Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Politische Ansprachen und Interpretationen zum hundertjährigen Jubiläum des Ersten Weltkriegs
Zukunftsweisende Erinnerungen an sinnlose Völkerschlachten
Der 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs wird als das
bisher größte mediale Geschichtsereignis des 21.
Jahrhunderts
(Spiegel 1/14)
veranstaltet. Anlässlich des dichten
Erinnerungsparcours
der Staatsfeierlichkeiten kommt
das Volk in den Genuss höchstoffizieller Ansagen, welche
Lehren aus der Vergangenheit für ‚uns‘ heute zu ziehen sind.
Die Nation, vertreten durch ihre obersten politischen
Repräsentanten und unter Mitwirkung namhafter Historiker und
Publizisten, stellt damit ihre aktuelle Verfassung sowie ihre
Mitgliedschaft und Führungsposition in der EU als
geschichtlich wohl begründete Konsequenz aus der monumentalen
‚Sinnlosigkeit‘ jenes Krieges und damit in einigermaßen
verwandelter Form zur Schau. Die Rückbindung der
gegenwärtigen Staatsräson an die nun hundert Jahre alte
Vergangenheit verleiht ihr das Ansehen eines respektablen
Meilensteins eines langen und schwierigen Wegs hin zu einer
europäischen Wertegemeinschaft für Frieden und Freiheit; ein
Weg, zu dem eben auch die Überwindung nationaler ‚Irrwege‘
mit katastrophalem Ausgang gehört. Das bringt Sinn in die
nationale Vergangenheit und Gegenwart, und der soll letztere
ein Stückchen unwidersprechlicher machen. Mit anderen Worten:
Mit den alten Geschehnissen wird Politik gemacht –
politische Propaganda. ‚Kollektive Identitätsstiftung‘ zur
Förderung einer ‚kontinentalen Erinnerungsgemeinschaft‘ heißt
das dann.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Politische Ansprachen und
Interpretationen zum hundertjährigen Jubiläum des Ersten
Weltkriegs
Zukunftsweisende
Erinnerungen an sinnlose Völkerschlachten
Der 100. Jahrestag des Ersten Weltkriegs wird als das
bisher größte mediale Geschichtsereignis des 21.
Jahrhunderts
(Spiegel
1/14) veranstaltet. Anlässlich des dichten
Erinnerungsparcours
der Staatsfeierlichkeiten
kommt das Volk in den Genuss höchstoffizieller Ansagen,
welche Lehren aus der Vergangenheit für ‚uns‘ heute zu
ziehen sind. Die Nation, vertreten durch ihre obersten
politischen Repräsentanten und unter Mitwirkung namhafter
Historiker und Publizisten, stellt damit ihre aktuelle
Verfassung sowie ihre Mitgliedschaft und Führungsposition
in der EU als geschichtlich wohl begründete Konsequenz
aus der monumentalen ‚Sinnlosigkeit‘ jenes Krieges und
damit in einigermaßen verwandelter Form zur Schau. Die
Rückbindung der gegenwärtigen Staatsräson an die nun
hundert Jahre alte Vergangenheit verleiht ihr das Ansehen
eines respektablen Meilensteins eines langen und
schwierigen Wegs hin zu einer europäischen
Wertegemeinschaft für Frieden und Freiheit; ein Weg, zu
dem eben auch die Überwindung nationaler ‚Irrwege‘ mit
katastrophalem Ausgang gehört. Das bringt Sinn in die
nationale Vergangenheit und Gegenwart, und der soll
letztere ein Stückchen unwidersprechlicher machen. Mit
anderen Worten: Mit den alten Geschehnissen wird
Politik gemacht – politische Propaganda.
‚Kollektive Identitätsstiftung‘ zur Förderung einer
‚kontinentalen Erinnerungsgemeinschaft‘ heißt das dann.
