetzten Infrastruktur überall auf dem Kontinent. Und so weiter.

Das Interessante an dieser alarmierenden Diagnose ist die Kaltblütigkeit, mit der die allwissenden Verantwortlichen sie präsentieren. Diagnose und Gelassenheit ihrer Verkünder leben nämlich davon, dass sie sich bei allen Anschuldigungen und Verurteilungen des russischen Kriegswillens die Frage nach dessen Grund ersparen bzw. durch die Angabe der zweifelsfrei erkannten – bösen, revisionistischen, anti-freiheitlichen – Zwecke der feindlichen Kriegsführung so klar beantwortet finden, dass man sie sich vernünftigerweise gar nicht erst zu stellen braucht. Dabei kommt in mancher öffentlichen, sogar amtlichen Befassung mit Putins Kriegswillen durchaus die etwas weiterführende Feststellung vor, dass die russischen Strategen ein sehr substanzielles Problem haben, das sie mit ihrer ausgeuferten „militärischen Sonderaktion“ meinen bewältigen zu müssen. Die haben in der Ausdehnung der NATO nach Osten, speziell in der praktischen Inanspruchnahme der Ukraine durch das westliche Militärbündnis als verbündeter Frontstaat und vorgeschobener Stationierungsort für Waffen von strategischer Qualität sowie in ihrer Vereinnahmung durch die EU als demnächst zu integrierendes Mitglied eine nicht hinnehmbare Gefahr für ihre nationale Sicherheit erkannt. Das Dementi von westlicher Seite, von irgendwelchen gefahrbringenden, geschweige denn feindseligen Absichten der Allianz der Guten gegen Russland könne wirklich überhaupt nicht die Rede sein, geht fast regelmäßig einher mit, hat auf jeden Fall fraglos Bestand neben der Zurückweisung von Vorwürfen der Art, die NATO und die Europäer hätten die freie Ukraine schon vor, erst recht nach dem Verlust der Krim und in ihren fortdauernden Freiheitskämpfen im Donez-Becken im Stich gelassen: Nein, mit Unterstützung vielfältiger und jedenfalls massiver Art – über deren Stärke man aus Gründen der Geheimhaltung nur nie offen habe berichten können – sei der Westen immer schon vor Ort präsent gewesen. Als russischen Kriegsgrund lässt man die russische Diagnose gefährdeter nationaler Sicherheit aber kein bisschen gelten – in der Logik des üblichen Staats-Zynismus wäre das ja schon die Rechtfertigung jeder militärischen Brutalität –; schon gar nicht dann, wenn im Zusammenhang mit diplomatischen Sondierungen zwischen Putins Russland und Trumps MAGA-USA das Beharren der russischen Seite auf ihrer Gefährdungsdiagnose als Hindernis für einen amerikanisch vermittelten Friedensschluss namhaft gemacht wird: Verbucht wird das als weiterer Beweis für die Substanzlosigkeit der russischen Begründungen für die unsinnige, eindeutig böswillige Verweigerung eines Friedens, der doch leicht zu haben wäre.

Und das ist dann doch eine bemerkenswerte Verharmlosung des russischen Kriegswillens, den man in Deutschland und unter NATO-Freunden gar nicht genug ächten und verachten kann.

Denn so ist es ja offenkundig nicht, dass man in Moskau bereit sein könnte, den substanziellen Kriegszweck „Keine NATO in der Ukraine!“ aufzugeben oder auch nur zu relativieren, sei es, weil man doch schon ein gutes Stück Donez-Becken erobert hätte – so eine Spekulation im Anschluss an das angebliche oder wirkliche Friedensangebot des US-Präsidenten –, sei es, weil den Kreml-Strategen auf die Dauer die Opfer doch zu viel werden könnten, die der andauernde Krieg mit dem ukrainischen NATO-Stellvertreter kostet – im Sinne von Trumps nobelpreiswürdigem Bedauern über tausende sinnlose Tote pro Woche. Die Intransigenz der russischen Führung macht kenntlich, welche Bedeutung, i.e. welchen politischen Inhalt die Sicherheit hat, die für sie in der Ukraine, mit deren Vereinnahmung durch den Westen, auf dem Spiel steht; sie macht deutlich, in was sie sich angegriffen sieht, wenn sie dem Vorrücken der NATO nach Osten mit einem jahrelangen Krieg den Weg verlegt: Sicherheit verlangt Russland vor der, gegen die, also auf dem Niveau der mächtigsten Kriegsallianz der Gegenwart; bis vor einem Jahr maßgeblich angeführt durch die atomare Weltmacht Nr. 1 und auch unter Trump noch immer mit der als maßgeblichem Mitglied. Mit diesem Pakt legt Russland sich an; von dem verlangt es Respekt. Und wenn die russische Regierung bei Gelegenheit die westlichen Unterstützer und gar nicht heimlichen Dirigenten des Durchhaltekriegs der Ukraine an ihre mit denen der USA vergleichbaren taktischen und strategischen Nuklearwaffen erinnert, dann macht sie damit sehr klar, dass sie um den Respekt ihres denkbar mächtigsten Gegners vor Russland als ebenbürtiger Weltmacht kämpft, die sich auch und gerade von dem nichts gefallen lassen muss. Für nichts Geringeres als diesen Status der freien Weltmacht verwüstet und zerstückelt Russland sein ukrainisches Nachbarland und nimmt die Herrschaft ihr Volk als Kriegswaffe in Dienst: nicht für eine geostrategische Ermessensfrage, nicht für revisionistische Eroberungen und Annexionen, auch nicht bloß für eine Schwächung der NATO oder eine Spaltung der EU, sondern für die Essenz ihrer wirklichen Staatsräson.

Ob der Präsident des Landes mit seinem amerikanischen Kollegen einen Deal erreicht, der ein für sein Ermessen hinreichendes Maß an Respekt der anderen Weltmacht vor der eigenen und Sicherheit im beanspruchten Sinn garantiert und der es ihm deswegen erlaubt, die hohe weltpolitische Bedeutung seines Ukraine-Kriegs so weit herunterzudefinieren, dass er damit aufhört: das ist deren Weltkriegsfrage. Daneben gibt es aber in Europa eine „geostrategische Drehscheibe“, deren amtierendes Personal genau diese Frage nicht den beiden Weltmacht-Präsidenten überlassen will. Deutschland beschwört den Ernst der Lage, die die Nation zum Einstieg in eine Kriegsvorbereitungswirtschaft mit Zeitenwende-Wehrpflichtperspektive zwingt. Es bekennt sich damit zu einem militärisch wahr zu machenden Unvereinbarkeitsbeschluss gegen Russland, der in der Sache der russischen Staatsräson gilt, so wie Putin sie in der Ukraine durchkämpft. Und das wirft ein zwar unscharfes, aber doch ein Licht auf den Standpunkt deutscher Geostrategie, derzufolge die Nation sich zwar noch nicht im Krieg, aber jedenfalls nicht mehr im Frieden befinden will.

