Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Das Bundessozialgericht zu Hartz IV:
Nun endgültig amtlich! Die neuen Maßstäbe für Pauperismus sind korrekt berechnet, gerecht und menschenwürdig.

Ende November 2006, zwei Jahre nach Inkrafttreten der Arbeitsmarktreform mit ihrem Kernstück, der Neuschaffung eines Arbeitslosengeld II mit einer Regelleistung von monatlich 345 Euro, beurteilt das Bundessozialgericht, oberste Instanz in Sozialdingen, dessen Verfassungsmäßigkeit und befindet „in einem Grundsatzurteil, dass der Regelsatz das zum menschenwürdigen Leben notwendige Existenzminimum nicht unterschreite.“

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Das Bundessozialgericht zu Hartz IV:
Nun endgültig amtlich! Die neuen Maßstäbe für Pauperismus sind korrekt berechnet, gerecht und menschenwürdig.

Ende November 2006, zwei Jahre nach Inkrafttreten der Arbeitsmarktreform mit ihrem Kernstück, der Neuschaffung eines Arbeitslosengeld II mit einer Regelleistung von monatlich 345 Euro, beurteilt das Bundessozialgericht, oberste Instanz in Sozialdingen, dessen Verfassungsmäßigkeit und befindet in einem Grundsatzurteil, dass der Regelsatz das zum menschenwürdigen Leben notwendige Existenzminimum nicht unterschreite. (Welt kompakt, 24.11.)

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Da weiß man doch, was man davon hat, dass sich die politische Herrschaft in unserem rechtsstaatlich verfassten Gemeinwesen der kapitalistisch produzierten Armut mit jeder ihrer drei Gewalten annimmt. Das fängt mit der gesetzgebenden Gewalt an, die das Millionenheer von Langzeitarbeitslosen und anderen, an den „Sachzwängen“ der kapitalistischen Ökonomie gescheiterten Existenzen nicht einfach seinem Schicksal überlässt, sondern ihm glatt etwas spendiert. Und zwar nicht etwa bloß ein Almosen, sondern ein richtiges, sogar grundgesetzlich verbürgtes Recht auf eine existenzsichernde Mindestversorgung. In ausschweifenden Gesetzeslesungen und heftigem Bund-Länder-Ringen definiert der Gesetzgeber dieses Recht aus: Wenn die fortschreitende Reichtumsproduktion im Lande systembedingt mit einem Anschwellen des menschlichen Bodensatzes einhergeht, der nach der gültigen ökonomischen Rechnungsweise einfach nur überflüssig ist und deswegen auch kein Geld verdient, dann ist für den menschenfreundlichen Gesetzgeber nichts naheliegender, als diesem humanen Kollateralschaden unterstützend in der Weise unter die Arme zu greifen, dass er ihm mit Hartz IV „Armut als Lebensform“ (SZ, 7.12.) auch noch sozialpolitisch verordnet.