Die Reden der Politiker: historischer Sinn für ihr Europaprogramm
Ein Geheimnis ist der Gebrauch der Vergangenheit als
Sinnressource erster Güte
(Spiegel, 1/14) nicht. Da macht nicht
einmal der Bundespräsident sich und anderen etwas vor:
Der spricht mit der größten Selbstverständlichkeit von
den verschiedenen europäischen Narrativen
mit
ihren unterschiedlichen Erzählungen vom Krieg in
Europa
. Natürlich lässt er als diplomatisch
auftretender Staatspräsident diesen Pluralismus
national-bornierter Perspektiven stehen, obwohl ihm diese
nicht selten als Zumutung erscheinen müssen. So passt es
zum Beispiel nicht gut ins Bild der deutsch-französischen
‚Entente Cordiale‘, dass die beiden Länder durch eine
weitgehend disparate ‚Gedenkkultur‘ geschieden sind. La
Grande Nation feiert ihren siegreichen ‚Grande Guerre‘
gegen den damaligen Erbfeind nach wie vor überschwänglich
als ruhmreiches Heldenepos. Die Schlachten an Marne und
Somme fungieren als Symbol des Zusammenhalts und
Opfermuts der Nation gegen den deutschen Aggressor und
rangieren in der amtlichen Erinnerungswirtschaft
Frankreichs gleich hinter dem 14. Juli. Manche
französischen Verantwortungsträger befürchten schon, dass
– gerade in Zeiten, in denen der Präsident des
Europäischen Parlaments längst überwunden geglaubte
Vorurteile über andere Völker oder gar Feindbilder
(Schulz, FAS, 16.3.) auf dem
Vormarsch sieht – ein allzu saftiger Hurra-Patriotismus
die Völkerfreundschaft zum staatlichen Nachbarn jenseits
des Rheins irritieren könnte. Eine Gefahr, die von
Deutschland nicht ausgeht. Hier schlägt man sich immer
noch mit der leidigen Kriegsschuldfrage herum und
versucht mit der lauen These, dass es in Europa 1918
‚eigentlich‘ und ‚letztlich‘ gar keine Sieger gegeben
habe, es also gar nichts zu feiern gäbe, moralisch Boden
gut zu machen. Der oberste Repräsentant des neuen,
guten Deutschlands
(FR,
8.3.) fordert in diesem Sinne ein Erinnern der
höheren Art: Die Frage nicht nur dieses überzeugten
Europäers ist, wie es vielleicht doch möglich sein
könnte, zu einer gemeinsamen europäischen Erzählung
dieser Urkatastrophe zu kommen
(Gauck, 27.6.). Eine rhetorische Frage.
Gedenkprofi Gauck
(Spiegel,
4/14) bringt gleich zu Beginn des Gedenkjahrs eine
übergeordnete Perspektive ins Spiel, die geeignet ist,
die Siegesrhetorik aller Nationalität in den Schatten zu
stellen, ohne dem Nationalstolz der ehemaligen
Siegermächte zu viel zuzumuten: Gauck kann sich die
Beschäftigung mit dem Ersten Weltkrieg nur als Respekt
vor dem Leid derer vorstellen, die damals durch uns
bekämpft wurden.
(Spiegel
1/14) Damit ist der Ton angeschlagen, der sich für
eine europäisch ausgerichtete ‚Gedenkkultur‘ hervorragend
eignet:
‚Der Mensch‘ als Opfer und Täter
Unter rein menschlichen Aspekten merkt man gleich: ‚Wir‘
haben nicht nur viel Leid verursacht, sondern auch
erlitten. Auf europäisch ausgerichteten
Gedenkveranstaltungen sehen die Redner denn auch von
allen Gegensätzen, die in diesem Krieg
ausgefochten wurden und die den unentwegt zitierten
‚Blutzoll‘ in so denkwürdigen Quanten gefordert haben,
vornehm ab, um ostentativ ratlos und fassungslos
(Gauck, 3.8.) nur noch
festzuhalten, dass dieser Krieg mit seinen zahllosen
Toten, Kriegsbeschädigten, Verletzten und zerbrochenen
Familien
unendliches Leid über ‚die Menschen‘ aller
Herren Länder gebracht hat. Der Präsident des
Europäischen Rates auf dem Gedenktag der europäischen
Staats- und Regierungschefs in Ypern: In dieser
Gedenkfeier geht es vor allem um die Millionen die auf
allen Seiten, an allen Fronten getötet wurden.