Denn dass Russland sich mit, also an der Weltmacht der NATO misst und von seinem Gegenüber absoluten Respekt einfordert, ist ja keine einseitige Angelegenheit, stößt bei dem vielmehr auf den entsprechenden komplementären Standpunkt. Nicht in dem spiegelbildlichen Sinn, dass die nordatlantische Allianz sich an der russischen Macht messen würde und um die Anerkennung ihrer Ebenbürtigkeit kämpfen müsste. Der russischen „Spezialoperation“ begegnet sie vom Standpunkt des Weltmacht-Monopolisten, der über Zulässigkeit und Reichweite der Sicherheitsansprüche der Nationen entscheidet und im Extremfall Russland ganz entschieden dagegen vorgeht. Und das so souverän, dass sie sich ihr Engagement frei einteilt und bis auf Weiteres die Ukraine für sich kämpfen lässt. Im Sinn und kraft dieser Freiheit hat die Führungsmacht der Allianz, Garant ihrer Weltmacht und ihres gewaltmonopolistischen Herrschaftsanspruchs, ihre Entscheidungsgewalt über Krieg und Frieden MAGA-gemäß neu definiert; in Bezug auf den geerbten Kriegsschauplatz Ukraine so, dass sie sich dort nicht mehr in ihrem Status als Bestimmungsmacht kollektiver westlicher Weltherrschaft herausgefordert sieht. Verletzt sieht die Trump-Regierung vielmehr den Respekt vor ihrem auf absolute Überlegenheit ihres Militärs gegründeten Machtwort, das als Prämisse allen Weltfriedens Unterwerfung gebietet; verletzt durch beide unmittelbar Krieg führenden Parteien; und außerdem gestört durch das Bemühen der Europäer, die USA weiterhin in einen für „America first!“ zweck- und sinnlosen Krieg zu verwickeln, den Trumps Vorgänger zum Schaden des Landes begonnen und geführt hat. Die europäischen Allianzpartner finden sich dadurch genötigt, das Ringen mit Russland um ihr als fraglos sicher verbuchtes Herrschaftsmonopol über ganz Europa mehr auf eigene Rechnung fortzuführen, wenn auch ohne auf amerikanischen Rückhalt zu verzichten. Und da steht nun Europas „geostrategische Drehscheibe“ vor der Bewährungsprobe ihres welt- und europapolitischen Geltungsanspruchs. Deutschland sieht sich in der Verantwortung, als stärkste europäische Nation auf der Unvereinbarkeit der „europäischen Friedensordnung“ mit dem kriegerischen Sicherheitsanspruch der russischen Weltmacht zu bestehen, von der Trumps MAGA-Politik in der Form nichts mehr wissen will. Mit dem Vorratsbeschluss, für einen Sieg über Russland jeden nötigen Krieg zu führen – denn nichts anderes ist der Inhalt von „Abschreckung“, um den aufs Ende des Jahrzehnts terminierten „Krieg nicht führen zu müssen“ –, legt Deutschland sich in der Rolle der europäischen Zentralmacht mit der Staatsräson Russlands an, der die Regierung Putin schon auf dem begrenzten Kampfplatz Ukraine einen guten Teil der nationalen Jugend opfert. Dabei drückt der deutsche Kanzler mit seinem „Drehscheibe Europas, ob wir das wollen oder nicht“ auf bildlich-begriffslose Art aus, dass es für ihn keine offene Ermessensfrage, sondern ein Gebot der eigenen deutschen Staatsräson ist, vor den Kosten eines notfalls militärisch zu erringenden Erfolgs nicht zurückzuschrecken, sondern in aller Demut vor der großen Aufgabe die „Drecksarbeit“ zu erledigen, die bei der Säuberung des Kontinents von russischen Ansprüchen anfällt und die den Europäern niemand mehr abnimmt – jedenfalls nicht mehr so sicher wie bisher die transatlantische Führungsmacht mit ihrem Atom- und sonstigen Waffenarsenal.

Ob Deutschlands Verantwortlichen die Perspektive ihres tapferen Engagements so deutlich vor Augen steht, geht aus ihren Ansagen von wegen „noch nicht Krieg, aber auch nicht mehr Frieden“ nicht so richtig klar hervor. Immerhin sind die meisten ihrer Ankündigungen von einer Art, dass zukünftige Überlebende den aktuellen Deutschen mal wieder nachsagen können, sie hätten „es wissen können“. Wie dem auch sei: Auf jeden Fall haben Deutschlands Welt- und Europafriedenspolitiker allen Grund, ihre Nation auf Kriegstüchtigkeit einzunorden. Und in dem Sinn kümmern sie sich mit viel Geld und gutem Willen um die sachliche und moralische Infrastruktur, die Land und Volk für einen Krieg – zwecks Vermeidung eines Krieges ... – gegen Russland brauchen.

Kriegsfähigkeit als „gesamtstaatliche und gesamtgesellschaftliche Aufgabe“

Unter der klaren Direktive „Wir müssen bis 2029 kriegstüchtig sein.“ braucht das Land zuallererst die „größte konventionelle Armee Europas“. Nach 30 Jahren ‚Friedensdividende‘, in denen die Bundeswehr als ‚Interventionsarmee‘ nur im ‚internationalen Krisenmanagement‘ fernab der deutschen Grenzen im Einsatz war, [1] gibt die Regierung ihr nun den Auftrag der ‚Landes- und Bündnisverteidigung‘. Dass der Anspruch des Aufstiegs zur NATO-Führungsmacht Europas in einem Krieg gegen Russland nichts ist, was erst mit dem schrittweisen militärischen Aufwuchs praktisch wahr wird, sondern dass sie die beanspruchte Rolle sofort für sich reklamiert, untermauert die deutsche Politik, indem sie eine 5000 Mann starke „kriegstüchtige Brigade“ im litauischen Grenzgebiet zu Russland aufbaut. Damit eröffnet sie die zukünftige Front an der Ostflanke zur Sicherung der „Suwalki-Lücke“ resp. der Abschneidung der russischen Exklave Kaliningrad, und macht die „verstärkte Vornepräsenz“ der NATO selbstbewusst zu ihrer Sache, indem sie die Forderungen ihrer Bündnispartner nach der Bereitstellung von Kontingenten übererfüllt. So „blank“ steht die „kaputtgesparte“ Bundeswehr dann doch wieder nicht da, dass sie sich nicht obendrein zutrauen würde, ihre Luftwaffe für die Überwachung und Sicherung des baltischen Luftraums zum Einsatz zu bringen und die Leitung der maritimen Großmanöver zur Truppenverlegung an die Ostfront zu übernehmen, mit denen die NATO ihren Krieg gegen Russland längst übt und dafür den Ostseeraum samt der dafür nötigen Sicherung der Seewege in ihr Aufmarschgebiet verwandelt. Die Klagen der Verantwortlichen über Mängel der Bewaffnung und eine nur bedingte Abwehrbereitschaft der Truppe verraten also mehr über das Anspruchsniveau des deutschen Militarismus als über die Lage.

Dem ambitionierten Aufbruch zur militärischen Großmacht entsprechend entdeckt die Regierung immer neue Sicherheitslücken. Weil sie sich in die erste Reihe der kriegerischen Abschreckung gegen den Feind begibt, kann sie die Bedrohung, die sie in die Welt setzt, auch als Bedrohung anführen, der Deutschland ausgesetzt ist. Sie verordnet sich und ihren Geheimdiensten erhöhte „Wachsamkeit“ angesichts der von ihr entworfenen Bedrohungslage, in der Putin einen „hybriden Krieg“ gegen uns führt. Für diese Diagnose subsumiert sie zahlreiche ominöse Vorkommnisse unklarer Urheberschaft wie Drohnensichtungen, potentielle Verletzungen des Luftraums, Sabotageakte oder Spionagefälle unter den Verdacht russischer „Eingriffe in unsere Souveränität“. Weil so gesehen der Feind bereits laufend „unsere Verteidigungsbereitschaft und unsere Verteidigungsfähigkeit testet“, haben der deutsche Geheimdienst und der bewaffnete Arm des Staates ihm militärisch immer einen Schritt voraus zu sein, seine Angriffe vorwegzunehmen und präventiv auszuschalten. Verlangt ist also die absolute Kontrolle darüber, was im Land unterwegs ist; und die Fähigkeit, allerorts und jederzeit mögliche Störungen oder Verletzungen auszuräumen. Dieser Anspruch auf Unverletzbarkeit wird zum allgemeinen Maßstab, dem die Politik in ihrem selbst erteilten Auftrag zur Aufrüstung genügen will und aus dem sie ihren militärischen wie rechtlichen Handlungsbedarf nach innen wie außen ableitet. Dafür mustert sie ihr ganzes, bisher an anderen Gesichtspunkten ausgerichtetes Gemeinwesen auf Tauglichkeit für den geplanten konventionellen NATO-Landkrieg durch und mobilisiert die für die große Sache nötigen nationalen Ressourcen.

