Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Statusfragen der verlogenen Art:
Käfige, Gehege oder Zellen? Wie sind Taliban korrekt zu internieren?

Gefangene „Terroristen“ als „Kriegsgefangene“ anzuerkennen, kommt für die USA nicht in Frage. Sie statuieren an ihnen ein Exempel: Wer sich gegen die Weltmacht versündigt, ist ein Outlaw, der überhaupt von keinem Recht der Welt einen „Schutz“ zu erwarten hat; er ist der amerikanischen Gewalt ausgeliefert und steht vor der Rechtsinstanz, die auf der Welt über jeden Zweifel erhaben ist.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Statusfragen der verlogenen Art:
Käfige, Gehege oder Zellen? Wie sind Taliban korrekt zu internieren?

Mit verbundenen Augen, an Händen und Füßen gefesselt und mit Beruhigungsmitteln voll gepumpt, wird die Jagdbeute des amerikanischen Antiterrorkriegs auf den Stützpunkt Guantánamo verfrachtet. Die aufwendigen Sicherheitsvorkehrungen beim Transport sind notwendig und verdanken sich ganz dem brisanten Frachtgut. Noch an den Besiegten, die ihr auf Gedeih und Verderb ausgeliefert sind, entdeckt die US-Macht die unvorstellbare kriminelle Energie, die in ihnen steckt: Die übelsten Elemente von Al-Kaida und Taliban sind jederzeit in der Lage, einen Hydraulikschlauch durchzubeißen, um ein Flugzeug zum Absturz zu bringen (Generalstabschef Myers). Schon deswegen hat Amerika einerseits nicht die Absicht, es ihnen bequem zu machen (Brigadegeneral Lehnert, der Lagerleiter), sondern allen Grund, seinen Kampf gegen den Terrorismus im Camp X-Ray konsequent fortzusetzen. Andererseits beschämt diese großartige Nation selbst die übelsten „Barbaren“ mit ihrer Großzügigkeit und Toleranz. Die Internierten müssen sich nun nicht mehr in Höhlensystemen verstecken, sie können sich in licht- und luftdurchfluteten Drahtverschlägen von immerhin 4 Quadratmetern ohne Fußfesseln frei bewegen. Nachts, wenn die Moskitos aus den Mangrovensümpfen aufsteigen, lässt man sie schlafen. Zur Ausstattung ihrer Gehege gehören ein Eimer, eine Decke und zwei Badehandtücher. Eines sollen die Muslime als Gebetsteppich benutzen. Einen Koran haben sie erhalten und bei den Mahlzeiten bemüht sich die US-Armee um ‚ihrer Kultur entsprechende‘ Speisen. (SZ, 22.01.02) Auch um die Gesundheit und Hygiene wird sich gekümmert: Sie können täglich duschen, werden medizinisch untersucht, ihre Köpfe zwecks „Entlausung“ kahl geschoren; dazwischen werden sie intensiv verhört. (ebd.)

Seit die Bilder von der Käfighaltung der Taliban um die Welt gehen, steht das Völkerrecht wieder einmal hoch im Kurs, vor allem diesseits des Atlantik, wo die Anwälte der Menschenrechte wohnen, die auch die besten Freunde Amerikas sind. Hier gibt man sich irritiert. Gewiss, die Methoden der Aufbewahrung gewisser Personengruppen und Menschenrassen sowie ihre Verfrachtung per Luftpost sind auch in Europa nicht ganz unbekannt. Aber das lässt sich nicht vergleichen, denn bei der Kasernierung der Taliban geht es ja nicht um das Abschieberecht des Staates bei illegaler Einwanderung, sondern um den Umgang mit Gefangenen, die unter dem Schutz der „Genfer Konvention“ stehen. Die genießt unter Menschenrechtsfreunden einen so guten Ruf, dass sich die Frage stellt, womit sie den verdient.

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Dass Staaten – jenseits aller ideologischen Rechtfertigungen ihrer jeweiligen Waffengänge – ein grundsätzliches Recht darauf reklamieren, gegeneinander Krieg zu führen und dafür ihr Volk zu verheizen; dass sie dieses Recht als den unverzichtbaren Kern ihrer Souveränität nach außen ansehen und sich den launigen Scherz leisten, sich die wechselseitige Vernichtung auch noch völkerrechtlich zuzugestehen – das ist das Fundament, auf dem die bahnbrechende Konvention beruht. Die zivilisierten Nationen sind so frei, sich bei den Exzessen ihrer Gewalt auf Regeln zu verständigen, die sie dazu anhalten sollen, den Gebrauch dieser Gewalt ausschließlich zweckmäßig und mit dem gehörigen Respekt voreinander und vor ihren Völkern zu handhaben.

