Die Kaliningrad-Blockade durch Litauen
Ein beherzter Vorstoß in der Auseinandersetzung mit Russland
Litauen blockiert im Juni Versorgungslieferungen mit Kohle, Metallen, Baumaterial und Technologiegütern für die zwischen Polen, Litauen und der Ostsee gelegene russische Exklave Kaliningrad. Der Fall hat auch eine nicht ganz unwichtige militärische Qualität.
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Die Kaliningrad-Blockade durch Litauen
Ein beherzter Vorstoß in der Auseinandersetzung mit Russland
Litauen blockiert im Juni Versorgungslieferungen mit Kohle, Metallen, Baumaterial und Technologiegütern für die zwischen Polen, Litauen und der Ostsee gelegene russische Exklave Kaliningrad. Der Fall hat bekanntermaßen auch eine nicht ganz unwichtige militärische Qualität, denn:
„In der Hafenstadt ist die russische Ostseeflotte stationiert. Nach russischen Angaben befinden sich dort auch atomwaffenfähige Iskander-Raketen. Zudem leben in der Enklave ungefähr 430 000 Menschen, die versorgt werden müssen. Darüber hinaus liegt die Enklave an der sogenannten ‚Suwalki-Lücke‘, die die 100 Kilometer lange polnisch-litauische Grenze bezeichnet, die allgemein als Achillesferse der NATO angesehen wird.“ (Telepolis, 21.6.22)
Wegen dieser brisanten Lage genießt Litauen viel Verständnis vonseiten der fachkundigen Presse:
„Der litauischen Regierung bereitet das Kaliningrader Gebiet vor allem aus Sicherheitsgründen Kopfzerbrechen. Kaliningrad ist der Hauptstützpunkt der Baltischen Flotte, in der Region finden regelmäßig militärische Übungen statt.“ (FAZ, 22.6.22)
Und dieser Sorge scheint der Staat offensichtlich am besten gerecht zu werden, wenn er selber die Lage anheizt.
Für ihren Beschluss bemüht die litauische Regierung eine Auftragslage, nach der sie ja nur die von der EU beschlossenen Sanktionen durchsetzen möchte, präsentiert sich in aller Unschuld als bloßes Ausführungsorgan der EU. Außenminister Gabrielius Landsbergis:
„Es ist nicht Litauen, das etwas tut – es sind die europäischen Sanktionen, die am 17. Juni in Kraft getreten sind.“ (Telepolis, a.a.O.)
Russland reagiert heftig, beruft sich auf völkerrechtliche Vereinbarungen
, die Gemeinsame Erklärung
der EU und Russlands über den Transit in das Kaliningrader Gebiet aus dem November 2002 und bewertet die Aktion als offen feindlich
. Die Sprecherin des Außenministeriums Marija Sacharowa:
„Wenn Russland die Handlungen eines Landes für ‚feindlich‘ erklärt habe, ‚dann geht es nicht mehr um Gespräche, nicht mehr darum, irgendwelche Formeln zu finden, die die Lage beruhigen können‘.“ (FAZ, a.a.O.)
Nikolai Patruschew, der Chef des Nationalen Sicherheitsrats, kündigt Vergeltungsmaßnahmen mit schwerwiegenden negativen Folgen für die Bevölkerung in Litauen an
(junge Welt, 22.6.22). An was man da denkt, bleibt vorerst offen, aber in dem Zusammenhang erinnern politische Experten daran, dass die baltischen Staaten, ihre Häfen und das Transportgewerbe entscheidend vom Geschäft mit russischer Ware leben und auch ihre Stromversorgung immer noch ans russische Stromnetz angeschlossen ist.
In den Führungsetagen der EU war man zwar bisher noch nicht auf die Idee gekommen, die auf russische Exporte gemünzten Sanktionspakete auf die gewissermaßen innerrussische Verbindung nach Kaliningrad anzuwenden. Aber ihrem Hohen Vertreter für Äußeres, Borrell, gefällt der litauische Vorstoß erst einmal, sodass er weit und breit keine Blockade sehen kann:
„Es handele sich nicht um eine Blockade Kaliningrads, sondern lediglich um das Transportverbot für bestimmte Arten von Waren.“ (Telepolis, a.a.O.)