Deutschland zeigt also, was es kann: Die Regierung finanziert ihr Rüstungsprogramm frei im Maß des ermittelten Bedarfs und nimmt dafür den Reichtum der Gesellschaft rücksichtslos in Anspruch, d.h. über die Mittel hinaus, die sie dieser für die Finanzierung des Staatshaushalts bereits abgeknöpft hat, und ungeachtet selbstgesetzter Grenzen für die Neuverschuldung in Relation zum BIP, die bisher die Glaubwürdigkeit der Staatsverschuldung auf den Finanzmärkten verbürgen sollte: „Bedrohungslage geht vor Kassenlage“ und „unsere Sicherheit darf nicht durch haushaltspolitische Zwänge gefährdet werden“. Sie leistet sich jede für nötig erachtete Verschuldung und setzt schlicht darauf, dass die neuen militärischen Potenzen den geballten Einsatz staatlicher Kreditmacht nicht nur rechtfertigen, sondern für das internationale Finanzkapital sogar ein einleuchtendes Argument darstellen, auch weiterhin auf die gute Schuldenqualität Deutschlands zu spekulieren.

Für das, was es dafür materiell alles braucht, entwickeln die zuständigen professionellen Macher die nötigen Strategien und Kriegsszenarien, die es zu beherrschen gilt, nehmen entsprechend an den Potenzen des Feindes Maß, um sie zu überbieten, und behandeln das ukrainische Schlachtfeld als „Lehrstück moderner Kriegsführung“, auf dem sie die Innovationen ihrer Rüstungsindustrie schon mal auf ihre Praxistauglichkeit im direkten Schlagabtausch mit der russischen Wehrtechnik testen. [2] Neben der klassischen konventionellen Aufrüstung rufen sie einen „Wettlauf zwischen Drohnenbedrohung und Drohnenabwehr“ aus und verschaffen der Bundeswehr mit einem neuen „Luftsicherheitsgesetz“ die Freiheit, auch im Landesinneren potentiell jedes umherfliegende Objekt zu identifizieren und gegebenenfalls abzuschießen. Deutschland rüstet sich darüber hinaus für die hybride Kriegsführung und den Cyberwar und sieht sich von der Rüstung der führenden Weltraumnationen herausgefordert, in deren Konkurrenz um die Beherrschung dieser vierten Dimension des Krieges mit eigenen Systemen einzusteigen. Dafür wird eine erste deutsche Weltraumsicherheitsstrategie formuliert und eine Anschubfinanzierung von 35 Mrd. Euro bereitgestellt. [3]

Als materielle Quelle zur Erfüllung ihrer militärischen Vorhaben kann die Regierung auf eine Rüstungsindustrie zugreifen, die in den Zeiten der ‚Friedensdividende‘ den Gewaltbedarf von NATO-Partnern und minderbemittelter Drittstaaten in Exporterfolge verwandelt hat und mit dem entsprechenden technologischen Know-How und Produktionskapazitäten aufwartet. Ihre politisch garantierten, langfristig gesicherten, zahlungsfähigen Angebote an die Geschäftsinteressen der Rüstungskonzerne und diverser findiger Startups bescheren denen auf Jahre hinaus volle Auftragsbücher und lassen sie kräftig expandieren, was seinerseits wieder die finanzkapitalistische Spekulation auf den Rüstungssektor befeuert und insgesamt Kapazität und Kompetenz der Versorgung mit Kriegstechnik steigert. Zur Sicherung des exklusiv nationalen Nutzens aus diesem „technologischen Know-How“ kündigt der Verteidigungsminister schon mal an, gegebenenfalls mit einer „aktiveren Rolle des Staates in der Rüstungsindustrie“ nachzuhelfen  das Rüstungsprogramm soll schließlich auch noch dem Wirtschaftsstandort insgesamt einen Aufschwung bescheren und heimische Arbeitsplätze sichern. [4]

Damit der militärische Blick aufs Land und die Welt von nun an unwiderruflich zur deutschen Staatsräson gehört, wird er „endlich“ auch institutionell verankert. Merz etabliert einen „Nationalen Sicherheitsrat“, in dem er alle außen- und verteidigungspolitischen Maßnahmen zentral koordiniert und im Kanzleramt konzentriert. Darüber hinaus erklärt er seinen Ministern, dass die Kriegstüchtigkeit Maßgabe des „gesamten Kabinetts“ ist, es also keinen Bereich der staatlichen Betreuung seiner zivilen Konkurrenzgesellschaft mehr gibt, der dabei außen vor bliebe. Er verpflichtet alle Ministerien darauf, die „Wehrfähigkeit“ der Republik bei ihren ressortspezifischen Reformen und haushälterischen Planungen zu berücksichtigen und sie auf die neuen Sicherheitsansprüche der Nation auszurichten:

„Was Deutschland und unsere Sicherheitsarchitektur in Deutschland angeht, habe ich deutlich gemacht, dass eine funktionierende Bundeswehr voraussetzt, dass das Land funktioniert. Wir brauchen ein funktionierendes Land, das heißt, wir brauchen stabile Brücken, wir brauchen Gesundheitsversorgung, Lebensmittelsicherheit, Energiesicherheit und digitale Sicherheit. All das brauchen wir, damit die Bundeswehr ihren Auftrag am Ende auch erfüllen kann. Auch dieses Signal einer gemeinsamen Verantwortung der ganzen Bundesregierung haben wir heute noch einmal sehr klar ausgesendet.“ (Pistorius, Pressekonferenz zur Kabinettssitzung am 25.8.25)

So macht die Regierung mit ihrer Rede von der Wehrfähigkeit als „gesamtgesellschaftlicher Aufgabe“ deutlich, wofür das ganze Land und die Gesellschaft zu funktionieren haben, sobald es dem Staat um sich geht und er seine Machtansprüche gegen ein staatliches Gegenüber durchsetzen will. Bei einem solchen Verteidigungskrieg, wie ihn die Regierung vorbereitet, wird eben die ganze Gesellschaft als dessen Basis in Anspruch genommen und dafür hergerichtet. Sachgerecht wird ein ressortübergreifender Operationsplan Deutschland (OPLAN DEU) ins Leben gerufen, dessen Kernelement darin besteht, „die Zusammenführung der zentralen militärischen Anteile der Landes- und Bündnisverteidigung mit den notwendigen zivilen Unterstützungsleistungen zur gegenseitigen gesamtstaatlichen Unterstützung“ im Krisen- und Kriegsfall zu gewährleisten. [5] Dementsprechend muss auch die Infrastruktur der ‚Drehscheibe‘ Deutschland kritisch daraufhin überprüft werden, ob sie NATO-Panzerkolonnen trägt, und mit milliardenschweren Investitionsprogrammen auf Vordermann gebracht werden; im Gesundheitssystem müssen die entsprechenden Notfallpläne für Massen an Schwerverletzten bis hin zur kriegstauglichen Triage ausgearbeitet werden; Unternehmen werden für den Ernstfall geschult, zu Vorkehrungen, die die „Resilienz“ fördern, aufgerufen und für mögliche Rollen im Kriegsfall unter Vertrag genommen; die Warnsysteme für die Bevölkerung werden auf den Stand der modernen Kommunikation gebracht, alle Bürgermeister sind angehalten, die Ausstattung ihrer Gemeinden mit Bunkern kritisch zu überprüfen usw. usf.