Mit dem Beschluss eines so gut gemeinten Gesetzes ist es freilich nicht getan. Es will in die Praxis umgesetzt und das sozialstaatliche Unterstützungswesen nach seinen Vorgaben eingerichtet sein. Dafür ist die ausführende Gewalt zuständig: Arbeitsagenturen, Wohnungsämter, Sozialämter, in toto ein flächendeckend eingerichteter Verwaltungsapparat für den menschlichen Ausschuss der Marktwirtschaft verrichtet mit einer Heerschar von Betreuern, Fachreferenten, Sachbearbeitern seinen Dienst. Da lässt sich der Sozialstaat nicht lumpen, er finanziert den Bedürftigen im Lande ein umfängliches Behördenwesen. Und das braucht es ja auch: Peinlich genau wird jeder Einzelfall der ganzen Elendsklientel daraufhin durchgemustert, was ihm an Regelleistungen und Zuschüssen nach den gesetzlichen Bestimmungen zusteht. Aus dem geregelten Leben herausgekippt und in den psychosozialen passiven Status von Hilfsempfängern hineinversetzt, dürfen sich die Betroffenen in den Ämtern mit dem bürokratischen Wust von Sozialgesetzregelungen, Verordnungen und Ausführungsbestimmungen sowie mit einem mehr oder minder wohlwollenden Amtspersonal herumschlagen, damit aus ihrem Rechtsanspruch auch eine staatliche Leistung wird. Wer da entnervt resigniert, beweist, dass er die Stütze wohl nicht gebraucht hat, jedenfalls entlastet er die Arbeitslosenstatistik und die eh schon überstrapazierten kommunalen Sozialhaushalte. Dem Rest wird nach Würdigung seiner finanziellen und sonstigen Lage beschieden, ob ihm der Regelsatz in vollem Umfang oder nur teilweise zusteht, ob die von ihm jeweils vorgetragenen speziellen Notlagen als besonderer Sachverhalt anerkannt werden können und wie viel sie dann an zusätzlichem Sponsoring zum Regelsatz wert sind. Keine dreiköpfige Familie muss da in einer zu komfortablen Wohnung hausen, die sie sich eh nicht leisten kann, weil für sie eine Mietkostenübernahme nur für eine angemessene Wohnungsgröße von 75 qm bzw. drei Zimmer vorgesehen ist. Kein Mehrbedarf von Schwangeren oder Alleinerziehenden usw. gilt einfach schon deswegen, weil solche Lebenslagen bei denen, die auf Arbeitslosengeld II angewiesen sind, schnell existenzielle Probleme mit sich bringen (SZ, 18.12.), sondern berechtigt immer nur zu einem möglichen Zuschuss, der nach amtlichen Vorgaben belegt und nachgewiesen sein will. Am Schluss kommt so bei den Bezuschussten exakt das an bedarfsdeckenden Zuweisungen heraus, was ihnen gemäß der Entscheidung ihres zuständigen Sozialreferenten zusteht.

Die organisierte Armut – rechtlich betrachtet

Wer sich da schlecht behandelt fühlt – und welcher Hartz-IV-Empfänger tut das nicht!? –, wer sich mit der ihm verordneten Armut nicht abfinden will, für den hat der Rechtsstaat dann noch einen ganz speziellen Service im Angebot. Den Betroffenen stellt er anheim, den Beschwerdeweg über die Gerichte zu gehen. Sie können bei seiner Sozialgerichtsbarkeit kontrollieren lassen, ob ihnen durch die Beschlussfassungen des Gesetzgebers oder einer ausführenden Instanz des Sozialstaates ein Unrecht widerfahren ist. Dass „die da oben“ einfach selbstherrlich Gesetze beschließen, die den Grundrechten widersprechen, die man bei uns auch als arbeitsloser Bürger und einfacher Mensch hat, oder dass man durch willkürliche und unangemessene Entscheidungen irgendeiner Amtsperson um Leistungen betrogen wird, auf die man ein verbrieftes Recht hat – dagegen kann man in einem Rechtsstaat gerichtlich vorgehen. Entsprechend kommt das System des ALG II bei der rechtsprechenden Gewalt gleich doppelt auf den Prüfstand. Einerseits wird sauber abgeklärt, ob denn der Gesetzgeber formell alles richtig gemacht, also alle selbst auferlegten rechtlichen Standards auch eingehalten hat, und ob sein neues Gesetz nicht etwa irgendwelchen bestehenden Rechtsvorschriften, am Schluss gar einem der edlen Grundsätze unserer Republik widerspricht, die die Väter des Grundgesetzes in Stein gemeißelt haben. Wenn das neue Recht sich als durch und durch rechtens erwiesen hat, kommt die Durchführung des Gesetzes auf den Prüfstand. Geprüft wird, ob die Exekutive das Recht auch korrekt angewandt hat, ob sie dem Antragsteller auch seinem besonderen Armutsfall entsprechend genau die Bezuschussung hat zukommen lassen, die für ihn vorgesehen ist, und nicht etwa am Maßstab der gesetzlichen Bestimmungen gemessen zu wenig.

