Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Pandemie XI.
Das Virus provoziert eine Klärung des Verhältnisses von Glaube, Wissen und Macht in der Demokratie

Unter der Überschrift Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch. Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon? zitiert Bild renommierte Statistiker, die der Vorveröffentlichung einer Studie aus der Charité über die Viruslast bei infizierten Kindern Verbesserungsvorschläge zur statistischen Auswertung beisteuern und die sich selbstverständlich sofort gegen die Verwendung ihrer Beiträge zur Diskreditierung des bekanntesten deutschen Virologen durch Bild verwahren. Das Massenblatt ficht das nicht weiter an, es mischt sich ohnehin nicht wirklich in die Frage der wissenschaftlichen Haltbarkeit von Drostens vorläufigen Ergebnissen ein, sondern greift ganz generell dessen wissenschaftliche Autorität an, indem es seine moralische, nämlich seine Wahrhaftigkeit ins Zwielicht rückt.

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Pandemie XI.
Das Virus provoziert eine Klärung des Verhältnisses von Glaube, Wissen und Macht in der Demokratie

Bild übt sich in Wissenschaftskritik

Natürlich nicht ernsthaft und auch nicht selbst. Unter der Überschrift Drosten-Studie über ansteckende Kinder grob falsch. Wie lange weiß der Star-Virologe schon davon? (Bild, 25.5.20) zitiert das Blatt renommierte Statistiker, die der Vorveröffentlichung einer Studie aus der Charité über die Viruslast bei infizierten Kindern Verbesserungsvorschläge zur statistischen Auswertung beisteuern und die sich selbstverständlich sofort gegen die Verwendung ihrer Beiträge zur Diskreditierung des bekanntesten deutschen Virologen durch Bild verwahren. Das Massenblatt ficht das nicht weiter an, es mischt sich ohnehin nicht wirklich in die Frage der wissenschaftlichen Haltbarkeit von Drostens vorläufigen Ergebnissen ein, sondern greift ganz generell dessen wissenschaftliche Autorität an, indem es seine moralische, nämlich seine Wahrhaftigkeit ins Zwielicht rückt: Wie lange schon verheimlicht Drosten dem deutschen Volk seine Fehlbarkeit? Der unberechtigten, also usurpierten Autorität des Virologen und seiner Kollegen vertraut, ja gehorcht dieses Volk, Bild zufolge, schon viel zu lange.

„... nahezu alle Experten, denen wir uns in dieser Krise anvertrauen (müssen), lagen mit nahezu jeder Einschätzung so falsch, dass unser Glauben an sie sich nur noch mit Verzweiflung erklären lässt. Sie haben das Tragen von Masken nahezu verhöhnt. Nun ist es Pflicht. Sie haben davor gewarnt, Schulen und Kitas zu schließen. Nun sind Millionen Kinder seit Wochen zu Hause. Sie haben als nutzlos abgetan, die Grenzen abzuriegeln. Nun kommt niemand mehr ins Land. Sie haben trotz aller Maßnahmen immer wieder vor dem unmittelbar bevorstehenden Kollaps unseres Gesundheitssystems gewarnt. Nun herrschen auf Krankenhausfluren gespenstische Ruhe und Angst vor Arbeitslosigkeit... Unsere Wirtschaft ist schon jetzt so massiv und teilweise irreparabel geschädigt, dass unsere Regierung sich kaum noch erlauben kann, zuzugeben, in ihrer Schärfe überzogen zu haben. Die Experten müssen recht behalten, weil sie nicht falsch liegen dürfen... Deswegen erleben wir zunehmend Sturheit, Starrsinn und Rechthaberei...“ (Julian Reichelt: Schluss mit dem Starrsinn in der Corona-Politik!, Bild, 27.4.20)

