Das Kind im Haushaltsstreit

Deutschland rettet seine Zukunft

„Kinder sind unsere Zukunft.“ Diesem Motto der derzeit so kontroversen Familienministerin Lisa Paus widerspricht kein Politiker von ganz links bis ganz rechts. Warum auch? Politiker sind darin geübt, sich per 1. Person Plural innigst mit den Bürgern zusammenzuschließen, über die sie regieren. Gerade an den Kindern wird das nationale Wir beschworen – als quasi-familiäre Verantwortungsgemeinschaft, die sich über alle sonstigen Trennungen hinweg um ihren kollektiven Fortbestand als Volk kümmert, so als wären dessen Mitglieder miteinander wirklich über so etwas wie Blutsbande verbunden.

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Das Kind im Haushaltsstreit
Deutschland rettet seine Zukunft

„Kinder sind unsere Zukunft.“ Diesem Motto der derzeit so kontroversen Familienministerin Lisa Paus widerspricht kein Politiker von ganz links bis ganz rechts.

Warum auch? Politiker sind darin geübt, sich per 1. Person Plural innigst mit den Bürgern zusammenzuschließen, über die sie regieren. Sie finden nichts dabei, sich auch über die größten ökonomischen und politischen Gegensätze unter ihren Bürgern hinwegzusetzen und sie alle als das große Wir-Volk rhetorisch zu vereinnahmen, als das sie sie praktisch beanspruchen. Warum sollten sie also vor unmündigen Kindern Halt machen? Vor denen, die sie gerne als die kleinen Träger des großen Potenzials „unseres“ großartigen Kollektivs veranschlagen? Gerade an den Kindern wird das nationale Wir beschworen – als quasi-familiäre Verantwortungsgemeinschaft, die sich über alle sonstigen Trennungen hinweg um ihren kollektiven Fortbestand als Volk kümmert, so als wären dessen Mitglieder miteinander wirklich über so etwas wie Blutsbande verbunden.

Was gibt’s also bei der Einigkeit zu streiten – sogar unter Regierungspartnern?

1. Unsere Zukunft vor der Armut der Eltern schützen – durch mehr Geld für mehr Teilhabe

Am Anfang steht der Umstand, dass die Zukunft sehr vieler Kinder sehr schlecht aussieht, weil sie durch die gegenwärtige Armut ihrer Eltern schon weitgehend feststeht:

„Wir haben seit Jahren eine strukturell verfestigte Kinderarmut in Deutschland. Dahinter stehen Millionen von Kindern und Jugendlichen, deren Alltag es ist, nicht mitmachen und nicht dabei sein zu können. Das ist nicht nur ungerecht, sondern hat auch gravierende Folgen: auf den Bildungserfolg, auf die Gesundheit, auf die gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb müssen wir mehr tun für die Bekämpfung von Kinderarmut.“ (Paus, bmfsfj.de)

„Nicht mitmachen und nicht dabei sein können“ – das ist vielleicht höflich. Die Familienministerin weiß doch genauso gut wie ihr marktwirtschaftlich erfahrenes Publikum, was den Alltag armer Kinder wie Erwachsener ausmacht: Das ist zunächst schlicht der Geldmangel. Von wegen also, die armen Kinder wären nicht alltäglich „dabei“. Sie machen doch hautnah Bekanntschaft mit dem Kernprinzip marktwirtschaftlichen Reichtums: Wem das Geld fehlt, der wird von dem ausgeschlossen, was er braucht und will; er wird auch dort – Stichwort: Bildung – faktisch benachteiligt, wo Geld von Staats wegen ausnahmsweise keine Rolle spielen soll. Mit „struktureller“ Regelmäßigkeit kommt das bekannte Ergebnis heraus, das niemanden wirklich überrascht und zugleich jeden Anhänger der Chancengleichheit – also jeden – bekümmert. Was offensichtlich zur Realität der Marktwirtschaft gehört, gehört sich nach ihrem Selbstbild eben nicht: Kinder erben von ihren Eltern nicht nur manche natürliche Eigenschaft, sondern auch deren sozialen Status. Deren armutsbedingten Ausschluss vom gesellschaftlichen Reichtum müssen die Kinder täglich „mitmachen“; das macht ihre Armut überhaupt aus.

