In der Not zeigt der marktwirtschaftliche Expertenverstand, was er vermag
Die geistige Bewältigung der Finanzkrise

Im Herbst 2008 stellt sich im Herzen Europas eine bestürzende Einsicht ein: Die Wertevernichtung im Finanzsektor, die eineinhalb Jahre zuvor als „Subprime-Hypothekenkrise“ in den USA angefangen hat, löst sich, entgegen allen hoffnungsvollen Erwartungen und Beschwörungen, doch nicht in Wohlgefallen und eine „Wiederbelebung der Finanzmärkte“ auf. Sie ist nicht zu bremsen, im Gegenteil. Diesseits wie jenseits des Atlantik und überhaupt weltweit läuft die Kette von Entwertungen, Kursabstürzen, eingetretenen und abgewendeten Bankpleiten und anderen Unglücksfällen auf eine Katastrophe zu, die – irgendwie – das Weiterfunktionieren der globalen Marktwirtschaft in Frage stellt.

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In der Not zeigt der marktwirtschaftliche Expertenverstand, was er vermag
Die geistige Bewältigung der Finanzkrise

Im Herbst 2008 stellt sich im Herzen Europas eine bestürzende Einsicht ein: Die Wertevernichtung im Finanzsektor, die eineinhalb Jahre zuvor als Subprime-Hypothekenkrise in den USA angefangen hat, löst sich, entgegen allen hoffnungsvollen Erwartungen und Beschwörungen, doch nicht in Wohlgefallen und eine Wiederbelebung der Finanzmärkte auf. Sie ist nicht zu bremsen, im Gegenteil. Diesseits wie jenseits des Atlantik und überhaupt weltweit läuft die Kette von Entwertungen, Kursabstürzen, eingetretenen und abgewendeten Bankpleiten und anderen Unglücksfällen auf eine Katastrophe zu, die – irgendwie – das Weiterfunktionieren der globalen Marktwirtschaft in Frage stellt.

Überhaupt nicht in Frage gestellt ist damit die fachliche Kompetenz der Experten und professionellen Interpreten des marktwirtschaftlichen Geschehens, die das Kreditgewerbe bei jeder Gelegenheit als Motor der Wirtschaft gepriesen, seine Renditen bewundert und noch alle Fortschritte der Krise dahingehend analysiert haben, im Grunde sei das Bankensystem gesund, in Deutschland jedenfalls und im Kern. Auf dem Markt der öffentlichen Meinungen sind die Fachleute unverzüglich mit Deutungen der Lage präsent, die bei allem Pluralismus so sinnreich zusammenpassen, als hätten die Autoren verabredet, arbeitsteilig vorzuführen, wie Erklären im Geiste der Verantwortung für die zu erklärende Sache funktioniert – wahrscheinlich wieder mal so ein Fall von invisible hand.

Logischerweise am Anfang, dem Ausmaß der Katastrophe durchaus angemessen, steht die Systemfrage. Genauer gesagt: Der marktwirtschaftliche Sachverstand stemmt sich mit all seiner publizistischen Macht dagegen, dass die Systemfrage in kritischer Absicht aufgeworfen wird. Mitten in seiner ausufernden Krise wird das kapitalistische System, das unter Verzicht auf Beschönigungen offensiv bei seinem lange verpönten Namen genannt wird, über den grünen Klee gelobt – für Jahrzehnte des Wohlstands – und seine Alternativlosigkeit beschworen, so als hätten radikale Kritiker die Herrschaft des kapitalistischen Eigentums über Arbeit und Konsum angegriffen und als müssten deren Adressaten gegen falsche kommunistische Gedanken immunisiert werden. Das hat insofern etwas Komisches an sich, als von einer solchen Kritik, geschweige denn von einer Gegnerschaft, die das System an seinem reibungslosen Funktionieren hindern würde, weder dies- noch jenseits des Atlantik etwas zu spüren ist. Es sind ja überhaupt nicht böse Linke und eine von denen verführte Arbeiterbewegung, die das Funktionieren des Kapitals praktisch in Frage stellen, sondern die Chefmanager des Finanzkapitals, die Charaktermasken der Krone der marktwirtschaftlichen Schöpfung. Die haben es aber tatsächlich dahin gebracht, dass ihr Gewerbe kaputtgeht und dessen Zusammenbruch allen Ernstes die Systemfrage heraufbeschwört. Die selber haben das Kreditwesen so ins Schleudern gebracht, dass das Allerheiligste der bürgerlichen Welt, das in Geld gemessene Privateigentum, und mit ihm die funktionstüchtige Herrschaft des Geldes, der für die Wirtschaft und deren staatlichen Standortverwalter so enorm produktive Sachzwang des Geldverdienens, das Abpressen von Geld aus jeder Arbeit und jeder Lebensregung, in Gefahr geraten sind. Das, immerhin, haben die geistigen Charaktermasken dieses Systems gemerkt. Und der Schreck darüber ist ihnen offensichtlich so heftig in die Glieder gefahren, dass sie eben als Erstes, reflexartig und noch vor jeder anderen Überlegung, das aber immer wieder, das System in Schutz nehmen und sich gar nichts daraus machen, dass der ganze Laden durch ganz andere Leute und Machenschaften kaputt gemacht wird als durch die Einwände, gegen die sie ihren Schutzwall aus Lobpreisungen errichten.

Dies getan, bleibt noch ein Zweites zu erledigen. Weil für sie stets der Erfolg des Systems das Argument seiner unbedingten Befürwortung ist, sehen die Apologeten der Marktwirtschaft im unabweisbaren Misserfolg unmittelbar die Gefahr einer Blamage des Objekts ihrer Verehrung heranziehen. Also machen sie sich an die ungewohnte Aufgabe, den Kapitalismus geistig vor dem Ruin durch seine eigene maßgebliche Elite zu retten, und auch die wird mit Bravour erledigt; in einem arbeitsteilig perfekt ausgewalzten Dreischritt.

Als Erstes bemühen sich die geistigen Sachwalter der kapitalistischen Klassengesellschaft, einen theoretischen Keil zwischen das System und seine finanzkapitalistischen Häuptlinge zu treiben. Zu diesem Zweck schrecken sie auf der einen Seite nicht davor zurück, die neulich noch bewunderten, für zutiefst vertrauenswürdig befundenen Helden des großen und schnellen Geldes der Misswirtschaft bis hin zur kriminellen Veruntreuung des globalen Volksvermögens zu bezichtigen und die gesamte ehrenwerte Geschäftssphäre zu verteufeln, in der mit Spekulieren Kapital vermehrt wird. Auf der anderen Seite schmieden sie ideell eine Volksfront der Betroffenen, wobei speziell die Figur des Sparers, der um das Seine fürchten muss, als die personifizierte Parteilichkeit fürs System des Eigentums und Inbegriff der Schönheiten des Geldes im Mittelpunkt steht. Die Inhaber kleiner, aber redlich stets von neuem aufgefüllter Girokonten und eines vom Munde abgesparten Sparbuchs repräsentieren da gemeinsam mit den Arbeitsplätze schaffenden Unternehmern, die womöglich den Kredit nicht mehr kriegen, mit dem sie ihre Belegschaften so weltrekordmäßig ans Lohnarbeiten gekriegt haben, den guten Kapitalismus, an dem dessen Spitzenkräfte sich versündigt haben. Damit diese Solidarität der Betroffenen, ihr Zusammenschluss gegen die Nieten und Lumpen in den Chefetagen auch gefühlsmäßig als die in der Krise angesagte Frontstellung einleuchtet, geben die Hersteller des öffentlichen Volksempfindens die Parole Volkszorn aus und pflegen Gewaltfantasien gegen die bösen Superreichen – selbstverständlich in der bürgerlich manierlichen Form dringender Appelle an die öffentliche Gewalt, gegen die Unsitten des Finanzgewerbes so gründlich durchzugreifen, dass denen jede Lust auf eine nächste Krise vergeht.