Dass die Warnungen der medizinischen Experten verkehrt, der Lockdown überzogen, die Schäden an der Wirtschaft also unnötig gewesen sind, belegt Bild auf die denkbar billigste Art: Die Experten haben zu irgendeinem Zeitpunkt etwas gesagt, später wurde etwas anderes gemacht – egal, ob deswegen, weil man auf sie gehört hat, oder weil man nicht auf sie gehört hat. Das Blatt spart sich auch jede eigene Festlegung, ob es z.B. die Grenzschließung, die es gegen Flüchtlinge schnell fordert, auch gegen das Virus richtig oder verkehrt findet; es reicht ihm, auf irgendeinen Wechsel der staatlichen Seuchenpolitik zu deuten, um ein Schwanken der Expertenmeinung dingfest zu machen und darüber die Experten überhaupt der Inkompetenz zu bezichtigen. Sogar den Umstand, dass dank deren Warnungen und der daraufhin getroffenen Vorkehrungen die schlimmsten Befürchtungen nicht eingetreten sind, also den Erfolg der Prävention, präsentiert es als Beweis gegen sie und für eine Blamage der Wissenschaftler. Seinen Lesern verlangt das Massenblatt ab, die inszenierte Blamage so sehr als feststehendes Faktum zu akzeptieren, dass sie sich die ganze Seuchenpolitik daraus erklären lassen, dass die Regierung sie nur noch betreibt, um nicht zugeben zu müssen, auf die Falschen gehört zu haben.

Bild lässt sich gar nicht erst darauf ein, zur Kenntnis zu nehmen, dass das Wissen über das neue Virus unfertig ist und sich noch ändert, die Eigenschaften von SARS-CoV-2 bezüglich Krankheitsbild und Übertragungsweg – mitten im Infektionsgeschehen – eben erst noch ermittelt werden; dass zweitens nicht nur Virologen mit ihren vorläufigen Erkenntnissen, sondern vor allem Epidemiologen die Politik beraten, die mit sogenannten ‚Modellierungen‘ möglicher Ausbreitungen und Ausbreitungsgeschwindigkeiten der Krankheit aus dem verfügbaren Wissen über das Virus, Bevölkerungsdichte, Familienverhältnisse, Kontakthäufigkeiten und anderes hochrechnen, also unterrichtete Schätzungen dazu abgeben, wie schlimm es vermutlich werden wird; dass schließlich die Politiker es sind, die diese notwendigerweise spekulativen Prognosen mit anderen staatlichen Interessen, hauptsächlich denen am Funktionieren der Wirtschaft, ins Verhältnis setzen – und den Experten mal mehr, mal weniger folgen.

Weil Bild die von den Trägern der Staatsmacht verfügten Beschränkungen nicht passen, hetzt sie gegen die Wissenschaftler, denen sie die Verantwortung dafür zuschiebt: Sie haben die politischen Verantwortungsträger verführt, dem Volk die Freiheit zu nehmen und sein Lebensmittel, die Wirtschaft, zu ruinieren. Das Blatt und die unterdrückten Volksmassen, in deren Namen es spricht, bemerken offenbar erst an den politisch verhängten Beschränkungen ihres kapitalistischen Alltags, an Reiseverboten und Kurzarbeit, dass sie einer politischen Herrschaft unterstehen. Die tägliche Befolgung der Nötigung zum Geldverdienen und allem, was dazugehört, ist verwirklichte Freiheit; erst wenn das befristet um der allgemeinen und damit auch der eigenen Gesundheit willen unterbrochen wird, herrscht Unfreiheit – ein Gesundheitsdiktat, das Bild nicht eigentlich der Politik, sondern ihren wissenschaftlichen Beratern als Herrschsucht und Rechthaberei zur Last legt.

Um das Quidproquo von Politik und Wissenschaft komplett zu machen, belegt Bild die Nichteignung der Wissenschaftler zur politischen Führung – und damit das Unrecht ihres Führungsanspruchs – damit, dass sie es zu einem eindeutigen Kommando gar nicht bringen, wie es das Volk vom übergeordneten Willen einer politischen Herrschaft ja wohl erwarten darf. Die Forscher ändern mit neuen Einsichten doch tatsächlich ihr Urteil – was Politiker nie tun sollten! Und bis sie sich durch Studien und Experimente die Eigenschaften des Krankheitserregers hinreichend bekannt gemacht und endgültige Schlüsse gezogen haben, widersprechen sie einander sogar manchmal. Das Hü und Hott disqualifiziert sie als die Befehlsgeber, zu denen Bild sie macht.

Das gediegene Feuilleton bricht eine Lanze für die Autorität der Wissenschaft

Als ob es nicht wüsste, welche politischen Motive die Wissenschaftskritik von Bild treiben und was von dieser Kritik daher zu halten ist, nimmt das Feuilleton den Angriff gegen die medizinischen Fachleute als Stellungnahme zu deren Wissenschaft vollkommen ernst und verteidigt diese gegen das Banausentum der Zeitung. Sie zeige, wie unterentwickelt bei vielen das Verständnis für die Prozesse innerhalb der Wissenschaft und deren Rolle an der Schnittstelle zur Politik ist (Joachim Müller-Jung: Wahrheit im Corona-Style, FAZ, 28.5.20).