Dem Charme dieses Angebots verschließen sich die Arbeitslosen nicht und steigen massenhaft darauf ein: Das Gesetz hatte ... eine Flut von Klagen von betroffenen Leistungsempfängern vor den Sozialgerichten ausgelöst (Welt kompakt, 24.11.). Dabei hat dieser Königsweg über das Recht einen ziemlichen Pferdefuß für die klagende Seite. Die zieht vor Gericht, weil sie der Auffassung ist, dass es nicht in Ordnung geht, wie der Staat mit ihr umspringt – die andere Seite bringt die Maßstäbe mit, an denen überprüft wird, ob es in Ordnung geht, und sie ist es auch, die die Angelegenheit entscheidet. Das Gericht interessiert dabei überhaupt nicht, ob ein Interesse beschädigt worden ist, sondern beurteilt allein, ob ein berechtigtes Interesse Schaden genommen hat. Und damit findet eine ziemliche Verschiebung statt. Bei der Würdigung der verschärften Maßstäbe für die sozialstaatliche Betreuung notleidender Existenzen geht es dann nämlich überhaupt nur noch rechtsimmanent zu. Schon die Klagen müssen, um vor Gericht überhaupt Chancen auf Anerkennung zu haben, entsprechend begründet sein, also Rechtsgründe vortragen. Und aus dem Anliegen einer Beschwerdeführerin, einer 49-Jährigen, die aufgrund langer Krankheit in die Abhängigkeit der sozialen Sicherungssysteme geraten ist (Welt kompakt, 24.11.), wird unausweichlich das Material für die Klärung der Frage, ob sich rechtlich – z.B. vom höheren Standpunkt der Rechtssystematik aus, die nicht verletzt werden darf – gegen das neue Recht Einwände erheben lassen. So sichert der Sozialstaat per Recht den Inhalt seines Umgangs mit den Arbeitslosen ab. Mit seiner rechtsprechenden Gewalt nimmt sich der Staat der notwendigerweise entstehenden Unzufriedenheit bei den Hartz-IV-Leuten an und würdigt sie in der Weise, dass er von seiner unabhängigen dritten Gewalt aufwendig überprüfen lässt, ob der soziale Abstieg der Betreffenden auch in jeder rechtlichen Hinsicht korrekt ist. Wenn ja, dann hat auch jede Kritik ihr Recht verloren, Hartz IV ist unangreifbar und kein Einwand mehr gültig.