(van Rompuy) Das stilisiert
den Krieg zur gemeinsamen Leidensgeschichte.
Wer aber hat ‚den Menschen‘ so viel Leid zugefügt?
Darüber ist schon viel philosophiert und interpretiert
worden. Letztlich aber kommt da nur einer in Frage: ‚Der
Mensch‘! Menschen waren es, die buchstäblich alle
Mittel probiert und eingesetzt haben, um sich gegenseitig
zu vernichten. Es ist eben allein der Mensch, der
unmenschlich handeln kann.
(Gauck, 3.8.) Weshalb das ‚unmenschliche
Handeln‘ typisch menschlich ist. Im Zeichen dieser – an
die Idiotie der Erbsünde gemahnenden – üblen Nachrede
spielt es keine Rolle, wer die Menschen aufhetzt und wer
sich aufhetzen lässt, wer einen Einsatzbefehl erteilt und
wer ihm Folge leisten muss. ‚Die Menschen‘ fallen in
ihrem von jeder Nationaluniform entkleideten, puren
Mensch-Sein übereinander her. Nicht um einen feindlichen
Staatswillen zu brechen, sondern um ‚sich gegenseitig‘
und ‚mit allen Mitteln‘ zu massakrieren. Als ob diese
Mittel ohne staatliche Beschaffung überhaupt existierten
und ohne herrschaftlichen Auftrag eingesetzt werden
könnten.
Ob die Gedenkredner ‚den Menschen‘ als allgemeines Opfer
oder als allgemeinen Täter auftreten lassen, für die
Bundesrepublik ist beides eine diplomatische Wohltat.
Zumindest auf internationalen Gedenkveranstaltungen
treten die alten Gegensätze zwischen den Nationen mitsamt
den lästigen Schuldverhältnissen in den Hintergrund. So
wird das Leid des Humansubjekts ebenso wie das Abgründige
in seiner Natur zum gemeinsamen Nenner für die
furchtbarsten und düstersten Zeiten unserer
gemeinsamen Geschichte
(Gauck,
3.8.) und gleichzeitig zum Sinnbild für die
allgemeine Gültigkeit der Lehren, die staatliche
Gedenkredner aus dieser Zeit ableiten. Der Respekt vor
menschlichem Leid ist wie das Entsetzen vor den
infernalischen Möglichkeiten des Menschen regelmäßig die
Ouvertüre zu seiner Instrumentalisierung für politische
Schlussfolgerungen. Um gar nicht erst Zweifel daran
aufkommen zu lassen, welche dies nur sein können, wird
regelmäßig noch ein Kriegsopfer der höheren Art ins Feld
geführt: ‚Der Kontinent‘. Der europäische
natürlich. Andere Kriegsschauplätze dieses Weltkriegs
sind in diesem Zusammenhang nicht so wichtig. Der Erste
Weltkrieg bekommt damit einen für heutige Sinnbedürfnisse
maßgeschneiderten Begriff:
Die Selbstzerfleischung des Kontinents
Schließlich markiert ‚14/18‘ den Anfang vom Ende der
Vormachtstellung europäischer Nationen. Die waren damals
zwar bitter verfeindet, aber immerhin waren einige von
ihnen noch global tonangebend. Betrachtet man deren
damaligen Krieg gegeneinander vom Standpunkt
ihrer heutigen weltpolitischen Ambitionen als vereintes
Europa aus als gemeinsamen Bedeutungsverlust,
wird aus dem Krieg verfeindeter Mächte ein
Bruderkrieg
(Gauck,
4.8.) und aus dem Kampf um Vorherrschaft in Europa
eine Selbstzerfleischung Europas. Ein Exzess an
Sinnlosigkeit! Was aber – für heute – keinen Sinn macht,
erscheint den historisierenden Politikern von Anfang an
als schier unbegreiflicher Wahnsinn: Der Krieg als
kollektiver Wahn
, der eine Spirale der
Selbstzerfleischung über diesen Kontinent zivilisierter
Nationen
(van Rompuy)
brachte. In diesem Sinn definiert die Kanzlerin den nun
gültigen Symbolismus sagenumwobener Kriegsschauplätze:
Orte wie Ypern oder Verdun stehen für die
Selbstzerfleischung des ganzen Kontinents Europas
(25.6.). Aus dieser Deutung
der damaligen Geschehnisse ergeben sich wie von selbst –
wer befürwortet schon ‚Wahn‘ und ‚Selbstzerfleischung‘? –
Lehren für Europas Zukunft
Über deren Inhalt müssen sich die Geschichte lehrenden
Staatsmänner nicht groß ihre Köpfe zerbrechen. Was Europa
heute ist bzw. in welcher wertemäßig