Ohne dass davon etwas zurückgenommen werden müsste, erfolgt daneben als Zweites, nicht minder ausführlich und eindringlich, die Warnung, es mit der Entzweiung zwischen dem niedlichen Kapitalismus der kleinen Leute und dem Rechtsstaat als deren Volkstribun auf der einen, den pflichtvergessenen eigensüchtigen Bossen und Spekulanten auf der anderen Seite nicht zu übertreiben. Die finanzkapitalistische Elite wird schließlich weiterhin gebraucht, bleibt also im Prinzip ein ehrenhafter Stand. Das Fußvolk soll sich mal an die eigene Nase fassen und eingestehen, dass es im Grunde seines Herzens nicht minder eigensüchtig ist als die verachteten Yuppies und gerne auch spekulativ unterwegs wäre. So relativiert sich der neu aufgemachte Klassengegensatz zwischen den Bankvorständen und der betrogenen Massenbasis des Systems doch schon ganz erheblich. In diesem Sinne muss auch die Politik sich sagen lassen, dass sie versagt, falsche Anreize gestiftet, selber Bankgeschäfte in den Sand gesetzt hat und insofern auch nicht einfach der Erzengel ist, der die großen Sünder verhaftet und ins Fegefeuer der neuen Bescheidenheit schickt.

Diese dialektische Gedankenbewegung mündet zielstrebig in den konstruktiven Vorschlag ein, die verantwortlichen Inhaber der Gewalt, ohne die die Herrschaft des Geldes im Moment völlig aufgeschmissen wäre, möchten doch alles tun, damit diese Herrschaft wieder funktioniert; aber bitte mit einfühlsamen Reformen, die den freien Markt nicht zerstören, sondern seine positiven Kräfte freisetzen. Bedingungslose Parteilichkeit für das kapitalistische System im Allgemeinen, zu dem es im ganzen Kosmos keine bessere Alternative gibt, verbindet sich da mit größter Hochachtung vor dem System der Kreditwirtschaft im Besonderen, das wie jedes höhere Kunstwerk ein enorm hohes Maß an Umsicht, Einsicht und Tugendhaftigkeit erfordert, um erfolgreich dirigiert zu werden.

Innerhalb dieses grandiosen theoretischen Dreischritts des marktwirtschaftlichen Sachverstandes bleibt für den Pluralismus, den eine freiheitliche Demokratie sich schuldig ist, viel Platz. Die Öffentlichkeit bietet Freiraum für die gröbsten Tiefsinnigkeiten, die einseitigsten Zuspitzungen, sogar für Übertreibungen, die geeignet sind, das dialektische Gesamtbild ein bisschen originell auszuschmücken. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für demokratische Diskussionskultur bietet dabei der unversöhnliche Kampf zweier ideologischer Linien in dem letzten Punkt, der Aufforderung zur Systemoptimierung an die Adresse der Staatsgewalt. Dass das System in seiner Krise staatliche Gewalt braucht, um zu überleben, ist ebenso allgemeiner Konsens wie die Gewissheit, dass das weder gegen das Regime des Geldes spricht noch gegen den Staat, der es seiner Gesellschaft gewaltsam aufoktroyiert. Schärfste Differenzen tun sich jedoch in der Frage auf, ob das System eigentlich ganz gewaltfrei segensreiche Dienste tut und den Staat nur dann als Nothelfer braucht, wenn und solange die Not kein Gebot kennt; oder ob umgekehrt erst die Staatsmacht mit ihren Eingriffen den Segen erweckt, der im Markt liegt, im kapitalistischen Betrieb aber nur allzu leicht verschütt geht. Zwischen diesen beiden kongenial affirmativen Dummheiten verläuft derzeit die Front zwischen Freiheit und Sozialismus.

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Über die Erträge der Forschung nach den Ursachen der derzeitigen Systemkrise des Finanzkapitals gibt die folgende Bestandsaufnahme einen Überblick. Der anschließende Griff in den Papierkorb der Weltpresse mag als Anleitung zum besseren Verständnis der mitunter etwas verworrenen Aufklärungen dienen, die Deutschlands öffentliche Meinung dem lesenden und fernsehenden Volk in schwerer Stunde zu bieten hat.

Die Weltwirtschaft am Abgrund

I. Wie konnte es dazu kommen?

Was die ökonomische Natur des Bankgeschäfts betrifft, das in der Krise steckt, wird man von den öffentlichen Sachverständigen als erstes damit vertraut gemacht, dass die Institute es bei der Ausübung ihrer Geschäftstätigkeit übertrieben, beim ehrenwerten Bemühen der Geldvermehrung gar jedes Maß verloren haben. Das erleichtert die Erklärung schon einmal ungemein: Von unerwünschten Wirkungen, die jedermann vor Augen stehen, schließt man zurück auf ein Versäumnis als deren Ursache und macht die mit ‚Übertreibung‘ dann namhaft. Näher ins Detail gehende Kenntnisse über die Geschäfte der Banken sind für den wertvollen Gedanken entbehrlich, dass die jedenfalls maßvoll vonstatten zu gehen haben, soll der Kapitalismus frei von Krisen funktionieren. Der kluge Verzicht auf unnötigen gedanklichen Ballast schafft dafür Freiraum zur Vertiefung der erlangten Erkenntnis: Was jetzt platzt, ist eine Blase, die ja nur platzen kann, weil sie vorher aufgeblasen wurde, und das kann unmöglich von ungefähr kommen. Da setzt sogleich die zweite Lerneinheit an und informiert darüber, welches Maß genau die Banken in ihrer Maßlosigkeit verloren haben: Anstatt so zu funktionieren, wie sie funktionieren sollen, also Produzenten wie Konsumenten mit dem Stoff auszustatten, mit dem sie produzieren und konsumieren können, haben die Banken ihr Geschäft künstlich aufgebläht und sich in Gestalt einer riesigen spekulativen Blase von ihrem eigentlichen Zweck abgekoppelt, die Menschheit mit Geld zu versorgen. Mit einer gesamtkapitalistischen Zweckverfehlung hat man es also im vorliegenden Fall zu tun, nämlich damit, dass die Banken bei der Verfolgung ihres Zwecks den Zweck außer Acht gelassen hätten, dem sie hauptsächlich verpflichtet sind. An sich hat man natürlich nichts dagegen, dass Banken mit dem Verleihen von Geld ihr Geschäft machen, auch dagegen nichts, dass sie um des Florierens ihres Geschäftes willen möglichst viel Geld verleihen wollen. Doch hat ihre private Bereicherung nur dann ihr gutes Recht, wenn im Zuge des Bankgeschäfts auch der nötige Dienst versehen wird, die Volkswirtschaft mit Kredit zu versorgen, und da zeigt der sachverständige Blick auf die sonderbaren Geschäfte der letzten Zeit schon, dass da bei den Banken zuviel Eigennutz auf Kosten des Gemeinnutzes unterwegs gewesen sein muss. Haufenweise arme Schlucker haben sie sich als Klientel an Land gezogen, also an ausgesprochen schlechte Schuldner ihr gutes Geld verliehen. Das taten sie auch noch in blindem Glauben an steigende Immobilienpreise bei niedrigen Zinsen, wo ihnen doch bekannt ist, dass Preise auch fallen und Zinsen auch steigen können – und das ist schon ein erster Hinweis darauf, dass da, vom volkswirtschaftlichen Daseinszweck der Banken betrachtet, recht unsachgemäß gewirtschaftet wurde. Das erlaubt den vertiefenden Schluss auf die Absicht dieser Banker, die sich so eifrig um ihr Geschäft gekümmert haben: Die wollten offenbar bloß sich bereichern, haben also bloß spekuliert und damit Geschäfte jenseits aller guten Sitten des kapitalistischen Geschäftslebens getätigt. Dabei ließen diese Banken es noch nicht einmal damit bewenden. Sie gingen bei dieser Kundschaft nicht nur unverantwortlich hohe Risiken ein, sondern bastelten sich auch noch eigens Instrumente für weitere Geschäfte zurecht, verpackten diese Risiken in Vehikel und zogen mit hochkomplex strukturierten Papieren einen schwungvollen Handel auf. Das ist allerhand, zumal man von der Struktur dieser Papiere und der Eigenschaft, die sie immerhin zu Wertpapieren macht, schon wieder näher gar nichts zu wissen braucht, um das alles höchst seltsam zu finden: Wichtig zu wissen ist nur, dass diese Papiere am Ende niemand mehr versteht, und schon kann man sich ans Hirn greifen ob des Wahnsinns, der da im Kreditgewerbe offensichtlich eingerissen ist. Und als ob sie der Pflichtvergessenheit ihres Treibens und der Abgehobenheit ihrer Geschäfte, die sie da jenseits aller gesamtwirtschaftlichen Zweckmäßigkeit und bar jeder kaufmännischen Rationalität aufzogen, ausdrücklich Rechnung tragen wollten, wickelten die Banken das Spekulieren mit Produkten, die wegen ihrer Undurchsichtigkeit für Spekulationen nicht geeignet sind, auch noch im wesentlichen untereinander ab. Offenbar mussten sie das auch: Nur in einem solchen, von allem redlichen kapitalistischen Produzieren und Konsumieren separierten Schattenreich eines Interbankenhandels ist es ja vorstellbar, mit Schuldpapieren, die keiner versteht, Renditen zu versprechen, die allen Beteiligten einleuchten. Anders als in absolut nicht nachvollziehbarer Weise kann es jedenfalls nicht zum Auftürmen ungeheurer Wertsummen gekommen sein, die sich jeder Vorstellung entziehen, womit sich insgesamt eine erste Krisenursache diagnostizieren lässt: Das kann ja nicht funktionieren, wenn die Banken beim Wirtschaften mit Geld etwas ganz anderes machen als das, was ihre und die Funktion des Geldes ist, mit dem sie wirtschaften. Die Erklärung mag zirkulär anmuten, lässt sich aber durch die nächste Tautologie erhärten, an der gleichfalls nicht zu zweifeln ist: Wer bei seinem Geschäft, das darin besteht, die Wirtschaft mit Kredit zu versorgen, das Geld verwendet, um mit ihm eigene Geschäfte im eigenen Zirkel zu machen, produziert eine Blase, die, wie sich zeigt, irgendwann einmal platzt. Dann geht viel von dem seltsamen Wert kaputt, der aus lauter Luftnummern besteht – und plötzlich fehlt dort das echte Geld, wo es zum seriösen Wirtschaften benötigt wird...

