Katar 2022: Die (un-)beliebteste WM aller Zeiten
Angeberei eines arabischen Aufsteigers, ein Kapitel wertegeleiteter Außenpolitik der BRD und deren kritische Begutachtung durch die deutsche Öffentlichkeit
Die Vergabe der Fußball-WM 2022 an den arabischen Golfstaat Katar war von Beginn an, wie es so schön heißt, „umstritten“. Die Gesichtspunkte, die in diesem Zusammenhang von den „Kritikern der FIFA-Entscheidung“ geltend gemacht wurden, waren von vielfältiger, um nicht zu sagen befremdlich disparater Art: Ökonomisches Elend, rechtliche Ungleichbehandlung und rassistische Verachtung, die ausländische Lohnsklaven in Katar erfahren, rangierten auf moralisch gleicher Höhe neben geldschweren „Unregelmäßigkeiten“ bei der Vergabe des luxuriösen Happenings; der Umstand, dass es Pressefreiheit in Katar nur für Kritik am dort als missliebig angesehenen Ausland gibt, wog ungefähr so schwer wie die Entdeckung, dass das Land „keine Fußballtradition“ hat.
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Katar 2022 Die (un-)beliebteste WM aller Zeiten
Angeberei eines arabischen Aufsteigers, ein Kapitel wertegeleiteter Außenpolitik der BRD und deren kritische Begutachtung durch die deutsche Öffentlichkeit
Die Vergabe der Fußball-WM 2022 an den arabischen Golfstaat Katar war von Beginn an, wie es so schön heißt, „umstritten“. Die Gesichtspunkte, die in diesem Zusammenhang von den „Kritikern der FIFA-Entscheidung“ geltend gemacht wurden, waren von vielfältiger, um nicht zu sagen befremdlich disparater Art: Ökonomisches Elend, rechtliche Ungleichbehandlung und rassistische Verachtung, die ausländische Lohnsklaven in Katar erfahren, rangierten auf moralisch gleicher Höhe neben geldschweren „Unregelmäßigkeiten“ bei der Vergabe des luxuriösen Happenings; der Umstand, dass es Pressefreiheit in Katar nur für Kritik am dort als missliebig angesehenen Ausland gibt, wog ungefähr so schwer wie die Entdeckung, dass das Land „keine Fußballtradition“ hat; und der Verweis auf die moralische und rechtliche Ächtung gewisser die Geschlechterfrage betreffender Freiheiten war als Einwand gegen die Austragung des Ballsportereignisses gerade so tauglich wie der Hinweis auf die Unterstützung des Emirats für islamistische Missetäter vom Mittleren Osten bis Nordafrika – als ob alles einfach dasselbe wäre. Verhindert haben diese und andere Bedenken die Veranstaltung bekanntlich nicht – die Entschiedenheit der FIFA und vor allem der katarischen Führung war groß genug, um alle namhaft gemachten Einwände auszusitzen. Herausgekommen ist ein Event, das in Vorbereitung und Durchführung erstens davon gezeugt hat, worin der spezielle Ehrgeiz des Golfstaates zur erfolgreichen Ausrichtung des Spektakels eigentlich bestanden hat, und zweitens von der überaus hohen Warte und zugleich selbstbezüglichen Logik, welche den westlichen und speziell deutschen Blick auf diesen nationalen Ehrgeiz Katars und auf das Land insgesamt bestimmt.
I. Katar gibt sich die Ehre: „Nicht nur eine Quelle von Gas und Öl“
1.
a) Die Tatsache, dass nie zuvor in einem arabischen oder einem anderen islamischen Land, einem so kleinen gar, [1] eine Fußball-WM stattgefunden hat, wurde seit der Vergabe mit viel Inbrunst und ohne Angst vor Langeweile wieder und wieder zwischen hiesigen Fußballfans und anderen abendländischen Kulturfunktionären hin- und hergewälzt, stets im Sinne der trinitarischen Formel aller Tradition ‚Das hat’s noch nie gegeben, das war schon immer so, da könnt‘ ja jeder kommen!‘. Eben! – beschloss das arabische Herrscherhaus der Al Thani und war genau auf diese Novität aus: „Das erste arabische und islamische Land, das Gastgeber einer Fußball-Weltmeisterschaft ist“, lautet das – ebenfalls ohne Angst, jemanden zu langweilen – permanent wiederholte stolze Prädikat, das die Prinzen ihrem Staat mit viel Geld gekauft haben; darauf kam es ihnen offensichtlich an.
Denn der Fußball hat sich als Massenkulturgut längst weit über seine Heimat auf dem alten Kontinent hinaus global etabliert – wie manch andere moderne Sitten des Westens schließlich auch, zu welchen nebenbei die Ökonomie des Geldverdienens und -vermehrens gehört, die in der Zeit zwischen den Ballsportmeisterschaften den Verkehr zwischen den Staaten und Völkern bestimmt. Die Fußball-WM ist das internationale Sportevent mit mehr Zuschauern als die Olympischen Spiele. Dass die Austragung dieses Ereignisses vonseiten des Staates, dem diese zufällt, auf internationales Renommee zielt, ist daher ganz normal und gilt andernorts auch nicht als ehrenrührig. Die Besonderheit im Falle Katar besteht in dieser Hinsicht darin, wie offen und regelrecht methodisch sich die Führung des geldschweren Zwergstaates dazu als dem überragenden Zweck ihrer – bekanntermaßen nicht auf den Fußball allein beschränkten – sport- und sonstigen kulturpolitischen Bemühungen bekennt:
„Der Staat Katar bekundet sein Interesse an vom IOC anerkannten Sportarten; das Ziel ist, dass er selber anerkannt wird als vollwertiger Staat, der nicht nur eine Quelle für Gas und Öl ist. Wir brauchen das Vertrauen der Welt, und dies kann man durch die erfolgreiche Ausrichtung internationaler Sportereignisse erwerben.“ (Chalid bin Hamad Al Thani, Bruder des regierenden Emirs von Katar)
Die Frage beiseitegelassen, wie viel Vertrauen von Staat zu Staat tatsächlich durch geglückte Inszenierungen im Bereich Sport & Spiel zu erwerben ist: In solchen Äußerungen wird deutlich, worin der spezielle Anerkennungsbedarf eines speziellen Aufsteigers der zwischenstaatlichen Konkurrenz um Reichtum und Macht besteht, der sich auf solches Entertainment wirft.
b) In weniger als vierzig Jahren nach der staatlichen Unabhängigkeit von 1971 hat es die Kreatur des britischen Mittelostkolonialismus – Fläche hin, Einwohnerzahl her – zu einer ansehnlichen staatlichen Karriere gebracht, wofür im Wesentlichen die segensreiche Symbiose von ganz, ganz viel kapitalistisch lukrativen Kohlenwasserstoffen unter seinem Territorium und der Schöpferkraft des international tätigen Finanzkapitals gesorgt hat.
Nach zweieinhalb zwar auch schon ansehnlichen, aber vergleichsweise eher ruhigen Jahrzehnten brach in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts der ganz große Boom aus. Öl gab und gibt es unter katarischer Hoheit zwar auch, aber das ist in benachbarten arabischen Monarchien, vor allem im flächenmäßig und überhaupt viel größeren Saudi-Arabien viel reichlicher vorhanden und wird dort zu konkurrenzlos niedrigen Kosten aus dem Sand geholt; entscheidend für den neuzeitlichen staatlichen Aufstieg war die Entdeckung von riesigen Gasvorkommen unter dem bisschen Festland, aber vor allem dem maritimen Hoheitsgebiet Katars. Der Export von viel und immer mehr dieser fossilen Energieträger sichert seither der ortsansässigen Herrscherfamilie einen beständigen Zufluss an Milliarden und Abermilliarden Dollar. In Kombination damit, dass die mit einer Staatsbürgerschaft versehenen Landeskinder bis heute noch nicht einmal 300 000 zählen, ergibt sich ein traumhaftes Pro-Kopf-Einkommen, das in diesem Falle – anders als sonst – noch nicht einmal nur eine lebensfremde mathematische Konstruktion ist. Vor allem aber hat sich der in Dollar bemessene Reichtum in der Hand der Herrscherfamilie dermaßen vervielfacht, dass die lokale Dynastie angefangen hat, sich und ihre Halbinsel als mehr zu definieren als eine vom Ausland eingesetzte politische Grundherrschaft über ein Stück Wüste mit darunter liegenden Öl- und Gasquellen ohne wirkliches Volk: Sie betrachtet sich und handelt inzwischen als international aktive Macht.
Als solche lebt sie nicht nur von dem vielen Geld, das sie bei ihren kapitalistischen Abnehmern verdient, sondern zugleich von darüber hinausgehenden guten Beziehungen zu den westlichen Mächten, die nicht nur den Weltenergiemarkt als ihr Bereicherungsmittel und Objekt ihrer Aufsicht behandeln.
- Als Exporteur von Öl und vor allem Gas hat das Land reichlich Angebote zu machen; mit dem westlichen Wirtschaftskrieg gegen Russland kommt ihm inzwischen sogar so etwas wie eine Schlüsselrolle zu. Im Gegenzug recycelt Katar einen Großteil seiner riesigen Exporteinnahmen per Import von quasi allem, was zu seinem modernen und permanent zu modernisierenden Staatsleben gehört, vornehmlich im Westen; als Zielpunkt für Direkt- und Portfolioinvestitionen ist es ebenso attraktiv, wie es umgekehrt die finanzkapitalistische Spekulation weltweit mit seinen vielen Investments füttert.
- Vor allem die USA begutachten Katar als integralen Bestandteil der Versorgung des Weltkapitalismus mit Gas – was ein Verhältnis der Konkurrenz durchaus einschließt – und damit als Teil der in dieser Hinsicht strategisch bedeutsamen Region von Staaten, die seit vielen Jahrzehnten Objekt erhöhter amerikanischer Aufmerksamkeit ist.
- Militärisch haben die USA das Land intensiv in ihre regionale Präsenz und die davon ausgehende „Machtprojektion“ auf alle Feinde und eigenwilligen Verbündeten eingebaut: In Katar befindet sich mit dem Al-Udeid-Luftwaffenstützpunkt die größte Militärbasis der USA im Mittleren Osten mit über 10 000 US-Soldaten und dem vorgeschobenen Hauptquartier des US Central Command und US Air Forces Central. Auch britische Militärs sind dort stationiert, ebenso hat die NATO-Macht Türkei einen eigenen Militärstützpunkt im Land. Zugleich tritt Katar als zahlungskräftiger Käufer vor allem amerikanischer, französischer und britischer Militärgerätschaften auf. Am NATO-Krieg gegen Libyen hat sich Katar mit eigenen Truppen beteiligt; gemeinsame Manöver vor allem mit US-Streitkräften finden regelmäßig statt.
Auf dieser Basis sieht sich und agiert die katarische Herrschaft nun als Macht, die von anderen Mächten nicht mehr zu übergehen sein soll und deren eigene Ansprüche an die Verhältnisse zu den anderen kleinen und großen staatlichen Subjekten in der Region und darüber hinaus im Rest der Welt zu respektieren sind. Katars Führer bestehen inzwischen darauf, dass sie ihrem zu Reichtum und Gewaltmitteln gekommenen Staat selber den Status zumessen, den sie für angemessen halten. Und in dieser Hinsicht ist für sie das eine ganz klar: Dieser Status geht definitiv nicht in den Diensten und Nützlichkeiten für andere, also in der Rolle auf, die die Partner dem Land zuweisen, auf deren ökonomischen und strategischen Interessen der katarische Aufstieg gründet und von denen er weiter lebt.
Darauf ist der dringliche und in Erfüllung gegangene Wunsch der katarischen Prinzen bezogen, die WM auszurichten: Mit der wollten sie erstens in Szene setzen, was sie, im doppelten Sinne des Wortes, verdientermaßen erreicht haben: eben den Status eines bedeutenden Mitglieds der Staatengemeinschaft, dem der Respekt vor dem Erreichten und vor den auf dem Erreichten gründenden Ansprüchen nicht zu versagen ist. Und zweitens sollte die WM, die für Katar einen gigantischen finanziellen, organisatorischen und außen- wie innenpolitischen Durchsetzungs- und Kraftakt dargestellt hat, diesen Erfolg nicht nur symbolisieren, sondern zugleich ein Mittel dafür sein, ihn zum Ausgangspunkt weiter gefasster Ambitionen zu machen. Beides zusammen macht die Bedeutung und auch die Brisanz aus, die Katar diesem fröhlichen Fußballfest beigemessen hat und im Nachgang noch beimisst.