Der staatliche Imperativ der Kriegstüchtigkeit gilt nicht zuletzt dem deutschen Volk als der menschlichen Ressource des Kriegs. Da ist zum einen der gesteigerte Bedarf der Bundeswehr an Soldaten und Reservisten, die die vielen neuen Waffen dann auch bedienen. Dafür verschafft sich die Regierung im Zuge einer Wehrreform zunächst mit der Wiedereinführung einer flächendeckenden Erfassung und Musterung die nötigen Informationen über erstens die körperliche Tauglichkeit ihres Jungvolks für den Kriegsdienst und zweitens über dessen mentale Bereitschaft, ihn zu leisten. Auf letztere will sie sich im Ernstfall natürlich nicht verlassen und beschließt auf Vorrat schon mal die rechtliche Grundlage dafür, dass sie je nach politisch definiertem Ernstfall auf ihr Menschenmaterial zugreifen und es auf den geforderten Dienst zwangsverpflichten kann. Von einem kriegsbereiten Volk ist zum anderen Prinzipielleres verlangt als die Aufstockung der Bundeswehr: ein kriegstauglicher Zeitgeist.

Die Herstellung eines kriegstauglichen Mindsets

Wenn der Verteidigungsminister auf die Deutschen blickt, die ihm als menschliche Basis für sein Kriegsprogramm dienen sollen, sieht er einen kriegsuntüchtigen zivilen Haufen, dem er erst einmal den Ernst der Lage vor Augen führen muss. Er provoziert mit Kriegsrhetorik und fordert einen „Mentalitätswechsel“: Der Zeitgeist hat schließlich dem zu entsprechen, was die Regierung dem Volk ansagt. Seinen Anspruch auf ein kriegerisches Ethos im Volk, das dem neuen Selbstverständnis der Führung einer abschreckungsfähigen Militärmacht entspricht, knallt der für seine Ehrlichkeit so beliebte Politiker seinem Volk unverblümt als Mangel von dessen angeblich so „friedensverwöhnter“ Mentalität hin, [6] die völlig aus der Zeit gefallen ist. Das Volk hat sich schlicht und einfach an den Gedanken zu gewöhnen, dass Krieg nicht mehr nur das schwere Schicksal fremder Völker in fernen Weltgegenden ist, sondern von der eigenen Führung nun in den Umkreis persönlicher Lebensperspektiven gerückt ist, weswegen es sich besser gestern als heute geistig darauf einstellt.

Dass das so ist, haben die Deutschen Putin zu verdanken. Den russischen Feind hat das Volk in den vergangenen Jahren hinreichend kennenlernen dürfen. Er trägt viele Namen – „Aggressor“, „Verbrecher“, „Menschenschlächter“, „Diktator“ ... –; sein Programm ist vielseitig – „Imperialismus“, „Faschismus“, „Revisionismus“, „Mafia-Staat“ ... –; und seine Gräueltaten sind unzählige Male in allen Facetten bebildert worden: ganz weit weg von der brutalen Wahrheit, dass man hier mit nichts anderem bekannt gemacht wird als der „Drecksarbeit“, die zu einer konsequent durchgehaltenen, alles andere als ungewöhnlichen Staatsräson allemal dazugehört; stattdessen bildkräftig aufbereitet für den Genuss moralischer Empörung, angeleitet durch die fraglos feststehende Beantwortung der Frage aller Fragen, die niemanden geistig überfordert: die Schuldfrage; höchstrichterlich beglaubigt durch den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs. Mit dieser Feindbildpflege begründet die Regierung ihre Feindschaft mit dem russischen Souverän, die sie mit ihrer Kriegsvorbereitung zur eigenen nationalen „Räson“ erhebt. Vor Putin, dem abgrundtief Bösen, dem schlicht alles zuzutrauen ist, soll sich das Volk fürchten, vor allem weil der Feind nicht mehr bloß in der fernen Ukraine wütet, sondern längst unter uns aktiv ist:

„Unsere Freiheit ist bedroht, und zwar sehr konkret und nicht nur abstrakt. Die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land spüren eine wachsende Unsicherheit. Sie merken: Uns werden neue Spielregeln aufgezwungen durch militärische Gewalt, durch hybride Bedrohungen, durch Angriffe auf unsere demokratische Ordnung... Wie konkret das werden kann, haben wir mit der Verletzung des polnischen und rumänischen Luftraums in den letzten Tagen erlebt. Diese Ereignisse fügen sich ein in einen Trend in Deutschland und in Europa. Putin testet längst die Grenzen. Er sabotiert. Er spioniert. Er mordet. Er versucht, zu verunsichern. Russland will unsere Gesellschaften destabilisieren. Aber, meine Damen und Herren, wir werden das nicht zulassen – nach außen nicht und nach innen auch nicht. In dieser Lage gilt es, unsere Widerstandsfähigkeit und unsere Verteidigungsfähigkeit zu stärken.“ (Merz, Generaldebatte im Deutschen Bundestag, 17.9.25)

Der Kanzler sagt seinem Volk die Unsicherheit an, die es gefälligst zu spüren hat. Es soll nämlich nicht mehr einfach seelenruhig seinem gewohnten Alltag nachgehen, als wäre nichts. Gegen dieses falsche Sicherheitsempfinden, das den Krieg noch weit weg wähnt und die Gefahr, die von Putin für die eigene Sicherheit ausgeht, noch nicht so recht wahrhaben will, geht die Führung gezielt vor und sorgt mit der Beschwörung einer „realen Bedrohungslage“ für den nötigen Alarmismus, den sie für die Kriegsbereitschaft im Volk braucht – und ihm prompt abgelauscht haben will. Mit der Rede von „noch nicht im Krieg, aber auch nicht mehr im Frieden“ entwirft Merz das Bild einer ganz „konkreten Gefahr“ für „unsere Gesellschaft“, weil der Feind eben schon längst einen „hybriden Krieg“ gegen uns führt, dessen Bedrohlichkeit gerade darin besteht, dass er weitgehend unbemerkt und im Verborgenen stattfindet, so dass es glatt so erscheint, als wären wir noch in Friedenszeiten. Gleich, welche der gesammelten Vorkommnisse im Herbst ’25 wirklich aufs Konto Russlands gehen, das „Muster“, das die Regierung entdeckt, besteht einfach darin, dass hinter allen Störfällen mit unsicherer Beweislage und unklarer Urheberschaft der Russe stecken könnte, also – gemäß der Logik des Verdachts – die Gefahr auch wirklich schon überall lauert. Diesen Ernst einer Vorkriegslage soll sich ein jeder vor Augen führen und sich klarmachen, dass er längst mitbetroffen ist und der Feind jederzeit mit gezielten Provokationen Teile der hiesigen Infrastruktur lahmlegen oder einen verheerenden Blackout verursachen könnte.