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Mit wirtschaftlicher Vernunft, das steht damit fest, hat das, was zur Krise geführt hat, nichts zu tun. Das wirft natürlich die Frage auf, was die beteiligten Akteure dann zu ihrem höchst unverantwortlichen Treiben bewegt haben kann, und in der damit eröffneten Abteilung Motivforschung ist der wirtschaftswissenschaftliche Sachverstand nicht minder beschlagen als beim Memorieren der Funktionen, die in einer kapitalistischen Volkswirtschaft funktionieren müssen. Das Grunddogma, dass sich im Geld nur das menschliche Bedürfnis nach Gütertausch, in der Rendite nur die Gewinnerwartung und im Profit nur das Profitstreben äußert, die Marktwirtschaft insgesamt eine einzige Veranstaltung ist, die der seinen Nutzen maximierende homo oeconomicus sich seinen inneren Neigungen und Beweggründen gemäß einrichtet, hat in der Wirtschaftswissenschaft seinen festen Platz. Daher braucht die sachverständige Erforschung der Ursachen einer Krise der Ökonomie an ihrer kompletten Übersetzung in Manifestationen psychischer Kräfte nur anzuknüpfen. Hat man sich schon mit Erfolg klar gemacht, dass das Streben der Banken nach immer mehr Rendite erst zum Aufblasen einer verhängnisvollen Blase und dann zum Verhängnis ihres Platzens geführt hat, weiß man auch, welchem menschlichen Beweggrund das nur zu verdanken sein kann: Die zügellose Gier der Banker zeichnet für das Zuviel der Türme verantwortlich, die jetzt einstürzen. Freilich ist es so eine Sache, wenn Sachverständige, für die es absolut in Ordnung geht, dass es in einer Wirtschaft allein auf die Vermehrung von Geld ankommt, also auf einen Zweck, der in sich kein Maß hat, sich daran machen, am systemkonformen Erwerbssinn der Akteure, den sie gleichfalls für menschennatürlich halten, eine Scheidelinie zwischen gut und böse zu ermitteln. Manch einer hält das sogar für absurd – und verweist darauf, dass die Menschen ohne ihr ruheloses Nicht-ruhen-noch-rasten-Wollen, zu dem man ja auch Gier sagen könne, heute noch auf den Bäumen säßen. Mehrheitlich überzeugt der Rückschluss von einer ökonomischen Krise auf eine psycho-moralische Deformation ihrer Urheber aber schon, zumal auch dieser zweite gedankliche Fehlgriff den Vorteil hat, einem so manche Phänomene verständlich zu machen, die man sich bisher nicht erklären konnte. So weiß man nunmehr, was es mit den sagenhaften Bonuszahlungen an die Bankmanager auf sich hat, die die sich regelmäßig zum Jahresende aufs Konto überweisen: Das sind eben die Dokumente der Gier nach immer Mehr, die in diesen Leuten steckt und in der sie sich darauf verlegen, die Banken und damit die wertvollen Einrichtungen, die den Blutkreislauf unserer Marktwirtschaft bedienen, zu Instrumenten ihrer rein persönlichen Bereicherung umzufunktionieren! Dass das Profitstreben den Profit unterstellt und die Gier nach Bonifikation das gut gelaufene Bankgeschäft, spielt keine Rolle, hat man sich einmal in die Abgründe der Menschennatur verbissen. Da entdeckt man dann auch gleich, dass diese Raffzähne ihr verwerfliches Treiben gar nicht hätten verrichten können, wäre es ihnen nicht durch die Gier vieler anderer ermöglicht worden. In Menschen, die dem Traum vom Eigenheim nachhängen, obwohl sie sich nicht einmal eine Hundehütte leisten können, finden sie die Habsucht vor, auf die sie sich mit ihrer arteigenen bequem draufpflanzen können. In Gestalt der vielen anderen notorischen Schuldner, die ihr Lebtag lang ohnehin nur auf Pump leben, geht ihnen das Material ihrer seltsamen Geschäfte auch jenseits von Hypotheken nie aus. Und schließlich können sie sich auch noch durch die sozialpolitische Verirrung in allerhöchstes Recht gesetzt sehen, Habenichtsen Teilhabe am Wachstum zu versprechen und sie mit finanziellen Anreizen dazu zu verleiten, gnadenlos über ihre Verhältnisse zu leben. Kein Zweifel: Eine verbreitete Perversion des menschennatürlichen kapitalistischen Erwerbssinns ist der Systemfehler, dem wir die Krise des Systems zu verdanken haben.