345 Euro – genau ermittelt, lebensnah gestaltet, zielführend konzipiert und fristgemäß bekannt gegeben

Genauestens geprüft wurde dabei als erstes, ob der Gesetzgeber sich nicht womöglich beim Berechnen des Existenzminimums verrechnet hat. Dass einem Arbeitslosen nur zusteht, was zur Erhaltung seiner Existenz unbedingt notwendig ist, ist also sowieso schon mal gegessen, wenn das Gericht loslegt. Das ist ja der Inhalt des Rechts, an dem es überprüft, ob der Gesetzgeber mit seinen Festsetzungen den berechtigten Ansprüchen, die den auf staatliche Unterstützung Angewiesenen aus dem Sozialstaatsprinzip erwachsen, gerecht geworden ist. Kleinlich hat es nachgerechnet, ob da auch wirklich jeder zur Existenzsicherung unverzichtbare und daher anzuerkennende Überlebensposten einer abgehängten Prekariatsexistenz – von der Anzahl der monatlichen Briefmarken bis zum Brotverbrauch – korrekt ermittelt, gewichtet, beziffert und angemessen berücksichtigt worden ist. Und es kommt zu dem beruhigenden Ergebnis: Fehler bei der Festsetzung des Regelsatzes seien nicht erkennbar. (SZ, 24.11.) Ja, wenn sich die Hartz-Reformer bei den Berechnungskriterien vertan hätten, dann müsste die entsprechende Bestimmung im Sozialgesetzbuch vielleicht geändert werden, wären möglicherweise sogar ein paar Euro mehr für die Hartz-IV-Haushalte herausgesprungen. So aber – Fehlanzeige! Und was die Hoffnung der Kläger angeht, mit dem Nachweis von Fehlern das Gesetz als Ganzes zu kippen, wird vom Gericht klargestellt, dass daraus schon gleich nichts wird: Auch wenn es Berechnungsfehler gegeben hätte, hätte das nämlich nichts daran geändert, dass die gesetzlich beschlossene Verschlechterung des Arbeitslosenlebens vom Grundgesetz gedeckt ist, im Prinzip also allemal in Ordnung geht: Selbst fachliche Fehler bei der Festlegung des Arbeitslosengeldes II führten zwar zu Bedenken, aber keinesfalls zur Verfassungswidrigkeit der Regelung, betonten die Richter. (FAZ, 24.11.) So schlägt das Gericht den klagenden Arbeitslosen ihr eigentliches Anliegen, Hartz IV für ungesetzlich erklären zu lassen, an diesem Punkt schon einmal generell aus der Hand.

Nachdem somit klargestellt ist, dass es gegen einen korrekt berechneten Regelsatz des Elends keinen berechtigten Einwand gibt, erteilt das Gericht den Arbeitslosen die nächste Lektion in staatsbürgerlicher Bildung: Es stellt klar, dass es nicht ihr Bedarf ist, der die Höhe der staatlichen Unterstützung bestimmt, sondern der Staat, der ihren Bedarf bestimmt: Aus dem Sozialstaatsgrundsatz lasse sich kein Gebot entnehmen, soziale Leistungen in einem bestimmten Umfang zu gewähren (SZ, 23.11.). So bestätigen die Bundessozialrichter die Vorinstanz gegenüber der Klägerin, die argumentierte, der Regelsatz decke nicht den tatsächlichen Lebensbedarf (FAZ, 24.11.). Wer so argumentiert, also so naiv ist, zu meinen, dass die Unterstützung halt höher angesetzt werden muss, wenn sie zum Leben nicht reicht, liegt schon mal total daneben. So funktioniert der Sozialstaat nicht! Es nutzt aber auch nichts, sich auf die ausgewiesenen Armutsspezialisten zu berufen. Es mag ja sein, dass die Wohlfahrtsverbände festgestellt haben, dass die Regelleistung um bis zu 20 % zu niedrig berechnet worden sei (FAZ, 24.11.), weil nach ihren Armutsdefinitionen die Hartz-Gesetze die davon Betroffenen weit unter die Armutsgrenze hinabdrücken. Die Richter können dem damit begründeten Antrag nur leider nicht folgen. Es steht nämlich in keinem Gesetz geschrieben, dass der Staat mit seiner existenzsichernden Mindestversorgung, zu der er sich rechtlich verpflichtet hat, Hilfsbedürftigen Armut zu ersparen hätte – auch das berühmte Sozialstaatsprinzip verlangt das nicht. Und da es nun einmal kein Recht gibt, das Arbeitslose vor Armut schützt, gibt es juristisch auch nichts auszusetzen daran, dass der Staat bei der Ermittlung des „tatsächlichen Lebensbedarfs“ seiner Arbeitslosen Maß nimmt am ortsüblichen Pauperismus seiner werktätigen Bevölkerung und seine Festsetzung der Größe des absolut notwendigen Bedarfs auf eine Einkommens- und Verbrauchsstatistik gründet, die Auskunft über die durchschnittlichen Verbrauchskosten unterer Einkommensschichten (SZ, 24.11.) gibt. Das Armutsniveau, das in diesen breiten ‚Schichten‘ seiner Gesellschaft inzwischen herrscht, das er anderen Unterschichtlern in seinem Laden also schon längst zumutet, ist für ihn die passende Richtschnur für die Armut, die arbeitslosen Hartz-IV-Haushalten allemal zuzumuten ist. Das hohe Gericht hat sich dieser Sicht der Dinge grundsätzlich angeschlossen, weil es keinen rechtlich relevanten Einwand gegen das Verfahren der Bedarfsermittlung erkennen konnte: Es ist grundsätzlich zulässig, den Bedarf gruppenbezogen zu erfassen und eine Typisierung bei Massenverfahren vorzunehmen (Urteilsbegründung, Az.: B 11b AS 1/06 R).