2.
a) Das betrifft zum einen die Existenz Katars als arabischer und islamischer Staat am Golf, umgeben von anderen arabischen und islamischen Staaten zum Teil viel größerer Statur, was Territorium, Bevölkerung oder Militär betrifft. Insbesondere am Königreich Saudi-Arabien mit seinem Vormachtanspruch über die arabischen Golfstaaten, die Golf- und angrenzende Weltregion sowie die gesamte arabisch-islamische Staatenwelt arbeitet Katar sich ab. Die Könige und Prinzen Saudi-Arabiens verlangen vor allem von den paar anderen, im Golfkooperationsrat auch formal alliierten Golfstaaten, die saudische Vor- und Bestimmungsmacht anzuerkennen. Sie sehen sich mit ihren Ölmilliarden und jeder darauf gegründeten, inzwischen ganz ansehnlichen militärischen Macht in aller beduinisch verbürgten Brüderlichkeit als Bürgen für den Machtanspruch der kleineren Dynastien über ihre jeweiligen Sprengel – und bestehen im Gegenzug eifersüchtig, so gut sie es vermögen, auf politischer Gefolgschaft. Die Bestrebungen Katars sind den Saudis daher seit den neunziger Jahren ein Dorn im Auge, zumal Katars Führer die Eigenständigkeit ihres Landes im Rahmen des Clubs der arabisch-islamischen Golfmonarchien immer mehr als Bestreitung des saudischen Führungsanspruchs überhaupt definieren und praktizieren und inzwischen mit dem Hause Al Saud um die Vormacht über die Geschicke des islamischen Arabiens ringen.
- Mit viel Geld führt sich Katar seit den 1990ern – nicht nur, aber ganz prominent mit seinem Fernsehsender Al Jazeera – als ideologischer Pate, zumindest als stets zur Verfügung stehendes Sprachrohr für alle enttäuschten Nationalisten auf, die ihre heimischen arabisch-islamischen Herrschaften für deren schlechte Performance bei der Umsetzung der überall ideologisch hoch im Kurs befindlichen Mission kritisieren, der arabischen Welt und ihren frommen Völkern einen gebührenden Platz in der vom Westen dominierten Staatenwelt zu verschaffen. Islamisch-fundamentalistische Eiferer von den Muslimbrüdern bis zu den Salafisten im Umfeld des Islamischen Staates stattet Katar ebenso mit Sendezeit, propagandistischer Unterstützung und gegebenenfalls Asyl aus wie säkulare arabische Nationalisten, die gegen ihre Regimes auf bürgerliche Reformen als Weg zu arabischer Größe setzen.
- Dabei belässt es Katar schon seit geraumer Zeit nicht mehr, sondern mischt sich aktiv in politische und militärische Auseinandersetzungen ein, stattet von Libyen über Ägypten und Palästina bis Syrien und Irak oppositionelle Gruppen und Bewegungen mit materiellen Mitteln, Waffen und logistischer Unterstützung aus. In Libyen trumpft das Emirat sogar offiziell als militärischer Akteur auf und tut das Seine in der multilateralen Konkurrenz um die Er- und Ausrichtung einer libyschen Staatsgewalt. Und auch ansonsten beschränkt Katar seine gegen Saudi-Arabien gerichteten Unternehmungen um die religiöse und politische Ausrichtung der Region nicht auf die Beziehungen zu nichtstaatlichen Akteuren, sondern traut sich immer mehr Rivalität in der Frage der politischen Ausrichtung veritabler staatlicher Mächte und der Beziehungen zu ihnen zu. Vor allem sein demonstrativ gutes Verhältnis zu Iran pflegt es nicht zuletzt unter dem Gesichtspunkt, dass Saudi-Arabien die persische Schiitenrepublik zu dem regionalen Rivalen schlechthin erkoren hat. Und zugleich betreibt es seine Beziehungen zu der anderen – und eigentlichen – großen Herausforderung für jeden arabischen Anspruch auf regionale Eigenmächtigkeit – Israel – quasi methodisch gegensätzlich zu der Linie, die Saudi-Arabien sich verordnet und allen anderen arabischen Staaten verordnen will. [2]
- Mit dieser frechen Bestreitung des saudischen Vormachtanspruchs über die arabischen Staaten und Völker handelt sich Katar von Saudi-Arabien und dessen Verbündeten die komplementäre Mischung aus Missgunst und Feindseligkeit ein. Die treiben sie mitunter bis zur Orchestrierung von Palastintrigen innerhalb des Hauses Al Thani und von 2017 bis 2021 zu einer über Nacht verhängten Quasi-Blockade und Bekämpfung von Katar, die seinerzeit bis an den Rand eines Krieges gediehen ist. Was die Saudis und ihre verbündeten Herrscher den Kataris als Bedingung für die Beendigung der Blockade offiziell als Forderungsliste vorgelegt haben, ist zusammengefasst auf nicht weniger als den Imperativ der Beendigung jeder eigenständigen Außenpolitik hinausgelaufen. Zusammen mit den zu dieser Zeit erneuerten Bemühungen der Saudis, per Putsch für genehme personelle Verhältnisse im Prinzenpalast von Doha zu sorgen, stand für Katars Führung fest, dass die Durchsetzung in dieser Machtfrage zugleich eine Existenzfrage für den Kleinstaat ist.
- Und die berührt auch das Verhältnis des katarischen Herrscherhauses zu seinen Landeskindern. Denn die sind nicht und sehen sich nicht alternativlos einer souveränen Gewalt unterworfen, die sich zur absoluten Bedingung jeder praktischen Betätigung und damit zum Ausgangspunkt jeder geistigen Interpretation des eigenen Daseins macht. Zwischen den Prinzen in Doha und den paar Hunderttausend Kataris steht nämlich deren Zugehörigkeit zu Stämmen und Familien, die ihre Loyalität zur herrschenden Familie der Al Thani durchaus berechnend pflegen und von denen manche eine eindeutig uneindeutige Stellung zwischen den Al Thani in Doha und der saudischen Königsfamilie einnehmen und pflegen. [3] Zum Behauptungskampf Katars gegen den mächtigen saudischen Konkurrenten gehört darum seit jeher der Kampf um die Loyalität und möglichst eindeutige Zuordnung dieser Stämme, der das eigenartig unsouveräne Verhältnis der regierenden Dynastie zu den Stämmen reproduziert und damit eben auch einen wichtigen Hebel der Al Saud, den Kataris ihre Autonomie abzugraben: Mal werden sie – in Form von Zuwendungen, Einkommen bzw. Einkommensquellen und geldwerten Privilegien – mit der Teilhabe am gigantischen Carbo-Reichtum bestochen, mal wird ihren Ansprüchen auf stämmische Autonomie in bestimmten Rechtsfragen bzw. auf Mitsprache bei politischen Entscheidungen entgegengekommen; beides ist sowohl Ausdruck als auch praktizierte Anerkennung des berechnenden und bedingten Ergebenheitsverhältnisses im Land. Und mal werden Teile von allzu aufmüpfigen Stämmen bzw. Unterstämmen über Nacht ausgebürgert – was erst recht kein Zugewinn an eindeutig unterworfener Bevölkerung ist.
b) Die unbeschadet der Embargolage und des destruktiven saudischen Einwirkens auf die Loyalitätsverhältnisse in Katar stur durchgezogene Vorbereitung der WM bekam darum für Katars Herrscher immer mehr die Bedeutung des Ausweises und Mittels der Existenz- und Durchsetzungsfähigkeit ihres Staates. Jeder mit der Blockade prompt aufkommende Zweifel an der Durchführbarkeit der WM in Katar unter solchen Bedingungen [4] wurde mit noch viel mehr Dollarmilliarden im Keim erstickt, als die geplanten Investitionen der WM und die Bewältigung der Blockade sowieso schon gekostet haben und weiter kosten würden. Das oben zitierte Motto – „Wir brauchen das Vertrauen der Welt, und dies kann man durch die erfolgreiche Ausrichtung internationaler Sportereignisse erwerben“ – wurde für die WM allen Ernstes in den Rang einer nationalen Existenzfrage erhoben. Ein einfühlsamer katarischer Politologe im Sold der Al Thani hat das so zusammengefasst:
„Katar wählt das Feld des Sports, um auf der politischen Landkarte existent zu bleiben.“
Das klingt absurd, das ist absurd, aber es ist offensichtlich der Stand der Dinge, so wie ihn die katarische Herrschaft definiert: Auch auf diesem Feld, aber eben auch auf diesem Feld führt der mit Billionen Öl- und Gasdollar vollgepumpte Staat seinen Kampf um unbedingt anerkennungswürdige Vollwertigkeit als arabische Macht unter arabischen Mächten. Mittels der WM beweist er seinen regionalen Rivalen, wozu er trotz deren Anstrengungen, die auf seine Beschädigung und Unterordnung zielen, in der Lage ist.
Insofern ist die WM für Katar durchaus erfolgreich verlaufen: Sie ist zum einen der krönende Abschluss dafür gewesen, dass die Anti-Katar-Fraktion in der arabischen Welt ihre feindselige Blockade schon vorher als gescheitert betrachten musste, dann aufgegeben und sich stattdessen wieder auf die „brüderlichen Beziehungen“ besonnen hat, die bekanntlich alle Araber und Muslime und ihre Staaten stets und überall zusammenschweißen. Dass sich der saudische Thronfolger Mohammed bin Salman höchstselbst im Stadion hat blicken lassen, konnte als der diesbezügliche Höhepunkt gelten, der auch den Stolz der umworbenen Landeskinder auf ‚ihren‘ Staat Katar anstacheln und ihnen beweisen sollte, dass dessen Herrscher keinen Vergleich mit anderen dynastischen Obrigkeiten zu scheuen brauchen, die den Anspruch auf die Führerschaft über die islamisch frommen Araber erheben. Und dann haben die marokkanischen Fußballer dem Emirat auch noch den Gefallen getan, sich als erste arabische Mannschaft während einer WM-Schlussrunde bis ins Halbfinale zu kicken. Das Licht dieses Erfolges wusste Katar erst recht auf sich zu lenken und sich zum einen als großer Pate des mit jedem Spielerfolg wachsenden panarabischen Fußballnationalismus zu feiern; und zum anderen konnte er sich als der Staat präsentieren, der erstmals und stellvertretend gleich noch für eine viel weiter gefasste Kategorie von Staaten von Afrika bis Ostasien ‚dem Westen‘ auf dem von ihm erfundenen, dominierten und auch ausdrücklich mit allem Dünkel als seine Domäne reklamierten Feld des Fußballs erfolgreich das Monopol streitig gemacht hat.
3.
a) Die westlichen Staaten und Öffentlichkeiten sind der zweite Adressat von Katars politischer Fußballbegeisterung. Auf dem Feld der Diplomatie mit der WM wird zum einen Bilanz gezogen über die Beziehungen Katars zu ihnen, zum anderen sollen zukünftige Ansprüche an die etablierte imperialistische Staatenwelt symbolisiert bzw. festgeklopft werden. Und auch in deren Richtung sind Ausgangspunkt und Botschaft der Klarstellungen keineswegs einfach von Einvernehmen geprägt.
Denn zufrieden ist Katars Führung mit seinen westlichen Partnerschaften schon seit geraumer Zeit keinesfalls. Die Bereicherungserfolge per Öl- und Gasgeschäft haben schließlich ihren politischen Ehrgeiz geweckt, aus Katar mehr als besagte „Quelle von Öl und Gas“ zu machen und sich einen auch und gerade gegenüber den westlichen Weltmächten eigenständigen Auftritt zuzutrauen. Und gerade angesichts dessen müssen sie gewahr werden, dass die „traditionell engen Beziehungen“ zum Westen von dessen Hauptstädten aus gesehen einen solchen Übergang keineswegs vorsehen: Katar findet sich teils schlicht nicht ernst genommen, teils beargwöhnt, teils angefeindet – je nachdem, worum es gerade geht und welcher speziellen westlichen Anspruchslage zwischen Gasdeals, Iran-Politik und Islamismus-Bekämpfung es gerade entspricht oder in die Quere kommt. Die selbstbewussten Prinzen bilanzieren dies oberhalb aller Affären im Einzelnen als die westliche Verweigerungshaltung, ihrem Staat den Status einer wirklich souveränen und nach außen souverän agierenden Macht zuzugestehen, Katar also den Respekt zu erweisen, den es als gemäß allen Kriterien in der weltweiten Konkurrenz um Reichtum und Macht erfolgreicher Aufsteiger doch verdient. Insbesondere die Allianz mit der amerikanischen Weltmacht erweist sich für die ehrgeizigen Sachwalter des katarischen Aufstiegs inzwischen nicht mehr nur als Grundlage seiner staatlichen Existenz, in dem Maße dann auch als Rückversicherung für seine ambitionierte innerarabische und regionale Politik, sondern an so manchem Punkt als Schranke. Mit der gehen sie offensiv um. Schließlich wissen sie umgekehrt, was sie den Amerikanern zu bieten haben, welche Rolle sie für deren regionale und internationale Politik spielen. Also scheuen sie auch vor Konfrontationen nicht zurück – bis an den Rand regelrechter Zerwürfnisse, aber weiter gehen sie dabei nicht: Worum es ihnen geht, ist die prinzipielle Anerkennung und von Fall zu Fall unterschiedliche praktische Berücksichtigung ihrer Interessen im Rahmen der Allianz mit der Weltmacht, auf die sie weiter setzen. [5] Und auf der Basis sind zunehmend selbstbewusste Umgangsweisen mit den europäischen Partnern Amerikas erst recht im Programm – als Schutzmacht für deren speziell französische, deutsche ... Ansprüche an die Gasprinzen agiert Amerika jedenfalls nicht mehr; und den Status unbedingt privilegierter, d.h. gegenüber Staaten wie Katar bevorzugte Partner zur Umsetzung amerikanischer Politik im Nahen und Mittleren Osten haben die Europäer schon lange nicht mehr. [6]
b) Aus dieser Mischung aus realpolitischen Interessenüberschneidungen, Allianzen und Gegensätzen zwischen Katar und den diversen westlichen Mächten stammen die ganz auf das Feld der Organisation der WM bezogenen Grußadressen, die Katar in Richtung Westen zu verschicken hatte.
