Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Aufruhr in Ungarn, Putsch in Thailand, Wahlen in Brasilien …
Die journalistische Arbeit am täglichen Weltbild

Zur Nachricht qualifiziert sich nur das, was wirklich von Bedeutung ist: die Unternehmungen, Sorgen und Erfolge der Leute, die etwas zu sagen haben, d.h. der führenden Kräfte aus Politik und Wirtschaft weltweit. Und die Feinarbeit, die die Presseleute mit diesem Blick fürs Wesentliche dann erledigen – der Stoff will ja für eine solide politische Meinungsbildung aufbereitet sein –, hat wiederum an den demokratischen Werten eine sichere Messlatte. Am Maßstab guten Regierens gemessen, über den Kamm unserer vorbildlichen Herrschaftsweise geschoren, lassen sich noch die entferntesten Politaffären auf den Begriff bringen.

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Aufruhr in Ungarn, Putsch in Thailand, Wahlen in Brasilien …
Die journalistische Arbeit am täglichen Weltbild

Erstaunlich, wie es der journalistischen Branche jeden Tag aufs neue gelingt, Ordnung in die Informationsfluten zu bringen, die auf sie einbranden.

Einigermaßen vorsortiert sind die zwar immer schon. Denn zur Nachricht qualifiziert sich ja in der Hauptsache nur das, was wirklich von Bedeutung ist: die Unternehmungen, Sorgen und Erfolge der Leute, die etwas zu sagen haben, d.h. der führenden Kräfte aus Politik und Wirtschaft weltweit. Und die Feinarbeit, die die Presseleute mit diesem Blick fürs Wesentliche dann erledigen – der Stoff will ja für eine solide politische Meinungsbildung aufbereitet sein –, hat wiederum an den demokratischen Werten eine sichere Messlatte. Am Maßstab guten Regierens gemessen, über den Kamm unserer vorbildlichen Herrschaftsweise geschoren, lassen sich noch die entferntesten Politaffären auf den Begriff bringen. Oder doch nicht? Ganz so ist es ja nicht, dass für unsere journalistischen Aufklärer auswärtige Verhältnisse schon allein deswegen in Ordnung gehen, weil dort demokratisch gewählt worden ist; und umgekehrt: dass es sich jede Regierung mit ihnen unwiderruflich verscherzt, die beim Regieren nicht ganz unseren Vorstellungen von Demokratie und Rechtsstaat entspricht. So einfach ist es also nicht – in Wirklichkeit ist es nämlich noch einfacher: In der Anwendung der Maßstäbe guten, demokratischen Regierens verfahren die Meinungsbildner streng parteilich, im Namen der nationalen Interessen, die sie vertreten. Und diese Interessen schaffen Klarheit, immer und überall. Anhand der Frage, ob die anderen es uns auch recht machen, erschließen sich den Vertretern unserer freien Presse die fremdesten Welten ganz wie von alleine, sind gut und böse so zuverlässig auseinanderzuhalten wie im richtigen Western. Ihre aufklärerische Leistung besteht darin, dass sie ihr Publikum anleiten, wie in der jeweiligen Affäre die demokratischen Noten zu verteilen sind, weshalb sie das, was nach ihrem Bedarf recht und billig wäre, aus den Verhältnissen vor Ort als Bedarf der dortigen Völker und Staaten herausdestillieren.

Die Berichte und Kommentare zu ein paar Großereignissen aus dem Bereich der Herrschaftsmethodik im Herbst 06 zeigen, wie das geht und worin die Kunstfertigkeit der demokratischen Meinungsbildner besteht.

Ungarischer Regierungschef redet von Wahlbetrug

Eine Rede des ungarischen Ministerpräsidenten vor seiner Fraktion, in der er mit der Selbstbezichtigung, vor den Wahlen gelogen zu haben, seine Parlamentsmannschaft auf die Moral eines durchgreifenden Sparprogramms einschwören wollte, kommt durch eine politische Intrige an die Öffentlichkeit und löst heftige Proteste aus.

Man hätte meinen können, die Sachlage ist klar: Der Regierungschef, der die Wähler betrogen hat und das auch noch zugibt, bekommt auch von uns schlechte Noten, und Recht bekommt von uns die Rücktrittsforderung der protestierenden Opposition. Die Verantwortung übernehmen und sich schleichen, das wäre doch der in der Demokratie vorgesehene Weg, um das Vertrauen der Bürger in die Politik wiederherzustellen, oder? Von wegen – die Meinungsbildung geht hier ganz anders. Kaum wird der Skandal bekannt, ist die Berichterstattung eifrigst darum bemüht klarzustellen, dass der Lügenmann recht hat und diejenigen, die protestieren, im Unrecht sind.

Von diesen Protesten halten wir gar nichts. Unsere kritische Presse übernimmt distanzlos Polizeibericht samt regierungsamtlichem Standpunkt aus Budapest und informiert über die soziale Zusammensetzung der Aufläufe am ungarischen Parlament: Rechtsextreme und bekannte Fußballrowdys (FAZ). Nicht friedlich, sondern gewalttätig, was deren Sache unbesehen disqualifiziert. Da gibt es die amtsbekannten Gewalttäter, Hooligans und Rechtsextremisten, die das Fernsehen stürmen und die Bürgerwut für reine Randale nutzen (SZ 20.9.), Extremisten, Faschisten (NZZ). Allein schon die Namensgebung, der Hinweis auf niedere Motive politischer und krimineller Art stellt klar, dass hier das protestierende Volk die demokratischen Spielregeln verletzt und ihm die Berechtigung zum Protest abzusprechen ist. Den Protestierenden wird der demokratische Ehrentitel Volk nicht zugestanden. Und für den Fall, dass das Publikum die Sache mit den neulich so beliebt gewordenen Volksaufläufen in östlichen Gegenden verwechseln sollte, wird explizit nachgereicht: Dies ist keine bunte Revolution, wo Stimmung wie beim Oktoberfest herrscht, weil es gegen die Richtigen geht! Echte Revolutionsstimmung sieht anders aus. Es fehlt an Symbolen, an Farben und Fahnen. (HB, 21.9.) Da kennt sich das Handelsblatt mit seiner bekannten Neigung zu „echten“ Revolutionen aus: Nur wo Fahnen drauf sind, ist auch Revolution drin. Und bei den bunten Revolutionen, gegen Undemokraten wie Schewardnadse oder Janukowitsch, geht natürlich umgekehrt ein bisschen Randale bis hin zur Parlamentsbesetzung in Ordnung.