Die Gebildeten unter uns wissen nämlich, dass genau das, was Bild den Wissenschaftlern als Versagen vorwirft und als Grund anführt, warum das Land nicht auf sie hören sollte, kein Mangel, sondern Ausweis unserer modernen Wissenschaftskultur ist. Sogar wo die Verteidiger der Rationalität die Verständnislosen daran erinnern, dass die wechselnden Auskünfte der Forscher dem unfertigen Stand des Wissens über das neue Virus geschuldet sind, bestehen sie im selben Atemzug darauf, dass sich da nicht ein vorläufiger Mangel zeigt, an dessen Überwindung gearbeitet wird, sondern die endgültige Eigenart wissenschaftlicher Resultate selbst:

„Es handelt sich um eine Krise in Echtzeit: Aufgrund der Neuartigkeit dieses Virus gibt es keinen gesicherten Erkenntnisstand, auf dessen Grundlage politische Entscheidungen getroffen werden könnten. Es ist für die Wissenschaft zudem charakteristisch, ja sogar konstitutiv, dass sie keine abschließenden Wahrheiten produzieren kann. Anders als in der Politik ist die Revision einer Position in der Wissenschaft eben gerade kein Ausdruck von Schwäche, sondern Alltagsgeschäft. Forschungsergebnisse lassen unterschiedliche Interpretationen zu, und die Beratung von Politikern bleibt entsprechend kontingent.“ (Mitja Sienknecht, Antje Vetterlein: Wissenschaftliche Wahrheit und politische Verantwortung, NZZ, 3.6.20)

So wie Bild unterschiedslos von den Experten redet, die alle daneben lagen, verschwenden auch die journalistischen Verteidiger der Wissenschaft keinen Gedanken darauf, was sie alles in einen Topf werfen, wenn sie dafür plädieren, dass von der Wissenschaft zuverlässiges Wissen, nach dem die Welt sich richten kann, nicht zu erwarten ist: Die Naturwissenschaft Virologie, die irgendwann mit der Erforschung des neuen Virus fertig ist und dessen Eigenschaften, Verbreitungswege und die von ihm verursachte Krankheit dann auch kennt, gilt ihnen als dasselbe wie das prognostische Ab- und Einschätzen möglicher Infektionsverläufe in der Bevölkerung, das von schnell veränderlichen Ausgangszahlen und der Wahl berücksichtigter Parameter abhängt. Dieses notwendig spekulative Hochrechnen der Epidemiologen nehmen die Feuilletonisten anscheinend als ein Beispiel für ihr Bild von Wissenschaft, das die Ergebnisse der Forschung zu ‚noch nicht widerlegten Hypothesen‘ erklärt, bei denen man immer zusehen muss, ob es sich in der Wirklichkeit nicht doch ganz anders verhält. Wissenschaftliche Erkenntnisse gelten ihnen als immerzu revisionsbedürftig und, was aus ihnen folgt, als kontingent – zufällig nämlich und abhängig davon, was der Nutzer dieser Einsichten in sie hineininterpretieren und aus ihnen machen will. Wahre Wissenschaft erkennen sie am Bekenntnis der Wissenschaftler zur bleibenden Unsicherheit ihrer Einsichten und erklären diese bescheiden skeptische Haltung zur eigentlich die Wissenschaftlichkeit der Forschung verbürgenden Qualität.

„Direkter hat das ... der Wissenschaftstheoretiker Karl Popper formuliert: ‚Nicht der Besitz von Wissen, von unumstößlichen Wahrheiten macht den Wissenschaftler, sondern das rücksichtslos kritische, das unablässige Suchen nach Wahrheit.‘ ... Wissenschaftliche Sätze müssen sich also bewähren. Und sie bewähren sich ... durch Transparenz und kritische Prüfung.“ (Müller-Jung, a.a.O.)

Diese Journalisten werben um Respekt für die Sphäre organisierten Nachdenkens, den die sich nicht durch ihre Resultate, sondern durch ein ewig unabschließbares, insoweit erfolgloses Streben verdienen soll.