Dennoch fällt die Reaktion im europäischen Bündnis nicht ganz so einheitlich aus. Einige Staaten befinden das Eskalationspotential
des Falls – das teilweise Abschnüren eines Landesteils von Russland – für zu hoch oder aktuell nicht angeraten:
„In Europa wächst die Sorge, dass sich der Konflikt um den Transitverkehr in die russische Exklave Kaliningrad zu einer Konfrontation zwischen der NATO und Russland auswächst. Bundeskanzler Olaf Scholz sagte beim NATO-Gipfel in Madrid, es gehe ‚um den Verkehr zwischen zwei Teilen Russlands‘. In diesem Lichte müsse die Europäische Union ‚die notwendigen Rahmenbedingungen‘ festsetzen. Die Beteiligten seien bemüht, ‚eine Deeskalationsdynamik zu etablieren‘, versicherte Scholz... Die Interpretation Litauens wird nicht von allen Mitgliedstaaten geteilt. Der EU-Rat habe nie vorgehabt, den Transit von russischen Gütern nach Kaliningrad zu unterbinden, heißt es nun in Brüssel... Deshalb findet nun ein diplomatischer Drahtseilakt statt. Die EU-Kommission will in den kommenden Tagen eine neue ‚Guidance‘ herausgeben.“ (Handelsblatt.com, 30.6.22)
Es gibt schließlich einen Vertrag mit Russland, der die Versorgung der Exklave über EU-Gebiet garantiert:
„In Brüssel wurde hinter vorgehaltener Hand eingestanden, dass Vilnius in der Tat die 2002 geschlossene Vereinbarung über den Transport von Waren und Personen nach Kaliningrad verletze.“ (FAZ, 1.7.22)
Nachdem sich Litauen weigert, dieser Vertragsauslegung nachzukommen, wird von der EU-Kommission die eigene Vertragstreue auf die neue Lage hin ausgelegt:
„Demnach dürfen zivile Güter auf dem Schienenweg, der über Litauen führt, weiterhin transportiert werden. Das betrifft etwa Produkte aus Stahl, Eisen, Holz sowie Kohle und Öl. Allerdings muss die litauische Regierung diesen Verkehr mit ‚gezielten, verhältnismäßigen und wirksamen Kontrollen‘ überwachen und dabei darauf achten, dass das Transitvolumen ‚innerhalb des historischen Durchschnitts der letzten drei Jahre‘ bleibt. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass Lieferungen ‚die tatsächliche Nachfrage nach essenziellen Gütern am Zielort widerspiegeln‘, die Waren also für Kaliningrad selbst bestimmt sind.“ (FAZ, 14.7.22)
Europa verschafft sich also ein Kontrollrecht über die Güter, die auf dem Landweg nach Kaliningrad geliefert werden. In Brüssel weiß man besser, was dort „tatsächlich“ gebraucht wird und was nicht, zumal die meisten der genannten Güter ja auch die interessante „Dual-Use“-Eigenschaft besitzen, womit die EU-Kommission jetzt ihr Recht auf Blockade begründet: Diese Regelung gilt jedoch nicht für sanktionierte militärische Güter und solche, die für zivile wie militärische Zwecke verwendet werden können.
(Ebd.) Für die Ausdehnung ihrer Sanktionen auf ein Stück innerrussische Versorgung hat man im alten Vertrag auch den passenden Paragraphen gefunden:
„Die Kommission verweist zur Begründung auf einen Artikel der einschlägigen Verordnung, der den Transport von Gütern zwischen Russland und Kaliningrad erlaubt, sofern er nicht ausdrücklich verboten ist.“ (Ebd.)
Man agiert also ganz im Rahmen „regelbasierter“ Politik: Europa hält sich nur an das, was verboten ist, und das, was verboten ist, legt es selber fest.
Diese europäische Rechtsauslegung verschafft Litauen nun neue Kontrollrechte und eröffnet ihm die Gelegenheit, seine Politik der Repressalien gegen Kaliningrad weiter zu verfolgen.