Ebenso wird die politische Berufung auf den ehrenhaften Ungarn-Aufstand von 56 als unstatthaft zurückgewiesen. Jetzt geht es nicht um den Kampf gegen eine Diktatur und deren ausländische Schutz- und Besatzungsmacht. Jetzt geht es um ein Reformprogramm, das die Demonstranten in seinen Einzelheiten gar nicht kennen. (FAZ, 20.9.)

Der FAZ-Leser braucht dieses Programm selbstverständlich auch nicht zu kennen, es braucht bloß das Stichwort ‚Reform‘ zu fallen, das dafür steht, dass hier eine Regierung bemüht ist, ihren Laden nach unseren Anforderungen umzukrempeln, und schon weiß er Bescheid. Gegenüber einer solchen von Europa lizenzierten demokratischen Obrigkeit wäre dem Volk das Vorbringen von Einwänden allenfalls nach amtlicher Bekanntgabe der Ausführungsbestimmungen und gründlichem Studium des Kleingedruckten gestattet.

Genauso objektiv und gewissenhaft befasst sich die deutsche Presse mit dem Fehltritt des ungarischen Premiers und macht aus vollstem Herzen Sympathiewerbung für Gyurcsány. Mag ja sein, dass er seine Wähler belogen hat, aber umso viel bewunderungswürdiger ist doch seine freimütige interne Rede. (SZ, 19.9.) Tapfer und mutig, der Mann, dass er auf relativ unglaubwürdige weitere Lügen gleich verzichtet: Es ehrt den Premier, dass er nun, als diese Äußerungen bekannt wurden, sich nicht davon distanziert. Der Mann hat Mumm. (SZ, 19.9.) Beindruckend, dass er auch auf seine Macht, pardon: Arbeit nicht verzichtet: „Trotz der Krise denkt der Premier nicht daran zurückzutreten: Ich bleibe und ich mache meine Arbeit.“ (Bild, 20.9.) Überhaupt ein Traum von einem modern-schnittigen Hoffnungsträger, wie gleich zwei SZ-Reporter auf der dritten Seite vorschwärmen, der Premier wirkt jungenhaft, repräsentiert nicht gern… Dinge, die besser zu ihm passen… Flachbildschirm… Laptop… Joggen. (SZ, 20.9.)

Was heißt hier überhaupt „Lüge“:

Das seit vier Jahren stetig anwachsende Haushaltsdefizit und der Reformbedarf war allerdings in Ungarn kein Geheimnis, zumal alle Medien laufend darüber berichteten (SZ, 19.9.), was viel mehr dafür spricht, dass der ungarische Wähler belogen werden wollte. Bei der FAZ müht man sich ums richtige Verständnis der Rede. Lüge hat zwar der Ungar selber gesagt, aber das war nur eine unglückliche Wortwahl: ‚Wir haben gelogen‘, soll heißen: wir haben uns etwas vorgemacht. (FAZ, 20.9.) Am Ende versteht sie ihn noch besser als der sich selbst. Außerdem hatte er ein prima Motiv:

„Gyurcsány gebraucht das Wort ‚wir haben gelogen‘ nicht als höhnische Selbstbezichtigung einer Tat, mit der das Volk hereingelegt wurde (ein schön hinkonstruiertes Dementi: um zweckfreie Witze auf Kosten des dummen Volks ist es nicht gegangen), sondern als Vorwurf an die eigene Adresse und die politischen Konkurrenten, seit seinem Regierungsantritt im besonderen und seit 1990 im allgemeinen mit unwahren Behauptungen über den wirtschaftlichen und finanziellen Zustand des Landes sich in die eigene Tasche gelogen zu haben. Gyurcsány gebraucht diesen Vorwurf und Selbstvorwurf nicht als Bekenntnis gegenüber dem Wahlvolk, sondern zur Vergatterung der Fraktion, ohne deren parlamentarische Zustimmung er das neue Sparprogramm nicht zur Gesetzeskraft erheben kann.“ (FAZ, 22.9.)

Und weil wir für dieses Sparprogramm sind, darf man nach der Einschätzung der FAZ dem ungarischen Premier keinesfalls eine Geringschätzung des Volks als Wähler nachsagen; er macht sich doch vielmehr um das höchst ehrenwerte Anliegen verdient, demselben die Lebensmittel zu kürzen!

Jedenfalls wird in deutschen Redaktionen heftig mitgefühlt mit unserem Mann in Budapest. Man bangt um seinen Erfolg – vielleicht gelingt es Gyurcsány aber ausgerechnet mit seinen Grobheiten, die Nation aufzurütteln und dem letzten Ziel näherzubringen… Aber derlei Katharsis braucht Zeit (SZ, 20.9.) – und plädiert für Durchhalten: Gyurcsány hat das Mandat, das Land zu sanieren und soll es nun endlich tun. (SZ, 19.9.) Die SZ-Autoren erteilen ihm kurzerhand das Mandat. In dem Fall nämlich tut die Führung das Richtige und das Volk liegt daneben.