In diesem Sinn fühlt sich der Wissenschaftsredakteur der SZ aufgerufen, gegen die Hetze von Bild zu begründen, warum diesem zweifelhaften Bemühen vonseiten der Laien dennoch Autorität gebührt. Seine brutale Begründung besteht in erster Linie in der Benennung eines Nutzens, der sich einstellt, wenn das Volk den Wissenschaftlern glaubt. So ein populärer Wissenschaftsglaube trägt nämlich zur Akzeptanz der Zumutungen bei, die dem Volk bei der Corona-Bekämpfung auferlegt werden:

„Wir sollen verstehen, und wir sollen befolgen... Dass dies je länger, je mehr umstritten sein würde, konnte man voraussehen. Umso wichtiger war die kontinuierliche Begleitung durch Wissenschaftskommunikation. Denn all diese Maßnahmen hätten sich auf dem Weg staatlicher Reglementierung allein nicht umsetzen lassen. Die Leute mussten mitziehen, und dafür mussten sie den wissenschaftlichen Vorgaben vertrauen.“ (Gustav Seibt: Drosten und wir, SZ, 28.5.20)

Seibt schätzt an der Wissenschaft, dass sie den staatlichen Verordnungen das Etikett der Notwendigkeit und Vernunft verleiht und so den Gehorsam des Volkes fördert. Zu Vorgaben, die die Politik bestimmen, taugt das ewige Suchen nicht; um politische Beschlüsse zu rechtfertigen, taugt es aber schon. Erst nach dieser sehr instrumentellen Verteidigung der Autorität der Wissenschaft wendet er sich der Frage zu, warum die Leute den Auskünften der Experten eigentlich glauben dürfen. Denn dass die Laien glauben müssen, ist ihm sowieso klar. Das stimmt zwar nicht; auch ohne Studium des Spezialfachs lassen sich die im Corona-Frühling reichlich gebotenen Erläuterungen der Spezialisten nachvollziehen und als vernünftig akzeptieren; aber Seibt kommt es auf etwas anderes, eben auf gute Gründe fürs Glauben an:

„Aber was heißt ‚führender Corona-Spezialist‘? Woher wissen wir Laien das überhaupt? Wir lauschen einer Autorität, können aber kaum sagen, worauf sie beruht... Weder Politiker noch durchschnittliche Bürger können ... im Ernst die hochspezialisierten Forschungen solcher Fachleute selbst im Einzelnen überprüfen.“ (Ebd.)

Die Belehrung ist zwar ein bisschen zirkulär, aber eindeutig: Um zu glauben, müssen die Bürger nur ihre laienhafte Inkompetenz einsehen und bereit sein, wissenschaftliche Meinungen nicht auf dieselbe Stufe zu stellen wie ihre eigenen.

„... die Übertragung des politischen Meinungsbegriffs auf die Wissenschaft [verfehlt] den entscheidenden Unterschied. Was wir landläufig ‚Meinungen‘ nennen, sind gesellschaftliche Standorte, Sichtweisen, die mit Erfahrungen und Interessen ... verbunden sind. ... mit der innerwissenschaftlichen Meinungsbildung allerdings sollte es nichts zu tun haben. Denn wissenschaftliche Kontroversen verlaufen nach strengen Regeln in eingeübten Prozeduren, die auf maximale Nachprüfbarkeit, also systematisierten Zweifel abgestellt sind. Dieser Zweifel ist keine unbestimmte ‚Skepsis‘ (‚der eine sieht es so, der andere so‘), die eine ‚politische‘ Wahl offenlässt, sondern ein Erkenntnisinstrument. Institutionalisiert ist es beispielsweise im Gutachterwesen der Peer-Reviews. Was heißt das für den Laien und die politischen Abnehmer? Wissenschaftsvertrauen muss zu einem großen Teil Institutionenvertrauen sein: Vertrauen in Unabhängigkeit, eingespielte Prozeduren, innerwissenschaftlichen Pluralismus, Öffentlichkeit für andere Wissenschaftler, aber auch für Wissenschaftsvermittler, die ausreichend geschult sind, um Forschungen kritisch zu begleiten.“ (Ebd.)