Für den Fall der „Gefangennahme“ ihrer Soldaten haben sich die Staaten etwas besonders Humanes ausgedacht. Eingedenk ihrer Praxis, die wehrlos gemachten Feinde die ganze Rache der Nation spüren zu lassen – sei es durch „Kriegsverbrechen“ der handelsüblichen Art; durch Folter, um an nützliche Informationen zu gelangen; durch „Wiedergutmachung“ in Arbeitslagern etc. –, haben sie sich darauf verständigt, es auf diesem Feld nicht zu weit zu treiben. Denn nach dem Gemetzel kommt der Anstand zu seinem Recht: Gefangene sollen „menschenwürdig“ behandelt werden; sie sollen nicht getötet, nicht gefoltert werden, sondern medizinisch versorgt und sogar ernährt; und wenn der Krieg aus ist, sollen sie „ohne Verzug“ wieder nach Hause dürfen. So bekunden Staaten ihren Respekt vor ihresgleichen – als Krieg führende und kriegsberechtigte Nationen, die nach der Entscheidung im Waffengang wieder zum nützlichen Verkehr mit- und gegeneinander zurückfinden wollen. Sie verzichten daher glatt darauf – jedenfalls nach dem „Geist“ dieser großartigen Konvention –, die feindlichen Bürger in Uniform, die das Hauen und Stechen überleben und ihnen in die Hände fallen, als lebende Kriegsbeute einzubehalten und entsprechend zu behandeln. Stattdessen anerkennen sie wechselseitig ihre Eigentumsrechte an dem Menschenmaterial, das ihnen von Haus aus zusteht, und das sie für ihre friedliche Zukunft – oder den nächsten Waffengang – wieder fest verplanen.

Ein feiner „Schutz“ also, dieses Genfer Kriegsrecht, für das Kanonenfutter der Nationen. Das soll beim wechselseitigen Umbringen erst einmal gründlich seine vaterländische Pflicht erfüllen und für möglichst viele Opfer auf der anderen Seite sorgen, damit sich sein eigenes für das Vaterland lohnt. Wer das Gemetzel auf dem Schlachtfeld heil – oder mehr oder weniger versehrt, aber immerhin lebend – übersteht, der freilich kann sich zum Völkerrecht gratulieren und seine „Gefangennahme“ als ein wahres Glück auffassen, weil die dann doch die bessere Alternative zum Sterben auf dem Feld der Ehre ist. Allerdings: Ob, wann und in welchem Umfang es zu den herzzerreißenden Szenen der „Heimkehr“ oder des „Austauschs“ von Gefangenen kommt; wie lange, in welcher Weise und mit welchem politischen Kalkül sich ein Staat am Kanonenfutter seiner Feinde schadlos hält, das hängt nun wieder überhaupt nicht vom Kriegsvölkerrecht ab. Welche Praxis aus ihm folgt, das ist, wie sollte es auch anders sein, selber ein Moment des Kriegsergebnisses: also erstens ein Appendix zum (neuen) Kräfteverhältnis, das durch den Waffengang praktisch hergestellt wird; und zweitens der Ausdruck des politischen Willens, wie feindselig oder konstruktiv die Kontrahenten in Zukunft ihre Beziehungen gestalten wollen.

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Den Taliban, man ahnt es, fehlt jede Voraussetzung für eine solch respektvolle Behandlung. Das liegt am Gegner, den USA. Gegen die ist so etwas wie ein anständiger Krieg überhaupt ein Unding. Die Weltmacht ist schon seit längerem über den Stand hinaus, mit ihren Kreuzzügen gegen das Böse das Kräfteverhältnis zu „verändern“; sie exekutiert vielmehr auf der Grundlage eines total entschiedenen Kräfteverhältnisses ihr globales Abschreckungsregime, und wenn sie ihre Gewaltmaschinerie auf Mission schickt, praktiziert sie ihr Monopol auf Krieg. Osama Bin Ladin mag das bestreiten und einen Terrorkrieg gegen Amerika führen; seine Krieger sind deswegen noch lange keine Soldaten, sondern „unlawful combatants“ – „gesetzlose Kämpfer“. Dasselbe gilt für die Taliban, deren Land ebenso wenig ein Staat ist wie ihre Herrschaft eine Regierung: eine „Bande von Mördern und Verbrechern“ beherrscht ein „Terroristennest“.

Mit ihrem Bombenterror, mit dem sie Afghanistan überziehen, besorgen die USA die physische Vernichtung ihrer Feinde. Einige überleben dieses Programm der Freiheit und haben das Pech, von den US-Streitkräften verhaftet zu werden. Sie als „Kriegsgefangene“ anzuerkennen, kommt für die USA von vorneherein nicht in Frage. Sie statuieren an ihnen ein Exempel: Wer sich gegen die Weltmacht versündigt, ist ein Outlaw, der überhaupt von keinem Recht der Welt einen „Schutz“ zu erwarten hat; er ist der amerikanischen Gewalt ausgeliefert und steht vor der Rechtsinstanz, die auf der Welt über jeden Zweifel erhaben ist. Die gefangenen Taliban können daher mit einer Sicherheit rechnen: dass Amerika an ihnen die Vergeltung übt, die der Nation zusteht. Das ist die Gerechtigkeit, die sie zu erwarten haben, wenn ihnen der Prozess gemacht wird; und der ist selber schon ein Akt der Gnade.