„Reformpolitik“, „das Land sanieren“ – von der Auftragslage gehen die ausländischen Beobachter aus, wenn sie Lob und Tadel abweichend von den üblichen demokratischen Sittlichkeitsregeln verteilen und den Premier für seine aus dem Ruder gelaufene Blut-, Schweiß- und Tränenrede rückhaltlos unterstützen. Deutsche Journalisten wissen haargenau, was eine Regierung in Ungarn zu tun und zu lassen hat, weil sie ja schließlich uns und Europa gegenüber in der Pflicht steht, ihren Laden zu einem brauchbaren Euro-Standort zurechtzureformieren. Zu dem Programm, das auf dem Weg eines Lügenbekenntnisses in Gang gesetzt wird, haben sie allerdings eher wenig mitzuteilen. Was es mit der Erfüllung der Konvertibilitätskriterien, mit der Herrichtung ungarischer Staatshaushalte als Voraussetzung zur künftigen Teilhabe am europäischen Geld auf sich hat, warum der Weg nach Europa immer mehr Verarmung verlangt, immer mehr Leute, die sich keine Krankenversorgung oder Heizung mehr leisten können, braucht keiner so genau zu wissen. Das ist umfassend und definitiv mit dem Programm der Anpassung der Beitrittsländer an Europa beschieden – und steht insoweit außerhalb jeder vernünftigen Kritik. Mit einem begriffslosen „muss“ ist das abgehakt:

„Die sozial-liberale Regierung Gyurcsany muss das bisher grausamste Spar- und Steuerprogramm auflegen, ohne die Wähler vorher gewarnt zu haben.“ „Fiskalische Reformen sind nun einmal unumgänglich.“ (NZZ, 21.9.)

Aber selbstverständlich verstehen sich die Presseleute darauf, die „Unumgänglichkeit“ der Grausamkeiten plausibel zu machen, z.B. durch die Europa-Propaganda, nach der ein nützlicher Sachzwang vorliegt, dessen Vollstreckung sich später einmal bezahlt macht:

„Budapest… sieht sich nun zu einem Gewaltritt gezwungen, um doch noch die Bedingungen zu erfüllen, die den Mittelzufluss aus dem EU-Haushalt in den kommenden sieben Jahren erst möglich machen werden.“ (FAZ, 20.9.)

Außerdem „muss“ das alles sein, weil die Vorgängerregierungen es nicht schon früher gemacht haben:

„Erkenntnisse, die seit Monaten und Jahren breit diskutiert werden: Dass ein enormer Reformbedarf herrscht, den 2 Regierungen, Viktor Orbans Fidesz und die ihm folgenden Sozialliberalen versäumt haben… Die Versäumnisse wirken jetzt umso gravierender, als nun der Nachholprozess nur schmerzhaft sein kann. Nun müssen die Heizkosten eben mit einem Schlag um 30 Prozent angehoben werden. Das hätte man im Lauf von 10 Jahren schrittweise und somit weniger brutal tun können.“ (SZ 20.9.)

Wer in gutem Glauben meint, die Bevölkerung schonen zu können, „muss“ sie hinterher nur umso mehr misshandeln, ergo sind rechtzeitige Grausamkeiten, genau besehen, der schonendste Umgang, den sich die Wähler wünschen können. Neben diesem auch hierzulande gern benützten Argumentationsmuster lässt sich dort – wie eigentlich immer im Osten – als gewichtigster und letzter Grund für die Grausamkeiten die miese Vergangenheit anführen:

„Rentnern und anderen Hilfsbedürftigen geht es schlecht, und die Sozialsysteme im neuen Ungarn sind überlastet, weil deren Struktur hoffnungslos von gestern ist.“

Hätten sie sich rechtzeitig ihr realsozialistisches Sozialsystem gespart, so wären dessen Überreste heute nicht so von der neuen Armut „überlastet“. Und auch die Bevölkerung hätte nicht diese ungute „Gewöhnung“, ihre Regierungen an abstrusen Versorgungserwartungen zu messen:

„Zwar hat das Land bedeutende westeuropäische und amerikanische Investoren angelockt, aber dies mit Steuerbefreiungen bezahlt, so daß der Staatshaushalt nicht konsolidiert werden konnte. Gleichzeitig war die Bevölkerung an die ‚kostenlosen‘ Leistungen der kommunistischen Zeit gewöhnt – und sie wählte jede Regierung ab, die daran viel ändern wollte… Die „Umsonst“-Mentalität hat die alltägliche Korruption weiterleben lassen… Warum der neue Versuch, dem von den Kommunisten verursachten moralischen Verfall ein Ende zu bereiten, kritik- und protestwürdig sein soll, müssen die Demonstranten erklären.“ (FAZ, 20.9.)

Das sollten jetzt aber wirklich mal die Demonstranten der FAZ erklären, nachdem die sich mit ihnen solche Mühe gegeben und eigens für sie einen neuen guten Zweck der Reform erfunden hat: Wenn die ungarische Regierung zur Senkung des Haushaltsdefizits das Gesundheitswesen zurichtet, d.h. teurer macht, dient das der Beendigung eines „moralischen Verfalls“. Den wiederum verdankt Ungarn den „Kommunisten“, die mit ihrem Versorgungswesen Geldrechnungen ignorieren wollte, was aber, wie wir wissen, gar nicht geht, sondern direkten Weges in die Korruption führt… Man muss eben nur die Gegensätze, die die ungarische Führung mit ihrem Volk heute austrägt, in die große Front Freiheit oder Kommunismus einzuordnen verstehen, dann ist alles klar.