-
Die erste Botschaft hat darin bestanden, dass sich Katar mit dem über 200 Milliarden Dollar teuren Projekt, für 2022 das größte Sportevent der Welt einzusacken, als Staat präsentiert, der mindestens schon auf diesem Felde exakt so viel vermag und an Respekt und Applaus zugestanden bekommen muss wie diejenigen Nationen, die auch in dieser Hinsicht alteingesessen und nach eigenem Dafürhalten Maßstab setzend und mithin prädestiniert für eine solche Veranstaltung sind. Unter Anwendung der Grundregel, gemäß welcher der Westen den Rest der Welt zivilisiert hat: dass diese sich ums Geld dreht, darum für Geld alles zu haben und mit Geld eben auch alles ins Rollen zu bringen ist, kauft es sich einschließlich der Geneigtheit der FIFA-Stimmberechtigten alles, was es nach den gültigen Maßstäben für das Spektakel braucht. Insofern hat Katar vorgeführt, dass es seinem Volk und den Völkern der Welt das zu bieten hat, was sie an Vergnügen beanspruchen, welches das Leben unter den jeweiligen Verhältnissen – welchen auch immer – garantiert lebens- und die regierende Mannschaft liebenswert macht. Auch die vom Westen vorgelebten Formen und aktuellen Inhalte der moralischen Heuchelei übernimmt es dabei geradezu vorbildlich: Den seit längerem sogar in die geschriebenen FIFA-Statuten und Vergabekriterien eingebauten Scherz, den absurden materiellen und menschlichen Aufwand für ein paar Wochen WM mit dem Gütesiegel der Nachhaltigkeit zu versehen, befolgt es strikt; dass ein Teil der Stadien hinterher wieder abgebaut wird, gilt mit Blick darauf, sie irgendwelchen ärmeren Staaten zu schenken, offiziell als menschen- und naturfreundlich; und der Umstand, dass das wirklich bewohnte Katar im Wesentlichen aus seiner Hauptstadt besteht, wird mit dem Etikett „WM der kurzen Wege“ versehen, womit in Sachen Fan-Zufriedenheit und CO2-Bilanz sogar ein ganz eigener und neuer Erfolgsmaßstab beansprucht wird. Das hat es zugleich ungemein erleichtert, die autochthone Fanbasis doch noch halbwegs erfolgreich zu inszenieren, die es in Katar nun einmal nicht gibt und deren allzu auffälliges Fehlen eine für den Gastgeber peinliche Sache gewesen wäre. Letzteres ist nicht zu unterschätzen, weil in den Heimatländern des Fußballs, die sich selber so nennen, aber nicht ‚selbsternannt‘ heißen, dies einer der Punkte der seit zwölf Jahren gepflegten Skepsis gegen den katarischen WM-Gastgeber ist.
Kleiner Exkurs zur Unfähigkeit der Kataris zu einer Fankultur, wie wir sie mögen
Das Fehlen einer für die bürgerlichen Freiheitsmetropolen – insbesondere Europas – typischen Fußball-Massenkultur in Katar ist eine nicht zu bestreitende Tatsache. Dass der Hinweis darauf zum Vorwurf gegen das Land und die FIFA gerät, die dem Land die WM zugeschustert hat, ist eine andere Sache. Und eine noch ganz andere Angelegenheit ist der Grund dafür, dass dem kleinen glänzenden Fürstentum eine solche Kultur so komplett abgeht.
Schnell ausschließen lässt sich die Vermutung, Katars für den Sport und das politische Renommieren mit Sport Zuständige hätten es nicht versucht. Vor dem nach Vergabe der WM im Westen prompt erhobenen Vorwurf, dass da ein Land ohne einschlägige Tradition unziemlicherweise das größte Fußballereignis der Welt austragen darf, haben sie ihre arabischen Herzen nicht verschlossen: Ein paar von den vielen, vielen Milliarden Dollars der WM-Vorbereitung haben sie darauf verwandt, die seit Staatsgründung existierende „Qatar Stars League“ wenigstens auf europäisches Zweitliga-Profiniveau aufzupeppen. Stadions und Spieler waren ja, wie alles in der westlich zivilisierten Welt, zu kaufen. Bezeichnend allerdings waren die Schwierigkeiten, auf die sie damit gestoßen sind, die Kataris auch zu Fans zu machen: In die neuen klimatisierten Spielstätten mochten sich die Kataris einfach nicht in großen Massen locken lassen, obwohl die normalen Tickets für sie kostenlos und VIP-Lounge-Zugänge für wenige Dollar zu kaufen waren. Für schönen internationalen Fußball haben sich die katarischen Landeskinder zu der Zeit zwar schon längst interessiert und gewusst, für welchen Club und mit welchen Tricks die Messis, Neymars und Mbappés dieser Welt spielen – man war ja schon damals nicht von gestern; Satellitenfernsehen und Internet lassen den normalen Katari seit längerem schon wie an allem anderen so auch an der Sparte Fußball im Unterhaltungsbetrieb des Global Village teilnehmen. Die Ausgesuchtheit und Bequemlichkeit, mit der er das tut, legt freilich Zeugnis davon ab, dass sich da offensichtlich – sehr im Unterschied zu westeuropäischen Fußballfreunden – wirklich und im Wesentlichen nur ein bisschen Luxus gegönnt wird. Die Verbissenheit, mit der westliche Bürger an den Wochenenden zwischen ihren Arbeitswochen sich als Fans – nur zur Erinnerung: das kommt von ‚fanatisch‘ – aufführen, geht den Kataris ab: Sie suchen nicht, wie die westlichen Fußballfans, nach Kompensation für die Härten und Gemeinheiten einer das Leben bestimmenden Konkurrenz, die zwar unter dem großen Stern steht, dass sich Leistung lohnt, aber tatsächlich nur dafür sorgt, dass Leistung permanent zu erbringen ist, von der andere entscheiden, ob man sich damit gegen Konkurrenten durchsetzt: beim Geldverdienen zuallererst und dann auch in allen anderen entscheidenden Bereichen des Lebens. Das Minivolk der katarischen Staatsbürger wird im Unterschied dazu – in unterschiedlichen Formen, in unterschiedlichem Maß – von seiner Herrschaft ausgehalten. Daher haben sie auch nicht den Bedarf, die Kluft zwischen der permanenten Härte eines Konkurrenzdaseins und dem egalitären Leistung-lohnt-sich-Versprechen dadurch wenigstens ideell zu überwinden, dass man am Wochenende einem Spielbetrieb folgt, der das verlogene Ideal der bürgerlichen Konkurrenz zwar auch nicht verwirklicht, aber wenigstens ermöglicht, für sich selbst so zu tun, als ob es da wenigstens mal aufgehen müsste. Aber nicht nur dies.
Auch die jeder modernen bürgerlichen Nation eigene, gelebte Lüge, ihre Mitglieder wären jenseits ihrer Konkurrenz gegeneinander eigentlich ein Kollektiv von Gleichen und darin Gleichgesinnten, ist den Kataris fremd. Sie beziehen sich nicht auf ihre Herrschaft als den Garanten der für alle gleichermaßen geltenden kapitalistischen Notwendigkeiten des Gelderwerbs, um dann aus dieser einzigen wirklichen Gemeinsamkeit die Idee eines Kollektivs zu gewinnen, dessen Sinnen und Trachten die wirklich herrschende Gewalt nur zum Durchbruch verhilft. Ihr Bezug auf die auch in Katar real existierende Herrschaft ist wesentlich davon geprägt, dass sie an den von dieser zu vergebenden materiellen Zuwendungen und Privilegien teilhaben – mehr oder weniger, je nach Zugehörigkeit zu bestimmten Stämmen und Familien, die sich in konzentrischen Kreisen um das herrschaftliche Zentrum herum gruppieren. Ihr Bezug untereinander besteht dementsprechend in den entlang überkommenen Stammes- und Clan-Zugehörigkeiten sortierten, aber durch die Dollarmilliarden mit dem aktuellen materiellen Inhalt versehenen Zuwendungs- und Ausschlussverhältnissen und der dazu passenden Moral von Loyalität und Missgunst.
Die Grundlage für die harten nationalen Wir-Gefühle ist das jedenfalls nicht, von denen die westliche Fußballkultur lebt, die anlässlich des Sports das so falsche wie gemeine ‚Wir‘ feiert, das darum auch in den Attributen des Kampfgeistes, der Opferbereitschaft, der selbstverleugnenden Hingabe des Individuums an Größeres die zu ihm passenden, für hartgesottene bürgerliche Gemüter anheimelnden Bilder sucht – und findet. Dies vorzugsweise im Dunst der nationalen Geschichte mit ihren Höhen und Tiefen, nationalen Schicksalsschlägen und großartigen Erfolgen, in die sich bei wirklichen Fußballnationen inzwischen auch die nationale Fußballgeschichte nahtlos einfügt. Zum kollektiven Gedächtnis des deutschen Patriotismus gehört jedenfalls, dass nur neun Jahre nach der nationalen Katastrophe schlechthin zwar nicht der nachgeholte End-, aber doch wieder ein Sieg zu feiern war; so wie auch der Betrug von Wembley zugunsten der Engländer dazugehört, die damals schon nicht mehr mit dem deutschen Wirtschaftswunder mithalten konnten usw. usf. Auch auf diesem Feld entwickeln moderne Patrioten moderner Nationen die Fähigkeit, alles mit allem ins Verhältnis zu setzen, vergangene Siege als Beweis für die überlegene Leistungsfähigkeit der eigenen Kicker, schmerzliche Niederlagen als Pflicht zur Revanche, also immer alles in die Erwartung eigener Siege umzumünzen. Die hängen sie an die Mannschaft von Landsleuten, die stellvertretend die Siegesfähigkeit und den Siegeswillen des ganzen patriotischen Kollektivs auf dem Rasen gegen alle anderen durchzutreten haben.