Überhaupt mussten die Richter feststellen, dass der Gesetzgeber bei der Einschätzung der notwendigen Leistungen einen breiten Spielraum hat (FAZ, 24.11.). Dessen Rechte wollen schließlich nicht zuletzt auch gewahrt bleiben. Und so gibt es für die Richter rechtlich auch nichts zu beanstanden, wenn der Gesetzgeber seine Definitionsfreiheit in Sachen Lebensniveau der von staatlicher Unterstützung abhängigen Figuren auf seine Weise ausübt. Wenn er z.B. gute Gründe hat, bei seinen Unterstützungsleistungen den im untersten Bereich der Lohnhierarchie gängigen Armutsstandard extra noch einmal zu unterschreiten und seinen ALG-II-Beziehern ein Stück zusätzlicher Not zu verordnen, dann geht auch das in Ordnung. Denn das Ziel der Arbeitsmarktreform sei es, dass die Hilfsbedürftigen eine Erwerbstätigkeit aufnehmen oder beibehalten. Um das zu erreichen, sei es sachgerecht, sich bei der Bedarfsermittlung an den unteren Einkommensgruppen zu orientieren, weil dadurch der Anreiz zur Aufnahme einer Tätigkeit größer ist als bei einer Orientierung im mittleren Bereich der Einkommensgruppen (SZ, 23.11.). Weil es arbeitsmarktpolitisch zweckmäßig ist, die Arbeitsbereitschaft von Leuten, die dem Staat nicht zur Last fallen, sondern gefälligst arbeiten sollen, durch Verschärfung ihrer materiellen Not zu fördern, ist es auch rechtens, dass sich die staatliche Definition dessen, was diese Leute zum Leben benötigen, an der Effizienz einer solchen Zwangsmaßnahme ausrichtet. Das Gericht hat die Absicht des Gesetzgebers da klar erkannt und belehrt die klageführenden Dauerarbeitslosen entsprechend: Sie auf ein Niveau noch unterhalb der „unteren Einkommensgruppen“ der working poor herunterzudrücken, das ist vom Gesetzgeber in dieser Härte gewollt (Urteilsbegründung). Ja dann.