Noch einmal zurück zum Thema „Lüge“: Vielleicht haben ja gewisse Schwierigkeiten bei der Verdolmetschung der Politik für den Wähler, bei der Übersetzung der Sparhaushalte ins allgemeine Beste für deren Objekt, das Volk, etwas damit zu tun, dass ein paar andere Lügen passiert sind. So lange ist es nun ja auch noch nicht her, dass den Völkern das Überlaufen nach Europa damit schmackhaft gemacht worden ist, dass der Kapitalismus im Allgemeinen und der europäische im Besonderen der direkte Weg zum Massenwohlstand wäre. Und auch die Parteien, die nun per Wahl um die Macht und deren Ausbau in Europa konkurrieren dürfen, haben diese Auffassung nicht als groben Irrtum abfertigen wollen. Wenn Europa und die ungarischen Führungsmannschaften den Wählern gleich mit den unangenehmen Wahrheiten und unpopulären Maßnahmen von heute gekommen wären, die unsere blitzgescheiten Kommentatoren schon vor 15 Jahren vollstreckt gesehen haben möchten, hätte das ja möglicherweise dann doch die Wendebegeisterung etwas gedämpft.

Nicht nur die Demonstranten liegen den deutschen Beobachtern im Magen, auch die Bevölkerung mit ihrem extrem verantwortungslosen Wahlverhalten – „wählen“ einfach „jede Regierung ab“, die ihnen nicht gefällt –, und das führt wiederum zu einer skeptischen Überprüfung der Führungsfiguren: Die Rechtskonservativen haben … genauso versagt. (SZ, 19.9.)

Warnung vor der Opposition, keine Ermächtigung der politischen Konkurrenz

Die FAZ buchstabiert der Opposition ihre Aufgabe vor, als Führer einer großen Volkspartei die Extremisten verbal einzufangen, ohne ihnen sachlich entgegenzukommen. (FAZ, 9.10.) So gehört sich mit den unzufriedenen Teilen des Volkswillens umgesprungen! Eingefangen müssen sie werden, staatsverantwortlich umgebogen und aufs Konto der Opposition gelenkt, die auch nichts anderes zu wollen hat, als die feststehenden Staatsnotwendigkeiten durchzusetzen. In ihrer Sorge darum, ob in Ungarn auch wirklich alle unser Bestes wollen, werden die Demokratieliebhaber ehrlich und erläutern, wie die Willensbildung in einer Demokratie zu funktionieren hat: von oben nach unten und nicht umgekehrt. Vor lauter Ärger über den Oppositionsmann, der keine Ruhe geben will, bekennt sich der Ungarnkenner von der Süddeutschen gleich offensiv zum Wahlbetrug als demokratischer Regel:

„Dass Politiker vor der Wahl nicht die Wahrheit gesagt hätten, so Orbans Argument, ist Grund genug, den Wahlausgang für illegitim zu erklären. Da wäre zu fragen: Welche demokratische Regierung in der Welt stützte sich dann noch auf eine legitime Mehrheit?“ (SZ, 6.11.)

Einer der bekannten großen Vorzüge der Demokratie, die Kontrolle der Regierung durch die Opposition, die aufdeckt, was die Regierung verkehrt macht, und damit für gutes Regieren sorgt – hier gilt er nicht! Die Opposition bekommt von unserer Seite keine Genehmigung, das zu tun, was sonst ihr Beruf ist, nämlich aus der Panne der Regierung Kapital zu schlagen; umgekehrt hegen die deutschen Organe große Sorge, dass sie mit ihren Konkurrenzberechnungen die Durchsetzung der harten Notwendigkeiten behindern könnte.

„In Ungarn ist eine beunruhigende Tendenz postsowjetischer Gesellschaften besonders ausgeprägt: Die politischen Lager stehen einander hasserfüllt gegenüber. Eine gemeinsame Basis, die man die Grundsolidarität aller Demokraten nennen könnte, fehlt noch.“ (SZ, 20.9.)

Ob nun das Klima zwischen dem ungarischen Sozi und dem ungarischen Rechten wirklich so viel giftiger ist als das zwischen Merkel und Stoiber, zwischen Müntefering und Lafontaine, sei einmal dahingestellt. Aber es ist doch immer wieder schön zu sehen, wie unerschütterlich unsere demokratischen Journalisten hinter den Grundfreiheiten der Demokratie stehen. Sie finden gar nichts dabei, dem ungarischen Wähler das drohende verantwortungslose Abwählen der Regierung vorzuhalten. Und wenn sie eine Lage für „Blut-, Schweiß- und Tränenreden“ diagnostizieren und die Durchsetzung unerlässlicher Grausamkeiten fordern, finden sie auch eine andere heilige Kuh der Demokratie höchst beunruhigend: Dann plädieren sie zwar nicht gleich für eine Diktatur, das würde dann ja doch auffallen, sie beschweren sich aber schon über einen für ihren Geschmack noch längst nicht genügend gesicherten Parteienkonsens, über einen Mangel an demokratischer Gleichschaltung; sie stellen die Berechnung der Opposition, der Unzufriedenheit mit der Regierung Recht zu geben, um sie aufs eigene Konto zu lenken, unter Verdacht, die reibungslose Durchsetzung der notwendigen Härten zu gefährden.

Es gibt eben höhere Zwecke, in deren Namen eine stabile Herrschaft, garantierte Durchführung politischer Erfordernisse einfach sein muss, und dann möchte unsere prinzipienfeste Journaille gerne ein bisschen mehr „gelenkte Demokratie“ sehen, um einmal ein Putin-Zitat aus dem Zusammenhang zu reißen.

Putsch in Thailand

Ebenfalls im September schickt das thailändische Militär Panzer in die Hauptstadt, erklärt den Regierungschef, der sich gerade im Ausland befindet, für abgesetzt, übernimmt fürs erste die Herrschaft und holt sich dafür die Billigung des Königs.

Gemessen an den Tönen, die sonst laut werden, wenn ein Verstoß gegen die heiligen demokratischen Sitten ausgemacht und ein Machtwechsel mit Panzern anstatt mit Wahlurnen vorgenommen wird, fallen hier die Stellungnahmen der Berichterstatter ziemlich gelassen aus. Die Vertreter der Medien sehen es offenkundig als ihre Pflicht an, die Leser vor überflüssiger Aufregung zu bewahren, und geben Entwarnung: Für alle, die es angeht oder auch gar nichts angeht: unliebsame Wirkungen auf Güter, die uns heilig sind, liegen nicht vor.