Vertrauen verdient sich die Wissenschaft nicht durch ihre Ergebnisse und die Beweise, die sie dafür anführt, sondern durch die geregelten Verfahren der innerwissenschaftlichen Meinungsbildung. Seibt fasst freilich gar nicht die jeweils besonderen Forschungspraktiken besonderer Disziplinen ins Auge – davon erzählt eher Drosten in seinen Podcasts –, sondern erinnert beispielhaft an die wechselseitige Beurteilung der Ergebnisse durch Kollegen. Auch bei dieser Praxis soll man nicht an das Rationelle denken – ein Fachmann holt sich Rat bei einem anderen, der sich auf dem Feld auch auskennt –, man soll sie als Paradebeispiel für beständigen, prozedural geregelten systematisierten Zweifel würdigen, der sich für die Wissenschaft gehört. Der ganz abstrakte Formalismus des Prüfens und die Konsensbildung unter Kollegen sollen für Laien die Autorität der Wissenschaft begründen – noch so ein zirkuläres Argument, das diese Autorität schon voraussetzt: Wieso ist denn der Konsens unter Wissenschaftlern ein Beweisersatz? Das Vertrauen auf wissenschaftliche Resultate hat im Vertrauen auf die Institution zu gründen, in der sie entstehen – und die verdient sich das allgemeine Vertrauen nicht dadurch, dass in ihr Wissenschaft betrieben wird, sondern dadurch, dass die Wissenschaftler untereinander sich demokratischer Umgangsformen, nämlich eines pluralistisch-toleranten Miteinanders befleißigen. Das Institutionenvertrauen, das Seibt als guten Grund für den nötigen Wissenschaftsglauben empfiehlt, gehört sich in der Demokratie freilich nicht nur für inkompetente Laien, es gilt – unter großzügigem Hinwegsehen über die Unterschiede zwischen den Natur- und den Gesellschaftswissenschaften – ganz generell als Kriterium für die Wissenschaftlichkeit der Wissenschaft: Nicht durch ihre Resultate, sondern durch ihre Stellung zu ihnen, durch pluralistische Selbstrelativierung verdient sie sich ihre Autorität in der Gesellschaft.

Dies so konsequent, dass eine Thea Dorn in der Zeit (‚Nicht predigen sollt ihr, sondern forschen‘, 3.6.20) radikal wird und etablierten Forschern das Prädikat des seriösen Wissenschaftlers abspricht, weil die, ihres Wissens sicher, darauf dringen, dass Staat und Gesellschaft die bedrohlichen Berechnungen der Ausbreitung des Virus ebenso wie des Klimawandels, die sie vorlegen, ernst nehmen und ihre Praxis nach diesen Erkenntnissen korrigieren, um schlimmeren Schaden abzuwenden. Direkt bezichtigt Frau Dorn den Klimawarner Schellnhuber, sieht nach seiner harschen Antwort auf die Angriffe von Bild aber auch Prof. Drosten in der Gefahr, zum dogmatischen Gewissenschaftler zu werden, der als Aktivist die Autorität der Wissenschaft für politische Ziele missbraucht. Wissenschaft verdient Autorität nämlich nur, solange sie nicht darauf besteht, dass man auf sie hört, und sich aus den unmittelbaren politischen Entscheidungsprozessen ... heraushält.

Die demokratische Staatsmacht rechtfertigt sich vor dem Volk, nicht vor dem Verstand!

Der Gegensatz des seriösen Feuilletons zur Bild-Zeitung besteht also gar nicht darin, dass die gegen ein politisches Gewicht der Wissenschaft polemisiert, für das die Gebildeten etwas übrig hätten, wenn sie die Autorität der Wissenschaft verteidigen. Eine ‚Herrschaft des Wissens‘ verabscheuen sie ganz genauso. Das Unverständnis, das sie kritisieren, besteht lediglich darin, dass Bild erstens diese Herrschaft schon am Werk sieht und der in der Demokratie etablierten Brandmauer zwischen Politik und Wissenschaft nicht vertraut; und dass sie zweitens das Kind mit dem Bade ausschüttet, nämlich mit der Autorität auch die dienende Rolle der Experten gegenüber der Politik verwirft.

„Während in der Bild der Versuch unternommen wird, den zum ‚Kanzlerinnenflüsterer‘ hochstilisierten Virologen über einen angeblichen Statistikfehler in seiner vorläufigen Studie zu entthronen, verwechseln Teile der Bevölkerung Politik und Wissenschaft und konstruieren sie als gemeinsame Elite, die die Unmündigkeit des Bürgers ausnutzen möchte. Wenn Virologen auf Transparenten aufgefordert werden, ihre ‚Ämter‘ niederzulegen, wird klar, dass der Wissenschaft politische Macht zugeschrieben wird, die sie nicht besitzt. Es ist daher höchste Zeit, über das Verhältnis von Politik und Wissenschaft zu sprechen.“ (Sienknecht/Vetterlein, a.a.O.)