idealisierten Form es nach Vorstellung von dessen Machern
gesehen werden soll, ist auch schon der ganze Inhalt der
historischen Weisheit: In Europa ist eine politische
Einheit zu institutionalisieren, die
‚selbstzerfleischende‘ Waffengänge unmöglich und einen
weltpolitischen Wiederaufstieg des Kontinents möglich
macht. Beides ist – der Politik sei Dank – längst
unterwegs. Das gemeinsame Europa ist die Institution
gewordene Lehre aus der Geschichte.
(Gauck, 3.8.) Da steckt aber auch ein
historischer Auftrag drin: Am europäischen Projekt muss
unermüdlich weitergearbeitet werden
. Das gilt
insbesondere für Länder und Völker, denen sich die
Vorteile des Projekts nicht mehr auf den ersten Blick
erschließen. Einen Rückfall in die
Nationalstaaterei
(Gauck,
27.6.) darf es nicht geben; populistischen
Strömungen mit antieuropäischen Parolen
darf man
nicht nachgeben
(Gauck,
3.8.). Die Kanzlerin weiß warum:
„Wir haben mit der europäischen Einigung unsere Lehren aus blutigen Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte gezogen. Wir Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union sind zu unserem Glück vereint ... Das Versprechen des Glücks des in Frieden und Freiheit vereinten Europas müssen wir für die kommenden Generationen schützen. Nicht das Recht des Stärkeren wird sich dauerhaft durchsetzen, sondern die Stärke des Rechts; das ist unsere Überzeugung. Sie sichert Frieden, Freiheit und Wohlstand, und das ist heute Europa. Deshalb ist die Europäische Union trotz aller Schwierigkeiten attraktiv und ein gutes Zukunftsmodell. Das Modell des fairen Interessenausgleichs ist nach meiner festen Überzeugung nicht nur für Europa das Zukunftsmodell. Wer nur seine eigenen Belange in den Vordergrund stellt, schadet sich am Ende selbst am meisten.“ (Merkel, 25.6.)
So ohne weiteres ziehen Kriegsgegner allerdings keine gemeinsamen ‚Lehren‘ aus ‚blutigen Auseinandersetzungen und leidvoller Geschichte‘. ‚Wir‘ haben daraus zunächst die Lehre gewonnen, es mit einer faschistisch neusortierten Nation noch einmal zu versuchen. Friede ist eben nicht die Lehre aus einem Krieg, sondern sein Resultat, auf dem Sieger und Verlierer neue Erfolgsstrategien aufbauen. Erst nach der zweiten Niederlage, die zugleich der Beginn einer weltweiten Konfrontation von Supermächten war, wurde den meisten regierenden Nationalisten in Europa klar, dass eine relative Weltgeltung ihrer Nationen nicht gegeneinander, sondern nur gemeinsam gegenüber der amerikanischen Übermacht und im Bündnis mit ihr gegen die Sowjetunion zu erringen ist. Diese strategische Neuausrichtung feiert die Kanzlerin in Form einer Hymne auf beglückende Werte wie Friede und Einheit. Ein verräterisches Lob: Es lebt von einem Krieg, der nicht stattfindet, weil nach wie vor kriegsfähige Staaten, die schon praktisch unter Beweis gestellt haben, dass sie im Interesse ihrer Machterhaltung und -erweiterung den Übergang zum Krieg beherrschen, auf ihn verzichten. Dass dieser Verzicht auf eine militärische, nicht auf eine ökonomische Konkurrenz in Westeuropa – die Konkurrenz der Waffen hatte ihren neuen Adressaten im Osten – sich weltpolitisch äußerst ambitionierten Zielen verdankt, muss in feierlichen Gedenkreden nicht notwendigerweise an die große Glocke gehängt werden. Besser passt da die Rede von ‚unserem Glück‘, das Europa seinen staatlichen Mitgliedern und deren menschlichem Inventar allein durch die Gewährung von ‚Friede und Freiheit‘ angedeihen lässt. Diese Sorte ‚Glück‘ verliert in manchen Gegenden freilich so drastisch an Evidenz, dass die Kanzlerin vorsorglich darauf hinweist, dass es von Staats wegen für ‚die kommenden Generationen‘ geschützt werden muss.