„Keine Gefahr für Touristen“

Goldpreis von Thailand-Putsch unbeeindruckt, (Reuters) Wirkung auf Investoren? (FAZ, 21.9.) Eine Asien-Krise wie 1997 droht nicht mehr… Keine überspringenden Effekte auf die anderen asiatischen Märkte. (FAZ, 22.9.) Das interessierte Ausland muss nicht befürchten, dass auch nur eines seiner Interessen, die in dem Land gewohnheitsmäßig unterwegs sind, Schaden leiden könnte; und darauf kommt es ja schließlich an. Man kann also ganz entspannt zur Begutachtung der inneren Lage schreiten.

Weder die notorische „Friedhofsruhe“ noch die „Bajonette“ werden aus dem Schatz der politischen Rhetorik bemüht, stattdessen wird von allseitiger guter Laune in Thailand berichtet. Zur Beglaubigung lassen alle auswärtigen Beobachter das thailändische Volk antreten – Kaum jemand, der das Ende von Thaksins Regime nicht begrüßt wie das Erwachen aus einem bösen Alptraum. (SZ, 21.9.) Nicht nur in Bangkok, sondern im ganzen Land begrüßen mehr als 80% der Bürger die neuen Verhältnisse. (FAZ, 22.9.) Unsere Journalisten können es einfach nicht lassen, so zu tun, als seien die Bewertungen, die sie gemäß ihrem Standpunkt vornehmen, ein getrennt von ihnen vorliegender Sachverhalt, von dem sie berichten. Jedenfalls einigen sie sich schnell auf das Etikett „Putsch des Lächelns“ (Spiegel). Was liegt auch näher bei einer Nation, in der angeblich alle immerzu lächeln und die es wahrscheinlich deswegen zum Vergnügungspark und Großpuff des globalisierten Tourismus gebracht hat.

Der Putsch bekommt aus allen maßgeblichen Redaktionen erst einmal gute Noten, er beendet eine unmögliche Lage:

„Putsch zum Staatserhalt“ (SZ, 21.9.)

„Seit Anfang des Jahres befindet sich Thailand praktisch im Ausnahmezustand.“ (FAZ, 21.9.) D.h. es herrschen Verhältnisse, die man nicht mit demokratischen Maßstäben messen darf. „Beim jüngsten Putsch vor einer Woche wurde kein Blut vergossen. Zudem hat er den politischen Stillstand beendet, der Thailand bereits seit Monaten lähmte.“ … „Seit gut einem Jahr liegt die Wirtschaft des Landes brach, seit April fällte die nicht legitimierte Regierung keine Entscheidungen mehr.“ (FAZ, 21.9.)

Der Putsch hat also eine ganze Reihe von nützlichen Seiten.

Dass sich die herrschende Klasse in Thailand in den letzten Monaten mit der Ausrufung von Neuwahlen, einem Wahlboykott der Opposition, Annullierung der Wahl, Rücktritt des Regierungschefs, Widerruf des Rücktritts etc. etc. einen lebhaften Machtkampf geliefert hat, wird lässig als „politischer Stillstand“ verbucht, schließlich kommt es uns ja darauf an, was hinten rauskommt. Man kann ja wohl verlangen, dass die in Thailand ihren politischen Hader unserem Bedarf an zuverlässigem Regieren unterordnen. Und nachdem der Putsch offenkundig nicht beabsichtigt, auch nur irgendeine der Funktionen thailändischen Regierens für den Rest der Welt zu kündigen, sondern nur das vorläufige Ende eines internen Machtkampfs darstellt, geht die Sache für uns schon in Ordnung.

Dennoch: Putschen ist nicht die demokratische Art. Deswegen muss die Sache erläutert und ins rechte Licht gesetzt werden, z.B. in der Weise, dass man dem Abgesetzten nachweist, dass eigentlich er es war, der mit den Verstößen gegen die Demokratie angefangen hat.

„Thaksin wollte – zum Machterhalt – alles kontrollieren und setzte dazu Geld und Einfluss ein.“

„Machterhalt“ steht hier selbstverständlich nicht, wie eben noch im ungarischen Fall, dafür, dass hier ein verantwortungsvoller Regierungschef seine Arbeit weitermachen will. Er soll ja auch auf Geld und Einfluss gesetzt haben, was in echten Demokratien verpönt ist.

„Dass Thaksin die Medien gängelte, sie offen zensieren ließ oder aufkaufte, wenn sie nicht kooperierten – das kümmerte seine Wähler nicht, solange sie nur mehr Geld in der Tasche hatten. Der Milliardär nutzte sein Geld aber auch zur Unterminierung der politischen Institutionen. Er kaufte sich Parteien, um sie zur mächtigen Thai Rak Thai (Thais lieben Thais) zusammenzuführen.“ (SZ, 21.9.)

Nachgerade ekelhaft, wie da das Geld eine Rolle in der Politik gespielt hat. Merke: Wenn unseren Meinungsbildnern ein auswärtiger Staatsmann nicht passt, nützt ihm auch sein Demokratisch-Gewählt-Sein nichts; und auch seine Wähler müssen sich Beschimpfungen gefallen lassen. Spätestens dann jedenfalls wissen unsere Medien nämlich, dass es auch schon beim Wählen nicht mit rechten Dingen zugegangen ist:

„Durch seine expansive Politik ist Thaksin zwar populär bei der Landbevölkerung. Im Gegenzug für ihre Wahlstimme verschaffte er ihr Unterstützungszahlungen und Zugang zu medizinischer Hilfe.“ (FAZ, 21.9.)

In Thailand, das dürfte ja wohl klar sein, sind Subventionen für die Landwirtschaft und medizinische Hilfe für die Landbevölkerung keine Agrar- oder Sozialpolitik, sondern Wählerbestechung und ein Fall von Stimmenkauf.

