Der Geist der Nation 2018
Gehässiger Nationalismus, der sich immer noch unterdrückt vorkommt

Mehr denn je scheinen Deutschland und die Deutschen keine anderen und schon gleich keine wichtigeren Probleme zu haben als die Anwesenheit von ein paar hunderttausend Flüchtlingen im 80-Millionen-Volk. Die Zahlen der Neuankömmlinge sind drastisch zurückgegangen, die Balkanroute ist, der Seeweg übers Mittelmeer wird blockiert, Durchgangsländer internieren Migranten, die nach Europa wollen; diejenigen, die es doch hierher schaffen, werden in Ankerzentren eingesperrt und in Zukunft nur mehr mit „Sachleistungen“ versorgt – alles, was abschreckt, ist willkommen und wird gemacht. Der CSU und dem Bundesinnenminister aus dieser Partei reicht das nicht. Seit dem ersten Tag in seinem Amt befolgt Seehofer die Lehre aus der misslungenen Bundestagswahl des letzten Jahres, dass die Demokraten den Ausländerhass nicht den Rechtsradikalen überlassen dürfen, und fährt eine Endloskampagne gegen eine deutsche Großzügigkeit gegenüber Hilfesuchenden, als ob etwas derartiges bis dahin Regierungslinie gewesen wäre.

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Der Geist der Nation 2018
Gehässiger Nationalismus, der sich immer noch unterdrückt vorkommt

I. Der Ausländerhass wird nicht mehr dem rechten Rand überlassen

Mehr denn je scheinen Deutschland und die Deutschen keine anderen und schon gleich keine wichtigeren Probleme zu haben als die Anwesenheit von ein paar hunderttausend Flüchtlingen im 80-Millionen-Volk. Die Zahlen der Neuankömmlinge sind drastisch zurückgegangen, die Balkanroute ist, der Seeweg übers Mittelmeer wird blockiert, Durchgangsländer internieren Migranten, die nach Europa wollen; diejenigen, die es doch hierher schaffen, werden in Ankerzentren eingesperrt und in Zukunft nur mehr mit „Sachleistungen“ versorgt – alles, was abschreckt, ist willkommen und wird gemacht. Der CSU und dem Bundesinnenminister aus dieser Partei reicht das nicht. Seit dem ersten Tag in seinem Amt befolgt Seehofer die Lehre aus der misslungenen Bundestagswahl des letzten Jahres, dass die Demokraten den Ausländerhass nicht den Rechtsradikalen überlassen dürfen, und fährt eine Endloskampagne gegen eine deutsche Großzügigkeit gegenüber Hilfesuchenden, als ob etwas derartiges bis dahin Regierungslinie gewesen wäre. Über Monate wird die Bremer Außenstelle des Bundesamtes an den Pranger gestellt, die zu viele Asylanträge anerkannt haben soll. Der Amtsleiterin wird nicht nur vorgeworfen, aus Sympathie für die Antragsteller ihre Kompetenzen ausgereizt zu haben – was Seehofer allein schon zur Verletzung ihrer Amtspflicht erklärt; man bezichtigt sie der Korruption, konstruiert ganze Netzwerke krimineller Asylantenhelfer aus Anwälten und Behördenvertretern, bis die Regierung auf eine parlamentarische Anfrage hin einräumen muss, eine Nachprüfung der Bremer Praxis durch das übergeordnete BAMF habe zu dem beruhigenden Ergebnis geführt, dass eine vom Amt und seinen Leitlinien nicht gedeckte Freundlichkeit gegen Asylbewerber nicht vorgelegen hat.

Der große BAMF-Skandal hat seine stille Beerdigung noch vor sich, da bricht die CSU, im Bewusstsein, dass Abweisen und Rausschmeißen von Flüchtlingen populär ist, über einen lächerlichen Unterpunkt der Ausländer-Fernhaltepolitik eine Regierungskrise vom Zaun, droht mit Missachtung der Richtlinienkompetenz der Kanzlerin und operiert mit Ultimaten, die nur auf den Sturz Merkels zielen können. Innenminister Seehofer kündigt an, aus eigener Machtvollkommenheit an der deutschen Grenze Asylsuchende, die schon in einem anderen EU-Staat registriert worden sind, zurückzuweisen und einen Antrag gar nicht erst stellen zu lassen. Er fordert einen fundamentalen Kurswechsel der deutschen Politik in einer Frage, die – wie er selbst einräumt – höchstens drei bis fünf Personen pro Tag betrifft, also praktisch, was Zuwanderung wie ihre Unterbindung angeht, irrelevant ist. Von dem Einwand, dass er über eine Detailfrage den Bestand der gerade gebildeten Regierungskoalition, die Fraktionsgemeinschaft der Unionsparteien und überhaupt die Schlagkraft der Konservativen gefährde, lässt er sich nicht beeindrucken. Er beruft sich dagegen auf Überzeugungen, die er habe und für die man in der Politik auch mal kämpfen müsse. Gezielt macht er aus dem unbedeutenden Punkt des deutschen Grenzregimes eine Prinzipienfrage und besteht auf einer Korrektur der nationalen Moral, des Geistes, aus dem von oben Politik gemacht und von unten verstanden und beurteilt wird. Seehofer will die Verschonung vor Flüchtlingen als das gute Recht der Deutschen festgeschrieben und den Bruch mit allen humanistischen Tönen und Verpflichtungen offiziell gemacht sehen, die von der Praxis der Asylpolitik ohnehin längst überholt sind. Er wirft Merkel vor, weniger praktisch als ideell immer noch an der Political Correctness von gestern festzuhalten und das Bekenntnis zum ungebrochenen nationalen Egoismus als der fälligen neuen Ehrlichkeit zu verweigern. Die Medien verstehen Seehofers Prinzipienfrage sehr wohl und nehmen sie auch auf, wenn sie ihm die obigen Vorhaltungen machen und seinen zerrüttenden Machtkampf auf niedere Motive wie den Partei-Egoismus der CSU im bayrischen Landtagswahlkampf oder eine alte Privatfehde mit der Kanzlerin zurückführen. Sie werfen ihm den Missbrauch des Themas für persönliche oder Parteiinteressen vor und nehmen sich dessen selbst an, indem sie täglich das Pro und Contra der heißen Frage diskutieren, wie schäbig und rücksichtslos Hilfesuchende an den deutschen Grenzen zu behandeln seien, damit dem Recht der Deutschen auf Identität und Heimat Genüge getan ist.