Erst recht bei den Eltern kann von mangelnder Teilhabe keine Rede sein:

„Im Bürgergeld sind aktuell weniger als 2 Millionen Kinder. Es sind jedoch nicht nur Kinder im Bürgergeld von Armut bedroht. Fast 4 Millionen Kinder leben in Familien, in denen die Eltern zwar hart arbeiten und weitgehend aus eigener Kraft für ihre Kinder aufkommen können, aber trotzdem staatliche Unterstützung brauchen, um ihren Kindern gute Chancen bieten zu können.“ (Interview mit Paus in der FAZ, 17.8.23)

An ihrer Arbeit nimmt das deutsche Unternehmertum also millionenfach teil – auf eine Weise, die ihren Ausschluss und den ihrer Kinder zuverlässig produziert und reproduziert. Hinter dem Geldmangel steht also offenbar eine untaugliche, „strukturell verfestigte“ Geldquelle. Oder etwas deutlicher: Dahinter steht eine Einkommensart, die gar nicht erst daran Maß nimmt, ob sie Zugang zu dem gewährt, was den Kindern aus der verfremdenden Sicht besorgter Minister fehlt. Ihr Maß hat sie allein darin, den Zugriff eines kapitalistischen Arbeitgebers auf rentable Arbeit zu gewähren; das tut sie in dem Maße, wie sie wenig Geld für den Arbeiter abwirft und viel Leistung für seinen Anwender bringt. Bei den Lohnarbeitern hat das fürs Kinderkriegen und -erziehen dieselbe bekannte Wirkung wie für alle anderen Lebensentscheidungen dieser Klasse: Viel ist da nicht drin, für viele nicht einmal ein Existenzminimum.

Damit wäre man bei der Armut, die Ministerin Paus bekämpfen will:

„Deshalb müssen wir mehr tun für die Bekämpfung von Kinderarmut. Die Kindergrundsicherung wird kommen! Sie ist für mich eine der wichtigsten Zukunftsinvestitionen.“ (bmfsfj.de) „Wir sagen ja immer: Unsere Kinder sind unsere Zukunft. Aber was ist das für eine Gesellschaft, die ein Fünftel der jetzt schon geborenen Kinder im sozialen Abseits stehen lässt?“ (Paus in der FAZ)

Verstanden. Die ganze Welt der Arbeit, aus der die Armut stammt, geht die Familienministerin nichts an; die gehört nicht zu ihrem Kompetenzbereich. Ihre Kompetenz besteht stattdessen darin, die schlechten Konsequenzen der Arbeitswelt als ein furchtbares Problem zu definieren, das staatliche Kompensation erfordert, ohne den Gründen des Problems irgendwie nahezutreten. „Strukturell verfestigt“: der Soziologismus steht bloß dafür, wie fest die Ministerin mit der Armut der Eltern rechnet, die sich – irgendwie – hartnäckig eingestellt hat. An die Stelle von ökonomischen Gründen für die Armut der Kinder setzt sie die denkbar allgemeinste moralische Schuldzuweisung, die jeden Unterschied und jede Klarheit in der Frage des Grunds zum Verschwinden bringt – jedenfalls bringen würde, wenn das überhaupt die Frage wäre. Sie kündigt eine „Bekämpfung“ von Kinderarmut an, die keinen ökonomischen Gegner, nur eine moralische Bewährungsprobe kennt – gewissermaßen einen Auftrag der Gesellschaft gegen ihre eigene Gleichgültigkeit. So geht Armutsbekämpfung, wenn sie von Politikern betrieben wird, die die Armen wie alle anderen regieren, also selbst definieren, welches „Problem“ die Armut ist und für wen: In diesem Fall ist sie ein Problem für die Leistung, die die Eltern von Staats wegen für ihre Kinder zu erbringen haben, dies aber aus eigener Kraft nicht können. Dass sie das nicht können, definiert Paus als ein „Versagen des Staates“. Damit sie das nun besser können, verlegt sie sich auf ein funktionales Äquivalent für die Bekämpfung ihrer Armut: Als private „Funktionäre“ des staatlichen Interesses an ihren Kindern sollen Eltern mehr Geld bekommen. Dann, so wiederum das Anrecht und der Auftrag der Eltern, können ihre Kinder in den Genuss von mehr „Teilhabe“ kommen.