Andererseits – wer hätte das gedacht? – wo geputscht wird, ist „keine gefestigte Demokratie“.

„Ist es nicht ein Armutszeugnis für Thailand, dass das Militär hat eingreifen müssen? Und wer garantiert, dass die Generäle nicht eine Diktatur errichten?… Thailand akzeptierte bisher den Militärputsch als fast schon staatsordnende Tradition. Demokratische Wurzeln konnte das Land so aber nicht wirklich austreiben.“ (SZ, 21.9.)

Nachdem eher ‚wir‘ als „Thailand“ den Putsch in einem ersten Durchgang für sehr „staatsordnend“ befunden haben, müssen wir im zweiten Durchgang „die Thailänder“ mit ihrem ewig lächelnden Umgang mit Putschen daran erinnern, dass wir – wenigstens eigentlich – andere Methoden des Regierungswechsels zu sehen wünschen:

„Es bedurfte kritischer Stimmen aus dem Ausland, um die Thailänder daran zu erinnern, daß ein Putsch kein begrüßenswertes Instrument des politischen Wandels darstellt. Nach neunzehn Coups in 74 Jahren haben sie sich zwar das Recht erworben, die Dinge entspannter zu sehen, aber das ändert wenig daran, dass die willkürliche Beseitigung demokratischer Strukturen ein gefährlicher Weg bleibt. Die Welt sah keinen Diktator stürzen… Auch nach 15 putschfreien Jahren vertrauen die Thailänder im Notfall nicht auf den Volkswillen, sondern auf eigenmächtig handelnde Autoritäten: auf das Militär – und, mehr noch, auf den König.“ („Seide und Fäulnis“, FAZ, 23.9.)

So sind sie, „die Thailänder“: Sie – und nicht etwa ihr Militär – „vertrauen nicht auf den Volkswillen“. Unsere Meinungsbildner haben jedenfalls ihre liebe Not mit solchen Völkern: Wenn einer gewählt wird, der ihnen nicht passt, reden sie die Wahlen schlecht; und wenn derselbe sich gerade durchs Wählen an der Macht hält, finden sie einen Putsch ziemlich verständlich. Das aber nur solange, bis sie die Putschisten als neue Machthaber in Augenschein nehmen und sich besorgt fragen, wer denn „garantiert, dass die Generäle“ nicht „eigenmächtig“ handeln. Nachdem man sich vorher über Lähmung und Stillstand der Politik beschwert hat, würde sich eine Militärdiktatur ja eigentlich als eine ziemlich stabile Herrschaft mit klaren Befehlsstrukturen empfehlen, ist jetzt aber auch schon wieder nicht recht. Denn da befällt die Auslandsreporter der Verdacht, dass Militärs vielleicht machen, was sie wollen, und nicht was wir wollen… Stabilität einer Herrschaft ist schließlich nur die eine Seite der Medaille, und die neue Mannschaft wird prompt mit der Forderung nach Demokratie kritisiert: Die Demonstration der Bereitwilligkeit, den Maßregeln für ordentliches Regierung nachzukommen, ist schon auch verlangt. Besorgt fragt man sich nach der Berechenbarkeit der neuen Mannschaft, ob da auch genügend Dienstbereitschaft der Herrschaft gegenüber den entscheidenden Nationen, den weltordnenden Mächten vorliegt.

Auch der König ist so etwas wie ein schlechter Ersatz für Demokratie wg. absehbarer Sterblichkeit:

„Aber was soll man von einem Land halten, das viele für eine gefestigte Demokratie hielten (wer mag das bloß gewesen sein?), in dem aber anscheinend nur eine Institution wirklich stabil ist, nämlich der jetzige König? Und was wird aus Thailand, wenn Bhumibol Adulyadej irgendwann einmal nicht mehr da ist?“ (FAZ, 21.9.) „Sollte dem Monarchen eines Tages ein weniger respektierter König folgen, droht den Thailändern die letzte Stütze ihrer Ordnung wegzubrechen.“ (FAZ, 23.9.)

Die Stütze, auf die sich „die Thailänder“ gegen ihre Neigung zur Instabilität stützen? Im Namen von „Ordnung“, ein hohes Gut, fast das höchste, bescheinigen wir zwar schon auch mal Putschen und Königen ordnungsstiftende Qualitäten. Aber man muss es den fremden Völkern eben immer und immer wieder sagen, dass sie sich mit der Abweichung von den von uns erlassenen Regeln für den rechten Gebrauch von Macht selber keinen Gefallen tun.

Mal zu erklären, wie es da zugeht, warum die herrschende Klasse einem Emporkömmling das Regieren nicht gönnt, wie Herrschaft und Kapitalismus über Kreuz geraten, ist die Sache der Berichterstatter nicht – ihr Job ist ein anderer. Sie sind geistig ins Regieren weltweit eingemischt, überprüfen, ob und wie diese mittelprächtigen Regime unserem Bedarf genügen, greifen denen auch mit konstruktiven Verbesserungsvorschlägen unter die Arme und reden sich dermaßen in Rage über die Unvernunft, die ihre Objekte an den Tag legen, dass man sie am liebsten zum Regieren nach Bangkok schicken würde, damit es ihnen dort endlich recht gemacht wird.

„Brasilien stabil unter dem Präsidenten der Armen“

Im Vorfeld der brasilianischen Wahlen häufen sich die Berichte über Korruptionsskandale im Umfeld des brasilianischen Präsidenten, „Politik versinkt im Korruptionssumpf“. (NZZ, 30.9.) Da hätte die Demokratie einen ihrer vielen Vorzüge unter Beweis stellen können; schließlich, so hat man gelernt, verhindert diese Herrschaftsform Fehltritte zwar auch nicht ganz, aber zumindest kommen sie mit großer Sicherheit ans Tageslicht, so dass die Schuldigen zur Verantwortung gezogen werden können.