All das geht den Kataris ab, die, soweit sie sich geistig ins Verhältnis zum Rest der Welt setzen und daraus so etwas wie einen Nationalstolz gewinnen mögen, dies allen Ernstes mit Verweis auf die Wohltaten ihres frommen Herrscherhauses und die vielen protzigen Errungenschaften tun, mit denen deren Baumeister die öde Wüste tags zum Grünen und nachts zum Leuchten bringen. Und eine eigene Mannschaft mit so richtig katarischen Kataris ist auch nicht zu haben. Dies wiederum nur zum einen wegen des winzigen Pools, aus dem die allenfalls zu rekrutieren wäre. Andererseits nämlich fehlt es nicht nur beim Betrachten, sondern auch beim aktiven Betreiben von Sport an dem Stachel, den der bürgerliche Konkurrenzalltag für diesbezügliche Hochleistungen auch „in der Breite“ darstellt, aus der die Besten herausgemendelt und herangezüchtet werden: Angefangen von der durchgehenden Notwendigkeit sportlicher Freizeitbetätigung als Mittel der Erholung von und Ertüchtigung für Ödnis und Anstrengung des bürgerlichen Berufsalltags; über das auch auf den Sport projizierte Konkurrentenbewusstsein, dass Erfolg nicht zuletzt eine Frage der eigenen Tüchtigkeit und diese – wiederum nicht zuletzt – eine Frage der privat zu betreibenden körperlichen und willentlichen Fitness sei; bis hin schließlich dazu, dass in den mittleren bis unteren Schichten einer modernen Klassengesellschaft die Aussicht auf eine Sportprofikarriere so ziemlich der einzige und entsprechend verbissen gesuchte Ausweg aus dem nicht so verlockenden Erwerbsleben des Durchschnittsbürgers ist – und erst recht aus der Armut von Plattenbausiedlungen, Banlieues und wie die sozialen Brennpunkte jeweils heißen mögen. Nichts davon juckt Muhammad Normalkatari so richtig, sodass auch in der Frage eigenen Personals für fußballerische Weltbestleistungen einstweilen Fehlanzeige herrscht.[7]
Richtig – und richtig hart – für Geld gearbeitet wird in Katar natürlich auch. Allerdings von einer Sorte von Leuten, die ihrerseits und aus ganz entgegengesetzten Gründen keine nationale Fanbasis darstellen. Diejenigen, die in Katar tatsächlich – und dies auf brutalstmögliche Weise – massenweise für Geld ihre Lebenszeit und -kraft und öfter auch einmal unmittelbar ihr Leben opfern, sind weder rechtlich noch moralisch Mitglieder des um die Prinzen der Al Thani versammelten katarischen Staatsbürgerhaufens. Sie sind erstens Fremde und zweitens weitgehend von rechtlichen Privilegien Ausgeschlossene. Sklavenhandel in dem Sinne findet nicht mehr statt, nur noch eine Quasi-Leibeigenschaft, die zwar inzwischen auch verboten ist, aber sich gemäß den ökonomischen Sitten, für die sie nützlich ist, gar nicht einfach abschaffen lässt. Passend dazu erscheinen diese rechtlosen Arbeitskreaturen der katarischen Volksseele – ausweislich ihrer von Armseligkeit geprägten Bereitschaft, sich für die niedersten Dienste zu den schäbigsten Bedingungen herzugeben – offensichtlich von der Art, dass ihnen gebührt, was ihnen in Katar geschieht. Dies jedenfalls ist noch immer Common Sense der Kataris gegenüber den Arbeitslohnsklaven vor allem aus Süd- und Südostasien. Die leben, freilich weniger dem rassistischen Geist als dem kapitalistischen Sinn für Billigkeit geschuldet, in eigenen abgeschotteten Ghettos, aus denen sie im Wesentlichen zum Arbeiten herauskommen – wenn sie nicht gleich auf den Baustellen hausen; ihr aufenthaltsrechtlicher Status ist oft genug prekär, und auch wenn sie ganz legal anwesend sind, bleiben sie offiziell unterprivilegierte Fremdarbeiter und kein Bestandteil eines nationalen Volkskollektivs. Daher sind auch sie prinzipiell nicht die Basis für eine proletarische Fußballfankultur à la Dortmund oder Liverpool, die dann die besser Begüterten von oben herab entweder nur abschätzig oder auch ein bisschen anerkennend – Stichwort: „Hart aber herzlich“, nichts zu lachen, aber echte Werte haben sie, das muss man ihnen lassen! – zur Kenntnis und als nationale Jubelperserschar gern in Anspruch nehmen. Darum war auch der gut gemeinte Versuch der katarischen Ligaorganisatoren nicht von großen Erfolgen gekrönt, der darin bestanden hat, den Migranten dosiert den Besuch der für sie ansonsten streng verbotenen Stadien zu erlauben, ihnen dafür sogar kostenlos die katarische Nationalkleidung zu spendieren und ihnen Winkefähnchen für irgendeine der spielenden Club-Mannschaften in die Hände zu drücken. Aber wenigstens zur WM waren sie als Staffage für die internationalen Länderspiele nützlich, weil die angereisten Fans aus anderen Gegenden weniger rassistische Bedenken hatten, sich neben solchen in die Stadien zu stellen. Und westliche Journalisten, die sich während der WM zielsicher auch in die Elendssiedlungen der migrantischen Lohnsklaven verirrt haben, konnten dort von einem WM-Fieber berichten, das sie ungefähr so von daheim kennen, also ohne Abstriche gut finden konnten.
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Mit seinem vielen Geld und seiner strategischen Wichtigkeit vor allem für die USA und deren militärische Präsenz in der Region hat Katar zugleich einen viel gewichtigeren, immer wieder gestreuten Zweifel weggekauft und weggedrückt: den in die Sicherheitslage der WM. Das war den Emiren und Scheichs erklärtermaßen ein eigenes Anliegen. Was sie daran demonstrieren wollten, ist der Status ihres Landes als konsolidierte, gesicherte Macht, die mitten in einer Problemzone der Weltpolitik gelegen, umgeben von Nachbarmächten, die teils gegeneinander, teils gegen Dritte in mehr als einen Krieg verwickelt sind, doch Subjekt ihrer eigenen, verlässlich kalkulierbaren Sicherheit ist – und eben auch in diesem Sinne nicht mehr zu übergehen, sondern ernst zu nehmen.
Entsprechendes gilt für die innere Sicherheitslage, die störungsfreie Abwicklung des Fußballfests: Die im Westen laut gewordene, wie auch immer ernst gemeinte oder schlicht gekünstelte Skepsis in die Fähigkeit Katars, dieses Event sicher zu organisieren, hat es wahrgenommen und sich deren Widerlegung ausdrücklich zum Zweck gemacht. Auch das ist in der Riege von Staaten schließlich eine Frage der Ehre, die man erst einmal für sich beantworten können muss. Denn die ausrichtenden Nationen wissen selbst am allerbesten, dass der fröhliche Sportwettkampf den gehässigen Nationalismus der als Fans auftretenden Völker anstachelt und alle sowieso existierenden nationalen Vorbehalte und Stufen von Verachtung und Feindseligkeit anspricht. Entsprechend hat Katar Ehre eingelegt dafür, dass in seiner Hauptstadt avisierte 20 000 israelische Fans und jede Menge Iraner und Araber, deren patriotisches Verhältnis zu Israel allgemein bekannt ist, daneben die US-Boys, die Ausgang von ihrer Air Base haben, und überhaupt alle zivil miteinander aus- und Krawalle gar nicht erst aufkommen. Und bis auf ein paar unschöne Szenen ist die Sache auch ganz gut über die Bühne gegangen; ihren überschießenden Patriotismus haben die lieben marokkanischen Mit-Araber jedenfalls nicht in Doha, sondern auf europäischen Straßen ausgetobt...
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Ihrem übergeordneten politischen Klarstellungsbedarf waren es die katarischen Ausrichter aber auch schuldig, nicht nur pflichteifrig und vorbildlich alle Vorgaben abzuarbeiten. Das „Lokalkolorit“, das sie ihrer WM verpasst haben, galt der Demonstration des auf den Feldern der wirklichen Staatenkonkurrenz längst praktizierten Anspruchs, dass Katar tatsächlich eigenständig agiert, sich bei der Definition von Partnern, Verbündeten und Feinden streng am nationalen Interesse orientiert und auch die intensiv gepflegten Allianzen mit westlichen Mächten nicht als Vasallentum verstanden wissen will. Dafür traf es sich gut, dass die ortsüblichen Sitten, das Freizeit- und Familienleben betreffend, von den im Westen Üblichen abweichen und durchaus auch die Durchführung der WM tangierten. Das Alkoholverbot in den und im Umkreis der Stadien verdankte sich ausdrücklich nicht nur der Verhinderung von bierinduzierter Fußballrandale, sondern vor allem der Rücksicht auf die islamische Sitte. Und die Ablehnung von Forderungen, dass jeder, der dies wünsche, die Fußballparty in eine Gay-Pride-Parade verwandeln dürfen müsse, war ebenfalls genau auf dieser Ebene angesiedelt: Wer in Katar zu Besuch ist, hat die Sitten des katarischen Kernstaatsvölkchens und mit denen die legitime, sittensetzende und -garantierende arabisch-islamische Herrschaft der Al Thani zu respektieren – alles andere wird offiziell abgelehnt, unterbunden und als westlicher Dünkel und antiarabischer Rassismus verurteilt. Auch in dieser Hinsicht war insbesondere der Triumphzug der Marokkaner bis ins Halbfinale ein Geschenk Allahs an die saturierten Kataris, die Fußball nicht so gut können: Genüsslich haben katarische Politiker und Kommentatoren den marokkanischen Erfolg beim Fußballspielen zum Erfolg des islamischen Arabiens über den Kulturimperialismus des Westens stilisiert.
Auf diese Weise, so dialektisch geht’s zu in der Welt von Sport und Spiel als Sphäre der Repräsentation herrschaftlicher Macht und Herrlichkeit, hat sich dann glatt noch das Minus des Fehlens einer eigenen fanatisierten Anhängerschaft in ein Plus verwandelt: Die im Wesentlichen störungsfreie, von arabischen Erfolgen begleitete Ausrichtung der WM hat Katar zu einem echt unparteiischen, über den sportlichen Konkurrenzdingen stehenden Gastgeber gemacht, der die fußballerischen Glanzleistungen und Vergnüglichkeiten aller Zuschauer in nah und fern als rundum positives Urteil über sich, damit als Einlösung seines Repräsentationsbedarfs reklamieren darf.
Den Al Thani hat dieser Spaß jedenfalls so gut gefallen, dass sie nun eine Bewerbung für Olympia 2036 erwägen. Das wäre doch gelacht...
II. Deutschland spielt (nicht) mit: Selbstdarstellung und Selbstbespiegelung einer mächtigen Nation und ihrer anspruchsvollen Öffentlichkeit
1.
a) Das offizielle Fußball-Deutschland lässt seit längerem seine Vorbehalte gegen FIFA und Katar in Sachen Korruption und Menschenrechte in ganz besonderer Weise heraushängen. In den Qualifikationsrunden läuft die deutsche Mannschaft mit Menschenrechtsparolen auf den Trikots auf; zum Turnier selber fliegt man mit einer Lufthansa-Maschine ein, auf die schön plakativ „Diversity wins!“ gespritzt ist, und für das erste Spiel nimmt sich die Mannschaft die Demo mit der Kapitänsarmbinde vor, die die liberal-vorzügliche Gesinnung in Sachen Antidiskriminierung symbolisiert.
Ein etwas anderes Gewicht bekommt die Sache, wenn die nationale Politik sie aus ihren Gründen aufgreift. Deutschlands regierende Politiker, darunter vor allem die *Innen, haben sehr genau registriert, worauf der katarische Staat mit seiner WM aus ist und welche Bedeutung die eingeforderte Respektsbezeugung für ihn hat. Dazu fällt der Außenministerin spontan Folgendes ein:
„Unsere Welt basiert auf Menschenrechten und deswegen sind Menschenrechte unteilbar. Das gilt für Klimakonferenzen genauso wie für große Sportereignisse. Die Menschenrechte sollten auch für die Vergaben bei allen solchen großen, großen Konferenzen und Ereignissen gelten.“ (Annalena Baerbock, zitiert nach: rnd.de, 21.11.22)
Und die Innenministerin, im Handgepäck den ehemaligen „Mr. Gay Germany“, fährt vor Anpfiff in Katar vor, um dort, im Gastgeber-Staat, ganz genau ‚hinzusehen‘, wie es um die Behandlung queerer Menschen steht; sie verlangt vom katarischen Gegenüber „Sicherheitsgarantien“ für diese Menschen, zieht also die Sicherheit der Besucher vor Ort in Zweifel und lässt die Welt von ganz generellen, nämlich: menschenrechtlichen Bedenken gegen die Veranstalternation wissen:
„Die Vergabe von sportlichen Großereignissen gehört an die Einhaltung der Menschenrechte, an Nachhaltigkeitsprinzipien geknüpft. Es gibt Kriterien, an die sich gehalten werden muss, und dann wäre es besser, dass das nicht in solche Staaten vergeben wird.“ (Nancy Faeser, zitiert nach: FAZ, 16.11.22)
Was deutsche Politiker da geltend machen, woran sie in Sachen WM anknüpfen, das ist die Art und Weise, in der sie ohnehin international auftreten und ihre Nation und ihre Rolle auf dem Globus inszenieren: Deutschland geriert sich als Schutzmacht und Speerspitze menschengemäßen Regierens weltweit. Aus seiner eigenen inneren Verfasstheit – bzw. dem, was man daran für wesentlich halten soll – leiten sie die Befugnis und Pflicht ab, allen anderen Staaten von oben herab als Prüfinstanz gegenüberzutreten und ihnen darüber Bescheid zu erteilen, ob die von ihnen praktizierten Methoden der staatlichen Gewaltausübung den Legitimitätsanspruch bestätigen oder negieren, den jeder Staat in Bezug auf sein Regiment erhebt und dessen Anerkennung er von seinesgleichen fordert. So – ganz prinzipiell und noch jenseits aller konkreten Verhältnisse und Affären zu bzw. mit anderen Staaten – demonstriert Deutschland sich und aller Welt, von welchem Standpunkt aus und mit welchem Anspruch es überhaupt in Verkehr mit anderen tritt und den zu gestalten gedenkt: als überlegene, elitäre Macht, ja als Instanz über anderen Mächten, der es zukommt zu entscheiden, ob überhaupt und unter welchen Bedingungen der Auftritt anderer staatlicher Gewalten den Ansprüchen an ehrenwerte Mitglieder der Weltgemeinschaft gerecht wird oder vielmehr nicht zu dulden ist.