Woran eigentlich? Die Ministerin redet von „Bildung“, „Gesundheit“ und schon wieder von „Teilhabe“ – so, als wären die selbst schon der Wohlstand, auf den es für die Leute ankommt, und nicht bloß die Bedingungen, um ihn überhaupt anzustreben. Genau darum geht es aber: um die Befähigung von Kindern, Konkurrenzsubjekte auf dem Arbeitsmarkt zu werden, damit über deren Abschneiden dort nicht schon vor ihrem Eintritt ins Arbeitsleben entschieden wird. Es geht also um Teilhabe an derselben Veranstaltung, an der auch ihre armen Eltern voll und ganz teilhaben. Natürlich sind die Eltern auch dann auf dem Arbeitsmarkt dabei, wenn kein Unternehmen sie gebrauchen will, und sie sind es erst recht, wenn ihre Arbeit – nach Auskunft der Ministerin: millionenfach – so nachgefragt und benutzt wird, dass das Ergebnis die Reproduktion des armseligen Ausgangspunkts ist. Wird nun der Arbeitsmarkt für die Kinder darüber tauglicher, dass sie in ihn leichter hineinkommen? Solche Fragen würden die Familienministerin bloß wieder aus ihrem Kompetenzbereich herauskatapultieren: Es geht ja – wie gesagt – nicht darum, die Armut von Lohnarbeitern zu bekämpfen, wie es sie in der BRD gibt, sondern darum, Deutschlands Kinder besser vor der lohnarbeitsbedingten Armut ihrer Eltern zu schützen, bis sie selbst am Arbeitsmarkt teilhaben können. Und zwar – genau wie bei ihren Eltern – zu den Bedingungen, zu denen „die Wirtschaft“ sie an ihrer Bereicherung „teilhaben“, d.h. dafür arbeiten lässt:

„Die Kindergrundsicherung ist künftig die zentrale Leistung für alle Kinder. Sie vereinfacht das System der Familienförderung... Die Kindergrundsicherung soll aus einem für alle Kinder gleich hohen Garantiebetrag bestehen, der das heutige Kindergeld ablöst... Hinzu kommt ein einkommensabhängiger Zusatzbetrag. Zusammen decken Kindergarantiebetrag und Kinderzusatzbetrag das soziokulturelle Existenzminimum für Kinder ab. Mit dem Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung werden Familien mit weniger Einkommen stärker unterstützt. Denn es geht darum, Armutsrisiken zu verringern und allen Kindern die gleichen Start- und Entwicklungschancen zu eröffnen.“ (bmfsfj.de)

Ein Ziel, dem kein Politiker, weder aus der Regierung noch aus der Opposition, widersprechen mag.

2. Unsere Zukunft lebt allein vom Wachstum ‚unserer Wirtschaft‘, bei der das Geld besser aufgehoben ist

Aber was heißt das schon? Welches Ministerium hat denn nicht unwidersprechliche Ziele für „unseren Wohlstand“, für die hoheitliche Geldmittel ebenso nötig sind? Zielkonflikte sind bekanntlich unvermeidlich, wenn ein finanziell seriöser Staatshaushalt daraus werden soll; bei aller Notwendigkeit der Aufgaben gilt es also, Ausgabendisziplin zu bewahren, was in aller Regel heißt: Abstriche machen. Darunter leidet das Notwendige, bisweilen entfällt es ganz; Unsachlichkeit im Wortsinne gehört eben zur haushälterischen Vernunft im Kapitalismus.