Der Ausnahmefall der Pandemie, in dem die Politik von medizinischen Fachleuten über die Gefahr für die Volksgesundheit und die verfügbaren Abwehrmittel in Kenntnis gesetzt wird und – unter Abwägung dieser Gesundheit mit ihren sonstigen nationalen Prioritäten – dem medizinischen Rat tatsächlich folgt, provoziert die ganze demokratische Intelligenz zur nur einerseits hochtrivialen Klarstellung, dass Wissenschaft, die Ermittlung von Wissen, und Politik, Unterwerfung der Gesellschaft unter Entscheidungen eines hoheitlichen Willens, nicht verwechselt und nicht als kollaborierende Teile einer das Volk beherrschenden Elite zusammengemischt werden dürfen. Das eben nicht, weil aus Einsichten in die Gesetze der Natur – so abstrakt wie das Feuilleton am Beispiel der Virologen davon spricht – sowieso nie und nimmer Herrschaft und Unterwerfung erwachsen, sondern weil in der Demokratie gottlob dafür gesorgt ist, dass die Wissenschaft in der Politik nichts zu sagen hat.

„Die Politik trifft kollektiv verbindliche Entscheidungen und übernimmt politische Verantwortung, die Wissenschaft gewinnt Erkenntnisse und strebt nach Wahrheit. Im Politiksystem ist die Kommunikation entlang der Unterscheidung zwischen Macht/Ohnmacht beziehungsweise Regierung/Opposition strukturiert. Das bedeutet, dass Politiker danach streben, sich Macht in Form von politischen Ämtern anzueignen. Der zentrale Code im Wissenschaftssystem ist Wahrheit/Unwahrheit, er spielt in der Politik normalerweise keine dominante Rolle. Politik und Wissenschaft sind zwei unabhängige Systeme. Sie können allerdings in Austausch treten, etwa in Form von wissenschaftlicher Beratung, auf deren Grundlage politische Entscheidungen getroffen werden.“ (Sienknecht/Vetterlein, a.a.O.)

Ohne jeden Anflug von Kritik wird hier konstatiert, dass es in der Politik um die Aneignung von Macht geht – und dieses Streben mit irgendeinem Wissen über irgendetwas nichts zu tun hat. Politiker können, wenn sie wollen, sich von Experten beraten lassen, müssen aber frei bleiben, dem Rat zu folgen oder nicht. In ihrer demokratischen Mission, die Politik von jedweder Pflicht, einer besseren Einsicht zu gehorchen, freizusprechen, gehen die journalistischen Platzanweiser über alle Unterschiede zwischen den Wissenschaften und der Natur ihrer jeweiligen Expertise flott hinweg: Die Naturwissenschaften mit ihrer Einsicht in die Gesetze der Natur geben der Politik sowieso keine Zwecke vor, sondern Mittel für vorausgesetzte Zwecke an die Hand oder machen sie auf Konsequenzen ihrer Praxis aufmerksam. Diesen objektiven Wissenschaften setzen die Feuilletonisten die Gesellschaftswissenschaften gleich, die der Politik ebenfalls keine ihr fremden Zwecke aufdrängen; in ihrem Fall aber, weil sie ihr Nachdenken über die soziale Welt von demselben parteilichen Sorgestandpunkt und Interesse am Funktionieren – der Konjunktur, der Bildungseinrichtungen, des sozialen Friedens, der Familie etc. – leiten lassen wie die Politiker selbst. Ihnen liefern sie damit keine objektiven Einsichten in Zweck und Wirken der ökonomischen und sozialen Verhältnisse, sondern nehmen in theoretischen Planspielen lediglich das Abwägen von Alternativen staatlichen Handelns vorweg, das Politiker selbst in Vorbereitung ihrer Entscheidungen betreiben. Auch von diesen Politikberatern kann die Politik als ganze (unbeschadet des Streits der Fraktionen um Alternativen des Staatshandelns) gar nicht fremdbestimmt werden, denn sie sind Geist von ihrem Geist. Ihre selbst wieder pluralistischen Ratschläge fürs Gut- und Bessermachen der politischen Herrschaft erfahren alle Anerkennung, die sie verdienen und kriegen können, wenn sie im Regierungsviertel angehört werden und die gewählten Volksvertreter ihre Entscheidungen nach Bedarf damit oder mit der gegenteiligen Expertise eines anderen Experten rechtfertigen.