Was daraus folgt bzw. wofür das jeweils nützlich ist, das steht auf einem anderen Blatt und hat daher auch im Falle Katars und seiner WM ganz eigene Gründe, Stoßrichtungen und Adressaten.
b) Zum einen richtet sich die Diplomatie insbesondere der deutschen Innenministerin, die bewusst am Rande des Eklats inszeniert worden ist, an die Kataris selbst. Deren in der WM repräsentierten Anspruch auf ökonomisch und politisch begründete Respektabilität, der auf alle Momente der Außenpolitik dieses Staats gemünzt ist, weist Deutschland damit ebenso prinzipiell zurück. Gründe und konkrete Anlässe des Ärgers über Katar hat der deutsche Staat so einige, und auch er fasst die in der das alles einbegreifenden und zugleich darüber hinausgehenden Stellung zusammen, dass dieser Staat vom Standpunkt der etablierten Macht Deutschland aus zu eigenmächtig handelt und zu Unrecht die Anerkennung dieser Eigenmächtigkeit fordert. Dieses prinzipielle Abstandsgebot, das Deutschland sich gegenüber diesem Staat erteilt, demonstriert es ihm in Form der unverschämten Vorbehalte und Zweifel, die es bezüglich der Ausübung seiner Gewalt nach innen öffentlich geltend macht. Dass Deutschland mit diesem Staat nicht nur gute, sondern aktuell wegen der Umstellung weg von russischem Gas auch ziemlich notwendige Geschäftsbeziehungen pflegt, hindert seine menschenrechtlich feinsinnigen Vertreter und *Innen an solchen polemischen Klarstellungen nicht – im Gegenteil: Die von aller Welt – daheim mehr besorgt bis beleidigt, auswärts mehr schadenfroh – registrierte Angewiesenheit Deutschlands auf katarisches Flüssiggas ist geradezu ein eigener Stachel dafür gewesen zu demonstrieren, dass daraus für Deutschland ein Abstandnehmen von seinem Superioritätsanspruch jedenfalls nicht folgt. Die Spitzenfrauen der deutschen Politik ergreifen die WM als willkommene Chance für diesen Klarstellungsbedarf. Für Katar ist das Event wichtig genug, um die deutsche Grußadresse entsprechend deutlich bei den Prinzen ankommen zu lassen; zugleich ist das Sportevent für Deutschland unwichtig genug, dass es zur doch nur nachrangigen Bedeutung passt, die dessen Führungsfiguren der sport- und menschenrechtsdiplomatischen Demarche in Richtung Katar beimessen.
Und die hat zugleich noch einen ganz anderen Adressaten.
c) Zum anderen nämlich und nicht zuletzt richtet sich die Diplomatie Faesers, womöglich sogar in erster Linie, an die eigenen Leute daheim; und zwar gleich mit mehreren Botschaften, von denen die sich dann sogar aussuchen können, von welcher sie sich am ehesten angesprochen und mitgenommen fühlen wollen.
Erstens unterstellt und reproduziert der menschenrechtsorientierte Auftritt von Faeser, Baerbock und Co ein Bild von den Verhältnissen in Deutschland, auf das es ihnen offensichtlich sehr ankommt: In der menschenrechtlichen Lehrmeisterattitüde gegenüber dem Zwergstaat mit den Prinzen in Nachthemden wird das Regieren und Regiertwerden hier zum glücklichen Gegenteil ihres schlechten Gegenteils stilisiert. Im Vergleich mit den herrschaftlichen Sitten dort – im Umgang des Staats mit Kritikern, mit Bauarbeitern, mit sexuell außerhalb des Mainstreams Orientierten –, den die Politiker auf diese Weise ihrem heimischen Publikum anbieten, stilisieren sie die von ihnen regierten Verhältnisse zu einem Paradies verwirklichter Freiheit, das der Mensch will und in dem er überhaupt Mensch sein darf. Dass das Leben in Deutschland für die Mehrheit seiner Bewohner wesentlich von etwas anderem geprägt ist als davon, tagein tagaus zwischen inspirierender Arbeit auf garantiert sicheren Baustellen und freier Liebe sich dem freien Kritisieren wovon auch immer zu widmen, wissen zwar alle Adressaten der Botschaft. Aber gerade das macht es ja für deren politische Absender so reizvoll, das wirkliche Dasein ihrer im Lebenskampf befangenen Bürger hier ganz dem Gesichtspunkt zu subsumieren, welche Freiheiten dort fehlen – und schon darf und kann man wieder glücklich sein darüber, nicht dort, sondern hier zu leben, wo erlaubt ist, was sich der Mensch nicht gern verbieten lässt.
Zweitens dürfen auf dieser Basis alle, die das wollen, sich die Außenpolitik des Staates, der so menschlich mit ihnen umgeht, als die Praxis der Mission vorstellen, auch anderen Obrigkeiten diese menschengemäßen Formen im Umgang mit ihren Leuten beizubringen. Auch auf diesem Felde täuscht sich niemand darüber, dass Deutschland damit allerlei eigene Interessen verfolgt und deshalb handfeste Gegensätze mit anderen Staaten auf den Tisch kommen. Aber von wohlmeinenden Interpreten deutscher Wertepolitik wird dieser ‚Realismus‘ locker zusammengebracht mit der idealistischen Vorstellung, eben damit ließen sich letztlich die ungemütlichen, oft genug noch viel ungemütlicheren Lebensverhältnisse in den auswärtigen Staaten bessern. Die Leitfiguren deutscher Werteaußenpolitik führen es ja vor: Es brauche bloß die Durchsetzung der hierzulande gewohnten und für alternativlos und alternativlos gut befundenen politischen Sitten, damit Leid und Elend für die Menschen auf der Welt und die Gegensätze zwischen den Staaten weniger werden. Zu dieser Botschaft von der guten Mission deutscher Macht auf der Welt passt es, und darauf ist es gemünzt, dass Faeser & Co aus Anlass der WM und angesichts des energieökonomisch nötigen Einvernehmens mit der katarischen Führung demonstrativ rücksichtslos gegenüber deren diplomatischen Befindlichkeiten ein bisschen berechnenden Radau machen: Auch und gerade die damit produzierte scheinheilige Debatte über das erfundene Dilemma der „doppelten Standards“, wie viel Werteorientierung sich die deutsche Politik angesichts deutscher Interessen überhaupt leisten darf, bestätigt ja bloß, dass es zumindest eigentlich und auch um die hohen Werte geht, wenn deutsche Politiker irgendwo aus dem Flugzeug steigen.
Weshalb drittens die demonstrative Frechheit, die sich Faeser mit ihrer Armbindenparade auf der Stadion-Tribüne der VIP-Gäste gegönnt hat, nicht nur den Menschenrechtsfreund angesprochen hat, sondern zugleich und vor allem im Menschenrechtsfreund den Freund deutscher Macht: Auch grüne und sozialdemokratische Außenpolitikerinnen gehen einfach davon aus, dass sie bei denen, die sie daheim regieren, Eindruck schinden, wenn sie sich nach außen möglichst arrogant präsentieren. Mit solchen herablassenden Inszenierungen gegenüber als minderwertig eingestuften Machthabern erziehen und bestätigen sie zum einen ihre Patrioten in dem Bewusstsein, Anspruchsberechtigte auf und zugleich Teilhaber an dem möglichst eindrucksvollen internationalen Auftritt Deutschlands zu sein – obwohl der zuallererst auf ihrer gelungenen Unterwerfung unter die politische Herrschaft gründet, die auf dieser Basis ihre Außenbeziehungen eingeht und pflegt. Und wenn dieses patriotische Anspruchs- und Teilhabebewusstsein erst einmal verankert ist, dann kommt es auch weniger auf die hohen Werte an, die in der verlogenen ersten Person Plural gegen das Ausland hochgehalten werden, als auf die Macht, mit der dies geschieht. Und zum andern lenken die Politiker, die sich in dieser Weise auswärts für das Publikum daheim inszenieren, das sie ja periodisch an die Wahlurnen bitten, im Erfolgsfalle der Inszenierung das schöne Licht und das positive Urteil der Patrioten über die Güte und Durchschlagskraft deutscher Macht auf sich – leisten also damit einen konstruktiven Beitrag zu der in der Demokratie stets präsenten und alles überwölbenden Frage, in wessen Händen das hohe Gut am besten aufgehoben ist.
Insofern sind die Vertreter der wertegeleiteten Außenpolitik Deutschlands dann auch Fans der Fußballfans, weil sie wollen, dass es ihre Fans bleiben bzw. werden. Und darum war es ihnen ein Leichtes, die Relativierung ihres ohnehin sehr abstrakten und letztlich nicht übermäßig dringlichen, schon gar nicht auf irgendwelche praktischen Konsequenzen im Verhältnis zu Katar dringenden Menschenrechtsgenörgels zum Dienst am deutschen Volk in seiner Eigenschaft als Gemeinde von Fußballfans zu stilisieren. Denen mochte man nun wirklich nicht die Gelegenheit rauben, ihren von oben so geschätzten Nationalismus als Anhänglichkeit an die nationale Fußballmannschaft auszutoben:
„Ich bin ein großer Fußballfan. Sportlerinnen und Sportler dürfen nicht dafür bestraft werden, wenn politisch andere Dinge falsch laufen.“ (Baerbock, a.a.O.)
2.
Auf die Politik und deren diplomatische Herabwürdigung Katars hat der deutsche Medienzirkus nicht warten müssen. Von der Vergabe 2010 bis zum Anpfiff beackert er regelrecht eine Liste an Gesichtspunkten, weitaus länger als der Menschenrechtskatalog, um die WM 2022 als „WM der Schande“ (Titel einer vierteiligen ARD-Dokumentation) zu geißeln.
Das geht los mit dem Rätsel, wie eine Fußball-WM überhaupt in dieses Land vergeben werden konnte:
„Korruption, Schwulen-Hass, Menschenrechts-Verletzungen und Frauen-Unterdrückung. Es gibt ausreichend Gründe, warum die WM 2022 nicht in Katar stattfinden sollte. Aber wie kam die WM im Jahr 2010 eigentlich überhaupt in den Wüstenstaat? Ganz einfach: Mit Hilfe vieler Millionen Euro, durch massive politische Beeinflussung und einer Sport-Offensive, die weltweit ihresgleichen sucht.“ (Bild, 19.11.22)
Mieses Land kriegt eine Spitzenveranstaltung – „Wie gibt’s denn das?“, lautet die Frage, die recht eigentlich gar nichts wissen will, sondern das Ergebnis der Vergabe durch die FIFA als Skandal präsentiert. Denn so abgeklärt sich die „ganz einfache“ Antwort von Bild gibt, so sehr steckt in ihr das unausrottbare Ideal eines transparenten, also fairen Vergabeprozesses, das die deutsche Öffentlichkeit zum gefühlt 100sten Male aufruft, um FIFA und Katar als Riesenverstoß dagegen zu blamieren: Korruption bei der FIFA, Geld und Macht entscheiden über die Vergabe der Fußball-WM, was für eine skandalöse Entdeckung! Die ist aber immer noch für die Vorstellung gut, dass sich der Wüstenstaat bloß mit Geld und Macht eine Veranstaltung ergaunert haben kann, die erstens eigentlich „uns“ gehört und zweitens dort völlig sinnlos ist:
„Doha – Bis zu 50 Grad im Sommer, so gut wie keine Fußballkultur und ein autokratisch regierter Staat, der sich regelmäßig mit Vorwürfen der Menschenrechtsverletzung konfrontiert sieht: Auf den ersten Blick gibt es wenige Argumente für eine Fußballweltmeisterschaft in Katar.“ (merkur.de, 21.9.22)
Überraschung! Von der fehlenden Fußballkultur über das Wüstenklima bis zum verkehrt regierten Staat führen deutsche Journalisten den spannenden ‚Nachweis‘, dass Katar keine authentische Fußballnation ist, wie „wir“ es sind. Und in diesem Abgleich steckt der ganze moralisch-patriotische Anspruch: Wenn „wir“ mit unserem Dutzend Spielklassen und unserer wunderbaren Fan-Kulisse eine WM machen, dann ist das etwas anderes, nämlich ungleich Besseres, als wenn Katar das ausrichtet, jedenfalls mehr als die staatliche Angeberei, die Katar betreibt, weil das sich bloß inszeniert mit diesem Fußball-Event – als wäre ausgerechnet das die besondere Ausnahme anno 2022 und nicht der ganze Grund und Zweck dieser Art von Veranstaltungen, mit denen niemand sonst als Staaten ihr internationales Renommee aufpolieren!