Deren Durchsetzung gehört in erster Linie zum Kompetenzbereich des Finanzministers. Und der aktuell regierende hat seiner Koalitionskollegin schon vor einigen Monaten mitgeteilt, ihr Projekt sei zwar „wünschenswert, aber nicht realisierbar“ (Christian Lindner im Bild-Interview, 2.4.23). Einige Monate später kündigt er an, nur zwei statt der geforderten zwölf Milliarden zu gewähren – „als Platzhalter“ (tagesschau.de, 23.8.23). Und so, wie er für diese Zurückweisung argumentiert, wird deutlich: Die erste und entscheidende Aufgabe eines bundesdeutschen Finanzministers besteht darin, mit spitzem Stift dicke Lügen zu erzählen. Er findet nichts dabei, Schulden in einem Ausmaß zu tragen und Jahr für Jahr neu zu beschließen, das kein Privathaushalt je hinkriegen könnte, und trotzdem so zu reden, als ob der Kredit noch nicht erfunden worden wäre:

„Es kann nur das an Staatsgeld verteilt werden, was Menschen und Betriebe zuvor erarbeitet haben. Die logische Voraussetzung einer neuen Leistung wie etwa der Kindergrundsicherung ist, dass wir überhaupt eine prosperierende Wirtschaft haben.“ (Lindner in der FAZ, 17.8.23)

Zur einen – traditionsreichen – Lüge gesellt sich also gleich die zweite. Als ob der Mann anlässlich des Sondervermögens Bundeswehr nicht mit der Finanzkraft angeben würde, die Deutschland seiner „prosperierenden“ kapitalistischen Akkumulationsmaschinerie verdankt. Die finanzpolitische Propaganda hat dennoch ihren guten Sinn; sie ist in gewisser Weise sogar aufklärerisch: So unbedingt, wie Lindner darauf herumreitet, dass ein erfolgreiches nationales Wachstum und ein solides nationales Geld die absolut unerlässliche Bedingung für alles sind, was der Staat sonst noch für seine Bürger tut, wird klar, was der eigentliche Zweck aller staatlichen Auf- und Ausgaben ist. Es geht überhaupt um das Wachstum der Wirtschaft, um Geldvermehrung dort und um den schönen Effekt, den das auf das nationale Geld hat. An dem Kriterium hat sich die Kinderförderung wie alle anderen Aufgaben zu messen; und das sortiert diese Aufgaben wiederum sehr gründlich: Es scheidet Geld, das der Staat bloß ausgibt, also angeblich erst verdienen muss, von dem Geld, mit dem der Staat „Impulse“ setzt, Wachstum ankurbelt, das also nicht erst verdient werden muss, weil es sich als „investive Staatsausgabe“ in der Zukunft selbst verdient.

„Es ist offensichtlich, dass wir Impulse für mehr Wachstum brauchen. Ein wichtiger Baustein dafür ist das geplante Wachstumschancengesetz. Es sieht neue Investitionsprämien, Steuervereinfachungen, bessere Abschreibungsmöglichkeiten und mehr Forschungsförderung vor.“ (Ebd.)

An der Stelle versucht es die Familienministerin mit einer sicher gut gemeinten Retourkutsche, mit der sie die von ihr geplanten, bloß „konsumptiven Ausgaben“ mit dem Ehrentitel „Investition“ schönreden will:

„Abgesehen davon ist es auch ökonomisch unvernünftig, diese Kinder, die einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand leisten können, nicht zu unterstützen.“ „Investitionen in unsere Kinder sind Investitionen in die Zukunft Deutschlands. Wir haben eine der ältesten Bevölkerungen der Welt – da wäre es kurzsichtig, das nicht zu beherzigen. Und ganz grundsätzlich gesagt: Immer wieder heißt es, wir müssten erst mal erwirtschaften, was wir verteilen können. Dabei ist es doch umgekehrt: Wir brauchen gute Rahmenbedingungen für Familien, auch, damit Eltern überhaupt erwerbstätig sein können.“ (Paus in der FAZ)