Als Garant der kriegsfreien europäischen Wohlfahrt macht die Kanzlerin die ‚Stärke des Rechts‘ vorstellig. Paragraphen als Ersatz für Krieg. Diese Gleichsetzung verrät einiges über das Recht, das Frau Merkel mit der beschönigenden Kennzeichnung als ‚fairen Interessenausgleich‘ anpreist. Tatsächlich ist mit der Geltung einer Rechtsordnung die Unterordnung der Interessen unter das Recht gegeben. Deswegen kommt es ja auf die ‚Stärke‘ des Rechts an. Die Geltung des Rechts ist eben nicht mit seiner papierenen Existenz gegeben. Das Funktionieren dieser Verlaufsformen der zwischenstaatlichen Konkurrenz hängt allerdings davon ab, dass Staaten mit ihrer gewaltmonopolistischen ‚Stärke‘ sich auf verbindliche Regeln ihrer Konkurrenz einigen und denen dadurch die Form verpflichtender Rechtsverhältnisse verleihen. Das beendet das Ringen um nationalen Zugewinn an Reichtum und Macht nicht, sondern dient ihm, indem sich alle an diesem Regelwerk beteiligten Staaten darauf einlassen, ihr Glück in der ‚friedlichen‘ Konkurrenz um Geschäft & Profit zu suchen, und darauf setzen, sich dank dieser Übereinkunft die Konkurrenten zur Quelle nationaler Fortschritte zu machen. Wenig beglückende Resultate dieser Konkurrenz, die heutzutage in einer ständig steigenden Zahl von europäischen Ländern nichts mit Wohlstand, sondern mit ‚Überschuldung‘ und drastischen Auflagen der EU zur Wiederherstellung ihrer Verschuldungsfähigkeit zu tun haben, sind da dann allerdings hinzunehmen bzw. konstruktiv zu verarbeiten. Die Bürger solcher Länder machen bei der Gelegenheit mit ‚unserem Glück‘ à la Merkel ihre eigenen Erfahrungen.
Das heißt nicht, dass das ‚Versprechen des Glücks‘ nicht auch eingelöst wird: Über die Jahre haben sich innerhalb der europäischen ‚Einheit‘ auf ganz friedlich-schiedliche Weise Sieger- und Verlierernationen geschieden. Inzwischen hat sich die Bundesrepublik sogar eine Führungsrolle in Europa – die den deutschen Kriegszielen beider Weltkriege nicht unähnlich ist [1] – erwirtschaftet. Kein Wunder, wenn die ‚europäische Staatengemeinschaft‘ mit ihrem Recht in den Augen der Kanzlerin den Krieg ersetzt. Nicht von ungefähr preist sie das Prinzip der einvernehmlich geregelten Konkurrenz als attraktives ‚Zukunftsmodell‘, auch jenseits der Geltung des europäischen Rechts. Ein Staat, der sich da nicht an die Regeln hält, wird sich ‚am Ende selbst am meisten schaden‘. Das ist die ‚feste Überzeugung‘ der Kanzlerin, und die ist nicht mit einer unverbindlichen Meinungsäußerung zu verwechseln: Frau Merkel, die hier im Namen des großen ‚Wir‘ der europäischen ‚Bürgerinnen und Bürger‘ auftritt, gehört schließlich zum exklusiven Kreis derer, die mit ihrer Macht gegebenenfalls für den Schaden sorgen.