Die deutsche Arroganz und Missgunst lebt ganz von diesem „bloß“, das in beliebiger Variation an allen möglichen Stellen der katarischen WM entdeckt wird. Deswegen ist auch scharfes Misstrauen in die katarischen Beteuerungen angesagt, den Idealen von Umwelt und Nachhaltigkeit – seit Jahrzehnten das Begleitgepäck zu einer im höheren Sinne produktiven Verwendung von Arbeit und Reichtum, wie sie wegen der jeweiligen Großereignisse immerzu fällig ist – zu entsprechen:
„Nach dem WM-Finale soll es [das in Modulbauweise aufgestellte Stadion] dann abgebaut und an einem anderen Ort der Welt wieder aufgebaut werden. Doch wo genau – das ist noch unklar. Offenbar ist das Interesse an dem wiederverwendbaren Stadion geringer als gedacht. Eine offizielle Anfrage der ARD bei der für die Stadien zuständigen Organisation in Katar blieb unbeantwortet.“ (tagesschau.de, 18.12.22)
Keine Antwort auf „unsere Anfrage“ – also ist der Tagesschau alles klar in der ganzen „Unklarheit“: Katar ist durchschaut und bestimmt kein Fall von Nachhaltigkeit oder Großzügigkeit gegenüber der Dritten Welt. Im Gegenteil: Der ganze Stadienbau selbst, mit dem Katar nach den überall geltenden Maßstäben staatlicher Repräsentation Meisterwerke der Sportarchitektur in die Wüste pflanzen lässt, ist in diesem Fall nichts als sinnlose Verschwendung:
„Acht Stadien für drei Millionen! Insgesamt hat Katar für die Fußball-Weltmeisterschaft acht Stadien neu gebaut oder renoviert. Doch das Land ist mit seinen nicht einmal drei Millionen Einwohnern zu klein, um mehrere ehemalige WM-Sportstätten dauerhaft zu nutzen.“ (Ebd.)
Ein Fall von Verschwendung, der umso schändlicher ist, weil seinetwegen auch noch unmenschliche Ausbeutung stattfindet:
„Ausbeutung für die große Fußballshow – System moderner Sklaverei! Es ist die Schattenseite des Fußball-Spektakels in Katar: Damit Infrastruktur und Stadien rechtzeitig für die Fifa-Weltmeisterschaft 2022 fertig werden, schuften Tausende ausländische Arbeiter auf den Baustellen des Wüstenemirats. Der Internationale Gewerkschaftsbund (IGA) erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die Arbeitsbedingungen, die dort herrschen. Berichten von Arbeitern zufolge wurden sie auch bei Temperaturen von 50 Grad zur Arbeit gezwungen. Dabei sei ihnen Trinkwasser verweigert worden. Zudem gibt es Berichte, dass Pässe beschlagnahmt und Gehälter nicht gezahlt wurden. In den überfüllten Unterkünften seien Krankheiten weit verbreitet.“ (tagesschau.de, 12.3.21)
Es ist schon rührend, wann und warum deutsche Journalisten ihr großes Herz für arme Nepalesen und Pakistani entdecken: Engagiert übernehmen sie die Rolle des Anwalts der globalisierten Arbeiterklasse und deren Rechte, wenn sie auf die 200 Mrd. schweren Baustellen blicken. Wer auf denen die Regie führt – selbstverständlich mit Mindestabstand zu den Subsubsubunternehmern, die die Drecksarbeit der Ausbeutung vor Ort organisieren – und wer von dem attraktiven Sümmchen einen ordentlichen Anteil abgreift, könnte die deutsche Presse im eigenen Archiv nachblättern. Noch 2010 hatte sie fröhlich berichtet:
„Deutsche Firmen jubeln über WM-Vergabe nach Katar! Der reiche Wüstenstaat Katar und Deutschland kommen ins Geschäft: durch die Fußball-WM 2022 und den Einstieg des Emirats beim Baukonzern Hochtief.“ (welt.de, 11.12.2010)
Aber vermutlich passen derlei Hinweise nicht ganz so gut ins Bild, wenn es zwölf Jahre später exakt darum geht, die Verantwortung für diese Zustände ganz dem staatlichen Gastgeber zuzuschreiben. Da sind fein säuberlich aufgestellte Zahlen über tote und verletzte Arbeiter genau das Richtige und Ausdruck der katarischen Systematik dieses Umgangs mit den Arbeitsmigranten. Deswegen sind bei Reformen Katars prinzipiell Zweifel angebracht:
„Auf Druck der Fifa hat das Emirat in den vergangenen Jahren einige Gesetze erlassen, die die Situation der Arbeiter verbessern sollen. Der Mindestlohn wurde auf rund 250 Euro angehoben, dazu kommen noch bis zu 200 Euro für Essen und Unterkunft. Auch dürfen Gastarbeiter mittlerweile ihren Arbeitsplatz ohne Genehmigung des Arbeitgebers wechseln – zumindest in der Theorie. In der Praxis werden die neuen Gesetze oft umgangen, es fehlt an Kontrollen.“ (Bild, 12.12.22)
Immerhin, da kämen die Gastarbeiter in Katar ja fast an die europäischen Billiglohnverhältnisse heran, „zumindest in der Theorie“, denn von staatlicher Reform-Propaganda lassen sich deutsche Investigativjournalisten natürlich nichts vormachen. Die wissen abgeklärt ganz genau, dass ein Gesetz gegen die unschönen Zustände eine Sache, dessen Durchsetzung aber eine andere ist, weil die daran hängt, wie viel Aufwand für die wirksame Beschränkung des Geschäfts mit der Billigarbeit sich der Staat tatsächlich leisten will. Insofern kann man ganz vorurteilsfrei und glaubwürdig auch mal bei deutschen Konzernen, nachdem sie zehn Jahre am Aufbau von Stadien und Drumherum gut verdient haben, kritisch nachfragen, ob
„man als Firma Geschäfte mit der Fußball-Weltmeisterschaft in Katar machen darf, wenn der Umgang mit Menschenrechten in dem Land äußerst umstritten ist. Ja, sagen die Firmen, die aus Deutschland an der WM beteiligt sind. Man setze sich voll und ganz für die Achtung der Menschenrechte entlang der gesamten Wertschöpfungskette ein, schreibt ‚Siemens‘ auf Anfrage. Der Münchner Konzern hat Stromversorgungssysteme für die WM-Stadien geliefert.“ (br.de, 15.11.22)
Das darf der bayerische Menschenrechts-Funk dann schon mal so stehen lassen, schließlich ist bei deutschen Unternehmen im Prinzip der Umgang mit der globalen Arbeitskraft schwer in Ordnung und jede Schweinerei, die rauskommt, ein eigentlich nicht zu „uns“ passender Missstand. Deshalb darf ein problematisierendes Stirnrunzeln bleiben, ob es nicht schwarze Schafe als Ausnahme von der Regel gibt; außerdem muss man bei den soliden deutschen Mittelständlern in Rechnung stellen, dass sie von ihrem Geschäft nicht einfach reicher werden, sondern ins Hintertreffen geraten, wenn nicht sie das Geschäft machen:
„Die Firma Wiedenmann (Rammingen, Baden-Württemberg) lieferte Maschinen zur Pflege der Rasen in den Stadien in Katar. Wiedenmann antwortet: Man habe dort eine knappe Million Umsatz gemacht und sei auf das Geschäft angewiesen. Andernfalls hätte die Konkurrenz den Zuschlag bekommen.“ (br.de, 15.11.22)
Und wem ist schon geholfen, wenn andere an „unserer“ Stelle das Geschäft machen? Eben, niemandem. Richtig betrachtet lenkt also auch das wenig zimperliche Gebaren deutscher Bauunternehmer dort den Vorwurf auf die politischen Herren und Sponsoren der WM und ihrer Vorbereitung. Denn wenn die Scheichs allen vor Ort tätigen Unternehmen die rücksichts- und maßlose Ausbeutung des asiatischen Arbeitsviehs erlauben, dann zwingen sie ja nachgerade seriöse und honorige deutsche Unternehmer, ihrem Menschenrecht auf anständige Profite gemäß den dort üblichen Standards nachzugehen.
Jetzt steht also alles, und die Fans aus aller Welt reisen an. Da muss das öffentliche Organ aller queeren Smartphone-Besitzer noch schnell eine Warnung loswerden:
„Alle Fans, die die WM in Katar (20.11.-18.12.) besuchen wollen, müssen sich auf Voll-Überwachung einstellen. Fußball-Anhänger, die bei der Wüsten-WM ins Stadion wollen, sind aufgefordert, zwei Apps auf ihrem Smartphone zu installieren. Zwar ist die Installation und aktive Nutzung der Corona-Warn-App ‚Etheraz‘, mit der Kontakte nachverfolgt werden sollen, seit dem 1. November nicht mehr verpflichtend bei der Einreise, dafür geht für Fußball-Fans ohne die offizielle WM-App ‚Hayya‘ fast gar nichts. Experten sehen in den Apps ein großes Sicherheitsrisiko, insbesondere für LGBTIQ. Grund: Beide Apps können nahezu auf alle im Handy gespeicherten Daten zugreifen. Ein erhebliches Sicherheitsrisiko – insbesondere für Lesben, Schwule, Bisexuelle, trans-, intergeschlechtliche und queere Menschen. Kann das Dating- und Sexleben von allen WM-Besuchern dadurch überwacht werden?“ (Bild, 15.11.22)
Ein Verdacht von Bild, die natürlich Katar in Sachen Überwachung alles zutraut, schließlich ist es kein Rechtsstaat, wie „wir“ es sind, wo Bild bei seiner Leserschaft das erfolgreich propagierte Selbstverständnis des deutschen Staates abrufen kann: Der präsentiert sich nämlich auch in digitalen Abhörfragen – siehe Corona-Warnapp usw. – ganz als staatliche Schutzmacht des Grundrechts seiner Bürger und lässt sich diese noble Zurückhaltung gegenüber der digitalen Privatsphäre bei „uns“ hoch anrechnen. An diesem Selbstbild können die Bild-Experten jedenfalls Katar als möglichen Überwachungsstaat ganz schlecht aussehen lassen; und addiert man das Verbot dortiger Homosexualität dazu, ist das Sicherheitsproblem fix und fertig, worauf sich „insbesondere“ LGBTIQ-Fans „einstellen müssen“. Wofür die Apps überhaupt gut sind, ob sie noch verpflichtend sind oder nicht, ob Katar irgendein Interesse daran hat, ausländische queere Menschen ausgerechnet zur WM zu überwachen – völlig unerheblich, wenn es darum geht, auch noch an dieser Stelle das Bild vom untragbaren WM-Gastgeber zu vervollständigen.
*
Keine einzige Skandalisierung, die die Öffentlichkeit so schön disparat aneinanderreiht, gilt also der Sache, die herbeizitiert wird: dem Umgang mit Arbeitern, wie er auf den globalen Großbaustellen der westlichen kapitalistischen Konzerne normal ist; dem verschwenderischen Aufwand einer Fußball-WM, mit der alle Machthaber welcher Provenienz auch immer ihrem Bedürfnis nach angemessener Repräsentation als Sportmacht nachgehen; dem patriotischen Wahn, dem Fußballfans huldigen, wenn sie einer Mannschaft von Millionären die Daumen drücken, als wäre sie die ihre; oder dem Milliardengeschäft Welt-Fußball, das sich bangladeschischer Arbeiter bedient, um den Fans in den kapitalistischen Metropolen mit Fan-Artikeln das Geld aus der Tasche zu ziehen. Die verlogenen, beliebigen und selbstgerechten Skandalisierungen nehmen von A bis Z am total idealisierten Zerrbild Maß, das die Öffentlichkeit von einer anständigen WM und vor allem von „uns“ skizziert: „Wir“ – das ist im Prinzip eine menschenrechtsfreundliche, tolerante, nachhaltige und ausbeutungsfreie Zone mit authentisch-ehrlicher Fußballkultur, der eigentlich das hohe Recht zukommt, den Weltfußball zu beheimaten; davor blamiert sich Katar mit seinem „Prestigeprojekt“ als das Negativbild davon: der unwürdige Usurpator der prinzipiell guten Sache. So viel kulturimperialistische Arroganz darf also schon sein für die patriotische Einstimmung des Volkes auf diese Spiele.
3.