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Das erlaubt schon eine erste präzise Bestimmung, womit genau es wir bei der zu tun haben: Um eine „Krise des Vertrauens“ handelt es sich, wenn die Banker weder einander noch den redlichen Geschäftsleuten mehr den Stoff überlassen wollen, von dem so viel abhängt – und das ist eine grandiose Themaverfehlung. Eines ist ja wahr: Auf den Weitergang ihrer Geschäfte mögen die Institute so ohne weiteres nicht mehr vertrauen. Aber deswegen ist ihre Krise keinesfalls eine ihres Vertrauens: Das Vertrauen, auf das es in ihren Geschäften ankommt, richtet sich schon auf die Fähigkeit ihrer Partner, Schulden, die sie aufnehmen, auch wieder zurückzahlen zu können, ist also kein Test auf die Tugendhaftigkeit ihres Willens, sondern befasst sich mit der Tauglichkeit des Betriebskapitals, das sich nach zwei Jahren Krise in ihren Bilanzen tummelt. Das Misstrauen, das sie nach kritischer Prüfung ihrer Potenzen in Bezug auf den Fortgang ihrer Geschäftspraktiken hegen, ist mithin die Konsequenz ihrer geschäftlichen Kalkulationen und keineswegs ein erratischer Ausrutscher einer ansonsten von ihnen grundsätzlich praktizierten Vertrauensseligkeit, den sie auch wieder lassen könnten und deswegen auch sollten. Von den Usancen des Bankgeschäfts nehmen die Freunde der Marktwirtschaft so Notiz, dass sie die ökonomische Natur des Kreditgeschäfts durchstreichen und den Werbespruch der Deutschen Bank – ‚Vertrauen ist der Anfang von allem‘ – für den Begriff der Sache nehmen, die Kredit heißt: Weil die Geschäfte liefen, als die Banken sich noch vertrauten, ist die Krise ihres Geschäfts eben eine ihres Vertrauens. Und da das ja schon ihr eigenes Werk ist, Folge des Umstands, dass sie in ihrer grenzenlosen Eigensucht jede Verantwortung fürs Gelingen der Kreisläufe haben fahren lassen, von denen unser wirtschaftliches Allgemeinwohl abhängt, kann man dazu sagen: Da ist unser aller Vertrauen gründlich verspielt worden, und damit ist man dann endgültig weg von den Banken und der Bankenkrise. Die ist unter dem Stichwort ‚Vertrauen‘ der Anlass, einfach mal gründlich zu vergessen, in welcher Welt man lebt, und die Antagonismen der kapitalistischen Konkurrenz, die jeder am eigenen Leib erfährt, geht er auch nur einkaufen, als Einrichtung aufzufassen, in der sich doch alle Beteiligten aufeinander verlassen können müssen, der Sparer auf seine Bank, der Produzent auf seinen Käufer, der Aktionär auf seine Dividende und der Bürger überhaupt darauf, dass alles wieder so gut läuft wie vorher – genau besehen leben wir in einem Wirtschaftssystem, das zuallererst auf Vertrauen aufgebaut ist. In einer Welt voller Interessensgegensätze, gewaltsam eingerichtet und rechtlich überwacht, erklären diese marktwirtschaftlichen Experten die Tugend des Vertrauens zum System und leiten das funktionierende Kreditgeschäft als Derivat eines intakten moralischen Willens ab, womit ein weiteres Mal feststeht, dass der Kapitalismus eine große sittliche Veranstaltung und eine einzige Bewährungsprobe für die Moral des Menschen ist. Da erhebt sich natürlich schon die Frage, wie es zu diesem Verfall der guten Sitten und damit zur Krise hat kommen können.

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Wenn die Tugend des kapitalistischen Geldvermehrens derart ins Laster der Bereicherungssucht umschlägt, darüber auch noch das ganze kapitalistische Wirtschaftsleben untergraben und unser aller Vertrauen aufeinander beschädigt wird, kann es für Experten, die auch Wirtschaftspolitik im Repertoire haben, auf die Frage nach dem letzten entscheidenden Grund dafür nur eine Antwort geben: Da liegt eindeutig ein Versagen des Staates als der über den Kapitalismus und sein reibungsloses Funktionieren Aufsicht führenden Instanz vor. Das sieht man schon daran, dass in Amerika, von wo die Krise ja herkommt, über Jahre hinweg ein grundverkehrtes Prinzip beim Lenken der volkswirtschaftlichen Geldströme eingerissen ist. Ein gewisser A. Greenspan, hört man immer wieder, hat gedacht, zwei Krisen mit der Ausschüttung von ganz viel und ganz billigem Geld bewältigen zu können. Er hätte aber wissen müssen, was jeder halbwegs studierte Ökonom weiß, nämlich dass viel Geld immer Euphorie auslöst, auf die dann immer Depression folgt, und so hat er den Bankern den Stoff ihrer Euphorie spendiert und wir müssen jetzt die Depression ausbaden. Und das ist noch nicht einmal alles. Nicht nur im Großen, beim richtigen Regulieren der Geldströme in seiner Wirtschaft, hat der Staat Pflichten versäumt, auch im Kleinen, bei den Regeln des Bankgewerbes, kann von einer ordentlich ausgeübten Aufsicht keine Rede sein. Das ergibt zusammengenommen den Befund, dass der Staat einem neo-liberalistischen Turbo-Kapitalismus freien Lauf gelassen hat – der Turbo war die Gier –, sich also insofern als größte Ursache der Krise erweist, als er sie nicht verhindert hat. Auf dieser Erkenntnis lässt sich bei der Beantwortung der nach gelaufener Ursachenforschung nur allzu nahe liegenden Frage aufbauen:

II. Wer bändigt den Kapitalismus?

Mit ihren tiefschürfenden Diagnosen der Ursachen, die in die Krise hineingeführt haben, steht für die öffentlichen Meinungsbildner fest, wer uns aus der wieder herauszuführen hat, und auch, wie er dabei vorzugehen hat. Der Staat als Retter ist gefragt, und zwar ganz dringlich und daher erst einmal auch ohne Rücksicht gegenüber allen heiligen Kühen freiheitlicher Ordnungspolitik, die nach den goldenen Worten eines großen Politikers allemal der Maxime verpflichtet zu sein hat, dass die Wirtschaft in der Wirtschaft stattfindet: Jetzt ist Rettung geboten, und zwar – wie auch anders?! – mit ganz viel Geld, das der politische Souverän dem Betrieb zuzuführen hat, der ansonsten exklusiv für das Bewirtschaften und Vermehren dieser Ware zuständig ist! Ganz viel und ganz billiges Geld: Das hat man zwar schon als Fehler von Herrn Greenspan und Ursache der Krise kennengelernt. Jetzt aber ist Not, und die kennt kein Gebot, womit feststeht, dass etwas anderes als noch viel mehr und noch billigeres Geld die Krise nur vertiefen kann. Die Experten der Marktwirtschaft beobachten an sich selbst eine ganz neue, gar nicht für möglich gehaltene Hochschätzung der Staatsgewalt – was sie freilich keinesfalls zu Rückschlüssen auf die gewaltsame Natur des marktwirtschaftlichen Treibens verleitet, das sie als Paradies der Freiheit des Eigentums anzubeten gewohnt sind. Im Gegenteil: So, wie sie sich darauf verlegt haben, die Krise des Systems als Vertrauenskrise zu identifizieren, so begreifen sie den Staat als die Instanz, die das beschädigte Vertrauen wieder zu reparieren hat – und geben auf diese Weise zu verstehen, dass immerhin bei ihnen in Sachen Tugend in der Krise nichts verspielt wurde: Ihr eigenes Urvertrauen in die Staatsmacht als Quelle der allenthalben nötigen Vertrauensstiftung ist ungebrochen, weswegen sie dem staatlichen Rettungsmanöver pauschal nur gutes Gelingen wünschen. Und noch eines steht für den politischen Sachverstand sogleich fest: Noch bevor vom Staat irgendetwas gerettet ist, denkt man schon an die Zeit danach. Seinen vornehmsten Auftrag hat der Staat als Retter aus der Krise seiner öffentlichen Berater darin, Vorkehrungen gegen die Wiederholung des eingetretenen Krisenfalls zu treffen. Der Sache nach gilt das Bedenken der Sorgenträger einzig dem Wiederfunktionieren all dessen, was in der Krise nicht mehr funktioniert – und ihr unbedingtes Interesse am Fortgang des kapitalistischen Geschäftslebens kleiden sie gleich in den Ruf ‚nie wieder!‘ und in die Forderung an die Adresse des Staates, dem Kapitalismus für alle Zukunft seinen krisenfreien Fortgang sicherzustellen! Das führt das interessierte Räsonieren über die Methode einer erfolgreichen Krisenbekämpfung dann zielstrebig zur ultimativen Direktive aller Maßnahmen, die der Staat diesbezüglich auf den Weg zu bringen hat: Genau genommen hat er einfach auf alles besser aufzupassen, erst aufs Überleben, dann aufs ordentliche Wachstum seiner Banken, aufs Kreditieren seiner Konzerne und des Mittelstandes, auf das Steigen der Preise, auf den Euro, auf das Sinken der Preise...