Es hilft zwar nichts gegen die Objektivität, die Lindner bei all seinen propagierten Unwahrheiten trotzdem auf seiner Seite hat: Geld für Soziales ist und bleibt ein zwar notwendiger, aber eben Abzug von dem Reichtum, auf den es in der Nation ankommt. Doch die Perspektive auf die Kinderförderung, die Paus mit ihrem Konter einnimmt, ist ganz im Sinne des Finanzministers: Wenn es schon um die Förderung der Zukunft Deutschlands geht, und wenn der Maßstab dafür die Förderung der Beiträge ist, die Kinder und Eltern auf dem Arbeitsmarkt erbringen, dann sieht sich Lindner herzlich dazu eingeladen, über seine haushälterischen Belehrungen hinauszugehen und zu zeigen, dass er auch Familienpolitik kann – erst recht, wenn man ihn mit dem Vorwurf provoziert, ihm wären die armen Kinder offenbar egal:

„Mir geht es auch darum, dass Kinder und Jugendliche gute Perspektiven haben. Nicht die Herkunft soll über den Lebensweg entscheiden.“ (Lindner in der FAZ) „‚Hilft da wirklich mehr Geld auf das Konto der Eltern oder sollten wir mehr tun für Sprachförderung und Arbeitsmarktzugang der Erwachsenen und für die Schulen der Kinder? Der finanzielle Anreiz zur Arbeitsaufnahme darf auch nicht verloren gehen‘, mahnte Lindner. Er betonte: ‚Bevor wir ein Preisschild an die Kindergrundsicherung machen, sollten wir fragen, was wir eigentlich brauchen, um die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern.‘“ (Die Welt, 21.7.23) „Wenn wir über Kinderarmut reden, dann müssen wir noch einen anderen wichtigen Punkt beachten: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut. Sprachkenntnisse und Bildung, insgesamt die Arbeitsmarktintegration der Eltern, sind mitentscheidend für die Situation von Kindern. Unser Ziel muss es sein, dass Eltern ihr eigenes Einkommen erzielen. Ihnen einfach nur mehr Sozialtransfers zu überweisen, verbessert nicht zwingend die Lebenschancen der Kinder.“ (Lindner in der FAZ)

Lindner beharrt also auf einer besonders konsequenten Fassung des Standpunkts, die Armut der Kinder bestünde und begründete sich in mangelnder „Teilhabe“, und die Funktion der Eltern bestünde darin, statt ihrer Armut ihre Integration in „die Gesellschaft“ und deren Arbeitsmarkt weiterzugeben. Es ist zwar eine zynische – und gewollt durchsichtige – Verharmlosung, wenn Lindner dabei den Zwang zum Arbeiten, den er an die Stelle von Geldtransfers an die Eltern setzt, einen „finanziellen Anreiz“ nennt. Aber in der Hauptsache hat er sogar recht: Dieser Zwang ist tatsächlich das politische Fundament der ganzen Veranstaltung, an der laut beiden Seiten des Koalitionsstreits Kinder und Eltern zu wenig teilhaben – oder wie kämen die von Paus angeführten Eltern millionenfach auf die Idee, „hart zu arbeiten“ und dennoch generationenübergreifend arm zu bleiben, wenn nicht der Zwang der Alternativlosigkeit dahinterstünde? Lindners wahrer Zynismus liegt also nicht etwa in übler Nachrede gegenüber den armen, hauptsächlich mit Migrationshintergrund versehenen Eltern, wie sie ihm nach seinem soeben zitierten FAZ-Interview von vielen Seiten angekreidet wird. Er liegt dort, wo ihn keine Seite im Streit entdecken will: in seinem mit aller Selbstverständlichkeit vorgetragenen, absolut affirmativen Verhältnis zur Zwangsveranstaltung namens freie Lohnarbeit. Auf der bestehen alle am Streit Beteiligten – nicht als die Quelle der Armut, die sich millionenfach so störend auch in der Lage der Kinder niederschlägt, sondern als Quelle des Wohlstands, der den Kindern fehlt. Insofern erweist sich Lindner als liberaler Fundamentalist der marktwirtschaftlichen Konkurrenz, auf die keine Partei etwas kommen lassen will.