Das nie befriedigte Recht auf nationale Identität und sein polemischer Inhalt

Das politische Bedürfnis der Deutschen, dem sich die CSU empfiehlt und das sie aktiv aufrührt,[1] besteht schlicht darin, sich mit dem eigenen Stall zu identifizieren, in dem Ausländer als Fremdkörper auffallen, und alle politischen Fragen vom Gegensatz des Vaterlands zum Rest der Welt her zu denken: „wir“ und „die anderen“. In diesem Sinn haben die Deutschen an den Flüchtlingen, die der Staat ins Land lässt, über deren Aufenthalt er entscheidet und die er, solange er sie nicht wieder hinauswirft, wie schäbig auch immer versorgt, die leibhaftige Infragestellung ihres geglaubten Rechts, dass ihr Staat mit seiner Gewalt über sie für sie und nur für sie da zu sein hat. Große Teile des Hausherren-Volks nehmen der Kanzlerin die kurzfristige Grenzöffnung 2015 übel und pflegen giftige Meinungen dazu, wie „wir“ mit den ungebetenen Gästen zu verfahren haben, die bloß stören. Es gibt kaum mehr ein Problem im Land, bei dem nicht die Flüchtlinge als Verursacher oder wenigstens als verschärfende, zusätzliche Belastung ins Visier geraten. Die Kriminalität zum Beispiel, die der Statistik zufolge zurückgeht, wird zugleich immer bedrohlicher. Denn Straftaten, wenn sie von Flüchtlingen begangen werden, sind Angriffe auf uns, sie richten sich gegen die Deutschen. Die üblichen Frauenmorde, die von lupenreinen Biodeutschen begangen werden, bremsen die Hetze gegen Ausländer überhaupt nicht. Eine Beziehungstat ist nämlich ganz etwas anderes, wenn der verschmähte Liebhaber ein Flüchtling aus einem islamischen Land ist: Dessen Opfer ist unnötig gestorben, dessen Tat hätte nicht stattgefunden, wenn nicht eine volksvergessene Politik die Vagabunden der Welt ins Land gelassen hätte.

Zum Beweis der Zumutung, die die Fremden für „uns“ darstellen, taugt aber auch sonst alles und jedes, ein materieller Schaden am einzelnen oder am allgemeinen Volkskörper ist dafür nicht erforderlich. Dass die Versorgung der Flüchtlinge bzw. die Vorbereitung derjenigen, die bleiben dürfen, auf ihre Rolle am unteren Ende des deutschen Arbeitsmarkts wie alles im Staat Geld kostet, beweist einen Raub an deutschen Lebenschancen, auch wenn niemandem Ansprüche auf Sozialleistungen wegen der Flüchtlinge gestrichen werden und obwohl ohne Flüchtlinge niemand ein Mehr an solchen Leistungen zu erwarten gehabt hat. Diesen eingebildeten Raub nimmt man den Migranten persönlich übel – eine Tour und Tonart, die bisher Pegida und anderen Nazis vorbehalten waren, sind nun auch vom bayrischen Ministerpräsidenten zu hören: Asyltourismus legt den Bewerbern ein unverschämtes Ausnutzen der europäischen Rechtslage zur Last; Anti-Abschiebe-Industrie bezichtigt ihre Rechtsanwälte und Helfer der Sabotage der Behörden, die „uns“ vor denen schützen.

Wer dieses „Wir“ ist, zu dem „die“ nicht gehören, ist für all die Ausländerfeinde oben und unten keine Frage: Unsere Gemeinschaft der Deutschen eben, die schon immer, jedenfalls schon länger zusammenleben und einen Menschenschlag bilden, der zusammenpasst und gemeinsame Vorstellungen vom Richtigen und Guten und davon, worauf es im Leben ankommt, teilt. Werte und Symbole, die versinnbildlichen, was diese ureigene Zusammengehörigkeit der Deutschen ausmacht, gibt es genug; und es schadet ihrer verbindenden Kraft und ihrem Wiedererkennungswert überhaupt nicht, dass sie allesamt durchschaut sind: Kabarett und Feuilleton spotten über das christliche Abendland, in dem die Kirchen leer sind, und dessen stramme Verteidiger die Bedeutung der religiösen Feiertage nicht mehr kennen. Und wenn die CSU in staatlichen Behörden Kreuze aufhängt und kulturelle Identität demonstriert, protestieren Bischöfe beider Konfessionen gegen einen unchristlichen, ausgrenzenden Missbrauch ihres Markenzeichens. Das Bedürfnis nach nationaler Identität lässt sich durch die Absurdität der Angebote nicht erschüttern – es nähert sich nur seiner Wahrheit an: Abendland und Kreuz sind sowieso nur Chiffren für Deutschland als Wert, der ganz tief in Herz und Hirn der Landsleute verankert ist. Einen anderen verbindenden Willen, eine andere Gemeinsamkeit zwischen den verschiedenen Schichten, Reichtums- und Bildungsniveaus, Familien- und Lebensformen im Land gibt es nicht. Der deutsche Staat schützt nicht irgendeine Gemeinsamkeit der Deutschen, er ist sie – und sein unbedingter Egoismus gegen den Rest der Welt ist ihr ganzes Interesse und Recht. Das Deutschtum besteht in nichts anderem als dem Anspruch, von der politischen Herrschaft, der man gehorcht, besser behandelt zu werden als Nicht-Deutsche. Dieses Privileg wird erlebbar und bestätigt sich einzig durch Ausgrenzung und die schlechte Behandlung von Fremden – selbstverständlich nur der Fremden, die nicht als Touristen oder Investoren kommen, sondern die wie die ihnen gar nicht unähnlichen normalen Deutschen auch nur leben und Geld verdienen wollen.