Mit deren Beginn verschiebt sich die Gewichtung der Berichterstattung dann doch deutlich auf das Feld der sportlichen Konkurrenz, und ein Boykott der WM als moralische Konsequenz aus ihrer Verächtlichmachung wird ins Reich der privaten Entscheidung und des individuell-unverbindlichen Geschmacks expediert. Die Nation nimmt an der WM mehrheitlich auf dem Sofa vor dem Fernseher Anteil, schließlich will man die Veranstaltung in dem Wüstenland mit den vielen unmenschlichen und fußballerisch betrachtet unmöglichen Zuständen nicht meiden, sondern Deutschland soll bei ihr ganz groß herauskommen. Jetzt dominieren Spielpläne und -berichte, die üblichen einfühlsamen Schilderungen aus den Mannschaftsquartieren, Einschätzungen „unserer“ Erfolgsaussichten usw. die Aufmerksamkeit des Publikums. Die Mannschaft verkörpert in diesem Szenario das Recht der deutschen Nation und ihrer schwarzrotgoldenen Fans, in diesem Wettbewerb angemessen repräsentiert zu werden. Wobei angemessen das Doppelte heißt: einerseits durch ein mindestens respektables Abschneiden im Wettbewerb, mit dem sie Deutschland als Fußballnation alle Ehre macht; andererseits als Botschafter eines respektvollen Umgangs mit Schwulen und Lesben, der im Stadion entsprechende, weithin sichtbare Zeichen gegen das Gastgeberland setzt.
Beides hat dann aber von Anfang an nicht so geklappt, wie es aus deutscher Sicht eigentlich richtig gewesen wäre, weil blöderweise noch andere mitgespielt haben. Zum einen der für die Ausrichtung der Veranstaltung zuständige Weltfußballverband, der auch gegenüber der deutschen Mannschaft auf der Einhaltung seines Regelwerks besteht, welches den Spielern ein Tragen von Armbinden, die vom Gegner als Beleidigung empfunden werden können, untersagt. Zum anderen die japanischen Balltreter, die unerwarteterweise auch Fußball spielen können und im Eröffnungsspiel gegen Deutschland am Ende mehr Tore geschossen haben. Der DFB konnte sich mit seinem Herzenswunsch nach einem politischen Zeichen in der FIFA nicht durchsetzen; das Interesse, sich hinter das Anliegen der Deutschen zu stellen, hat sich bei den anderen nationalen Verbänden mindestens in Grenzen gehalten, und die für den Sport zuständige deutsche Innenministerin konnte die Angelegenheit mit ihrer jeden diplomatischen Anstand demonstrativ missachtenden regenbogenfarbenen Armbinde im Stadion auch nicht mehr herausreißen. Am Ende musste der deutsche Kapitän seine Armbinde ausziehen, und nach zwei weiteren Spielen in der Vorrunde war die Weltmeisterschaft für die deutsche Mannschaft vorbei; von Schadenfreude war sogar die Rede.
So etwas verzeiht die deutsche Öffentlichkeit ihren für die Einlösung ihres Rechts auf erfolgreiche Repräsentation der Nation zuständigen Sportlern, Sportfunktionären und -verbänden nicht. Am Tag nach dem ersten sportlichen Misserfolg der deutschen Mannschaft kommentiert die Bildzeitung:
„Blamage! Die mächtigsten Fußballnationen der Welt schaffen es nicht, eine harmlose Armbinde gegen die korrupte Fifa durchzusetzen! Mit ‚One Love‘ sollte wenigstens ein ganz sanftes Zeichen gesetzt werden gegen den irren Homo-Hass der Katarer.“ (Bild, 24.11.22; einen Tag nach der 1:2-Niederlage gegen Japan)
Die Bildzeitung ist außer sich über diese Performance. Die eigentliche Niederlage verortet sie gleich jenseits der sportlichen auf dem Feld der politischen Intrigenwirtschaft zwischen den Fußballverbänden. Wenn sich Deutschland dort nicht durchsetzen kann, muss es mit unrechten Dingen zugehen. Schließlich gehört Deutschland erstens zu den mächtigsten Fußballnationen der Welt, und als solche kann es ja wohl verlangen, dass im Weltfußball nach seiner Pfeife getanzt wird; und zweitens sind seine Anliegen sowieso nur allzu berechtigt, was man schon daran sehen kann, dass sie noch in dem Guten, auf das sie abheben, so harmlos sind, dass sich außer diesen Irren in ihrem Wüstenstaat niemand an ihnen zu stören braucht. Also ist Korruption im Spiel! Oder Schwäche aufseiten unseres DFB!
Die Zeitung argumentiert vom Standpunkt ihrer verletzten patriotischen Ansprüche aus so geradlinig wie nur was: Aufgrund der Macht, die das Blatt im deutschen Fußballbund versammelt weiß, ist das Interesse, das er der werten Meinung der Zeitung zufolge im Weltverband durchzusetzen gehabt hätte, ein Recht, dessen Durchsetzung nichts als dem Guten in der Welt – hier unter dem schönen Titel „One Love“ – dient. Und wenn dieses Recht nicht zum Zug kommt, geht die Reise rückwärts: Dann hat es der ohnehin viel zu zaghaft zu Werk gehende Verband an Durchsetzungswillen und Opferbereitschaft dort fehlen lassen, wo im deutschen Interesse an einer gelungenen Selbstinszenierung auf Kosten des Gastgebers mehr von diesen Tugenden nötig gewesen wäre:
„Aber wenn’s mal drauf ankommt, kippen die Verbände und mit ihnen die Millionärs-Sportler um wie Pappkameraden. Was hätte ihnen gedroht? Punktabzug, Stress mit der Fifa. Im Gegenzug: Ruhm, der mehr strahlt als jeder Pokal. Einmal hätten sie das Richtige getan, jenseits von Toreschießen. Chance verschenkt! Gleichzeitig singen die Iraner ihre Hymne nicht mit. In ihrer Heimat droht ihnen die Diktatoren-Regierung mit Folter und Mord, auch ihre Familien können bestraft werden. Doch die Sportler solidarisieren sich mit den Menschen in ihrer Heimat, die gegen den Terror demonstrieren. Sie sind, im Wortsinne, todesmutig. Vielleicht nicht die besten Fußballer auf dem Platz. Aber die größten Helden in Katar. Bei unseren Stars ist es leider genau andersrum: Sie spielen ordentlich. Aber mehr auch nicht.“ (Ebd.)
Bei den Spielern sieht die Sache also nicht viel anders aus. Bei denen handelt es sich um Sport-Millionäre, die keinen Stress mit der FIFA haben wollen – statt sich ein Vorbild an ihren Kollegen aus dem Iran zu nehmen, die Kopf und Kragen riskieren, um „das Richtige“ zu tun. Zur Degradierung „unserer Stars“, denen es Bild persönlich übel nimmt, dass sie die Inszenierung deutscher Größe vergeigt haben, wird ein Vergleich bemüht: „Das Richtige“, das die iranischen Sportler getan haben und die deutschen nicht hinbekommen, liegt in der Bereitschaft, für die gute Sache Opfer zu bringen. Die gute Sache liegt in dem Fall in einem Protest gegen ein Mullah-Regime, das bei BILD seit je ganz oben auf der Liste der Feindstaaten steht. Was die iranischen Sportler denken und wollen, die mit ihrer Weigerung, die Hymne mitzusingen, ihrem Staat den Respekt verweigern, interessiert darum in dem Zusammenhang überhaupt nicht: Sie werden von der Zeitung einfach vereinnahmt für das, was sie an diesem Protest gut findet – und das ist die hervorragende, sich im Todesmut beweisende Einstellung, mit der diese jungen Leute vertreten, wovon sie überzeugt sind. Für die Dauer, in der dieses jedem Moralisten geläufige Argument seine Überzeugungskraft entfalten soll, erklärt Bild sogar den Fußball und das Abschneiden der deutschen Mannschaft bei der WM zu einer Angelegenheit von nachrangiger Bedeutung. Natürlich ist es weder Bild noch sonst einer deutschen Zeitung wirklich gleichgültig, wie Deutschland bei der WM abschneidet: Mit einer Einstellung Marke ‚Vielleicht sind wir nicht die besten Spieler auf dem Platz, aber mit unserem Eintreten für die Rechte der Schwulen haben wir es der Welt gezeigt‘ hätten sich Neuer & Co schon gleich nicht mehr blicken lassen können. Selbstverständlich muss Deutschland bei der WM gewinnen oder jedenfalls ganz vorne mitspielen, und dass sie das nicht hinbekommen haben, ist immer noch das Erste, was die Vertreter der öffentlichen Meinung den Sportlern, die diese Leistung auf den Platz zu bringen haben, und dem hinter ihnen stehenden Verband, der dafür die Voraussetzungen zu schaffen hat, nicht verzeihen. Der Focus stellt die Sache klar und bringt die in der Bewertung des deutschen Fußballs und seiner Leistungen für die Inszenierung deutscher Größe fälligen Argumente auf seine Weise in die richtige Reihenfolge:
„Der DFB sollte nachdenken, ob er noch Menschenrechtsfußball spielen will. Denn so wird man nicht einmal Moralweltmeister. Und Fußballweltmeister schon gar nicht... Wie wäre eine solche politische Aktion angekommen, wenn es wirklich so gekommen wäre und Deutschland so gut gespielt hätte wie Spanien gegen Costa Rica? Es liegt nahe: Ein Sieg hätte der DFB-Politik Schub verliehen. Die Konsequenz: Wer das eine Spiel, das sportliche, verliert, der verliert auch das andere, das politische. Eine Frage der Glaubwürdigkeit.“ (Focus Online, 24.11.22)
Es ist aufschlussreich, wie verächtlich die Öffentlichkeit über die eigenen höchsten „Werte“ schwadronieren kann, wenn das bei der WM wirklich Entscheidende – dass Deutschland aus dem Wettbewerb siegreich hervorgeht – nicht zu haben ist. Dann wird aus unseren Werten ganz schnell „Moral-Firlefanz“; und aus dem Versuch, die Fußballweltmeisterschaft zur Plattform für die im Gastland malträtierten Menschenrechte zu machen, wird ein vom DFB angeordneter, verfehlter „Menschenrechtsfußball“, mit dem gar nichts zu gewinnen ist. Dem Focus ist eines sonnenklar: Erst einmal muss man eine Position, die beeindruckt, schon errungen haben – und zwar in einem anderen Fach als dem der Moral! –, dann wird es auch etwas mit der moralischen Größe und mit deren Anerkennung durch andere. Er hält das für eine „Frage der Glaubwürdigkeit“: Wer keine Erfolge vorzuweisen hat – und sei es im Fußball, um den es bei der WM nun mal geht –, macht sich nur lächerlich in der Pose desjenigen, der andere zurechtweisen kann. Und umgekehrt: Mit einer guten Performance auf dem Spielfeld, einem, zwei, vielen Siegen der deutschen Mannschaft, hätte die „politische Aktion“ von Neuer & Co unter einem viel günstigeren Stern gestanden. Das sind schon interessante Auskünfte über den Zusammenhang von Moral und Erfolg, so wie er sich im Kopf räsonierender Patrioten darstellt, denn sie reden ja über nichts anderes als darüber, was ihnen ein anerkennendes ‚Respekt!‘ entlockt hätte bzw. entlocken würde. Mit einem deutschen Sieg im Rücken hätte jedenfalls auch der Focus der deutschen Mannschaft zu ihrer politischen Aktion gratuliert – die Moral hätte dann ja auch, wie es sich gehört, den Erfolg überhöht. Und so hätte es ja eigentlich auch kommen sollen: Vor der WM war man sich in der deutschen Öffentlichkeit jedenfalls weitgehend einig gewesen, dass die deutsche Mannschaft in Katar nicht einfach zum Fußball antreten kann; dass sie Deutschland dort nicht nur als große Fußballnation, sondern auch als auswärts für ‚good governance‘ zuständige Ausnahmenation zu repräsentieren und in dieser Eigenschaft „ein Zeichen zu setzen“ hat. So aber, nachdem es mit dem Fußball nicht geklappt hat, besteht dieselbe Presse darauf, dass dies ein Fehler war. Und sie will sogar wissen, dass dieser Fehler der deutschen Mannschaft letztlich den Sieg gekostet hat. In seinem Kommentar fährt der Focus fort:
„Wer jemals in einem sportlichen Wettkampf gestanden hat, ganz gleich in welcher Disziplin, der weiß: Die Entscheidung über Sieg oder Niederlage fällt im Kopf. Immer. Und der Kopf muss frei sein. Ist er es nicht, verliert man. Zufälle gibt es nicht, was es gibt, ist eine Kette von Entscheidungen. In den Köpfen der deutschen Elf war jedenfalls noch viel Platz für Nicht-Fußball, dafür, ein Zeichen zu setzen.“ (Ebd.)