3. Unserer Zukunft dient eine Familienpolitik, die vor allem den Erfolg unterstützt, also die Erfolgreichen

Im Sinne der Solidität deutscher Haushaltsrechnungen fordert Finanzminister Lindner von der Kollegin im Familienministerium die Einsparung von 500 Millionen aus ihrem Etat. Paus entscheidet sich „von den schlechten Varianten für die am wenigsten schlechte“ (Interview in Der Spiegel, 10.7.23) und beschränkt den Kreis der Zugangsberechtigten für das Elterngeld von derzeit 300 000 Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen auf künftig 150 000 Euro. Sie begründet das damit, dass sie „auf keinen Fall die Höhe des Elterngeldes kürzen wollte, um sozialpolitischen Schaden zu vermeiden“, und verweist darauf, dass Paare mit 150 000 Euro Einkommen „selbstverständlich wohlhabend“ (Zeit Online, 7.7.23) sind und nur ungefähr 5 % der Bezieher von Elterngeld ausmachen, sodass die Kürzung der Mittel den sozialen Zweck des Elterngeldes nicht konterkariert.

Das ist aber schon wieder nicht recht. Kaum verkündet, schallt ihr vom liberalen Koalitionspartner wie von der christlichen Opposition empörte Kritik entgegen. Die richtet sich genau gegen die soziale Stoßrichtung ihres Kürzungsvorschlags und liefert eine Klarstellung zur Aufgabe ihres Ministeriums:

„‚Lisa Paus ist nicht Sozialministerin, sondern Familienministerin‘, schimpft der FDP-Politiker im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF. Und schließlich gehe es hier um Gleichstellung und ein familienpolitisches Ziel – nämlich, dass ‚junge Paare aus der Mitte der Gesellschaft es sich leisten können, Kinder zu bekommen.‘ ‚Elterngeld ist keine Sozialleistung, sondern bewusst eine Lohnersatzleistung, die zwar nicht für alle – es gibt ja eine Einkommensgrenze –, aber auch für die Mitte der Gesellschaft da ist – z.B. die Ingenieurin und den Lehrer.‘“ (tagesschau.de, 5.7.23) „Warum wollen Sie besonders die Leistungsträger abstrafen?“ (CSU-Abgeordnete Bär im Bundestag, 5.7.23)

Die Kürzung mag keinen sozialen Schaden anrichten, wohl aber einen am Volkskörper – und um den geht es überhaupt in der Familienpolitik. Dem tut es nicht gut, wenn ausgerechnet diejenigen, die am Arbeitsmarkt so erfolgreich funktionieren, also auf höherem Niveau arbeiten und verdienen, nicht extra gefördert werden. Deren Kinder tun „unserer Zukunft“ besonders gut; die zeichnen sich als förderungswürdige Volksmitglieder gerade dadurch aus, dass sie keine Hilfen zur „Teilhabe“ brauchen. Diese Eltern brauchen wirklich nur Geld, um genauso erfolgreich wie in der Berufshierarchie als Produzenten von Kindern zu funktionieren, die so wenig Extra-Hilfen brauchen, weil sie schon in die „Mitte der Gesellschaft“ hineingeboren werden, man sie also nicht erst mühsam mit – natürlich gut gemeintem, „anreizendem“ – Zwang dort hinbringen muss. Für die Kinder der Erfolgreichen Geld auszugeben, heißt also wirklich einmal Geld zu investieren, wo es sich für den Volkskörper lohnt – gerade diesen erfolgstüchtigen Menschenschlag darf man nicht mit Kürzungsvorschlägen von seinen erwünschten Reproduktionsabsichten abschrecken. Die Prämie namens Elterngeld muss umso höher ausfallen, je weniger es um die Behebung wirklichen Geldmangels und je mehr es um die Einflussnahme auf die freie Lebensplanung von Besserverdienenden geht. 65 % des letzten Nettogehalts, maximal 1 800 Euro, sowie die Verpflichtung der Arbeitgeber auf ein Rückkehrrecht zu den vorherigen Bedingungen müssen schon drin sein.