So wird das Volk auf eine Bedrohungslage eingeschworen, die gebietet, alles Nötige dafür zu unternehmen, um dem Aggressor standzuhalten, [7] und wird durch die Maßnahmen seiner Regierung darüber informiert, was alles nötig ist. Die Regierung macht „das alles ja nicht zum Spaß“ (O-Ton Pistorius), sondern folgt mit ihrer Aufrüstung lediglich der bitteren Notwendigkeit, die der Feind ihr mit seinem Kriegswillen eröffnet. Auf Basis dieser Generalideologie der deutschen Aufrüstung, die die Behauptung des deutschen Führungsmachtanspruchs auf dem Kontinent in einen Dienst am Sicherheitsbedürfnis ihres Volkes verklärt, ist jegliche Maßnahme der Regierung, mit der sie die Republik auf Kriegskurs bringt, aus sich selbst heraus begründet. Dass die Regierung sie für nötig erachtet, beweist, wie nötig sie ist, um den Aggressor abzuschrecken. So führt dann umgekehrt die staatliche Praxis der Kriegsertüchtigung dem Volk vor Augen, was es alles braucht, um gegen den Feind gewappnet zu sein. Damit verwandelt sich jedes neu angeschaffte Gewaltmittel in ein Werkzeug zur Stiftung von mehr Sicherheit und die Entschlossenheit der Regierung in ihrer Kriegsvorbereitung erscheint als einzig wahre Garantie von Sicherheit, also als guter Grund, ihr bei ihrer kriegsvorbereitenden Aufrüstung geistig die Stange zu halten, damit sie den Krieg von uns fernhält. Wenn sich die sorgsam geschürte Angst vor dem Feind in Parteilichkeit für die Kriegsvorbereitungen der Regierung übersetzt und die Leute zu entschlossenen Parteigängern konsequenter Aufrüstung macht, hat sie ihre Produktivkraft für die Kriegsbereitschaft entfaltet. Alles darüber hinaus ist nur kontraproduktiv: Denn Angst ist die Waffe des Feindes, mit der er „Verunsicherung stiftet“ und „unsere Gesellschaft destabilisiert“. Mit dieser hinterhältigen „psychologischen Kriegsführung“ versucht Putin bloß, uns einzuschüchtern und die in ihrer Kriegsbereitschaft geeinte Nation zu spalten. Übertriebene Angst angesichts der Gefahr eines drohenden Landkriegs gegen die russische Atommacht spielt nur dem Feind in die Hände. Also ergänzt die Regierung ihr Russen-Feindbild um die doppelte Botschaft: Erstens darf man die amtliche Gräuelpropaganda nicht verwechseln mit dem heimtückischen Anschlag des Kreml auf die erste Bürgerpflicht, Ruhe zu bewahren, gerade angesichts der hereingebrochenen Kriegsgefahr; sich nicht „aufschrecken“ und bange machen zu lassen. Zweitens ist Ruhe auch deswegen angesagt, weil der Russe zwar furchtbar schlimm, die Bedrohungslage so schlimm dann aber auch wieder nicht ist:

„Nein, wir befinden uns nicht im Krieg. Wir haben eine Situation, die in Teilen mit dem Kalten Krieg vergleichbar ist. Es fällt kein Schuss, aber es gibt Provokationen. Derzeit sind es hybride Angriffe. Wir müssen wieder lernen, damit umzugehen, uns nicht aufschrecken zu lassen... Natürlich verstehe ich die Verunsicherung. Die Luftraumverletzungen in Europa haben für viel öffentliche Aufmerksamkeit gesorgt. Übrigens ganz im Sinne Putins. So eine Debatte hatten wir bei uns in Deutschland noch nicht. Deswegen ist es umso wichtiger, die Lage nüchtern und ruhig zu betrachten: Bislang ging von den beobachteten Drohnen keine konkrete Bedrohung aus... Entscheidend ist: Wir holen bei der Drohnenabwehr gewaltig auf; wir sind besser, als viele glauben... Wir müssen und werden bei Fähigkeiten und Stückzahlen noch zulegen. Aber wir sind besser, als viele glauben – und wir sind auch besser als viele unserer Partner.“ (Pistorius-Interview im Handelsblatt, 5.10.25)

Das Volk soll seiner Obrigkeit vertrauen, dass sie mit allem, was sie unternimmt, die Lage im Griff hat. Die Kriegsgefahr, die die deutsche Regierung beschwört und mit ihrem Unvereinbarkeitsbeschluss mit Russland laufend eskaliert, ist bei ihr in guten Händen, weil sie sich ihr stellt und alles Erforderliche unternimmt, um dem Feind gewachsen zu sein.

Von einem kriegstauglichen Zeitgeist, der zur Zeitenwende der Regierung passt, ist eben beides zugleich verlangt: zum einen die richtige Portion Angst vor dem Feind und Einsicht in die Bedrohungslage, die das Volk mit seiner Führung zu einer nationalen Schicksalsgemeinschaft zusammenschweißt, und zum anderen die nötige Gelassenheit der Untertanen, letztlich darauf zu vertrauen, dass die Regierenden die Militarisierung der Republik schon konsequent genug vorantreiben werden, dass sie der Feindschaft, die sie der ganzen Nation einbrocken, bis zum Ende des Jahrzehnts auch standzuhalten vermögen und den Feind dann wirklich mit ihrem Willen zum Krieg und ihren neuen militärischen Potenzen beeindrucken können. „Resilienz“ ist also verlangt. [8] So psychisch widerstandsfähig und aufgeklärt darf das Volk dann auch wieder seinem ganz gewöhnlichen zivilen Alltag nachgehen und sich dabei einfach auf alles einstellen, was die Regierung ihm mit ihrer Praxis der Kriegsertüchtigung der Republik noch so an neuen Umständen präsentiert. Anpassungsbereitschaft ist die Tugend einer wehrtüchtigen Gesellschaft. Weil Krieg freilich eine besondere Herausforderung an den Alltag darstellt, darf sich ruhig auch heute schon mal jeder fragen, ob es nicht besser wäre, sich – zwecks guter Vorbereitung – ein Kurbelradio und ein paar Notfallkonserven zuzulegen und sich auf dem Weg in die Arbeit vorsichtshalber mal nach dem nächstgelegenen Bunker umzuschauen – ohne es in der Sorge zu übertreiben, denn noch ist es ja nicht soweit. [9]

Unkritisch braucht ein gut eingestelltes Volk dabei auch nicht zu sein. Denn die Regierung pocht öffentlichkeitswirksam darauf, dass sie das national Nötige entschlossen anpackt und daran – und nur daran – will sie gemessen werden. Die staatstragende Opposition – das ist das Schöne an einer Demokratie – polemisiert gegen die mangelhafte Umsetzung durch die Regierung. So etabliert die Politik den einzig gültigen Maßstab der Kritik: Ob die als unser aller Sorgeobjekt unterstellte Sache von ihnen als politisch Verantwortlichen auch zielführend und effizient vorangebracht wird.

Entsprechend schaut die Debatte um die Kriegstüchtigkeit Deutschlands in der Öffentlichkeit dann auch aus: Experten schlagen Alarm, dass Deutschland viel zu spät die falschen und zu wenige Waffen gegen Putin kauft und mit der Aufrüstung viel zu langsam vorankommt. Die Öffentlichkeit verzweifelt über die Zerstrittenheit der Regierung, die es an starkem und entschlossenem Durchregieren fehlen lässt und damit nur Putin in die Hände spielt. Ganz kritische Stimmen fragen sich, ob der beliebteste Minister Pistorius wirklich der richtige Mann im Amt ist, um die Neuaufstellung wirklich kompromisslos ins Werk zu setzen, wo doch das bürokratische Beschaffungswesen der Bundeswehr es mal wieder an Effizienz fehlen lässt. So dürfen sich ausgerechnet diejenigen, die bei den ganzen Kriegsvorbereitungen nichts zu melden haben, stattdessen aber als deren Basis von ihrer Herrschaft verbucht sind, angeleitet durch die Öffentlichkeit in die fiktive Rolle des Mit-Subjekts der staatlichen Aufrüstung begeben und mitrechten, ob die politisch Verantwortlichen dem Ernst der Lage auch gewachsen sind. Und dadurch sich selbst in die richtige Verfassung bringen: Verantwortungsbewusste Bürger, von oben zu anständiger Kriegsbereitschaft aufgefordert, antworten mit der Forderung nach zweifelsfrei nachgewiesener Kriegstüchtigkeit ihrer Oberen.