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Die Hassparolen im Namen des Rechts des deutschen Volkes auf sich selbst, die man vom rechten Rand kennt, nun aber von höchsten Repräsentanten des Landes zu hören bekommt, erschrecken manche, vor allem die Hüter der bisherigen politischen Anstandsregeln, den Bundespräsidenten sowie Vertreter der seriösen Presse. Sie widersprechen – nur wie! Sie definieren Söders und Seehofers Hetze als verbale Entgleisungen und mahnen zu Besonnenheit in der leidigen Frage, wie „wir“ mit nicht willkommenen Flüchtlingen verfahren sollen. Noch der radikalste Widerspruch gegen die neue Tonlage kommt von einer Demonstration, die unter der Parole „Ausgehetzt!“ den Fokus der Kritik auf die Stilfrage in der Ausländerpolitik richtet. Die Besonnenen bestehen darauf, dass Ernst – Frau Aigner (CSU) meint sogar Empathie – in der ernsten Sache der Flüchtlingsabweisung nötig ist: Den Flüchtlingen sind keine Vorwürfe zu machen, sie verlassen ihre Heimat nicht zum Spaß; sie fliehen aus Kriegsgebieten, in denen kein Leben geht, sowie aus Elendsgebieten Afrikas, in denen es kaum besser ist. Ganz Besonnene erinnern daran, dass diese Kriege oft von westlichen Regime-Change-Interventionen ausgelöst, stets durch die Förderung dem Westen genehmer Warlords geschürt und, sobald eine unliebsame Kriegspartei die Oberhand zu gewinnen droht, mit neuem Geld und neuen Waffen in die Verlängerung geschickt werden – was alles nicht als Kritik des Imperialismus der kapitalistischen Nationen, sondern als Aufruf zum verantwortlichen Umgang mit den entwurzelten Menschen gemeint ist, „die wir nicht alle aufnehmen können“. Niemand darf „Absaufen lassen!“ grölen und den Todesraten im Mittelmeer applaudieren; aber man sieht eben auch, dass die Seenotrettung ein kontraproduktiver Pull-Faktor ist und ihre Unterlassung den Schleusern das Handwerk legen würde. Bei aller Ablehnung der Sprache der CSU fragt sich mancher aus dem weltoffenen Lager ganz ohne Schaum vorm Mund, ob die Zuwanderung das Volk nicht tatsächlich überfordert und die Elite dessen Sorgen nicht ernst genug genommen hat bzw. gegen Fremdes allzu tolerant gewesen ist. Ohne menschenverachtende Häme, aber auch ohne Kritik haben die Deutschen die Unverträglichkeit ihres Lebens als Volk mit den Überlebensinteressen der Bewohner von halb Afrika und dem Nahen Osten zu konstatieren. Das ist sie schon, die besonnene Gegenposition gegen die inzwischen mehrheitsfähige nationalistische Hetze; ihre nähere Bestimmung gibt ihr die Frau, gegen die der Aufstand der CSU sich richtet. Merkel widersetzt sich Seehofers „Masterplan Migration“ ausschließlich in dem einen Punkt der Zurückweisung anderswo registrierter Asylsuchender an den deutschen Landesgrenzen. So etwas will sie in der EU

nicht unilateral, nicht unabgestimmt, nicht zu Lasten Dritter

durchziehen. Der Gegensatz zwischen den C-Parteien dreht sich also gar nicht um die Frage, ob in Deutschland Platz für die Zuwanderer sein soll, sondern einzig darum, ob sie souverän deutsch an der deutschen oder europäisch an der EU-Außengrenze gestoppt bzw. über die zurückverfrachtet werden sollen. Die weltoffene, aufgeklärte Position, für die Merkel heute steht, ist die der europäischen Abschottung. Auch für die CSU hat die „Festung Europa“ zwar einen guten Klang, sie ist aber nicht mehr bereit, sich von der dafür nötigen Kooperation der EU-Partner abhängig zu machen und auf deren Ergebnisse zu warten. Dass die deutsche Politik die Partner mit deren eigenen Interessen – sei es daran, selbst Flüchtlinge wieder loszuwerden, sei es Interesse an Geld für deren Unterbringung oder für sonst etwas – erst dazu gewinnen, ihnen also etwas dafür bieten muss, dass sie sich zum Instrument der deutschen Flüchtlingsabwehr machen, greift die CSU als eine einzige Selbstfesselung der souveränen Republik an, die solche Rücksichten nicht länger nötig hat und auch nicht länger erträgt. Den vom gleichen Geist der Abschottung getragenen professionellen Einwand, ein nationaler Alleingang sei gerade in dieser Frage kontraproduktiv, würde die Partner aus den Pflichten des Dubliner Abkommens entlassen und dazu führen, dass sie Migranten wieder vermehrt unregistriert ins europäische Zentrum durchwinken, lässt sie nicht gelten, weil es ihr ums Prinzip geht: Deutschland zuerst und souverän. Politischer Pragmatismus sei genau das, womit die deutsche Politik ihre Freiheit verspielt. Die äußerste Rücksicht auf die EU, die Seehofers Ultimatum Merkel erlauben will, besteht darin, dass sie in kürzester Frist eine europäische Fernhaltepolitik heraushandelt, die „wirkungsgleich“ mit den nationalen Maßnahmen ist, die er andernfalls im Alleingang verordnen will. Nur als direktes und kostenloses Instrument rein deutscher Interessen lässt er die EU noch gelten. Dass sie das nicht ist, dass Merkel für denselben Abschottungszweck die europäischen Partner – zwar nicht mehr nach dem Brüsseler Kompromissverfahren, sondern bilateral – erst bearbeiten muss, um sie für Deutschland zu instrumentalisieren, legt ihr die christliche Schwesterpartei als Verrat am nationalen Auftrag aus.