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Im öffentlichen Meinungsbild ist damit über den anstehenden Hoheitsakt schon einmal eines klar: Der hat – ‚Rettung‘ ist ja geboten – in jedem Fall ein Akt praktizierter Verantwortung gegenüber dem System zu sein, das da in die Krise geraten ist. Also scheiden bei der Frage, welchen Kapitalismus wir demnächst an Stelle des angelsächsischen mit dem Turbo vorneweg haben wollen, all jene sozial inspirierten Modelle sofort aus, bei denen sich Staaten schon mal mit ihrer Gestaltungsmacht am Kapitalismus total vergriffen haben. Die Planwirtschaft ist gescheitert: Diese kostbare Lehre der Geschichte gilt es zuallererst und immer wieder in Erinnerung zu bringen, wenn die Marktwirtschaft auf dem Sprung steht, sich selbst zu zerlegen. Ist das ausgemacht, stellt sich natürlich die ethische Grundsatzfrage in aller Wucht, wie der Staat, wenn er es denn schon muss, in das historisch verbriefte Erfolgsmodell des freien Marktwirtschaftens allenfalls eingreifen darf. Ideal wären da ordnungspolitische Regulierungen, die dem Kapitalismus exakt das goldene Maß an Kontrolle angedeihen lassen, das es braucht, damit er anschließend wieder ganz ohne störenden staatlichen Eingriff funktioniert. Ein sicher schwieriges Unterfangen, das man dem Staat da aufbürdet, aber selbstverständlich wartet der konstruktiv denkende öffentliche Sachverstand mit Ratschlägen dafür auf, wie der Staat die Balance zwischen Eingriff und Nichteingriff in den Marktmechanismus wahren könne.

Das allerbeste Rezept gegen das Versagen der Finanzaufsicht, um mit der letzten diagnostizierten Ursache der Krise zu beginnen, kann logischerweise nur sein, dass der Staat diese Abteilung seiner Wirtschaft unter eine bessere Aufsicht stellt. Doch Vorsicht: An eine Beschränkung, gar Abschaffung irgendeiner der Freiheiten, die das Gewerbe sich bei der Ausübung der Kunst, die Menschheit mit Geld zu versorgen, herausnimmt, ist dabei keinesfalls zu denken. Haben die funktionellen Dienste, die die Banken zum Wohle aller verrichten, unter dem Stichwort Abkopplung zur Herleitung eines spekulativen Überschwangs des Gewerbes als Ursache der Krise getaugt, so sind sie jetzt, wo mit der Vorstellung einer Wiederankopplung der Institute an ausschließlich Allgemeinwohl-dienliche Geschäfte ein Weg aus der Krise winkt, als Begründung dafür gut, dass man die geschäftlichen Usancen keinesfalls antasten darf, ohne die es die erwünschte Leistung der Branche nun einmal nicht gibt. Also steht nach beiden Seiten die Ehrenrettung des Gewerbes an, kaum hat man von der Obrigkeit ein wenig mehr Aufsicht über es angemahnt: Mit Sauerstoff, Blutkreislauf oder Herz unserer Wirtschaft und ähnlich schönen Bildern lobpreist man den Segen, der mit den Geschäften der Bank über die Menschheit kommt, und hakt mit Verweis auf ihn den Umstand als Selbstverständlichkeit ab, dass diese Geschäfte ohne ein gewisses spekulatives Moment einfach nicht zu machen gehen. Insofern handelt es sich auch bei den Instrumenten des Gewerbes, die in Verruf geraten sind, genau besehen um grundgute Werkzeuge, die nur verkehrt gebraucht wurden. Ein Verbot von Leerverkäufen mag ja vielleicht manchen Schaden verhindern, den Spekulanten anrichten. Aber was ist das schon im Vergleich zu dem fürs Spekulieren tödlichen Zwang, immer nur auf steigende Kurse spekulieren zu dürfen? Und schon gleich gegen die volkswirtschaftliche Funktion dieses Spekulierens, den wahren Wert von Wertpapieren zu ermitteln, darüber die Allokation der Ressourcen zu optimieren und das Geld dorthin zu schaffen, wo es gebraucht wird?! Was die Finanzprodukte betrifft, mit denen das Bankgeschäft seine so verhängnisvolle Emanzipation vom Dienst am redlichen Erwerbsleben ins Werk gesetzt hat, so ergibt ein sinniges Anknüpfen an die Denkfehler bei der Ermittlung der Ursache der Krise für die Experten schon den Ausweg aus derselben. Hat man seine Weigerung, sich ein Verständnis von den merkwürdigen Produkten zu verschaffen, mit denen das Bankgewerbe seine Geschäfte tätigt, schon in deren Eigenschaft verwandelt und sie sogar als für ihre eigenen Konstrukteure unverstehbar erklärt, so liegt die Beseitigung dieses Übels unmittelbar auf der Hand: Für Transparenz im Finanzsystem hat der Staat zu sorgen, auf dass in Form der Durchsichtigkeit der Finanzprodukte, mit denen sie handeln, den Beteiligten die Grundlage an die Hand gegeben werde, von der aus sie dann wieder ganz von selbst zu dem wechselseitigen Vertrauen finden, das ihnen gerade fehlt.

So kommt ein munteres Vorschlagswesen in Gang, wobei an den Vorschlägen selbst, aber auch unabhängig von ihnen und in eher grundsätzlich angelegten Statements, vom bürgerlichen Expertenverstand immer wieder die ethische Grundsatzfrage gewälzt wird, die er schon gleich zu Beginn aufgeworfen hat. Per se gut und entsprechend unantastbar ist für ihn alles, was das Eigentum und die vielen Freiheiten betrifft, die es für alle Methoden seiner erfolgreichen Vermehrung so braucht: Das hohe Lied der Selbstheilungskräfte einer freien Marktwirtschaft hebt an, in die einzugreifen nicht oder doch nur mit äußerster Zurückhaltung gestattet sei. Unabweisbar ist für ihn aber auch, dass diese freiheitliche Welt ohne Staat sich mit den Antagonismen, die sich in ihr tummeln, selbst zu zerlegen droht, lässt man sie vor sich hinwirtschaften: Also braucht es einen hoheitlichen Aufpasser über sie, der auf alles Nötige achtet und bei Bedarf auch alles Erforderliche besorgt, damit in der Wirtschaft die Mehrung des Eigentums klappt, für die allein sie eingerichtet ist. Das eröffnet dem Meinungsstreit breiten Raum, ob die staatlichen Krisenrettungsmanöver, wenn sie denn schon sein müssen, eher als Fluch oder als Segen zu bewerten seien, und dass in dem dann alles zurücktritt und unbeachtlich wird, worüber die Staatsmacht erfolgreich Aufsicht zu führen hat, ist nur konsequent. Es macht daher überhaupt nichts aus, wenn man im Zuge der eigenen Appelle an den Staat, mehr Aufsicht auszuüben, darauf stößt, dass dem nun wirklich kein Fitzelchen seines Finanzsystems außer Kontrolle geraten ist: Eine irgendwie bessere Kontrolle kann man sich allemal noch wünschen. Keinen wundert es, wenn der Ruf nach mehr Transparenz in Gestalt von Bilanzierungsregeln für Banken erhört wird, die vor allem den Zweck des kunstvollen Versteckens unguter Posten sehr transparent machen: Hauptsache, mit ihren schöngefärbten Bilanzen können sich die Banken wechselseitig wieder zu mehr Vertrauen animieren. Dem Ideal des erfolgreichen Rettungsakts hängt der marktwirtschaftliche Sachverstand in der Weise nach. In kompletter Abstraktion von allem ökonomischem Gehalt räsoniert er über die Idee eines derart formvollendet demokratischen Eingriffs des Staates in seine Marktwirtschaft, dass die mitsamt ihren Antagonismen garantiert so bleibt, wie sie ist, und in ihr doch wieder in Gang gebracht wird, was wegen der in ihr beheimateten Gegensätze nicht mehr klappt. Das führt ihn folgerichtig zur nächsten Frage, an der für ihn das Gelingen des staatlichen Rettungsprogramms hängt: Kann man denen vertrauen, die da von Staats wegen wieder für Vertrauen sorgen sollen?