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Bevor die Völkerrechtsfreunde in Europa angesichts der „überflüssigen Demütigung“ (Der Spiegel, 4/02) muslimischer Gefangener die Stirn runzeln, haben sie für den Standpunkt Amerikas jede Menge Verständnis. In der moralischen Verurteilung der Terroristen, deren Untaten keine Ungerechtigkeit der Weltordnung rechtfertigen kann, sind sie sich mit der Weltmacht einig. An der Praxis der Terrorbekämpfung haben sie nichts auszusetzen, der Einsatz von „völkerrechtswidrigen Splitterbomben“ beleidigt nicht ihren Geschmack; umgekehrt sind sie „bedingungslos solidarisch“ bemüht, sich mit logistischen und militärischen Hilfsdiensten selber ins Spiel zu bringen. Und auch bei der Behandlung der Gefangenen lassen sich ihre Bedenklichkeiten nicht mit einem Anfall von Mitleid verwechseln. Dass sie eingesperrt und abgeurteilt gehören, versteht sich von selbst; dass die Taliban ‚heimgeschafft‘ werden, sobald Afghanistan einigermaßen befriedet ist – das kann sich denn doch niemand vorstellen. (Die Zeit, 24.1.) Das Völkerrecht muss also differenziert betrachtet werden, einen Fall wie diesen hat es noch nie gegeben; weswegen eben auch dies unstrittig ist: Die Genfer Konvention passt nicht auf den Krieg gegen den Terror. Sie setzt den Krieg zwischen Staaten voraus. (ebd.)

Ein wenig leiden die Europäer aber schon, nämlich an dem „Unilateralismus“ der neuen Weltordnung und ihrer eigenen inferioren Rolle in ihr. Die kriegen sie gerade im Antiterrorkrieg schonungslos und nachdrücklich vorgeführt: Die Verbündeten Amerikas, die Nato-Partner, erfahren schmerzlich, was der große Bruder von echter Partnerschaft hält; als Nato-Mächte sehen sie sich auf die Rolle von Vasallen der amerikanischen Weltmacht zurückgestuft; und was die Sache noch schlimmer macht, ist die Erkenntnis, dass sie an diesem Kräfteverhältnis auf unabsehbare Zeit nichts ändern können. Aus eben diesem Grund tragen sie die Unzufriedenheit mit ihrer Rolle am ideologischen Wurmfortsatz des Antiterrorkampfs, an der Statusfrage der Gefangenen, vor: als „Mahnung“ an Amerika, sich doch bitte nicht selbstherrlich über das Völkerrecht zu stellen, sondern die UN in dieser delikaten Frage „einzubinden“. Ihr Realismus gebietet ihnen freilich auch, von Penetranz in der Angelegenheit Abstand zu nehmen. Dass ihr Antrag so ungefähr das Letzte ist, worauf sich die USA einlassen, wissen sie nur allzu gut und hängen die Sache gleich wieder so tief, dass sie mit der „Wahrnehmung“ in Washington – nämlich die „Debatte in Europa“ eigentlich „nicht wahrzunehmen“ (ZDF zum Schröderbesuch bei Bush) – konform geht: keine „Einmischung“, allenfalls ein guter Rat unter Freunden…

Dass nicht der völkerrechtliche Status der Gefangenen die Frage ist, sondern der prekäre Status der verbündeten Imperialisten das Ärgernis, muss der Öffentlichkeit des alten Kontinents kein Berufsdiplomat beibringen. Schließlich teilt sie den Standpunkt und die Absicht des Manövers; weiß daher sofort, worum es geht; versteht sich deshalb ebenso auf die dazugehörige Heuchelei und entwirft ihre Visionen: „Es geht nicht nur um die Gefangenen“, sondern offenbar vor allem darum: Wenn dies ein Kampf gegen die größte Bedrohung der Zivilisation seit den Feldzügen Attilas sein soll, möchten die Alliierten das Vorgehen normativ mitbestimmen. (SZ, 25.01.) So ist das. Wenn der Krieg der Vater aller Dinge ist, dann ist bisweilen auch der Wunsch der Vater aller Gedanken. In den Redaktionsstuben hierzulande ist jedenfalls klar: Auch wenn bei den Verbündeten des Antiterrorkriegs von „Alliierten“, die etwas „mitbestimmen“, leider keine Rede sein kann – wie die imperialistische Befriedung der Welt wirklich ginge, das weiß man in Europa alle Mal besser als in den USA: Die Vereinigten Staaten können kein Interesse daran haben, die Anti-Terror-Koalition und die Legitimität ihres Kampfes gegen den Terrorismus durch eine Verletzung jener internationalen Normen und Werte zu gefährden, um derentwillen sie mit einigem Recht zu handeln beanspruchen, zumal andere Staaten in zukünftigen Konflikten gegen US-Soldaten mit ähnlichen Argumenten vorgehen könnten. (ebd.) Amerika bombt und Europa liefert die passenden „Normen und Werte“ dazu, welche die Betroffenen von der „Legitimität“ des Kampfes gegen sie überzeugen. Das ist der Antiamerikanismus, den sich meinungsbildende Patrioten genehmigen.