So und so ähnlich werden die Arien auf die
zivilisatorischen Errungenschaften Europas ständig von
warnenden Hinweisen auf einen drohenden Rückfall in alte
Konfrontationen begleitet. Der französische Präsident
betont die dringende Notwendigkeit eines vereinten
Europas, um Solidarität und Frieden garantieren zu
können
, und merkt gar nicht, welche Monster er da als
die Subjekte dieses Friedens unterstellt. Die müssen
offenbar mit allerlei Vorkehrungen und Angeboten dazu
gebracht werden, mit ihren konkurrierenden nationalen
Ansprüchen und Unzufriedenheiten nicht über einander
herzufallen. In diesem Sinne verweist der
EU-Kommissionspräsident vorsorglich darauf, dass es
gefährlich werden kann, wenn jemand über das ‚Glück‘, das
Europa seinen Mitgliedern bietet, ins Zweifeln oder gar
auf andere Gedanken kommt: Wer an Europa zweifelt, wer
an Europa verzweifelt, der sollte Soldatenfriedhöfe
besuchen.
(Junker, FAZ,
27.6.) Der Jahrestag des Kriegsbeginns wird denn
auch vorzugsweise auf Soldatenfriedhöfen und
Gefallenengedenkstätten begangen, die die
Sinnlosigkeit und den Schrecken dieser Jahre
symbolisieren
(Gauck auf dem
„Menschenfresserberg“ Hergensweiler, 3.8.) und
damit dem Europa von heute einen Sinn geben können
(Hollande, ebd., 3.8.).
Natürlich glaubt keiner der Redner wirklich, dass der
Ernstfall ihres Geredes ins Haus steht. Aber der
potentielle Ernstfall, für dessen Verhinderung es
offenkundig erst zwei Weltkriege und heute die Einhegung
durch ein ganzes europäisches Einigungswerks und den
ständig erneuerten Willen braucht, an diesem
Staatenbündnis trotz aller Unzufriedenheit festzuhalten,
weil solche Unzufriedenheit schnell zu einer ganz anderen
Konkurrenz der Mächte zu führen droht, kommt ihnen für
ihre Europareklame gerade recht. Wo das Recht den Krieg
ersetzt, kann eben auch der Krieg das Recht
ersetzen. Wenn also die ‚Stärke des Rechts‘ schwindet,
wird so manches, was in den europäischen
Wohlstandsgesellschaften in Vergessenheit geraten ist,
wieder ‚vorstellbar‘. Und diese Vorstellung ist heilsam,
ein Totschläger nämlich jeder Kritik an der EU im
Allgemeinen und seiner Führungsmacht im Besonderen: Es
stimmt ja: Europa ist ein schwieriges Projekt. Aber
unsere Vorfahren auf den Schlachtfeldern hätten gerne
unsere Schwierigkeiten gehabt.
(Gauck, 3.8.) Wie erbaulich: Im Vergleich
zum absoluten Grauen des Gaskriegs macht sich Europa gar
nicht so schlecht.
Der kleine Widerspruch, dass es dieselben Subjekte sind,
die ihren Frieden untereinander ethisch hochtönend als
epochale Errungenschaft rühmen, gleichzeitig aber
modernstes Kriegsgerät als Ultima Ratio zur Verteidigung
ihrer Interessen bereithalten, stört die
regierungsbefugten Festredner nicht. Im Gegenteil: Ist
es ausgeschlossen, dass sich Ähnliches heute wiederholt?
Das liegt allein an uns, die wir heute Verantwortung
tragen, und an den Lehren, die wir aus der Geschichte
ziehen.