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Endgültig befreit von jeder Befassung mit der Ökonomie, die in der Krise ist, machen sich die Vordenker der Öffentlichkeit an die kritische Prüfung der Chancen, die dem Gelingen des staatlichen Rettungswerks winken: Die Krise wird zum Anlass für einen Lackmustest auf die politische Führungskunst derer, die zur Rettung aus ihr angetreten sind. Das ist zwar enorm unsachlich, aber insofern äußerst sachgerecht, als in einer funktionierenden Demokratie der jeweilige Stoff der politischen Agenda die viel langweiligere Sache ist im Vergleich zu der viel spannenderen, wer sich da jeweils an seiner Bewältigung zu schaffen macht: Die berühmten ‚Sachthemen‘ erfreuen sich grundsätzlich einer Würdigung als Anlass, an dem die politischen Verantwortungsträger zeigen können, was in ihnen steckt – an Kompetenz, Führungskraft und allem anderen, was es in dieser Welt für eine erfolgreiche politische Vertrauenswerbung so braucht. Also geht die Frage nach dem rechten Weg, der die Nation aus der Krise führt, nahtlos in die über, wer sich da bei der Rettungstat wie gut als Retter zu profilieren versteht, womit der demokratische Sachverstand bei sich angelangt und nur noch mit den Kriterien befasst ist, die sein Urvertrauen in die Politik und in die um Zustimmung konkurrierenden Vertreter des Metiers bestimmen: Regieren da die Richtigen? Zeigt der Chef, dass er die Sache im Griff hat? So eskaliert die Krise – und mit verhaltener bis vernehmlich bekundeter Genugtuung nimmt man zur Kenntnis, wie gut in dieser schweren Zeit die große Koalition funktioniert. An Rettungsplänen und -schirmen ist in erster Linie bemerkenswert, wie geschlossen und schnell sie vereinbart werden. Allenthalben gibt es Zeugnisse überzeugender Tatkraft zu vermelden, deswegen umgekehrt an der Vorstellung der Kanzlerin im Bundestag auch zu bemängeln, dass sie keine Blut-Schweiß-und-Tränen-Rede abgeliefert hat – mit einer solchen wäre man ja noch viel mehr von ihrer Tatkraft überzeugt gewesen. So schafft sich nach dem Finanzsystem auch noch das öffentliche Beurteilungswesen seinen spekulativen Überbau, in dem ausgelotet wird, wie sich aus den Selbstdarstellungskünsten der Politiker die Erfolgschancen des staatlichen Rettungsprogramms extrapolieren lassen, und nach derselben Logik blickt man dann über den Tellerrand der eigenen Nation hinaus und in die Partnernationen hinein, die gleichfalls ihre Krisenrettungsprogramme initiieren. Selbstverständlich erschlägt auch da das Ideal der schlagkräftigen politischen Führung jede Befassung mit dem Stoff, an dem der jeweilige nationale Vorstand mit seiner Führungskunst brilliert, wobei sich allerdings das Koordinatensystem schon ein wenig verschiebt, in dem das Prädikat ‚überzeugend‘ erteilt oder verweigert wird. Was zum Beispiel Frankreich betrifft, so mag in seinem Land der Präsident ja die Idealvorstellungen von einem ‚entschlossenen Handeln‘ ähnlich gut erfüllen wie Frau Merkel dies für den Geschmack der öffentlichen Prüfkommissare hierzulande tut. Doch wie wir das zu bewerten haben, hängt ganz davon ab – davon nämlich, ob man einem seiner vielen Vorstöße und Alleingänge einen verdienstvollen Beitrag zur Stiftung einer europäischen Einigung zu entnehmen geneigt ist oder nicht. Im ersten Fall ist und bleibt er zwar eine Nervensäge, ist aber durchaus ‚kompetent‘. Im zweiten Fall tendiert die Kompetenz dieses Krisenretters doch schnell zur Anmaßung: Man durchschaut ihn als einen, der in Wahrheit doch nur seine Nation retten will, und zwar so, dass alle anderen sich dem unterzuordnen haben, was er im Interesse Frankreichs für geboten hält, und weil das selbstverständlich nicht in Frage kommt, ist er in dem Fall kein Vorbild an politischer Tatkraft, sondern ein Möchtegern-Napoleon.

In der Manier arbeitet man sich weiter durch alle Facetten des wegen der globalisierten Weltwirtschaft ja irgendwie auch global zu dimensionierenden Krisenrettungsprogramms. Der Ruf nach Aufsicht über die Finanzgeschäfte verallgemeinert sich zur Forderung nach einer internationalen Kontrolle des weltweiten Finanzsystems – und kaum ist man die losgeworden, hat man ein neues Bewährungsfeld für seine politischen Führungskräfte eröffnet: Gelingt es ihnen da, sich und damit die Interessen der Nation gegen andere durchzusetzen, also in dem Kontrollregime die Führerschaft zu übernehmen und allen anderen zu sagen, wen oder was sie wie zu kontrollieren haben? Worum die Nationen in ihrem Streit um die Modalitäten eines internationalen Krisen-Regimes eigentlich konkurrieren, braucht der demokratische Verstand bei seiner Art der kritischen Prüfung des diplomatischen und übrigen imperialistischen Ringens gar nicht zu wissen. Dass es zwischen Nationen allemal um Durchsetzung gegeneinander geht: Diese Quintessenz aller Außenpolitik ist auch dem größten Blödmann als allergrößte Selbstverständlichkeit geläufig. In welcher Unsachlichkeit auch immer sich da einer zurechtlegt, dass über den Erfolg all der Maßnahmen, die unter der Rubrik ‚Aufsicht & Kontrolle‘ international auf den Weg gebracht werden sollen, vor allem die Frage entscheidend sei, wer da die Feder führt: Die Sache, dass Krisenrettung international eine Machtfrage ist, erwischt er noch mit der albernsten seiner Vorstellungen, wie gut oder wie schlecht da Frau Kanzlerin sich im Kampf ‚wir gegen die anderen‘ geschlagen hätte.

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Bleibt noch das dritte Exerzierfeld, auf dem die öffentlichen Sachverständigen ihrem Staat mit guten Vorschlägen für den Ausweg aus der Krise zur Seite stehen. Den Abgrund an Verworfenheit, der sich in Gestalt der menschlichen Gier und ihrer vielfältigen Derivate aufgetan hat, gilt es zu tilgen: Ein Umbau des Kapitalismus zur moralischen Besserungsanstalt steht an. Dieses schöne Projekt verschafft erst einmal jenen öffentlichen Meinungsbildnern Oberwasser und entsprechend Gehör in Presse und Talkshows, die schon immer der Meinung waren, beim Kapitalismus der letzten Dekade handele es sich – unter den Auspizien von Humanität und sozialer Gerechtigkeit betrachtet – um eine Fehlentwicklung desselben: Der Krise dieser neo-liberalen Sonderform entnehmen sie, wie richtig sie mit ihrer Einschätzung liegen. Eine radikale Umkehr mahnen sie daher an, weg von abartigen Kunstformen – und zurück zum Kapitalismus der Hochklassik, in dem sich die Marktwirtschaft noch zu Recht mit dem Attribut ‚sozial‘ schmückte, redliche arme Leute noch von ihrer Arbeit, danach von ihrer Rente leben konnten. Diese abstruse Idealisierung des deutschen Kapitalismus der 70er Jahre ist hierzulande die schärfste Kritik des Kapitalismus und die bestmögliche aller Alternativen zum Produktionsverhältnis, das gerade in der Krise ist! Schon das geht dem Mainstream der öffentlichen Meinungsbildner zu weit, weil gerade in Krisenzeiten jede Erinnerung an eine ‚soziale‘ Konnotation des Titels ‚Gerechtigkeit‘ grundverkehrt ist. Letztere sieht man vielmehr in den besseren Kreisen der Gesellschaft verletzt: Wenn, was ja wohl sein muss, der Staat mit Geld seine Banken rettet, dann kann es ja wohl unmöglich angehen, dass die Vorstände der Institute dieses Geld nur wieder als Stoff ihrer persönlichen Bereicherung zweckentfremden! Der sachdienliche Hinweis, dass der Staat wg. Gerechtigkeit keinesfalls die falschen Anreize geben darf, wird entsprechend vertieft: Manch einer hält es für absolut unannehmbar, dass diese Dienstverpflichteten des kapitalistischen Allgemeinwohls das Zockertum überhaupt noch weiter betreiben dürfen, das doch nur ihrem privaten Vorteil nützt. Andere seufzen laut vor sich hin, dass die Vernichtung von Kapital sich nicht einmal unter dem Gesichtspunkt der Sachbeschädigung unters Strafrecht subsumieren lässt, obwohl sie doch zweifelsfrei ein Kapitaldelikt ist. Moderate Stimmen sind gleichfalls gegen die weitere Umwidmung unserer feinen Finanzwelt zur Spielwiese für Kasino-Hasardeure, halten aber den Vorschlägen vom Wegsperren der Bande entgegen, dass ohne die Finanzfachleute das Finanzchaos, das sie angerichtet haben, wohl nicht zu beheben sein wird – obwohl ja nun auch als ausgemacht gilt, dass dieses Chaos aus Papieren herrührt, die ihre Urheber selbst nicht mehr verstanden haben...