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Nachdem sich für einen Sturz Merkels nicht genug Unterstützung in der CDU findet, ein klarer Sieger sich nicht abzeichnet und Umfragen ergeben, dass vor dem Konservativismus der Wählerschaft, die vor allem einheitliche Führung und keinen Zwist sehen will, beide Streitparteien verlieren, die bayerische mehr als Merkel, und dass die AfD darüber gar nicht zu schwächen ist, wird der Machtkampf in der Regierungskoalition vertagt, der ultimative Streit über das Grenzregime vorerst wieder in Tagespolitik überführt. Der Standpunkt aber, der davon aufgerührt und ins Recht gesetzt wurde, ist damit keineswegs zufriedengestellt oder beruhigt, im Gegenteil, er wird immer radikaler: Nach den Flüchtlingen aus Syrien und Afrika geraten die seit Generationen hier lebenden Türken unter die Scheidung von „wir“ und „die“: Dass eine Mehrheit der Minderheit von denen, die erstens einen Doppelpass besitzen und sich zweitens an der türkischen Präsidentschaftswahl beteiligt haben, dem hier verabscheuten Erdoğan ihr Vertrauen schenken, beweist, dass sie keine loyalen Deutschen, mithin nicht wirklich integriert sind, also auch nicht hierher gehören. Mit weniger als einem eindeutig und ausschließlich deutsch-nationalen Blick auf die Welt, also unterhalb einer Assimilation bis zur Ununterscheidbarkeit lassen die echten Deutschen die Leute mit Migrationshintergrund einfach nicht als Mitbürger gelten. Da wird die abendländisch oder sonst wie versinnbildlichte deutsche Identität geständig: Ihr Inhalt besteht in nichts als der Loyalität zur politischen Herrschaft. Beispielhaft wird das nach dem frühen Ausscheiden der Nationalelf aus der Fußball-Weltmeisterschaft gegen Mesut Özil geltend gemacht. Der gefeierte Mittelfeldregisseur aus Gelsenkirchen hat sich nicht nur mit der Kanzlerin, der britischen Premierministerin und anderen Celebrities sondern auch mit dem Präsidenten der Türkei, der Unperson Erdoğan, ablichten lassen und auch mit ihm den wechselseitigen Glanz geteilt, der bei solchen Begegnungen vom einen auf den anderen fällt. Damit ist für die Deutschen alles klar: Der Türke mit der falschen Loyalität hat den deutschen Erfolg sabotiert und in Wahrheit gar nicht für Deutschland gespielt. Kaum flaut diese Aufregung ab, füllen Bürgermeister größerer Städte die Lücke, indem sie es als Skandal herausstellen, dass aus ihren Familienkassen tatsächlich an nichtdeutsche EU-Bürger, die hier arbeiten und Steuern zahlen, ein deutsches Kindergeld gezahlt wird, selbst wenn deren Kinder im Herkunftsland mit niedrigerem Preisniveau und Lebensstandard leben. Verrührt mit Fällen von Kindergeldbetrug, die es auch gibt und die sowieso verfolgt werden, ist die Botschaft fertig: Auch EU-Bürger gehören nicht hierher, wenn sie nicht bloß leisten, sondern auch Leistungen beziehen.