Die einen Wissenschaftler können der Politik also gar nichts anderes bieten als Mittelwissen für deren Zwecke bzw. Warnungen, dass diese Zwecke wegen kontraproduktiver Praktiken scheitern; die anderen liefern ihr zwar kein Wissen, dafür aber gut gemeinte Ratschläge, die von vornherein vom Kontroll- und Steuerungsideal der Politik her formuliert sind, ihr also auch nichts Fremdes aufdrängen. Die Demokratiewächter in den Zeitungsredaktionen hindert das nicht, die Freiheit der Politik durch die Wissenschaft gefährdet zu sehen. Was immer sie für Wissen halten, es darf nicht beanspruchen, dass sich Staat und Gesellschaft danach richten. Für den Fall droht, etwa Thea Dorn zufolge, ein Machbarkeitswahn, die Missachtung einer letzten Unbeherrschbarkeit des Schicksals, der Aufstieg von Philosophenkönigen oder sonst eine Art Kommunismus. Gegen dieses Menetekel bestehen sie auf Trennung und Unterordnung des Wissens unter das Herrschen – und zeichnen ein dieses politischen Systems würdiges, komplett absurdes Verhältnis von der Freiheit der Forschung und der Verbindlichkeit politischer Machtworte.

Die Träger der Macht, die über das Leben der Regierten Entscheidungen treffen und Gehorsam verlangen, müssen ihre Ratschlüsse nicht unbedingt informiert fällen und schon gar nicht wissenschaftlich begründen; sie müssen sie stattdessen ‚verantworten‘, d.h. vor dem Volk zu ihnen stehen. Fehler dürfen sie nicht zugeben; das wäre ein Zeichen von Schwäche, mit dem sie das Vertrauen in ihre Entscheidungskompetenz und letztlich ihre Macht verspielen. Ausgerechnet in der gesellschaftlichen Sphäre aber, in der es um Wissen geht, dürfen die Akteure ruhig irren und das auch zugeben. Das macht nichts, solange, wie es sich gehört, von ihnen nichts abhängt.

„Wissenschaft ist zunächst einmal folgenlos, solange die Ergebnisse der Forschung im Wissenschaftsbetrieb bleiben. Ungewissheit ist dort ein Anreiz weiterzuforschen. Ein Fehler, ein Irrtum ist vielleicht peinlich, aber sonst nicht weiter schlimm. Man korrigiert sich, schreibt ein neues Papier.“ (Der Spiegel 23/2020, S. 11)

Die nur dienende Rolle der Wissenschaft an der Politik und deren Freiheit gegenüber Wissen jeder Art ist überhaupt das Demokratische der demokratischen Machtausübung: Nur Entscheidungen, die sich nicht an wahr oder falsch orientieren, sind der ‚kritischen Auseinandersetzung‘ und Mehrheitsvoten zugänglich.

„In Demokratien müssen politische Entscheidungen immer Gegenstand von Auseinandersetzung und kritischem Nachfragen bleiben. Politische Verantwortung heißt, sich nicht hinter der Wissenschaft zu verstecken, sondern vielmehr sich diesen unbequemen Fragen zu stellen – sprich: Politik zu machen. Die momentane Krise lässt die Grenzen zwischen beiden Systemen scheinbar verschwimmen, so dass man den Eindruck gewinnen könnte, die Wissenschaft steuere die Politik. Dies ist mitnichten der Fall.“ (Sienknecht/Vetterlein, a.a.O.)

Die Gastautorinnen der NZZ geben Entwarnung: Kein Grund zur Panik, die Wissenschaft steuert die Politik nicht! Dabei stellen sie eines klar: Nicht wegen irgendeiner letzten, erkenntnistheoretischen Unsicherheit, sondern wegen der demokratischen Form der politischen Herrschaft darf es gültige und damit verbindliche Wahrheit nicht geben – nicht einmal in der Medizin. Sonst gäbe es keine Freiheit der Macht – und mit ihr keine politische Freiheit der Bürger. Die besteht darin, Personen zu ermächtigen, die Entscheidungen über sie fällen, und sie ‚zur Verantwortung zu ziehen‘, d.h. sie abzuwählen, wenn die mit ihren gegenüber jedwedem Wissen freien Entscheidungen mal wieder enttäuschen. Für Demokraten ist die Legitimität der Herrschaft viel wichtiger als deren Rationalität.