So geht es dahin, und alle Varianten der Problematisierung der zum Himmel schreienden Verfehlung, dass der Staat mit seinem Schutzschirm womöglich Verluste sozialisiert, die Privatleute sich in ihrer verantwortungslosen Sucht nach Rendite haben zuschulden kommen lassen, nehmen bei einer Figur Zuflucht, um deren gerechte Behandlung es ihnen vordringlich zu tun sei: Der Steuerzahler ist die Berufungsinstanz der kritischen Prüfung all dessen, was der Staat sich zur Rettung seiner Banken vornimmt. Irgendeine Sorte Aufklärung darüber, in welchem Verhältnis eine Bürgschaft zum Staat, der zu seinem Haushalt und der wiederum zum Steueraufkommen seiner Bürger steht, ist dabei nicht beabsichtigt. Diese Figur ist die zur ideellen Gesamtperson verallgemeinerte Kritik des bürgerlichen Materialisten, der im Staatsbürger steckt, an der zweiten Hälfte seiner Doppelnatur, an dem Staat, der ihn zu seinem Bürger macht. Teile seines Eigentums in Form von Steuern an die Obrigkeit abführen zu müssen: Das nimmt der moderne Mensch als Inbegriff seines Gegensatzes zu ihr, als Beschneidung seines persönlichen Freiheitsrechts zum Gelderwerb – das er allerdings niemand anderem als seinem Staat zu verdanken hat! Zähneknirschend tut er daher, was er muss, und leitet aus seinem bleibenden Ärger das eingebildete Recht ab, die Werke der Staatsmacht, die ja mit ‚seinem Geld‘ finanziert werden, daraufhin zu überprüfen, inwieweit sich ihnen der Eindruck einer Gegenleistung für den an den Staat abgeführten Obolus abringen lässt. Seinen eigenen materiellen Nutzen hat der Bürger dabei allerdings nicht im Sinn: Im frustrierten Bourgeois verschafft sich nur wieder der Citoyen Luft, der eine auch wirklich gemeinwohldienliche Verwendung der Gelder einfordert, die der Hüter des Allgemeinwohls eingesackt hat – und macht sich dementsprechend für die Beschneidung des Privatinteresses stark, wo er diesbezüglich Verstöße wittert. So avanciert praktizierter Gehorsam gegenüber der staatlich verfügten Enteignung zur imaginierten Rechtsposition eines Kontrolleurs des Enteigners und seines Wirtschaftens mit Geld, zur Instanz der berechtigten Beschwerde, und die macht sich dann an der Finanzierungskunst zu schaffen, mit der die Staatsgewalt ihr Finanzsystem rettet. Der Staat bürgt mit viel Geld für seine Banken – und ‚der Steuerzahler‘ in allen weiß augenblicklich, was er davon zu halten hat: Sein notorisches Fahnden danach, ob im Gemeinwesen auch jeder an seinem Platz seiner dem Allgemeinwohl förderlichen Verantwortung nachkommt, stößt darauf, dass da bei der Elite aus dem Bankgeschäft ja wohl eindeutig Fehlanzeige zu vermelden ist – also ist es ein Skandal, wenn mit Milliarden, für die wir alle bürgen, der Bonus finanziert werden soll, den sich Banker am Ende des Geschäftsjahres aufs Konto überweisen! Daher nimmt das erregte Gerechtigkeitsempfinden auch wieder einigermaßen befriedigt zur Kenntnis, dass man dies höheren Ortes gleichfalls so sieht und dem Eigennutz der Bande wenigstens symbolisch Grenzen zieht: Mehr als 500 000 Euro pro Jahr für die Vorstände des Schleusendienstes am Herz unserer Wirtschaft gibt es nicht, für Dividenden der Couponschneider steht die ‚öffentliche Hand‘ gleichfalls nicht ein.

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Doch nicht nur auf bescheidene Manager hat der Steuerzahler ein Recht: Eine umfassende Meinungsbildung über alle anderen Lehren, die sich neben den schon bekannten aus der Krise ziehen lassen, darf gleichfalls nicht zu kurz kommen. Das Feuilleton ist der rechte Ort für die Vertiefung von Weisheiten über die Menschennatur, die in dieser Krise zum Ausdruck kommt, denn keinesfalls ist da mit der Gier, von der wir geschlagen sind, schon das letzte Wort gesagt. Die Leichtfertigkeit, mit der man da mit Risiken hantiert hat; umgekehrt die übertriebene Panik, in der reagiert wird, kaum werden sie bekannt; die mangelnde Seriosität des Treibens, an der sich so lange keiner gestört hat, und überhaupt eine Wirtschaft, die komplett ihren Boden verloren hat: Das alles sind schwerwiegende Indizien für einen durch und durch irrationalen homo oeconomicus. Und auch wenn noch nicht feststeht, von welchen finsteren Mächten genau der in seinem Handeln bestimmt wird, ob es wirklich Triebe sind, wie einige meinen, oder Mechanismen, durch die er nach Auffassung anderer gesteuert wird – eines lässt sich da jedenfalls schon sagen: Eine grundverkehrte Mentalität und den entsprechend falschen Lebensstil hat der moderne Mensch zweifellos an den Tag gelegt, wenn er seine Wirtschaft dermaßen in die Scheiße reitet. Und auch wenn der kulturkritische Forschergeist auch da noch nicht alles entdeckt hat: Dass der Mensch sich in einem grenzenlosen Hang zum Konsum hat gehen lassen, kann jedenfalls als gesicherte Erkenntnis gelten, wenn pekuniäre Phantasmagorien ganze Länder in den Staatsbankrott treiben. Zeit also, dass er sich wieder auf seine wahren Werte besinnt in diesen unsicheren Zeiten – und sich daran zurückerinnert, dass er sich sein Brot allemal im Schweiße seines Angesichts zu verdienen hat...

III. Der Ertrag der Meinungsbildung

Was die Gründe der Krise im Finanzgewerbe betrifft, so gehören brauchbare Auskünfte hierzu offenkundig nicht in den Umkreis der öffentlichen Informationspflichten; deren Stelle nehmen Schilderungen des Hergangs, Einschätzungen des Fortgangs der Krise und Darstellungen der komplizierten Technologie der wertlos gewordenen Finanzprodukte ein. Umso nachdrücklicher wird man als Leser seiner Zeitung und Zuseher im Fernsehen darauf getrimmt, wie man sich geistig-moralisch dazu zu stellen hat, dass bei den Profis der Geldvermehrung die Rechnungen nicht mehr aufgehen.