II. Der andere, materielle Gehalt der nationalen Identität: Unser Geld

Außer der Pflege ihrer nationalen Identität und der dazugehörenden Achtung und Verachtung ihrer Mitmenschen haben sich die Deutschen noch praktisch um eine Kleinigkeit zu kümmern: um ihr Geld – auch das verbindet sie. Sein Erwerb ist Notwendigkeit und Interesse eines jeden, ironischerweise gilt es eben dadurch als ein gemeinsames. Dass die Bürger ihr Geld gegeneinander verdienen, dass die gefeierten Wachstumsraten, Exportbilanzen und Aktienkurse der letzten Jahre auf der Billigkeit und der für sie selbst unergiebigen Leistung der großen Mehrheit beruhen, trübt den die Landsleute verbindenden Geldmaterialismus einerseits gar nicht: Geld zu verdienen, d.h. sich an den dafür gegebenen Bedingungen zu bewähren, ist für alle gleichermaßen Recht und Pflicht und anderes als Selbstverantwortung auf diesem Feld kommt sowieso nicht in Frage. Andererseits ist die wachsende Armut, die zum wachsenden Reichtum der Reichen gehört, nicht vergessen. Auf Basis der Anerkennung der Bedingungen des Geschäftslebens betätigt sich die Unzufriedenheit mit seinem Ertrag als missgünstige Begutachtung der anderen: Verdienen der Hartzer und der Manager, die Hausfrau und der Lehrer auch, was sie verdienen? Der Materialismus des Geldverdienens wird in eine nationale Gerechtigkeitsfrage verwandelt; bescheidene Verhältnisse berechtigen zu nichts als Neid auf Leute, denen es besser geht, Erfolg berechtigt zu Stolz darauf, dass man zu den besseren Leuten gehört. Der Klassengegensatz wird mit dem Hubraum des SUV ausgetragen, das man sich leisten kann – und auf jeden Fall als Vergleich. Von der Mittelschicht heißt es, sie sei von sozialen Abstiegsängsten geplagt. Die Bedrohung ihrer materiellen Lage durch Globalisierung, Digitalisierung oder sonst etwas lässt sich die Schicht, die etwas zu verlieren hat, als Bedrohung ihres Ranges auf der sozialen Hühnerleiter verdolmetschen; die Hierarchie der Berufe und Einkommen als solche ist rundum affirmiert, wenn die Bessergestellten sich vor nichts so ängstigen, wie dort unten zu landen, wo ein Drittel der Bevölkerung längst ist.

Dass man anderen nicht gönnt, was sie haben, und sich selbst immer um das, was einem zusteht, betrogen wähnt, gehört zur Kultur einer gefestigten kapitalistischen Zivilgesellschaft und ist innerhalb weiter Grenzen ein unauffälliger privater Zeitvertreib. Politisch und wirksam wird der Neid, wenn er sich mit der nationalen Identität verbindet und die verbreitete Missgunst der Bürger sich gemeinsam gegen außen richtet. Das ist leicht zu haben, denn Ausländern und dem Ausland, die kein Teil der nationalen Gemeinschaft sind, steht im Sinn der nationalen Gerechtigkeit gar nichts zu. Der Geldmaterialismus der Deutschen präsentiert sich also national, er gilt unserem Geld, unserem Nationalprodukt und den anderen Parametern des Wirtschaftserfolgs. Sehr gleichmacherisch gegen den Umstand, dass die einen Volksgenossen den Erfolg haben und die anderen für ihn geradezustehen haben, betrachten sie ihn als gemeinsamen Besitz, von dem sie ihre privaten Umstände abhängig wissen und für den sie unbedingt parteilich sind. Es ist ihnen nicht unbekannt, dass die außergewöhnlichen deutschen Wirtschaftserfolge der letzten Jahre gegen andere Länder errungen wurden und auf deren Kosten gehen. Dass die Exportnation beständig gegen ihre Handelspartner in der EU und weltweit Überschüsse erzielt, an ihnen also immer mehr verdient, als sie die anderen an sich verdienen lässt, dass sie ihnen somit das Geld abnimmt und Arbeitslosigkeit exportiert, irritiert die deutsche Selbstgerechtigkeit überhaupt nicht: Schuld an ihrem Schaden sind die anderen Nationen – was sind sie auch weniger konkurrenzfähig als „wir“. Trump, heißt es, brauche sich gar nicht aufzuregen, seine Amerikaner seien es doch selbst, die deutsche Autos den Produkten der heimischen Industrie vorziehen. Die Gegensätzlichkeit des Nationalerfolgs ist selbstverständlich und braucht keine Rechtfertigung: Es gibt ihn und weil er errungen worden ist, ist sein Besitz ein Recht der Deutschen.

Die Gegenwehr des US-Präsidenten, der „unfairen Handel“ nicht mehr dulden will, erscheint dem nationalen Blick komplett irrational, angesichts der internationalen Verflechtung der Volkswirtschaften schädlich besonders für die USA selbst; vor allem aber unfair: ein illegitimer Angriff auf „uns“. Die Forderung der EU-Partner nach irgendeiner Form der Teilhabe an der Kreditmacht, die Deutschland durch seine sie ruinierenden Erfolge akkumuliert hat – und sei es nur, um diesen einseitigen Wirtschaftsverkehr fortzusetzen –, ist ein unberechtigter Griff in „unsere Taschen“; eine „Transferunion“ in der Eurozone und alles, was in diese Richtung geht, kommt überhaupt nicht in Frage: Da ist das ganze Land ein geiziger Schwabe: „Mir gäbet nix!“

Wenn die Deutschen von der Gegenwehr anderer Staaten auf die Gegensätzlichkeit ihres Wirtschaftserfolgs gestoßen werden, animiert sie das nicht zum Nachdenken über die ökonomischen Antagonismen, an denen Normalbürger im Inneren ebenso laborieren wie das unterlegene Ausland; sie registrieren den Gegenwind schlicht als Bedrohung ihrer privilegierten Stellung. Niemand widerspricht, wenn die Kanzlerin sagt: ‚Es geht uns gut wie nie.‘ Dass in der deutschen Wirtschaft alles wohl bestellt und kaum besser zu machen ist, wird ihr für Vergangenheit und Gegenwart zugestanden. Aber wegen des Neids und der Obstruktion der anderen kursieren Zweifel an der Fortsetzbarkeit des deutschen Erfolgs: Das Land wartet auf den Handelskrieg Trumps, die Folgeschäden des Brexit, die Solidaritätsforderungen von Macron und anderen, die allesamt diesen Erfolg gefährden, mindestens schmälern.