Die Debatte um die Wehrreform – von der Versubjektivierung der staatlichen Kriegsvorbereitung

Am Ende wird es dann auch noch persönlich: Die Regierung eröffnet ihrem Volk die Frage nach seiner privaten Kriegsbereitschaft:

„Wir brauchen einen Aufwuchs der Bundeswehr – besser heute als morgen –, der aber langfristig angelegt werden muss und nachhaltig sein muss, und es geht darum, gleichzeitig das Mindset in der Gesellschaft gerade auch bei jungen Männern und Frauen zu verändern und für Verantwortung für diesen Dienst am Land zu werben. Jeder und jede aus der jungen Generation wird sich also, anders als bislang, entscheiden müssen: Was kann ich und was will ich zur Sicherheit meines Landes, in dem ich lebe, beitragen? Ist mir das egal? Will ich Verantwortung übernehmen, und wenn ja, an welcher Stelle? ... Die Debatten, die es in den Familien, an den Arbeitsplätzen, in den Schulen und in den Universitäten geben wird, sind gewollt. Sie sind notwendig, weil es darum geht, das Bewusstsein zu wecken und zu verstärken. Erst aus dieser Debatte heraus werden Männer und Frauen, die gerade 18 geworden sind, auch eine Haltung entwickeln und eine wohlüberlegte, individuelle, selbstbewusste Entscheidung treffen können.“ (Pressekonferenz des Bundeskanzlers und des Bundesverteidigungsministers nach der Kabinettssitzung, 27.8.25)

Die Regierung stiftet mit ihrer Wehrreform und dem verbindlichen Fragebogen an die männliche Jugend, ob und zu welchem Wehrdienst sie bereit ist, eine öffentliche Debatte, bei der es vor allem darauf ankommt, dass sie stattfindet und die ganze Gesellschaft erfasst: Alle sollen sich zum Thema Wehrdienst stellen, sich also den geforderten und politisch in die Wege geleiteten Anspruch ihrer Regierung auf mehr Soldaten und Reservisten – dass das eine unausweichliche Notwendigkeit ist, ist längst unterstellt – als private Gewissensfrage vorlegen. Dabei hat die betroffene Jugend glatt etwas zu entscheiden, nämlich sich. Jeder darf und soll sich die Frage stellen, ob er der moralischen Pflicht, Verantwortung für die Sicherheit des Landes zu übernehmen, nachkommt oder ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren kann, das gesellschaftlich Gebotene nicht zu tun. Die moralische Nötigung ist in der Art der Fragestellung selbst angelegt: Die Nation ist darin als gute, also verteidigenswerte Sache unterstellt und die kriegerische Durchsetzung des Staates gegen einen Feind mit der Sicherheit von „uns allen“, die hier leben, gleichgesetzt. Dafür wird jeder Befragte vereinnahmt, so dass eine Antwort auf jeden Fall fehl am Platze ist: „Mir doch egal!“. Die richtige – die einzig ganz richtige – ist die, dass auf dem Wege selbstbewusster innerer Musterung im Geiste der gebotenen Verantwortung gute Gründe dafür gefunden werden, zum bewaffneten Dienst anzutreten. Wer es mit seinem individuellen Gewissen nicht vereinbaren kann, das zu tun, was im zivilen Alltag streng verboten ist, nämlich auf Befehl fremde Menschen erschießen, wird auch geachtet: Für ihn wird wieder ein ziviler Ersatzdienst geschaffen, wo er ohne Gewissensqualen der guten Sache anders dienen kann. Diese Versubjektivierung des Kriegsprogramms als Gewissensfrage mit ihrer Produktivkraft für die private Kriegsbereitschaft – „genau das ist die Stärke dieses Gesetzes.“ (Pistorius, ebd.)[10]

Die wuchtige Gewissensfrage rund ums Töten und Sterben im Dienste der Nation wird dann aber von der Politik auch gleich wieder heruntergebrochen auf bloß ein Jahr Wehrdienst, das von der betroffenen Generation gefordert wird. Für dieses private Opfer an Lebenszeit hat die SPD ein Angebot parat, sieht nämlich umgekehrt auch die deutsche Führung in der Pflicht ihrer Jugend, im Gegenzug eine „attraktive Bundeswehr“ mit renovierten Kasernen und modernen Waffensystemen zu bieten. Sie lockt den Nachwuchs mit lauter Angeboten an den privaten Materialismus wie guter Bezahlung, Weiterbildungsmöglichkeiten und einem kostenlosen Führerschein, mit denen sie Freiwilligen als ein attraktiver Arbeitgeber gegenübertritt, der mit den einschlägigen Angeboten der Geschäftswelt im Werben ums freie Konkurrenzsubjekt mithalten kann. Zwar weiß eigentlich jeder, dass der Soldatenberuf keine ganz gewöhnliche Karriereoption unter anderen ist, im Ernstfall den Leuten gerade den größtmöglichen Antimaterialismus abverlangt, nämlich den eigenen Willen unter Befehl und Gehorsam unterzuordnen und das eigene Leben für die Nation zu riskieren. Das behindert aber nicht die Interpretation des Wehrdienstes als Idylle eines nützlich verbrachten Ausbildungsjahres. Die Union besteht dagegen darauf, dass Pflicht eben Pflicht ist, das Setzen allein auf freiwillige Bereitschaft also „auch niemandem hilft“, sondern vielmehr ein Zurückschrecken vor dem darstellt, worauf das Volk in schwierigen Zeiten allem voran ein Anrecht hat, nämlich eine handlungsfähige durchsetzungsstarke Regierung, die klare Ansagen von oben macht: „Eine Politik, die niemandem etwas abverlangt, kann nicht gestalten.“ (CSU-Landtagsfraktion, 6.10.25). Den nationalen Nachwuchs endlich mal in die Pflicht zu nehmen und patriotische Disziplin zu lehren, ist für sich ein einziger Dienst an ihm und seinem charakterlichen Wachstum:

„Die Geschichte zeigt uns: Wehr- und Zivildienst haben ganze Generationen geprägt, Horizonte erweitert und unzähligen jungen Menschen Einblicke in bislang unbekannte Lebenswelten eröffnet. Mit einer verpflichtenden Gesellschaftszeit können junge Menschen erfahren, dass die Gesellschaft sie braucht.“ (Ebd.)

  • Wenn sich darauf nur noch eine Debatte in der Öffentlichkeit draufsattelt, die in allen Facetten die Gerechtigkeitsfrage wälzt, also problematisiert, ob die Lasten der Kriegsvorbereitung auch gerecht im Volk verteilt sind, oder die staatliche Wehrreform es nicht an Generationen- oder Geschlechtergerechtigkeit fehlen lässt, weil wieder nur die Jungs ihren Gesellschaftsdienst leisten müssen,
  • wenn die betroffene Jugend, die bei jeder Gelegenheit vor die Kameras gezerrt und daraufhin befragt wird, ob sie sich denn nun vorstellen kann, beim Bund zu dienen, nur noch beklagt, dass sie beim demokratischen Entscheidungsprozess zur Wehrreform zu wenig gehört wurde, [11]
  • wenn also endgültig niemand mehr die Frage nach den Gründen für den unerbittlichen Kriegswillen der Regierung stellt, weil die Sache bei aller herrschenden Kritik in der Öffentlichkeit längst als das gemeinsame Sorgeobjekt verinnerlicht ist, –

dann haben der demokratische Diskurs und die kritische Meinungsbildung ihre Pflicht erfüllt und die Regierung hat ihr Ziel erreicht: Deutschland ist kriegsbereit.

[1] Angesichts ihres antirussischen Kriegswillens blicken die politischen Macher äußerst kritisch nicht nur auf die Russland-, sondern auch auf die Rüstungspolitik ihrer Vorgänger. Es war der imperialistische Erfolg Deutschlands, dass es sich in wiedervereinigter Größe nach der Selbstaufgabe der Sowjetunion glatt leisten konnte, auf der Basis seiner Teilhabe am überlegenen US-geführten NATO-Gewaltmonopol „umzingelt von Freunden“ seine Armee gemäß ihrer damaligen Aufgabe zu einer Einsatzarmee für den Auslandseinsatz ab- und umzurüsten und in einigen US-Ordnungskriegen weltweit mitzumischen. Im Lichte der heutigen Ansprüche deutscher Politik gilt das als „Fehler der Vergangenheit“, die sich niemals wiederholen dürfen.