Bei den Berichten aus Brasilien kommt ans Tageslicht, mit welch großer Regelmäßigkeit die demokratische Institution der Konkurrenz um Wählerstimmen zu Techniken führt, die die Grenzen des Erlaubten überschreiten. Daran, dass Prantl & Co. deswegen vielleicht einmal das System zur Verantwortung ziehen möchten, ist natürlich nicht zu denken, weil ja die Demokratie immer noch die beste aller schlechten s.o… Aber dann vielleicht wenigstens die Person? Von wegen:

„In der brasilianischen Öffentlichkeit gibt es kaum jemand, der Lula abnimmt, er habe nie etwas von den finsteren Machenschaften erfahren, in die mittlerweile mindestens 17 Personen aus seiner Umgebung verstrickt sind… eine schier unendliche Folge von Geldschiebereien, Betrugs-, Bestechungs- und Verleumdungsfällen.“ (FAZ, 28.9.)

Der „Sumpf“ interessiert in nur einer Hinsicht, in seiner Wirkung auf die Wahlchancen des aktuellen Machthabers. Die Haupt- und Generalfrage ist nicht die, wann denn jetzt endlich die notorischen Selbstreinigungskräfte der Demokratie zuschlagen, sondern ob Lula die „Skandale“, die bekannt gewordenen Methoden seines Machtkampfs, „übersteht“. Und da ihm das vermutlich gelingt, zeigen sich die Presseleute von der ihnen bestens bekannten, höchst gewöhnlichen Schweinerei, die Verantwortung für die Skandale auf Untergebene abzuschieben, schwer beeindruckt und erklären ihr Gelingen für „erstaunlich“:

„Doch es ist erstaunlich, dass nichts an ihm haften bleibt.“ (FAZ, 28.9.) „Letztlich müßig zu fragen, ob Lula von den Machenschaften in seiner Umgebung wußte. Er muß davon gewußt haben, nur wurde er von allen Seiten aus den Affären herausgehalten.“ (FAZ, 3.11.)

Kennerhaft beurteilt der Spiegel das als seine Leistung:

„Wendiger Lula… Ehemalige Parteigenossen von Staatschef Luiz Inácio Lula da Silva staunen, wie unbeschadet der Präsident alle Korruptionsskandale seiner Amtszeit übersteht… Zahlreiche Vertraute und Regierungsmitglieder mußten während seiner Amtszeit zurücktreten, weil sie in Stimmenkauf oder Vorteilsnahme verwickelt waren… Doch bislang perlten alle Vorwürfe an dem „Teflon-Präsidenten“ ab… Außerdem hat Lula es geschafft, sein Image von dem seiner Partei abzukoppeln. Die PT kommt im Wahlkampf praktisch nicht vor, ihr Symbol, der rote Stern, ist aus der Wahlwerbung fast verbannt.“ (Spiegel, 25.9.)

Journalisten geben ihr Credo zu Protokoll: In ihrem Weltbild gibt der Erfolg Recht. Ein Lula, der für sein Image die Figuren opfert, die für ihn die Arbeit machen, ist kein Drecksack, sondern ein Könner. So flexibel bewährt sich das politmoralische Urteilsvermögen der Herren von der 4. Gewalt.

Beruf „Hoffnungsträger“

Lulas Leistung, seine Teflon-Qualität, beruht darauf, dass er über ein Gegenmittel verfügt, nämlich die Technik, aus dem Hungern von Millionen mit einem überschaubaren Zuschuss Wahlstimmen herauszuschlagen:

„Sein Haupttrumpf ist jedoch das Sozialprogramm ‚Bolsa Familia‘: Elf Millionen Familien bekommen eine Minimum-Sozialhilfe von etwa 35 Euro. In den verarmten Gebieten des Nordostens reicht das, um ganze Familien vor dem Hunger zu retten. Dort erreichte Lula denn auch eine überwältigende Mehrheit.“ (SZ, 4.10.)
„Der Titelverteidiger ist trotz allem wesentlich beliebter als seine Widersacher. Sein Fundament bleibt die Unterschicht. 40% der 185 Millionen Brasilianer leben am Existenzminimum, in wenigen Ländern ist der Wohlstand so einseitig verteilt. Korruption ist beim täglichen Kampf um Mahlzeiten kein vorrangiges Thema, ohnehin gelten die meisten Politiker als käuflich. Vor allem in der Provinz wird der Mann fast religiös verehrt.“ (SZ, 30.9.)

Gute Nerven haben die Auslandsreporter schon; sie besichtigen mal schnell die elenden Lebensverhältnisse, in denen sich in Brasilien Millionen herumtreiben und denen sie eine gewisse „Einseitigkeit“ nicht absprechen können. Von Interesse ist das aber alles auch nur in herrschaftstechnischer Hinsicht, dass die Armen zwar über wenig Mittel, aber eine enorme Anzahl Wählerstimmen verfügen. Das halten sie dann umgekehrt für völlig selbstverständlich, dass 40 Millionen Arme nichts Besseres zu tun haben, als einen Menschen mit religiöser Verehrung zu bedenken, der die Verhältnisse verwaltet und garantiert, unter denen sie auf die Armut festgelegt sind. Die Bewunderung, die die Presse Lula entgegenbringt, gilt unverhohlen dessen Geschick, Hoffnungen der Armen auf Besserung anzukurbeln, als Wahlstimmen einzusammeln und trotz einer gewissen Enttäuschung der Hoffnungen sein „Fundament“ bei der Stange zu halten.

„… zwar konnte der Erlöser seine großen Versprechen kaum halten, sein Prestigeprogramm ‚Fome Zero‘ (Null Hunger) verhedderte sich im Dickicht der Bürokratie.“ (SZ, 30.9.) „Allerdings redet niemand in Brasilien mehr über die am Anfang von Lulas erster Regierungszeit propagierte Kampagne ‚Null Hunger‘, weil sie nie richtig in Gang kam und ohnehin eher als Propaganda-Aktion geplant war.“ (FAZ, 21.8.)