In Identifikation der persönlichen materiellen Lage mit den nicht mehr so zukunftssicheren Erfolgen des deutschen Kapitalismus bekommen seine Opfer, die von den Erfolgen nichts haben, ihre aktuellen Nöte als „Abstiegsängste“, also als vorgreifende Sorgen vor zukünftigen Zuständen anerkannt und auf ausländische Angriffe auf den deutschen Erfolg und das Ausgenutzt-Werden des Vaterlands durch anwesende Ausländer zurückgeführt. Das Angebot, soziale Unzufriedenheit und das Gefühl erlittener Ungerechtigkeit mit der Bedrohung des deutschen Wohlstands gleichgesetzt und gerechtfertigt zu bekommen, wird massenhaft angenommen. Als beleidigte Patrioten dürfen sich die Schlechtergestellten im Recht und stark fühlen und frech werden: Daran, dass die Regierung zulässt, dass Deutschland von Fremden ausgenutzt wird – und nur daran –, lesen sie das Unrecht ab, das den Armen in Deutschland angetan wird. Nur an dem Geld, das ihr Staat für die Stabilisierung und Kontrolle der europäischen Nachbarländer und für Flüchtlinge ausgibt, ermessen sie, dass ihnen etwas vorenthalten wird. So glauben sie sich glatt ihre absurde Anklage: ‚Die Flüchtlinge bekommen alles, wir nichts!‘ ‚Den Griechen werden die Schulden gestundet, die Italiener bezahlt man für die Abwehr von Migranten – alles aus dem Geldbeutel des deutschen Steuerzahlers.‘ In der Missgunst gegen alles Fremde schließen sich oben und unten zusammen, wendet die Klassengesellschaft ihre Gegensätze und die Giftigkeit ihrer Konkurrenz nach außen. Der AfD-Agitator Höcke hat einfach Recht behalten: Die soziale Frage sieht heute niemand mehr als eine von arm und reich in der Gesellschaft, sie ist zu einer von innen und außen geworden. Darin steckt noch das Urteil über die Merkeljahre, dass die deutsche Gesellschaft für sich, die freilich überhaupt nicht bei sich bleibt, sondern den Weltmarkt erobert, perfekt eingerichtet wäre, wenn nur die störenden Anderen nicht wären: Alles Schlechte kommt von außen.

Dieser Zeitgeist verdächtigt die Kanzlerin, den nötigen und selbstverständlichen Kampf gegen eine feindliche Umwelt, die es aufs deutsche Geld abgesehen hat und „uns“ unseren Erfolg stehlen will, nicht zu führen und mit ihrer auf Europa, Kooperation und supranationale Ordnung geeichten politischen Gesinnung auch gar nicht führen zu können: Stil und Inhalt der Politik Merkels passen nicht mehr zu diesem Land. Missmutig warten die Deutschen auf ihren Trump, der nicht in Sicht ist.

III. Die Zeit des geordneten Multilateralismus ist vorbei (Söder) – unrelativierter Nationalismus ist angesagt

In der Flüchtlingspolitik und auf dem Feld nationaler Geldinteressen wird Merkel als Repräsentantin einer deutschen Krankheit angegriffen, nämlich eines unpatriotischen Standpunkts, der sich ein Bekenntnis zum Egoismus der Nation nicht traut, der die Probleme der Welt lösen, die internationale Ordnung verwalten und verteidigen, Ausgleich zwischen den Nationen stiften will, anstatt die Interessen des eigenen Volkes durchzusetzen. In dieser Einordnung als Vertreterin der nationalen Selbstverleugnung wird die Kanzlerin mit dem „Geist von ’68“, mit dem endlich Schluss gemacht gehört, sowie mit den „Gutmenschen“ in einen Topf geworfen, in den sie nicht gehört. Was sie vertritt und vertrat, ist nicht das Gegenteil von Nationalismus, sondern ein anderer als der, den ihre Kritiker einklagen: Der Nationalismus nämlich eines Bündnispartners, der durch seine Einordnung in die militärische und ökonomische Ordnung des Westens reich und mächtig geworden ist.

Der Preis für die Nazi-Zeit und den verlorenen Weltkrieg und die Bedingung des Wiederaufstiegs war die Anerkennung dieses für alle kapitalistischen Nationen von den USA verbindlich gemachten Konkurrenzrahmens. Einen ganzen Kalten Krieg lang war die Wiederherstellung nationaler Größe, die „Wiedervereinigung“, dem Systemgegensatz gegen den sozialistischen Osten untergeordnet und konnte nur durch Beiträge zu dieser Weltkriegsfront vorangetrieben werden. Ökonomische Potenz und Konkurrenzfähigkeit gegen die überlegene Bündnisvormacht konnte nur durch den Aufbau der Europäischen Union und die Unterordnung unter deren gemeinsam beschlossenes Recht gewonnen werden. Was die Adenauer-Regierung und alle ihre Nachfolger opportunistisch anerkannten und benutzten, wurde ganz langsam – so richtig erst durch den demokratie-idealistischen Furor der Studentenbewegung – zum auch vom Volk akzeptierten Selbstbild der Deutschen, dem selbstverständlich nicht jeder folgte; den rechten Rand, der Anpassung an die und Ausnutzung der amerikanischen Weltordnung als Kotau vor den Besatzern verwarf, gab es immer, aber das war eben der rechte Rand. Die Mehrheit lernte, ihren nationalen Stolz und nationale Ansprüche mit der vorbildlichen Befolgung westlicher Werte zu begründen: „Wir sind wieder wer!“ – und zwar dadurch, dass die Westdeutschen sich als die glühendsten Antikommunisten in der NATO hervortaten – ‚Freiheit statt Sozialismus‘ hieß das, nicht ‚Deutschland vor!‘ – sowie als die europäischsten Europäer. Sie durften sich wieder als Patrioten präsentieren, weil die Treue, der sie sich rühmten, einer demokratischen Verfassung galt – Habermas’ Verfassungspatriotismus stand gegen bornierte Deutschtümelei. Noch bis zur Vorbildrolle im Klimaschutz und dem kurzfristig populären Willkommen an die syrischen Flüchtlinge haben die Deutschen sich zur Elite der Völker gezählt und unter ihnen zur Führung berechtigt gesehen, weil ihr Land ‚Verantwortung für die Probleme der Welt‘ übernimmt.