[2] „Breuer [Generalinspekteur der Bundeswehr] sprach über den ‚Krieg der Zukunft‘, der nicht nur anders sei als frühere, sondern gleichzeitig in allen Dimensionen. Eindringlich verwies der oberste Soldat der Streitkräfte darauf, dass dieser Krieg bereits jetzt in Teilen geführt werde, ‚wir leben in der dämmrigen Übergangszeit‘. Es gelte, rasch zu handeln. Aus dem Krieg Russlands gegen die Ukraine könne man vieles lernen, aber nicht alles: ‚Dieser Krieg ist unser Lehrmeister, aber nicht Vorbild für unsere Kriegsführung.‘ Man müsse eigene Konzepte finden. Vor allem gelte, so Breuer: ‚Russland darf niemals annehmen, dass es einen Krieg mit der NATO gewinnen kann.‘ Seit Jahren ‚knirscht es im sicherheitspolitischen Gebälk, jetzt ist die Frage, ob die Balken halten‘.“ (faz.net, 7.11.25)

[3] „Der Weltraum ist kein exklusiver Raum friedlicher Forschung mehr. Längst hat sich auch diese Dimension zu einem Austragungsort von Konflikten, strategischem Wettbewerb und globaler Machtprojektion entwickelt.“ Ein einziger Auftrag an die deutsche Führungsmacht also, dort mitzumischen und den anderen Nationen verbindliche Regeln zu setzen: „Kommunikation, Navigation, Erdbeobachtung, Zeitsignale – die wachsende Abhängigkeit der Gesellschaft von weltraumgestützten Diensten macht die Weltraumsicherheit heute zur politischen Kernaufgabe. Deutschland ist bereit, auch in diesem Bereich mehr Verantwortung zu übernehmen und geht mit der ersten Weltraumsicherheitsstrategie (WRSS) der Bundesregierung voran... ‚Wir vertiefen unsere europäischen und internationalen Kooperationen komplementär zum eigenen Fähigkeitsaufbau und steigern unsere gesamtstaatliche Resilienz im Weltraum. Wir werden die Verteidigungsfähigkeit Deutschlands im Weltraum entschlossen und zügig ausbauen. Ebenso fördern wir die Anwendung und Weiterentwicklung des Weltraumrechts‘, heißt es in der WRSS.“ (Bundesministerium der Verteidigung zur „Verantwortung im All“, 19.11.25)

[4] Daran dockt die Gewerkschaft mit ihrem typischen Gerechtigkeitsstandpunkt an und fordert kritisch, dass, wenn der Staat schon soviel Geld in die Aufrüstung steckt, die Rüstungskonzerne umgekehrt mit ihrem Wachstum auch einen Teil des staatlichen Aufwands finanzieren müssten: „Die IG Metall Küste fordert eine Übergewinnsteuer für die Rüstungsindustrie. Hintergrund sind die massiven Gewinnsteigerungen großer Rüstungskonzerne seit Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und der gestiegenen sicherheitspolitischen Spannungen. Während viele Beschäftigte mit Inflation, steigenden Energiepreisen und Unsicherheit als Folge des Kriegs kämpfen, profitieren Unternehmen wie Rheinmetall, Hensoldt, Leonardo und Renk durch rapide steigende Aktienkurse, volle Auftragsbücher und sprudelnde Gewinne – finanziert durch staatliche Aufträge und somit letztlich durch Steuergelder. ‚Rüstungskonzerne machen Rekordgewinne – nicht wegen Innovation oder Risiko, sondern wegen Krieg und staatlicher Aufträge. Das darf keine Lizenz zum Gelddrucken sein‘, betont Daniel Friedrich, Bezirksleiter der IG Metall Küste. ‚Wer an der Aufrüstung verdient, muss einen fairen Beitrag zum Gemeinwohl leisten. Das ist für uns Gerechtigkeit.‘ ... ‚Schon während der Energiekrise vor drei Jahren und im Ersten und Zweiten Weltkrieg wurden Übergewinne besteuert. Warum sollten wir heute weniger Verantwortung zeigen?‘“ (Rekordgewinne von Rheinmetall und Co: Übergewinnsteuer für Rüstungsindustrie, kueste.igmetall.de, 19.9.25)

[5] „Eine zentrale Einflussgröße im OPLAN DEU ist die Bündnisverpflichtung Deutschlands, die sich aus seiner geostrategischen Lage als Drehscheibe der NATO in der Mitte Europas ergibt. Im Ernstfall müssen bis zu 800 000 alliierte Soldatinnen und Soldaten und 200 000 Fahrzeuge innerhalb von sechs Monaten durch Deutschland verlegt und im Host Nation Support versorgt werden. Dies umfasst Unterstützungsleistungen bei Schutz und Sicherung, Verkehrsleitung, Transport und Umschlag auf Straße, Schiene sowie in See- und Flughäfen, Unterbringung und Verpflegung, Betankung und Instandhaltung, medizinischer Versorgung bis hin zur Rechtsberatung. Diese Aufgabe ist – ohne langen Vorlauf und über lange Zeit – nur mit den Leistungen zivil-gewerblicher Partner sicherzustellen. Der Betrieb der Drehscheibe Deutschland ist damit eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die auch Einschränkungen für die Bevölkerung mit sich bringen wird, aber essenziell für die Sicherheit Deutschlands und seiner Partner ist. Denn der Aufmarsch und die Versorgung verbündeter und eigener Streitkräfte schaffen die Voraussetzungen, dass die richtigen Kräfte zur richtigen Zeit voll einsatzbereit am richtigen Ort bereitstehen – für eine glaubhafte Abschreckung und wirksame Verteidigung im Bündnis.“ (bundeswehr.de zum wohl 1000-seitigen Geheimdokument „Operationsplan Deutschland“)

[6] Die für solche Fragen zuständige Wissenschaft nimmt den Anspruch der Regierung an den Zeitgeist wie eine fragwürdige theoretische Auskunft, deren Objektivität sie erst noch per Faktencheck überprüfen muss: „Nach der ‚Zeitenwende‘ müssten diese hedonistisch-pazifistisch-wehruntüchtigen Deutschen nun geistig zur Kriegstüchtigkeit aufgerüstet werden. Nichts daran stimmt. Sagen jedenfalls die von den ‚falschen Narrativen‘ genervten Militärsoziologen, die diese Mischung aus ‚anekdotischer Evidenz‘ und ‚tradierten Glaubenssätzen‘ als ‚Ignoranz und geistige Trägheit‘ tadeln, die man sich jetzt, wo man nicht mehr ‚von Freunden umzingelt‘ sei (noch ein früherer Bundespräsident), sondern dem Imperialismus Russlands eine Grenze setzen müsse, nicht mehr leisten könne. Der schneidige Fahnenappell stammt von dem Potsdamer Militärsoziologen Timo Graf aus dem jüngsten ‚Jahrbuch Innere Führung‘ aus diesem Jahr. Die Deutschen seien mehrheitlich keine Pazifisten, sondern durchaus wehrbereite Realisten, die sich über die Notwendigkeit des Einsatzes militärischer Gewalt als Mittel der Außen- und Sicherheitspolitik keine Illusionen machten, so Graf. Es gebe auch keine ablehnende Haltung gegenüber der Bundeswehr in der deutschen Bevölkerung. Und die Deutschen seien durchaus ‚wehrbereit‘... Graf fordert die Durchbrechung der ‚Schweigespirale‘ über diese empirischen Befunde. Damit die Bundeswehr den Auftrag der Landesverteidigung erfüllen könne, brauche es keinen Mentalitätswandel der Deutschen, die richtige Mentalität zur ‚geistigen Landesverteidigung‘ hätten sie nämlich schon... Die politischen ‚Entscheidungsträger im ganzen Land‘ hätten sich für den Fatalismus entschieden, damit schwäche man den Willen der Deutschen zu kämpfen, stellten die NATO-Politikwissenschaftler Florence Gaub und Roderick Parkes kürzlich im ‚Spiegel‘ fest. Timo Graf nennt es gleichlautend eine ‚Politik der Selbstabschreckung‘, die uns schade und unseren Feinden helfe. Damit ‚falle man der Truppe letztlich in den Rücken‘, warnt Graf und greift damit zu den Sprachelementen der Dolchstoßlegende.“ (FAZ, 15.10.25) Im Ergebnis muss die Wissenschaft den öffentlich gepflegten Vorwurf spiegelbildlich an die Regierung zurückreichen und ihr eine einzige Miesmacherei der empirisch gemessenen Mentalität nachsagen. So – mit der Ehrenrettung der längst kriegstüchtigen Deutschen vor dem Defätismus ihrer eigenen Regierung – leistet die Wissenschaft ihren Beitrag zur Beglaubigung des einzig entscheidenden Zeitenwende-Narrativs, dass nämlich an Kriegsbereitschaft kein Weg vorbeiführt.