(Steinmeier, FAZ,
25.1.) Der Außenminister malt die Gefahr eines
Krieges an die Wand, die nur machtvollkommene Politiker
wie er zum Ernstfall eskalieren können, um – mit seiner
eigenen potentiellen Gefährlichkeit – auf die Wichtigkeit
hinzuweisen, dass Leute wie er die richtigen Lehren aus
dem Krieg ziehen. Da darf sich das potentielle
Kanonenfutter freuen, dass die Nation so einen Mann in
Amt und Würden hat!
Es sollte sich aber nicht zu früh freuen. Die Lehren aus
der Geschichte besagen nämlich auch, dass zum Erhalt des
Friedens, des europäischen wie des weltweiten, auch Krieg
gehört, und die mächtigste Macht in Europa sich da nicht
länger ‚zurückhalten‘ kann. Das hat der Bundespräsident
in letzter Zeit schon wiederholt ganz ohne geschichtliche
Rückendeckung verlautbart. Anlässlich der
Erinnerungszeremonien lässt er es sich aber nicht nehmen,
das ordnungsstiftende Auftreten Europas auch noch als aus
dem Krieg resultierende gemeinsame Verantwortung für
die Welt
zu überhöhen. Und er listet auch gleich die
modernen Kriegstitel auf: Wir können nicht
gleichgültig bleiben, wenn Menschenrechte missachtet
werden, wenn Gewalt angedroht oder ausgeübt wird. Wir
müssen aktiv eintreten für Freiheit und Recht, für
Aufklärung und Toleranz, für Gerechtigkeit und
Humanität.
(Gauck, 4.8.)
Die Lehre aus einem ‚sinnlosen‘ Krieg ist eben nicht kein
Krieg, sondern ein sinnvoller.
Die politische Gedenkkultur – eine Herausforderung für die Historikerzunft
Wo Politiker mit ihren Festreden zu großen Jubiläen ihrer Politik den schönen Schein eines historisch erfahrungsgesättigten verantwortlichen Gebrauchs der Staatsmacht verleihen, wo sie mit Verweis auf geschichtliche Lehren, die sie heute beherzigen, ihre Machtkonkurrenz als Erfüllung einer höheren, alle politischen Interessen und Berechnungen adelnden Verpflichtung gegenüber der eigenen und anderen Nationen vorstellig machen und mit dieser wertmäßigen Überhöhung ihres aktuellen Treibens ein unwidersprechliches Anrecht auf ihren Machtgebrauch reklamieren – da sind Historiker in ihrem Element. Sie gehen bei ihrer Befassung mit den vergangenen Staatsaffären der eigenen und anderer Nationen von der ehernen Prämisse aus, dass die einschlägigen Deutungen, das „nationale Geschichtsbild“, handlungsleitende – überhaupt die letztlich wirklich entscheidenden – Maximen politischen Handelns sind, denen aber von den historisch ‚blinden‘, im ‚Tagesgeschäft‘ befangenen Politikern nur allzu selten bewusst gefolgt wird. Mit entsprechendem Ernst und parteilichem Eifer sehen sie sich beauftragt, für ein richtiges, ‚tieferes‘ historisches Verständnis und Bewusstsein bei den zuständigen Akteuren und ihrem nationalen Fußvolk zu sorgen. In diesem Sinn begründet ein Vertreter des Historikergewerbes öffentlich die nationale Wichtigkeit der wissenschaftlichen Befassung mit dem Ersten Weltkrieg:
„Es lässt sich heute kaum eine verantwortliche Politik in Europa betreiben, wenn man die Vorstellung hat: Wir sind an allem schuld gewesen. (...) Wir neigen außenpolitisch zu dem Gedanken: Weil wir historisch schuldig sind, müssen, ja dürfen wir außenpolitisch nirgendwo mitmachen; also kaufen wir uns lieber frei, wenn es darum geht, Europa an den Krisenrändern zu stabilisieren.“ (Münkler, SZ, 4.1.)