Seine Kampagne gegen den Hunger war natürlich Wahlkampf – und ganz sicher kein Grund, hier den Vorwurf der Lüge zu erheben. Denn 1. „konnte“ sie ja nicht funktionieren, damit hätte man die edle Absicht des Herrn Hoffnungsträgers schon mal gerettet. 2. war sie aber schon von Anfang an so offenkundig gelogen, „Prestigeprogramm“ bzw. „Propaganda-Aktion“, dass sie doch sowieso jeder halbwegs vernunftbegabte Brasilianer als Werbegag verstehen musste. Dass hiesige Journalisten keine Lust haben, Lula den Vorwurf des Wahlbetrugs zu machen, drücken sie natürlich so aus, dass „niemand in Brasilien“ das will; Leute, die berufsmäßig als Sprecher eines nationalen ‚Wir‘ aufzutreten pflegen, mögen sich von dieser lieben Gewohnheit auch in anderen Ländern nicht verabschieden. Und sie haben deswegen keine Lust, weil sie einen Erfolgstypen würdigen wollen. Bei dem reitet man eben nicht auf Lügen herum, d.h. genau besehen sind es gar keine Lügen, sondern die Bevölkerung bekommt genau das, was sie will, einen Diskurs und eine Führungsfigur -

„Da Silva gelang es, mit einem klassenkämpferisch anmutenden Diskurs die Sehnsucht weiter Teile der Bevölkerung nach einer fürsorglichen Führungsfigur zu befriedigen“ (NZZ, 27.10.)

– und die Wirtschaft bekommt auch das, was sie braucht:

„Der Präsident, der einst als Gewerkschaftsführer radikal ‚linke‘ Parolen im Munde führte, überraschte mit einer noch konservativeren Wirtschaftspolitik als sie Cardoso betrieb.“ (FAZ, 31.10.)

Demokratische Reporter erzählen schließlich auch den Grund, warum sie so ausnehmend zufrieden sind mit dem Charakterdarsteller an der Staatsspitze und der zur Zeit bei ihnen einfach gar nichts verkehrt machen kann. Vor 4 Jahren noch haben sie nämlich heftig mit den „Bedenkenträgern in der Wirtschaft“ mitgezittert, ob nicht mit einem Lula als Präsident ein paar Rechnungen mit dem

„Rohstofflager der Welt“ (FAZ, 4.9.)

durcheinanderkommen könnten – und dann diese herrliche Überraschung, dass er all unsere Sorgen vom letzten Wahlkampf gegenstandslos gemacht hat:

„Kein Vergleich zu der Situation von vor 4 Jahren. Als sich damals der Wahlsieg des ehemaligen Arbeiterführers Lula abzeichnete, waren die Hoffnungen bei den einen so groß wie die Ängste bei den anderen. Für die Armen war Lula der Hoffnungsträger… Für viele Bankiers und Industrielle dagegen war eine Regierung Lula damals noch eine Schreckensvision. Panikartig floh das Kapital aus dem Land… Heute sind die ehedem hochfliegenden Hoffnungen der sozial Unterprivilegierten einer gewissen Ernüchterung gewichen, doch gänzlich unzufrieden ist das Volk mit Lula nicht. Die meisten Armen sind zwar immer noch arm, doch Beschäftigung und Löhne steigen allmählich. Zudem hat Lula die Sozialhilfe ausgeweitet, in diesem Wahljahr ganz besonders. Allein im Nordosten, dem Armenhaus Brasiliens, leben 22 Millionen Menschen von monatlichen Familienzuwendungen im Wert von 25 Euro pro Monat… Die ehemaligen Bedenkenträger in der Wirtschaft sind heute zumindest beruhigt, wenn nicht gar begeistert über Lulas Wirtschaftskurs. Die Banken fahren Rekordgewinne ein, die Börsenkurse in Sao Paulo haben sich in den Lula-Jahren vervierfacht.“ (FAZ, 4.9.) „Gleichzeitig pflegt Lula die Wünsche des Kapitals… Dem Internationalen Währungsfonds zahlte Brasilien unter Lulas Leitung Schulden in Höhe von 12 Mrd. Euro zurück…“ (SZ, 30.9.)

Vor lauter Begeisterung greift die FAZ zum Klassenkampfvokabular, weil unser Mann so schön fürs Gegenteil sorgt: Brasilien feiert die Versöhnung von Arbeit und Kapital. (30.9.) 22 Millionen Arme lassen es sich mit ihrer 25-Euro-Ration gut gehen, das Kapital ist wieder heimgekehrt, die Wirtschaft boomt, der IWF freut sich… Man darf darauf warten, dass unsere Journalisten dann, wenn mal wieder Krise angesagt ist in Brasilien, schon immer davor gewarnt haben, dass es mit den aufgeblähten Staatsausgaben, insbesondere den überspannten Sozialprogrammen, nicht gut gehen konnte etc. etc.

Fehlt nur noch der Hinweis, dass man die Qualitäten Lulas auch noch deshalb zu schätzen hat, weil er neben der Verwaltung „unserer“ Rohstoffe noch eine weitere imperialistische Funktion erfüllt:

„Zwischen dem autokratisch regierten Argentinien im Süden, einem Bolivien am Rand der Anarchie und dem revolutionären Venezuela des Hugo Chávez ist Lulas Brasilien als stabile und stabilisierende Vormacht wichtiger denn je.“ (FAZ, 31.10.)

„Stabilität“ steht hier dafür, dass wir die Politik einiger mehr oder weniger unangenehmer Nachbarn Brasiliens gerne destabilisieren und Brasilien dafür einspannen möchten.

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Auskünfte dieser Art, täglich neu aufgelegt, befähigen einen dann dazu, über den eigenen nationalen Tellerrand hinauszuschauen und sich als Kosmopolit überall zurechtzufinden.