Demnach wären Neuer & Co nicht an ihren Gegnern gescheitert, sondern daran, dass sie den Kopf voll mit der Überlegung hatten, wie sie Zeichen setzen und Haltung zeigen können. Das ist natürlich bodenloser Unsinn, hat aber Methode: Zum Standardrepertoire, mit dem der Focus seine Kommentare zusammenstrickt, gehört der im Falle eines solchen Scheiterns jederzeit mobilisierbare Verdacht, dass an einem Übermaß an Moral das Interesse leidet, um das es eigentlich hätte gehen müssen. Woraus immer nur eine Konsequenz zu ziehen ist: dass das Interesse befreit werden muss aus den Fängen der Moral. Und weil er gerade in Fahrt ist, fällt dem Kommentator dazu gleich noch einiges mehr ein:
„Moralweltmeister zu sein ist wichtiger als Fußballweltmeister. Das ist die Aussage [eines ARD-Kollegen, der auf dem Vorrang der Moral vor dem Sieg besteht]. Sie zeigt die Verkrampfung an, die es zur Folge haben kann, wenn mindestens von öffentlichen Menschen verlangt wird, immerzu ‚Haltung‘ zu zeigen, natürlich die richtige. Im konkreten Fall jene, die die SPD-geführte Bundesregierung mit ihrem Satz von der ‚wertebasierten Außenpolitik‘ vorgegeben hat. Werte heißt übersetzt: Moral vor Interesse, Moral vor Geld. Diese ‚Werteorientierung‘ hat es lange schon in den deutschen Fußball geschafft, lang bevor der frühere SPD-Vorstandssprecher Neuendorf Präsident des DFB wurde.“ (Ebd.)
In seinen Augen handelt es sich bei dem, was er als Grund für das Scheitern der Nationalmannschaft ausgemacht haben will, überhaupt um ein Grundübel der Zeit. Für das weiß der Focus – was er im Vorbeigehen mal eben auch noch mitteilt – seiner redaktionellen Generallinie gemäß natürlich die SPD verantwortlich, die mit ihrer Werteorientierung überall hineinregiert: in die Außenpolitik ebenso wie „in den deutschen Fußball“, und die insofern auch für das schlechte Abschneiden der Nationalmannschaft bei der Weltmeisterschaft verantwortlich zu machen ist. Dieses Grundübel besteht in einem Überschießen der Moral, mit dem den nationalen Interessen ein schlechter Dienst erwiesen wird: Die Politik kann den von ihr damit so hoch angesiedelten Ansprüchen nicht gerecht werden – sie wird angreifbar, weil sie schuldig bleibt, was sie selbst angestoßen hat, oder geht um der ‚Haltung‘ willen in eine Richtung, die dem nationalen Wohl gar nicht zuträglich ist. Als Beispiel für eine solche Politik, die dann moralisch fehlgeleitet letztlich aus einer Position der Schwäche heraus gemacht wird, der deswegen Erfolge versagt bleiben und mit der man sich nur unglaubwürdig machen kann, fällt dem Focus ein Grüner ein:
„Manche von uns neigen zum Extremismus im Prinzipiellen. Es handelt sich um eine Haltung, mit der man sich leicht doppelmoralisch verheddern kann, etwa wenn man katarische Sklavenhalter um Gas anbetteln muss. (Die eigentliche Nachricht ist nicht, dass Robert Habeck sich vorm Scheich verbeugte, sondern: Dass er nicht einmal katarisches Gas mitbrachte.)“ (Focus Online, 24.11.22)
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Während sich also die Bildzeitung in dem Gegensatz von Moral und Interesse auf die Seite der Moral schlägt – den Verbänden und Spielern, die ihr Geschäft vergeigt haben, vorrechnet, dass sie sich schon anlegen müssen mit denen, denen sie mit ihrer werteorientierten Performance auf die Füße treten; dass dies mit Kosten verbunden ist („Punkteabzug“!) und dass sie diese Kosten in Kauf nehmen müssen, wenn sie Deutschland bei der Gelegenheit als menschenrechtsbeauftragte Vorzeigenation repräsentieren wollen –, nimmt der Focus das Scheitern der deutschen Nationalmannschaft bei der WM umgekehrt zum Anlass für eine Kritik der Moral im Namen des Interesses.
So sind sie, die Journalisten. Sie müssen ja weder Fußballspiele gewinnen noch die Nation repräsentieren, geschweige denn beides unter einen Hut bringen. Sie müssen nur dann, wenn wieder mal nicht alles zu ihrer Zufriedenheit gelaufen ist, sagen, woran es gelegen hat. Und haben dabei alle Freiheiten, sich so oder so zu entscheiden.
[1] Zur Illustration der Dimension sei hier nur die ungeheuerliche Tatsache angemerkt, dass die Zahl der echten katarischen Staatsbürger weniger als zwei Drittel der Zahl deutscher Bundesligadauerkartenbesitzer beträgt. Und die Fläche von Katar beträgt nur etwas mehr als das Vierfache der Fläche des Saarlands, das bekanntlich in der Bundesliga gänzlich abwesend ist.
[2] So war Katar in den 1990ern – wie gesagt: dem Jahrzehnt seines Aufbruchs zum wirklich relevanten regional- und weltpolitischen Subjekt – die erste Golfmonarchie, die offizielle diplomatische und kommerzielle Beziehungen zu Israel aufnahm, als dieser Staat noch als feindseliger, jüdisch-westlicher Fremdkörper im Herzen der islamisch-arabischen Welt verfemt war und boykottiert wurde. In den 2000er- und 2010er-Jahren, als sich Israel mit seinem auf überlegener Gewalt samt inoffiziellem Atommachtstatus beruhenden Kurs der Verweigerung jedes Kompromisses hinsichtlich des Arrangements mit einem potenziellen palästinensischen Staat immer deutlicher durchsetzte und die anderen arabischen Golfstaaten auch mit Blick auf ihre Rivalität mit Iran zu immer größeren Kompromissen aufgelegt waren – gipfelnd in den „Abraham-Abkommen“ des Jahres 2020 –, verlegte sich Katar wiederum auf eine abweichende eigene Linie: Es unterstützt die antiisraelische Hamas-Bewegung im Gaza-Streifen und tut auch sonst viel, um den arabischen Versöhnungskurs mit Israel als Verrat duckmäuserischer Herrscher am arabischen Anspruch auf glaubwürdige Israel-Feindschaft zu geißeln.
Und auch die Beziehungen Katars zur NATO-Macht Türkei verlaufen auffällig antizyklisch zu denen, die die große arabische Macht Saudi-Arabien pflegt...
[3] So siedeln zum Beispiel Teile von einem der größten Stämme nicht nur dies- und jenseits der katarisch-saudischen Grenze, sondern haben sich – ausgestattet mit katarischer Staatsbürgerschaft – als Grenzpolizei auf der Seite und im Dienste Saudi-Arabiens verdingt.
[4] Nicht zuletzt ein paar von der Vergabe der WM an Katar durch die FIFA beleidigte europäische „Fußballnationen“ standen prompt auf der Matte und boten sich ganz uneigennützig als alternative Austragungsländer an.
[5] Die Felder und Schwerpunkte von Zusammenarbeit und Streit ändern sich naturgemäß vor allem mit den wechselnden Hauptanliegen Amerikas in Bezug auf die Region: Als es um 2011 darum ging, Gaddafi und nachher Assad zu entmachten, waren die Verbindungen Katars zu den islamistischen Strömungen und Gruppierungen durchaus willkommen. Dass im Umkreis desselben ‚Sumpfes‘ der IS seine Anhänger rekrutiert hat, passte aber überhaupt nicht – und entsprechend ist Katars Rolle als staatlicher Hauptsponsor dieser frommen Aktivisten dann von Amerika beäugt und kritisiert worden: mit allen Übergängen von der stillen Duldung über geheimdienstliche Deals dahingehend, wo welche antiamerikanischen Islamisten sich austoben können sollten und von wo Katar sie zurückpfeifen soll, bis hin dazu, dass unter Trump Katar zwischendurch offiziell den Status eines Terrorunterstützerstaats zugewiesen bekam. Ähnlich uneindeutig, also pragmatisch wechselnd, ist Amerikas Umgang mit dem Verhältnis Katars zu Iran. Zur großen Schiitenmacht bemüht sich Katar um halbwegs gütliche Beziehungen. Erstens ist die vergleichsweise große Macht potenziell eine Bedrohung für den sunnitischen Kleinstaat; zweitens braucht Katar die Verständigung mit Iran für die ungestörte Ausbeutung des „South Pars Gas Fields“, des größten derzeit bekannten Erdgasfelds der Welt, das sich unter den Festland- und maritimen Hoheitsgebieten beider Staaten erstreckt; drittens sind Einvernehmen und Kooperation mit Iran für Katar ein Gegengewicht zur ausschließlichen und von Saudi-Arabien dominierten Integration in die Gemeinschaft der arabischen Golfmonarchien – während der paar Jahre der saudisch angeführten Blockade hat sich das für Katar tatsächlich als ökonomische Lebensversicherung bewährt. Je nach dem in Washington aktuell verfolgten Kurs gegenüber dem regionalen Hauptfeind erweist sich Katars Sonderbeziehung zu Iran als bedingt brauchbares Mittel amerikanischer Politik – so wie unter Obama zu Zeiten seiner Nuklear-Diplomatie – oder als Obstruktion der amerikanischen Iran-Feindschaft, so wie es unter Trump ganz radikal der Fall war. Von Biden mit seiner modifizierten Iran-Feindschaft lässt sich Katar einerseits zu einem Stück Distanzierung von Iran bewegen: Im Frühjahr 2022 war das der Preis für die offizielle Aufwertung Katars zum „major non-Nato ally“, womit Katar den privilegierten Zugang zu sensibler amerikanischer Militärtechnologie erhält; im Dezember ist ein ziemlich umfangreicher Deal über die Lieferung von technologisch fortschrittlichen, strategisch entscheidenden Anti-Drohnen-Waffen abgeschlossen worden, der Irans Drohnenbedrohungsszenario gegenüber den Golfstaaten und den dort stationierten amerikanischen Truppen entscheidend relativieren könnte und Katar definitiv schon eine strategische Aufwertung gegenüber den anderen arabischen Golfmonarchien verspricht. Andererseits behält sich die Biden-Administration vor, Katars gutes Verhältnis zu Iran für Vermittlerdienste im Rahmen seiner aktualisierten Atomdiplomatie mit den Mullahs zu benutzen – analog zu Katars diplomatischen Hilfsdiensten im Verhältnis zu den Taliban bei der Vorbereitung des US-Abzuges aus Afghanistan.
[6] Von der Zurücksetzung seitens des amerikanischen Verbündeten, die am Verhältnis zu Katar deutlich wird, kann gerade Deutschland ein Lied singen: Trumps separate Diplomatie mit den afghanischen Taliban hat die verehrten europäischen Partner inklusive Deutschland – damals immerhin zweitgrößter westlicher Truppensteller in Afghanistan – nicht mal als Beisitzer geduldet; Katar kam dafür die Ehre zu, diese amerikanische Separatdiplomatie zu vermitteln. Dafür musste seinerzeit der deutsche Botschafter in Katar antichambrieren, um über diese Verbindung irgendwelche Zugeständnisse von den Taliban bezüglich der Sicherheit deutscher Mündel (man erinnere sich hier an den kurzzeitig zu Ehren und Bekanntheit gelangten Stand der „Ortskräfte“) in Afghanistan zu erwirken. Dem deutschen Bedarf, im Rahmen des Energiekriegs gegen Russland alternative Lieferanten zu finden, hat Katar sich nicht verweigert, es hat ihn aber für zwei deutliche Klarstellungen genutzt: Eine künftige Lieferbeziehung ist ausdrücklich nicht als Einschwenken in die westliche Feindschaft gegen Russland zu verstehen, mit dem Katar auch jetzt noch seine nützlichen Beziehungen pflegt. Und dies hat zweitens die ganz praktische Bedeutung gehabt, dass Katar es ausdrücklich abgelehnt hat, seine bestehenden bzw. angebahnten Lieferbeziehungen zu anderen Staaten – asiatischen insbesondere, aber auch zu Italien – zu modifizieren, um dem heldenhaft antirussischen Energiekrieg Deutschlands den nötigen Brennstoff zu liefern. Und dann musste Deutschland, das sehr darauf gesetzt hat, dass es unter Biden im Rahmen der multilateralen Atomdiplomatie mit Iran seine alte Wichtigkeit zurückgewinnt, zur Kenntnis nehmen, dass es schon wieder von Amerika links liegen gelassen wird und stattdessen – diesmal nach dem sang- und klanglosen Ende der Verhandlungen in der Hauptstadt unseres österreichischen Nachbarn – Katar zum Gastgeber separater amerikanischer Verhandlungen, diesmal mit Iran, geworden ist.
[7] Sport und Spiel gibt’s freilich schon und auch von alters her. Zu nennen ist da vor allem die schöne Tradition der Kamelrennen. Bei denen steht aber das Tier, das möglichst edle, im Vordergrund und Mittelpunkt. Die zugehörigen Sportler sind bloß das an Gewicht möglichst gering zu haltende Zubehör, als welches daher vor allem vier- bis siebenjährige Knaben fungierten, bis auch hier neumodische Verbote, Alters- und Gewichtsuntergrenzen etc. in Kraft getreten sind. An Alternativlösungen in Form von Kamelreitrobotern, an denen vor allem findige Japaner tüfteln, wird weiter gearbeitet.