Der Mann der Wissenschaft ist überzeugt, dass der richtige Blick auf die Vergangenheit die Staatsmacher überhaupt erst zu verantwortlichem Handeln befähigt. Er sieht dabei zielstrebig ab von allen nationalen Geschäfts- und Machtinteressen, die heutige deutsche Politik in Europa und darüber hinaus bestimmen und im Bewusstsein der Aktivisten einer deutschen Führungsmacht ihre Verantwortung ausmachen. Die aktuellen Ambitionen und Machtinteressen deutscher Europa- und Weltpolitik sind in seinen Augen nur die vordergründige, oberflächliche Erscheinung dahinterliegender, tieferer Bestimmungsgründe politischen Handelns, bloßer Ausfluss eines richtigen oder falschen Bildes von den historisch verbürgten höheren Aufgaben ‚verantwortlicher‘ Politik. Deren Verantwortung definiert sich daher nicht entlang des demokratisch gängigen Wertehorizonts einer Politik aus dem Geist der Verpflichtung gegenüber den Bürgern, sondern aus einer weit darüber angesiedelten Verpflichtung gegenüber ‚der Geschichte‘. Die verpasst die aktuelle Politik, wenn sie sich nicht von der richtigen, ‚über alle Tageskonflikte‘ hinwegreichenden geschichtsmächtigen Idee eines welthistorischen Auftrags leiten und beflügeln lässt. Worin dieser Auftrag – ganz aktuell – besteht, sagt der kritische Wissenschaftler gleich mit dazu: Zumindest in Europa, und am Ende natürlich auch darüber hinaus, entschieden und selbstbewusst als ‚ordnende‘ und ‚stabilisierende‘ Macht tätig werden!
Von dieser hohen Warte aus gesehen liegt für ihn in diesem Land Entscheidendes im Argen. Seinem historisch geschulten Blick stellt sich das nicht gerade zurückhaltende Agieren Deutschlands als europäische Führungsmacht in seiner näheren und weiteren Staatenumgebung als ein kleinmütiger Verzicht auf weltpolitische ‚Gestaltung‘ dar. Und den Grund findet er in einem falschen historischen Selbstverständnis, einer moralisch belegten Sicht der nationalen Vergangenheit, die deutsche Politik lähmt. Das ist verrückt genug angesichts der praktischen Politik genauso wie im Hinblick auf deren offensive Rechtfertigungen durch Merkel & Co. Wo deutsche Politiker mit Verweis auf die unheilvolle historische Erfahrung für ausgreifende nationale und auch vermehrte militärische Zuständigkeit agitieren, sieht der besorgte Historiker aufgrund eines moralisch falsch gepolten nationalen Kollektivgedächtnisses lauter Zaudern und Zurückschrecken vor den Verpflichtungen, die der Macht, also auch und insbesondere deutscher, historisch gesehen, zukommen.
Davon – so sein Selbstverständnis – muss er als Historiker die Politik befreien, indem er der Politik ihre Verantwortung vor der Geschichte bewusst macht und der Nation ein richtiges Geschichtsbild liefert: eines, das den Akteuren das lähmende Schuldgefühl, das sie sich angeblich aus zwei Weltkriegen zugelegt haben, nimmt, sie von politischen Skrupeln befreit und zu tatkräftigem Eingreifen als eine mindestens in Europa und natürlich auch darüber hinaus von der Geschichte beauftragte Führungsmacht beflügelt. Dass es sich Historiker mit diesem Auftrag nicht einfach machen, sind sie sich schuldig.
Was sie, so motiviert, an Einblick in die Geschichte des Ersten Weltkriegs eröffnen, davon handelt die Fortsetzung des Artikels im nächsten GegenStandpunkt.
[1] Aus dem
‚Septemberprogramm‘ des damaligen Reichskanzlers
Bethmann-Hollweg (1914) geht zum Beispiel hervor, dass
der gesamte Kontinent in einem Wirtschaftsverband
unter der Vorherrschaft Deutschlands zusammengefasst
werden soll
(J. Röhl, SZ
5.3.)