4. Unsere Zukunft braucht ganz moderne Eltern, die möglichst beide den Machern unseres Wachstums zur Verfügung stehen

Auch und gerade für die SPD ist die Integration in den Arbeitsmarkt das höchste Gut, die wichtigste Sozialleistung. Auch ihr fällt an der Stelle ein Versagen des Staates ein, in dem Fall ein steuerpolitisches. Der SPD-Chef Klingbeil knüpft an die Kritik seines Kollegen aus der FDP mit einer Belehrung der Familienministerin in Sachen politischer Regelkunde an, um auf sein familienpolitisches Vorhaben zu kommen:

„SPD-Chef Lars Klingbeil hat vorgeschlagen, das Ehegattensplitting zu streichen statt das Elterngeld zu kappen. ‚Verteilungsfragen klärt man über die Steuerpolitik, nicht über das Elterngeld... Wir haben im Koalitionsvertrag schon festgelegt, dass wir Steuern gerechter verteilen wollen‘, sagt Klingbeil. Das jetzige Steuerrecht führe dazu, dass vor allem Frauen eher zu Hause blieben anstatt zu arbeiten, weil Frauen im Vergleich zu ihrem Partner häufiger weniger verdienen. Die SPD wolle das ‚antiquierte System‘ für Ehen, die in Zukunft geschlossen werden, abschaffen. Auch, um Frauen stärkere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen... ‚Das Elterngeld ist keine Sozialleistung‘, stellt Klingbeil fest. Es sei aus Aspekten der Gleichstellung eingeführt worden. Um Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern und dass Frauen stärker dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Wenn man das Elterngeld nun kappe, egal an welcher Grenze, führe das am Ende dazu, ‚dass mehr Frauen zu Hause bleiben, dass weniger Frauen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Und einen solchen Weg finde ich nicht richtig.‘“ (ZDF-Interview, 10.7.23) „Und der Staat würde Geld sparen.“ (Spiegel Online, 10.7.23) „Den Staat kostet die Einsparung für Verheiratete etwa 20 Milliarden Euro jährlich.“ (sueddeutsche.de, 10.7.23)

Es fügt sich alles so schön zusammen: Frauen bekommen mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wenn man den gerechten Zwang – Lindner würde sagen: „finanziellen Anreiz“ – stiftet, der Doppelbelastung von Familie und Beruf eine Chance zu geben. Das ist auch und gerade deswegen so schön, weil die Frauen dann – weniger „dem Arbeitsmarkt“ als vielmehr – den Unternehmen zur Verfügung stehen, also deren Freiheit vergrößert wird, Arbeitskräfte zu finden, die zu ihren Gewinnrechnungen passen. Das alles dient der Gleichstellung und würde dem Finanzminister noch dazu bei seinen Drangsalen helfen. Der Streit geht damit um eine Facette reicher in die parlamentarische Sommerpause.

5. Unsere Zukunft braucht vor allem einen kollektiven starken Mann an der Staatsspitze

Dass er sie überdauert, ist offenbar der größte Schaden am Volkskörper. Das ist jedenfalls für verärgerte Mahnungen von allen drei Koalitionspartnern und erst recht von einer aufgebrachten Öffentlichkeit gut: Bloß nicht schon wieder und immer weiter vor den Kindern streiten! Das ist schon wieder aufklärerisch: In der Demokratie besteht das erste Recht aller Bürger, alt und jung, in einer handelseinigen Regierung, die weiß, was sie will, und sich bei dessen Durchsetzung nicht selbst im Wege steht.

Zumindest das ist der Koalition – zwar für den Geschmack der Öffentlichkeit zu spät und zu unglaubwürdig, aber – dann doch „vor Meseberg“ gelungen.