Die an übernationalen Maßstäben gerechtfertigte Selbstgerechtigkeit der Nation ist zugleich deren Relativierung – auch die war gewusst und gewollt: Das aufgeklärte Deutschland begrüßte sie als Bremse des Nationalismus, dessen Exzesse noch vor Augen standen – zu Unrecht übrigens, denn gerade der relativierte Nationalismus begleitet und rechtfertigt den beständigen Zuwachs des Landes an ökonomischer und politischer Macht über die europäischen Nachbarn und darüber hinaus und befreit sich mit diesem Zuwachs immer mehr vom Bedürfnis, sich zu rechtfertigen. Die einzige Rechtfertigung, die der deutsche Nationalismus sich noch gönnt und mit der er Kritik jeder Art zurückweist, ist der Verweis auf die anderen, die doch schon immer so national und stolz, eben „normal“ seien, wie es die Deutschen endlich werden müssen. Trump mit seinem America first! fungiert hier als positives Vorbild.

Inzwischen ist man noch weiter: Jede Rechtfertigung des Nationalismus wird als Verrat an ihm, an seiner Unbedingtheit und Unbeschränktheit verworfen. Vaterlandslos ist, wer anerkennt, dass es noch etwas Höheres geben soll als den gegen andere gerichteten Egoismus der eigenen Nation aus ihrem eigenen Recht.

IV. Das bessere Deutschland – in der Defensive und selbst sehr defensiv

Natürlich ist das nicht das ganze Bild; es gibt sie noch, die Parteien und politischen Strömungen, die für das weltoffene Deutschland von gestern stehen und ihr nationales Anspruchsdenken auf die Verantwortung gründen, die ihr Land für globale Krisen- und Problemfälle übernommen hat. Aber sie bilden nicht wirklich einen Gegenpol gegen die Feindseligkeit des unrelativierten Nationalismus – und wollen das oft auch nicht.

Den Parteien, die Merkels Grenzöffnung mitgetragen und von ihr im Sinn der deutschen Globalverantwortung eine konsequentere Inpflichtnahme der EU-Partner bei der Verteilung der Flüchtlinge gefordert haben, fällt auch heute nichts Besseres ein, als wieder Merkel gegen CSU und AfD den Rücken zu stärken – nun eben bei einer Politik, die auf das Verriegeln der ‚Festung Europa‘ gerichtet ist. Eine eigene Positionierung zum Asylstreit, der das nationale Selbstbewusstsein so entscheidend definiert, vermeiden SPD, Linke und Grüne tunlichst. Die drei Parteien gehen selbst davon aus, dass jede Stellungnahme in der einen oder anderen Richtung sie zwischen dem Moralismus der helfenden Weltmacht und dem Realismus, dass die Deutschen die Flüchtlinge nicht mehr aushalten, zerreißen würde, dass sie also auch bei den Wählern damit nur verlieren können. Mit ihrer Selbstmarginalisierung bestätigen sie den Anspruch der rechten Nationalisten, Vertreter der wahren Volksbedürfnisse zu sein.

Die SPD hält sich aus dem Machtkampf zwischen Seehofer und Merkel komplett heraus und versucht, sich von den Streithähnen mit sachlicher Amtsführung in ihren Ministerien abzusetzen. Dort strickt sie weiter an ihrer Variante, den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken und die Spaltung der Nation zu überwinden, indem sie an Missständen herumreformiert, die sie zur Ursache der Fremdenfeindlichkeit erklärt: Sie setzt Maßnahmen zur Stabilisierung des sinkenden Rentenniveaus durch, ein neues Rückkehrrecht für Beschäftigte aus Teilzeit in Vollzeitstellen, führt die paritätische Finanzierung der Krankenversicherung wieder ein – und bekommt nichts davon auch nur im Geringsten honoriert. So bekommt sie zu spüren, dass alle sozialen Fragen der nationalen subsumiert sind. Aus der Deckung kommt sie nur, wo sie sich sicher ist, dass der rechte Zeitgeist zu weit geht, und sie darauf plädieren kann, dass dieser selbst höchste Werte der Nation, z.B. den deutschen Ruf in der Welt oder den inneren Frieden beschädigt: Mit dieser Sorge um Deutschland tritt sie der zügellosen Sprache der CSU-Größen entgegen; nach Özils Rückzug aus der Nationalmannschaft räumt sie ein, dass das Land ein „Rassismusproblem“ hat – man könne schlechterdings nicht das ganze Viertel der Bevölkerung mit ausländischen Vorfahren ausgrenzen. Ansonsten beeilt sie sich zu versichern, dass ihre matten Bremsversuche gegen die rechte Radikalisierung den Verdacht eines Laissez-faire gegenüber Ausländern nicht verdienen: Hinter die Angriffe auf Kindergeldzahlungen an EU-Bürger stellt sich Andrea Nahles gerade mit einem Bekenntnis zur Weltoffenheit: Wer für Freizügigkeit in der EU ist, muss erst recht konsequent den Missbrauch bekämpfen!