Abserviert werden vom obersten Sozialgericht schließlich auch noch alle Versuche, sich unter Berufung auf den vom Gesetzgeber zu respektierenden Rechtsgrundsatz des Vertrauensschutzes gegen eine Schlechterstellung durch die neuen gesetzlichen Regelungen zur Wehr zu setzen: Weil die Regelungen rund ein Jahr vor ihrem Inkrafttreten verabschiedet wurden, so die Urteilsbegründung, sei das rechtsstaatliche Vertrauensschutzprinzip gewahrt. Schließlich hätten die Betroffenen ausreichend Gelegenheit gehabt, sich bei der Umstellung der Arbeitslosenhilfe durch das Arbeitslosengeld II auf die neue Rechtslage einzustellen. Wenn man rechtzeitig weiß, dass man das Geld nicht mehr nach alter Gewohnheit ausgeben kann und sich finanziell neu sortieren muss, dann geht so eine Verarmung auf Ansage – fristgemäß bekannt gegeben, versteht sich, auf so was legt unser Staat schwer Wert! – rechtlich in Ordnung. Etwas Zeit für die Umstellung auf ein knapperes Budget – damit ist im Fall arbeitsloser Hilfsbedürftiger genügend Vertrauensschutz gewährleistet. Auch sonst ist dem BSG nicht viel dazu eingefallen, was der Vertrauensschutz-Paragraf bezogen auf eine staatlich subventionierte Arbeitslosenexistenz hergeben könnte: In einem weiteren Urteil wies das Bundessozialgericht auch die Musterklage eines älteren Arbeitnehmers zurück (SZ, 24.11.), der sich vergeblich auf eine rechtlich zugesicherte günstigere alte Regelung seiner Arbeitslosenhilfe berief. Auf einen Vertrauensschutz könne sich der Kläger nicht berufen, weil er weiter eine Unterstützung, wenn auch unter anderen Voraussetzungen, erhalte (ebd.). Die in ihrem Überleben vom Staat abhängigen Figuren dürfen darauf vertrauen, dass sie vom Staat immerhin nicht nichts erhalten. Damit, dass sie von ihm überhaupt etwas erhalten, ist in ihrem Fall dem Prinzip des Vertrauensschutzes dann aber auch schon ausreichend Genüge getan. Auch mit diesem Urteil hat das Gericht ein Stück weit Klarheit gestiftet: Auf den rechtsstaatlichen Grundsatz, dass sich der Bürger auf das bestehende Recht als Geschäftsgrundlage seines Handelns verlassen können muss, können sich Leute, bei denen von Rechtsgeschäften in nennenswertem Umfang sowieso nicht die Rede sein kann, nur sehr schlecht berufen.

345 Euro: So viel muss sein – für die Menschenwürde!

Wenn den Arbeitslosen auch all ihre Anträge zurückgewiesen worden sind, so gibt es zum Abschluss doch auch eine gute Nachricht vom Bundessozialgericht: Auch Hartz-IV-Empfänger sind Menschen und haben als solche einen Wert. 345 Euro im Monat reichen für ein Leben in Menschenwürde aus (SZ, 24.11.).

Eine tolle Sache, diese Würde! Es braucht echt nicht viel, ein paar Hundert Euro reichen, damit sie gewahrt ist. Eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber den Lebensumständen von Hartz-IV-Leuten und eine Portion Zynismus gehören bei diesem Grundwert unseres Staates offensichtlich dazu. So armselig das Leben mit 345 Euro ist, für die Menschenwürde ist das voll ausreichend. Das ist gerade das Schöne an ihr, dass man für ihre Wahrung nicht ordentlich leben zu können braucht, sich für sie nichts groß kaufen können muss, dass sie vielmehr neben und über dem schäbigen Dasein als Arbeitsloser steht. Wie gut, dass der eine Menschenwürde hat! Denn ohne sie wäre er glatt nur der Arsch, der er als abgehängter, staatlich alimentierter Subprolet in der Klassengesellschaft ist. Mit ihr aber ist er eine freie, selbstbestimmte Person, als solche – ungeachtet aller materiellen Defizite, die ihn vom gesellschaftlichen Leben weitgehend ausschließen – vollwertiges Mitglied einer Gesellschaft von Gleichwertigen, von denen er respektiert zu werden verdient. In dieser Eigenschaft sind ihm sogar die Unternehmer, die ihn arbeitslos gemacht haben, sowie die Politiker, die ihm seine Arbeitslosigkeit zum Dauernotprogramm ausgestalten, Anerkennung schuldig. Schön ist an dieser Menschenwürde auch, dass man – anders als bei den Hartz-IV-Leistungen – keinen Finger rühren muss, um in ihren Genuss zu gelangen; man kann sie einfach nicht verlieren und sie wird einem auch nicht verweigert. Kein Bedürftigkeitsnachweis ist zu erbringen, keine Bereitschaft zur Integration auf dem Arbeitsmarkt muss unter Beweis gestellt werden. Die politische Hoheit macht einem dieses Geschenk ohne jede Gegenleistung großzügig per Grundgesetz, und die Richter befinden, wie viel Armut sich mit der Menschenwürde verträgt.