Von Beginn an ist dieses Unglück Gegenstand größter allgemeiner Sorgen. Das ist schon auffällig anders als im Fall all der ökonomischen Schäden, die im normalen Gang der kapitalistischen Konjunktur der Menschheit zugemutet werden. Da zählt nichts als Krise – geschweige denn als Grund zur Kritik –, solange die Zahl der Arbeitslosen irgendwie im Rahmen bleibt; da werden auch die massenhafte Vernichtung und die Gefährdung von Einkommen und bürgerlichen Existenzen als bedauerliche, aber unvermeidliche und letztlich auch wieder zweckmäßige, den Kapitalstandort voranbringende Nebenwirkungen eines Phänomens namens Globalisierung abgehakt; verbleibende Unzufriedenheit wird mit ein bisschen Empörung über vereinzelte Manager bedient, die als „Nieten in Nadelstreifen“ einer braven Belegschaft die Arbeitsplätze wegnehmen und der Nation die Arbeitsmarktstatistik versauen. Wo jedoch die globalen Finanzmärkte von einer Entwertung großer Vermögensziffern betroffen sind, da ist Alarmstimmung angesagt. Und weil das Volk von diesem Unfall erst einmal nicht spürbar betroffen ist, wird für Betroffenheit gesorgt. Das Publikum wird mit Schadensmeldungen aus den Chefetagen der Banken bombardiert; gerechte Empörung über Versager und Betrüger an wichtigen Schaltstellen der Volkswirtschaft wird ihm in den Mund gelegt. Und vorauseilend wird der lohnabhängigen Mehrheit das Elend ausgemalt, das in Form von Massenentlassungen unaufhaltsam auf sie zukommt, wenn die Krise der großen Finanzmassen sich erst einmal bis zur „Realwirtschaft“ durchgefressen hat – gemeint sind damit die Firmen, die dank der nun womöglich gefährdeten Finanzierungsdienste des Kreditgewerbes noch immer in der Lage waren, ihre „Mitarbeiter“ weltrekordmäßig auszunutzen und ihnen damit das Leben schwer zu machen. Wer das mit sich hat machen lassen, der bekommt demnächst die marktwirtschaftlich gerechte Quittung für seine Dienstbereitschaft, nämlich in verschärfter Form die Alternative aufgemacht, die das lohnabhängige Dasein immerzu so gemütlich geraten lässt: die von den Betroffenen gar nicht zu entscheidende Alternative zwischen Lohnminderung bis zum modernen Status eines Arbeiters ohne kostendeckenden Lohn, eines „working poor“ auf gut deutsch, und Arbeitslosigkeit mit Hartz-IV-Perspektive: Das wird als absehbarer Kollateralschaden des in die Krise geratenen Kreditsystems offen angesagt. Neuer, härterer Schaden wird den Leuten offensiv angekündigt, um sie auf den Standpunkt der existenziellen Mit-Betroffenheit durch die Vermögensverluste in den höheren Etagen der Marktwirtschaft einzuschwören, auf die Lüge von der Interessensgleichheit zwischen dem kapitalistischen Reichtum und dessen lohnabhängigen Produzenten, auf bedingungslose Parteinahme für die Sicherung bzw. Wiederherstellung der kapitalistischen Funktionstüchtigkeit dieses Reichtums. Dass irgendwer aus der Prognose eines demnächst vergrößerten Elends den umgekehrten Schluss ziehen könnte – nämlich: sich der Zunutung einer klassenübergreifenden Solidarität der diensttuenden Opfer des Systems mit dessen Nutznießern zu verweigern und auf gründlichere Abhilfe zu sinnen: Das scheinen die Fachleute der öffentlichen Meinungsbildung nicht zu befürchten; es gibt ja auch weit und breit keine Organisation und keine Mannschaft, die bereit und fähig wären, der Geldwirtschaft in der Stunde ihrer selbstfabrizierten Not die überfällige Absage zu erteilen. Also wird unbefangen gehetzt: gegen die private Bereicherungssucht verantwortungsloser Spekulanten, die bis eben noch als findige Fachleute für famose Investments gegolten haben; für das Gesamtkunstwerk der Akkumulation kapitalistischen Reichtums, das von denen momentan einigermaßen ruiniert wird. Dabei ist dieses System allemal noch soweit intakt, dass es mit seiner Krise zwar mit Verzögerung, dann aber um so härter sein benutztes und nicht mehr benutztes Fußvolk ’reinreißt und für seine danach anstehende Erholung erst recht flächendeckend für mehr Verelendung sorgt, nämlich mehr Arbeitsleistung für weniger Entgelt einfordert. Doch ausgerechnet deswegen, weil das so ist, sollen die Leute sich ideell engagieren lassen: für die Reparatur des Systems; für solide Banken und funktionstüchtige Finanzmärkte, weil nur so die Kollegen von der „realen“ Welt der Ausbeutung mit dem Kredit als Betriebsstoff versorgt werden können, ohne den sie den Beruf des Arbeitgebern glatt einstellen müssten; für den neuerlichen kapitalistischen Gesamterfolg.

Und für alles, was die Verantwortlichen dafür unternehmen. Denn so viel ist auch von Anfang an klar: Den Status der passiven Manövriermasse im sozial-marktwirtschaftlich regierten Gemeinwesen brauchen dessen werktätige oder schon bzw. demnächst arbeitslose Insassen nicht zu verlassen; und das sollen sie auch gar nicht. Wie sie es gewohnt sind, sollen sie sich auch und erst recht in kritischer Lage ihre Lebensbedingungen vorsetzen und vorschreiben lassen: von denen, die vor, während und nach der Krise die öffentliche Gewalt ausüben und jede kapitalistische Konjunkturlage politisch managen; und von denen, die dank einer nimmermüden öffentlichen Gewalt die Privatmacht des kapitalistischen Eigentums über Arbeit und Leben der Gesellschaft auch dann ausüben, wenn sie ihren Laden in eine Krise hineingewirtschaftet haben. Je größer und drängender die Sorgen, in die die Leute mit allen Mitteln der modernen Informationskunst verwickelt werden, die Sorgen ums Wohlergehen der nationalen Wirtschaft wie um den eigenen absehbarerweise geschädigten Lebensunterhalt, umso fragloser steht fest, wie diese Sorgen zu bewältigen sind: privat mit vorauseilender Bescheidenheit und einer jederzeit abrufbaren Bereitschaft, sich nach der Decke zu strecken, Vorhaben zu streichen und materielle Erwartungen herunterzuschrauben. Alles, was darüber hinausgeht, was die politischen und ökonomischen Bedingungen der privaten Existenz betrifft, gehört in die Hände der dafür Zuständigen. Die praktische Konsequenz aus der heftig geschürten allgemeinen Aufregung heißt: engagierte Passivität. Diese paradoxe Haltung wird gepflegt; und sie wird bedient, wie es sich in einer Demokratie gehört: mit konkurrierenden Angeboten seitens der amtierenden und der oppositionell mitregierenden Herrschaften für eine erfolgreiche Handhabung des aus den Fugen geratenden marktwirtschaftlichen Systems – und für eine zweckmäßige Opferbetreuung. An den einschlägigen Programmen und Maßnahmen und vor allem an deren Urhebern dürfen die Leute, die mit Arbeit und Bescheidenheit dem System als Basis dienen, in ihrer zweiten Eigenschaft als meinungsstarke wahlberechtigte Staatsbürger in bewährter Manier aktiv ein Exempel ihres demokratisch geschulten Verstands statuieren. Sie dürfen prüfen, wer von den konkurrierenden Machern wirklich mit den Erfolgen glänzen kann, die er angesichts der ausgemalten Krisen-Notstände angekündigt hat. Sie können entscheiden, wer sich nach ihrem Dafürhalten tatsächlich mit entschlossener Tatkraft zu profilieren versteht und daher ihr Vertrauen verdient. So passt eines wunderbar zum anderen: Eine Jahrhundertkrise des kapitalistischen Systems – und ein Superwahljahr, in dem sich die politischen Beförderer und Nutznießer desselben bei den Opfern als Krisenmanager empfehlen, auf dass sie von denen zur weiteren Ausübung ihrer politischen Verantwortung ermächtigt werden! So sorgt die öffentliche Meinungsbildung in der Krise für die Bildung des politischen Willens, der das System jenseits aller Krisen am Leben erhält.