Die Linke balanciert hart an der Spaltung der Partei zwischen dem Wagenknecht-Flügel, der den Ausländerhass zur Furcht der unterprivilegierten Schichten vor zusätzlichen Konkurrenten am Arbeits- und Wohnungsmarkt veredelt und zu betreuen verspricht und nicht zuletzt darauf das Projekt der neuen Sammlungsbewegung ‚Aufstehen‘ gründet, und dem Rest, der sich von seinem Menschheits- und Solidaritätsmoralismus nicht lösen mag. Der grünen Intellektuellen-Partei kommt zugute, dass sie ohne Spaltung und ohne eigene Position in der Sache öffentlich das Problem wälzt, dass der rechte Ungeist so viel Oberwasser nur hat bekommen können, weil die geistig hochstehende Elite die Probleme ganz unten übersehen oder nicht ernst genommen hat. Der neue Parteichef quatscht vom Respekt vor den einfachen Leuten und dem Heimatbegriff, der nicht mit rechten Inhalten gefüllt werden dürfe – was schon dafür reicht, dass seine Partei zum Rückzugsort des deutschen Weltbürgernationalismus wird.

Auch der Bundespräsident distanziert sich vom zeitgemäßen Ungeist, ohne sich mit ihm anzulegen. Er lebt in seinem Schloss Bellevue einfach das Dementi von Ausländerfeindschaft vor, indem er Migranten aus der Nachbarschaft auf Kaffee und Kuchen einlädt und gute Nachbarschaft demonstriert. Es sagt viel über den geistigen Zustand des Landes, in dem so eine Demonstration einerseits nötig ist, in dem andererseits dem ranghöchsten Kritiker des feindseligen Nationalismus nichts als symbolische Freundlichkeit gegen unbekannte Exemplare der Angefeindeten einfällt.

Mit all dem setzen die offiziellen Vertreter des besseren Deutschland den Ton für die Minderheit, die die humanitären Werte des weltoffenen Deutschland gegen den verabsolutierten Nationalismus aktiv hochhält bzw. in Flüchtlingshilfe, Kirchenasyl und Seenotrettung engagiert bleibt – für Leute also, die sich bis vor kurzem als vorbildliche Vertreter des „hellen Deutschland“ geschätzt sahen und nun ganz schnell nicht nur aus dem nationalen Konsens, sondern gleich an den Rand der Legalität gedrängt werden. Ihnen teilen die nicht-ganz-so-rechten Parteien mit, womit sie noch auf öffentliche Resonanz hoffen können und womit definitiv nicht mehr. Die Aktivisten der Flüchtlingsbewegung melden sich, wenn überhaupt, eher defensiv zu Wort: No borders! und Refugees welcome halten auch sie für nicht mehr vermittelbar. Ihre imperialismuskritisch gemeinte Forderung Fluchtursachen bekämpfen hat ihnen ohnehin der CSU-Entwicklungshilfeminister entwendet, der seinen Deutschen mit diesem Instrument Flüchtlinge vom Leib zu halten verspricht. Heute demonstrieren die verbliebenen Anhänger einer humanistischen deutschen Verantwortung gegen die Kriminalisierung der Seenotretter und bilden Menschenketten gegen rechte Aufmärsche mit dem Bekenntnis, ihre jeweilige Heimatstadt sei bunt, nicht braun.

Dem rechten Anspruch auf eine ausländerfreie deutsche Heimat setzen sie ihre Lesart derselben guten Sache entgegen: Mit korrigiertem Inhalt bekennen auch sie sich zum Wohnort als einen hohen Wert, den sie nicht den Rechten überlassen wollen. Die bunte Heimat, der sie angehören möchten, stellen sie sich nicht uniform und nicht ausgrenzend vor. In ihr sollen Menschen jeder Herkunft und Identität so sein dürfen, wie sie sind, und als Besondere dazugehören. Wie wenig die Idee der Heimat ohne uniforme Unterordnung einerseits und Ausgrenzung andererseits zu haben ist, demonstrieren die Freunde der bunten Heimat gleich selbst: Die nämlich soll niemanden ausgrenzen – die Rechten aber schon. Gegen deren Ausländerfeindlichkeit haben sie kein besseres Argument anzuführen, als dass die nicht zu den ortsüblichen Sitten passt, und für diese Sitten wissen sie keinen anderen Grund, als dass sie ortsüblich sind. Nicht Argumente für Antifaschismus und Verfassungspatriotismus, sondern deren Tradition in Deutschland führen sie gegen Xenophobie und Nationalismus ins Feld. Sie machen ihre eigene Borniertheit – „Wir hier halten das schon immer so!“ – zur Keule gegen die Rechten und entziehen denen das Heimatrecht wegen Abweichung von der Lokalnorm. Die rechte Unzufriedenheit mit dem immer noch nicht rein deutschen Vaterland kontern linke, kritische, idealistische Zeitgenossen mit ihrer Identität und Zufriedenheit mit dessen lokaler Kleinausgabe. Das antikritische Argument Heimat weist an der Unzufriedenheit der Rechten nicht den Nationalismus, sondern die Unzufriedenheit zurück. Die standhaften Vertreter des besseren Deutschland bekämpfen den nationalistischen Ungeist mit seinen Ursprüngen.

[1] Der ARD-Deutschlandtrend meldet, dass die Sorge vor Überfremdung, die in der Liste der Bürger-Sorgen zwischenzeitlich auf Normalmaß geschrumpft war, in den Wochen der Regierungskrise wieder an die erste Stelle rückt.