Das ist das Letzte, was das Bundessozialgericht zu entscheiden hatte: Es hatte zu prüfen, ob der vom Gesetzgeber festgesetzte Regelsatz, mit dem aus rechtlich für unbedenklich erklärten sozial- und arbeitsmarktpolitischen Gründen den Betreffenden ein gehöriges Maß an Armut verordnet werden soll, noch ein menschenwürdiges Leben erlaubt. Irgendwo muss es dann doch eine Untergrenze der Verarmung geben – nicht etwa aus dem schlichten Grund, weil die Betroffenen sonst noch elender dran wären, sondern weil ihr Recht auf die Menschenwürde sonst beschädigt würde! Am unteren Rand der Gesellschaft herumzukrebsen, das geht für die Richter in Ordnung, ist keine Schande, schon gleich nicht für das wunderbare Gemeinwesen, in dem dieser gesellschaftliche Status vorgesehen ist. Wenn aber droht, dass die Betroffenen buchstäblich als Asoziale aus der Gesellschaft ausgeschlossen werden und aufhören, als anerkannte Mitglieder derselben herumzulaufen, dann wären aus der Sicht des Rechts Bedenken am Platz und Korrekturen nötig. Diesen Wahnsinn, eine Grenze zwischen menschenunwürdiger und menschenwürdiger Not oder eines sozialunverträglichen und eines sozialverträglichen Elends so genau festzulegen, dass am Schluss auch noch ein zum Wert des Menschen passender Geldbetrag herauskommt – und zwar pfeilgerade der, den der Gesetzgeber in sein Gesetz geschrieben hat –, das haben die Bundessozialrichter mit ihrem breiten Gemüt auch noch hingekriegt. Bei exakt 345 Euro pro Monat ist die Teilnahme am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, so ihre Urteilsbegründung, noch gewährleistet und darf der Mensch – auf den Euro genau – noch Mensch sein.

Sage noch einer, Juristen hätten keinen Humor.

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Noch ein Wort zu den klageführenden Opfern der sozialstaatlichen Reformwut und ihren Anwälten: Angetreten sind sie in dem Bewusstsein ihres Rechts, dass sie ein berechtigtes Interesse anzumelden haben, sowie in der Erwartung, dass sie vom Recht einen Beistand für ihr Interesse erhalten. Ihre feste Überzeugung, der Klassenstaat könne nicht so brutal mit ihnen umspringen und die unabhängige Justiz werde ihnen zu ihrem Recht verhelfen, haben sie durch mehrere Instanzen verfolgt. Bekommen haben sie zwar nicht, was sie sich erhofft haben; nämlich ein Urteil, das ihnen Recht gibt. Sie haben aber bekommen, was sie bestellt haben, nämlich ein Gerichtsurteil, das in verbindlicher Weise feststellt, was Recht ist. Jetzt haben sie ein ziemlich endgültiges Urteil zu ihren Ungunsten, sind genau so gut oder schlecht dran wie vorher – und haben sich nicht belehren lassen: Der Rechtsanwalt der Klägerin ... wird wahrscheinlich seiner Mandantin raten, Verfassungsbeschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe einzulegen. (FAZ, 24.11.) Der Rechtsstaat seinerseits rüstet auf: Angesichts der Flut von Klagen zur Arbeitsmarktreform Hartz IV verstärkt das Bundessozialgericht in Kassel seine Reihen. Den deutschen Sozialgerichten liegen mehr als 100 000 Klagen wegen Hartz IV vor. (SZ, 30.1.) Die wollen schließlich alle abgearbeitet werden, damit auch jeder arbeitslose Bürger sein Recht bekommt.