„Litauen ist demnach angehalten, Kontrollen vorzunehmen, ob es ‚ungewöhnliche‘ Waren- oder Verkehrsströme nach Kaliningrad gibt. Durch die Regelung soll verhindert werden, dass Russland auf Sanktionslisten stehende Güter über Kaliningrad in andere Länder transportiert und so Strafmaßnahmen umgeht... Offen ist noch, ob die neuen Leitlinien zu einer Entspannung der Lage beitragen.“ (DW, 13.7.22)
Gute Frage. Zumal die Deutsche Welle die Antwort auch schon kennt:
„Dagegen spricht, dass Litauen den Warenverkehr zwischen Russland und Kaliningrad weiter mit Kontrollen verzögern kann. So bildeten sich am Mittwoch nach Angaben des litauischen Rundfunks an den Grenzübergängen längere Schlangen von Lastwagen.“ (Ebd.)
Die litauische Regierung zeigt sich also wenig beeindruckt von den russischen Drohungen; auch die nächste Eskalationsstufe ist bereits in die Wege geleitet:
„Mehrere Banken Litauens haben angekündigt, jeglichen Zahlungsverkehr mit Russland zum 1. September einzustellen.“ (FAZ, 30.7.22) –
was der Annahmeverweigerung von russischerseits an Litauen abzuführenden Transitgebühren für die Nutzung der Infrastruktur gleichkäme und den Gütertransport von und nach Kaliningrad nun auf diese Weise verunmöglichen würde:
„Litauen ist nicht dafür verantwortlich, der Russischen Föderation bei der Finanzierung der Transporte zu helfen. Dafür ist Russland verantwortlich. Es muss selber Mittel und Wege finden, wie es seine Schulden begleichen und bezahlen kann.“ (Außenminister Landsbergis gegenüber dem litauischen Fernsehsender LRT am 8.8.22)
Dabei vernachlässigt man auch nicht die große nationale Sicherheitssorge bezüglich des sogenannten „Suwalki-Korridors“, der eigentlich kein Korridor ist, sondern die Entfernung zwischen Kaliningrad und Weißrussland bezeichnet, die laut der strategischen Sicht der NATO aber von Russland dazu benutzt werden könnte, die Baltenstaaten von den übrigen NATO-Ländern abzuschneiden
(Deutsche Wirtschaftsnachrichten, 8.7.22).
Deshalb reisen der litauische und der polnische Präsident gemeinsam zu einem Besuch bei der Multinationalen Division Nord-Ost an diese Grenze und versichern:
Die Region „ist sicher, und das liegt daran, was man hier heute beobachten kann: den täglichen, ruhigen, aber absolut wachsamen Dienst der polnischen, litauischen und NATO-Soldaten. Mit der geplanten Verstärkung der Ostflanke der NATO werde sich die Zahl der in der Region stationierten Soldaten von derzeit 40 000 auf 300 000 erhöhen.“ (Ebd.)
Man ist schließlich nicht allein auf sich gestellt. Im Fall des Falles stehen genügend Kräfte vor Ort, um das Risiko des Suwalki-Gaps durch das „Abschneiden“ Kaliningrads zu bewältigen.
So groß kann die vielbeschworene Furcht vor dem großen Russland offensichtlich nicht sein, wenn sich die litauische Regierung von ihrem vergleichsweisen Zwergenformat nicht daran hindern lässt, sich in ihrem Gebiet zum Vorreiter beim Wirtschaftskrieg gegen die Russische Föderation zu machen. Ihr Mut reicht erklärtermaßen sogar so weit, dass man sich zutraut, die in Sachen Russlandfeindschaft immer noch viel zu träge Gesamt-EU auf Trab zu bringen. Präsident Gitanas Nausėda betonte:
„Für Litauen wäre es kein Fehler, wenn der Streit über Kaliningrad zur Einschätzung beitragen würde, was ‚Russlands wirklich ist‘. Das könnte jenen den Wind aus den Segeln nehmen, die Moskau helfen wollten, das Gesicht zu wahren.“ (junge Welt, 23.6.22)
Gegenüber diesen notorischen „Jenen“ in der EU kann man ja auch noch mit einem ganz anderen, großen, nämlich transatlantischen Verbündeten rechnen. Und mit dieser Versicherung im Rücken kann auch ein kleines Mitglied der großartigen Friedensordnung in Europa sein Bestes tun zur Herstellung von einem Stück Eskalation außerhalb des ukrainischen Schlachtfelds.