[7] Weswegen sich Kritik an der Aufrüstung und die Forderung nach Diplomatie von selbst verbietet: Die einhellige Antwort auf das „Manifest für den Frieden“ aus den Reihen der SPD oder ähnliche, vereinzelte Aufrufe, die in der Militarisierung der Republik eine „gefährliche Spirale der Gewalt“ entdecken, lautet schlicht: „Realitätsverweigerung“. Die Abweichler werden einfach als ewiggestrige Idealisten mit „unerschütterlichem Glauben an die Diplomatie“ – von der heutzutage jeder weiß, dass sie nur soweit reicht, wie ein machtvoller Gewaltapparat sie trägt – ins Abseits gestellt oder in der Steigerung gleich als „fünfte Kolonne Moskaus“ und Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt denunziert.

[8] Die geforderte Haltung demonstrieren mustergültig „unsere tapferen Ukrainer“, von denen wir den gesunden patriotischen Zeitgeist lernen können, den es für die richtige Einstellung für einen Sieg über Putins Russland braucht. Das staatlich kommandierte Massensterben muss man dazu nur in einen selbstbestimmten Freiheitsakt des ukrainischen Volkes umlügen: „Sie sind Realisten, die sich keine Illusionen leisten können. Weil sie nicht Opfer sein wollen, wehren sie sich. Sie sind auf alles gefasst. Sie kämpfen für ihre Kinder, für ihre Familien, für ihren Staat, sie sind bereit, für ihr Land sogar zu sterben. Was anderwärts nur Fernsehbilder sind, ist für sie unmittelbare Erfahrung. Die Verteidigung an der Front wäre nichts ohne das Heer von Freiwilligen, das hinter ihr steht. Sie haben den Winter überstanden und haben Wochen, ja Monate lang dem allnächtlichen Terror der Drohnen und Raketen getrotzt. Gestern waren sie vielleicht IT-Experten, heute steuern sie Drohnen. Das festliche Kleid, das Frauen beim Theater- oder Konzertbesuch anlegen, demonstriert Haltung, die man sich auch in der Situation des Ausnahmezustandes nicht nehmen lässt, und der Klub ist der Ort, an dem junge Leute Kraft schöpfen für die Fortsetzung des Widerstands. Sie sind in einer postheroisch gewordenen Welt Helden, ohne davon Aufhebens zu machen. Sie halten das Verkehrswesen in Gang und so ihr Land zusammen. Das Heulen der Sirenen ist Hintergrundgeräusch in ihrem Alltag, nicht bloß Probealarm. Sie haben gelernt, worin sich die Einschläge von Drohnen unterscheiden von den Einschlägen ballistischer Raketen. Sie helfen uns, sich auf die Zeit nach der Zeitenwende einzustellen. Sie bringen uns bei, dass Landesverteidigung nichts mit Militarismus zu tun hat. Soldaten, und erst recht Soldatinnen werden geachtet, weil alle wissen, dass sie ihre Pflicht tun und wozu sie bereit sind... Uns Europäern bleibt, so unwahrscheinlich es klingen mag: Von der Ukraine lernen, heißt furchtlos und tapfer sein, vielleicht auch siegen lernen.“ (Rede des Historikers Karl Schlögel, Friedenspreis des deutschen Buchhandels, 19.10.25)

[9] Die Vermittlung des richtigen Geistes der besonnenen Wehrhaftigkeit ohne falschen Alarmismus soll zukünftig auch Bestandteil der Lehrpläne werden, damit die lieben Kleinen darin geschult werden, künftig als Multiplikatoren staatlicher Kriegspropaganda zu wirken: „Innenminister Dobrindt plant, Schülerinnen und Schüler in Deutschland gezielt auf Krisenfälle und einen möglichen Kriegsfall vorzubereiten. Wie der CSU-Politiker dem ‚Handelsblatt‘ sagte, wolle er bei der bevorstehenden Innenministerkonferenz im November anregen, das Thema in den Schulalltag einzubinden. ‚Kinder sind wichtige Wissensträger in die Familien hinein‘, betonte Dobrindt. Gleichzeitig erklärte er, dass Notvorräte, Taschenlampen oder Kurbelradios keine Panik schürten, sondern der Vorbereitung dienten.“ (mdr aktuell, 28.10.25)

[10] Die Debatte selbst ist genau die Falle, die u.a. auch dem linken Autor und Podcaster Ole Nymoen aufgestellt wird, der mit seinen kritischen Publikationen einen Konter gegen die herrschende Kriegspropaganda setzen will. Er behandelt die vereinnahmende Gewissensfrage „Würde ich für mein Land kämpfen?“ ausdrücklich entgegen ihrem ganzen Sinn und Zweck wie eine im Ausgang offene Aufforderung zur Überprüfung des Landes statt des ich. Es hilft bloß nichts, er wird mit seiner fundamentalen Kritik am deutschen Staat und dessen Kriegsvorbereitungen von der bürgerlichen Öffentlichkeit einfach als kontroverser Beitrag der kritischen Jugend in die Debatte um die private Kriegsbereitschaft eingemeindet und für ein paar Wochen durch die Talkshows der Republik gereicht: Interessant, diese Variante subjektiver Betroffenheit! Dort bekommt er dann ebenso junge und nachdenkliche Deutsche gegenübergesetzt, die dagegen, unter Abstraktion von allem, worum es in diesem geplanten Krieg geht, lauter gute Gründe für sich gefunden haben, warum – bei allem Respekt vor persönlichen Meinungen und Gewissensentscheidungen gerade in einer so hochmoralischen Frage wie dem Töten und Sterben – es sich sehr wohl lohnt, für das Gute gegen das Böse, für die eigene Sicherheit, also die Deutschlands zu kämpfen.

[11] Einer ihrer Sprecher führt mit seiner rein methodischen Kritik exemplarisch das Idealbild von verwirklichter Haltung vor: „Wer fragt die, die dienen müssen? ... In Simon M. Hoffmanns (Künstler, Jugendvertreter, Aktivist) Augen entscheiden gerade wenige ältere Menschen über die Zukunft der jungen Generation... ‚Das macht mich traurig und wütend, weil ich das Gefühl habe, hier wird einfach über eine Jugend verfügt, die an der Demokratie nicht anders beteiligt wird als Wehrdienst zu leisten, also wieder eine Form von Verfügungsmasse... Ihr könnt nicht die Perspektive einer ganzen Generation verbauen, indem ihr fordert, sie soll alle Konflikte dieser älteren Generation lösen... Die Jugend ist nicht kampfbereit für eine Demokratie, die überhaupt nicht ihre Interessen vertritt... Da braucht es neue Wege; da wünsche ich mir, dass Demokratie es schafft, die Jugend zu beteiligen; und wenn eine Wehrpflicht kommt, dann muss zumindest die Jugend gefragt werden, ob sie das möchte oder nicht!‘“ (DLF, 27.10.25) Nichts einfacher als einen Jugendsprecher einzuladen, ihn auf sein Verantwortungsbewusstsein für wahre Demokratie hin zu befragen und ihm dann bei seiner pflichtbewusst-konstruktiven Antwort zuzuhören: Schon sind aus der bloßen Verfügungsmasse deutscher Aufrüstung stolze demokratische Teilhaber an ihr geworden.