G7-Gipfel in Japan
Sieben Weltwirtschaftsmächte
demonstrieren Einigkeit – jenseits und wegen ihrer
Konkurrenz um die Macht in der Welt
Wie jedes Jahr treffen sich die Chefs von sieben großen
Industrieländern, diesmal in Japan. Dort wickeln sie in
aller Routine ihr intimes, im Voraus bis ins Detail
geklärtes Gesprächsprogramm ab – mitsamt einem ebenso
akribisch vorbereiteten Begleitprogramm mit den üblichen
ortsspezifischen Varianten: Sie besuchen einen heiligen
Shinto-Schrein und pflanzen dort gemeinsam einen Baum,
spazieren am Fluss entlang, klopfen sich dabei freundlich
auf die Schulter und lächeln händeschüttelnd in jede
Kamera, die auf sie gerichtet wird. Ebenso routiniert
fallen die Rezensionen des diesjährigen Gipfels
überwiegend negativ aus. Zwar bleiben dieses Mal die
großen Proteste aus, die zum festen Bestandteil des
jährlichen Treffens geworden sind und für kleine
Störungen des gewohnten Ablaufs sorgen. Doch die Empörung
der Zivilgesellschaft hat nicht nachgelassen: Die
G7-Staaten haben erbärmlich versagt
(Ian Koski von der Entwicklungsorganisation
One): Sie haben es nicht nur versäumt, die
Beschlüsse zu fassen, die man von ihnen gerne hätte,
sondern sie halten sich nicht einmal an das, was sie
selber einmal beschlossen haben, so die Kritik:
„Es fehle an einem Plan zur Umsetzung des vor einem Jahr im bayrischen Elmau verkündeten Ziels, 500 Millionen Menschen bis zum Jahr 2030 von Hunger und Nahrungsmangel zu befreien, bemängelte World Vision.“ (SZ, 14.6.16)
Die professionelle Öffentlichkeit äußert schon im Vorfeld
eine ähnlich gestrickte, wenn auch weit weniger
aufgeregte Sorte Kritik am Gipfel – Sehr viel
Konkreteres als Bekenntnisse zu westlichen Werten und
einer auf Regeln gegründeten Weltordnung wird es in
Ise-Shima wohl nicht geben, sagen Beobachter voraus.
(tagesschau.de, 26.5.) – und
sieht ihre vorweggenommene Enttäuschung durch die
Ergebnisse des Gipfels nur bestätigt:
„Große Worte, kleine Taten... Es [gibt] meist nur vollmundige Versprechungen.“ (SZ, 27.5.) „Das G7-Treffen in Japan droht, in Routine zu ersticken. Dabei stehen die westlichen Industrieländer vor politischen Herausforderungen wie lange nicht... Wer das Programm des bevorstehenden Gipfels studiert, wird wenig Zukunftsweisendes entdecken. Kein Signal des Aufbruchs ist von Ise-Shima zu erwarten, sondern das routinierte Abarbeiten der üblichen Gipfel-Rituale.“ (Spiegel Online, 26.5.)
Diese Kritiken verraten mehr über die Kritiker als über
das Treffen selber. Wenn sie dessen bloßes Stattfinden
angesichts dürftiger Ergebnisse für unerheblich finden,
bei den feierlichen Demonstrationen von Einigkeit
zwischen Wirtschaftsmächten nur abwinken und stattdessen
auf taufrischen Lösungen für die diversen politischen
Herausforderungen
bestehen, die sie und/oder die
angesprochenen Mächte selber auf die Tagesordnung gesetzt
haben – dann geben sie in der Hauptsache zu Protokoll,
was ihnen als Beobachtern solcher Veranstaltungen einfach
selbstverständlich ist. Erstens ist es ihnen allenfalls
eine Notiz wert, dass die Chefs genau dieser
sieben ‚Industrieländer‘ jährlich als informelle
Weltregierung
(ebd.)
zusammenkommen; zweitens ist der Umstand, dass diese
Länder stets ihre Einheit beschwören, und zwar als eine
Instanz, die die Schutzverantwortung für eine „auf Regeln
gegründete Weltordnung“ als Gemeinschaftsaufgabe
wahrnimmt, für sie allenfalls ein Allgemeinplatz
(TAZ) – eine leere Formel,
die erst durch daraus folgende Taten wirklich Bedeutung
bekäme.
Dabei ist den in Japan versammelten Mächten selber weder das eine noch das andere in irgendeiner Weise selbstverständlich.
1.
Sie wissen nämlich sehr gut, dass ihre Mitgliedschaft in
diesem erlauchten Kreis nicht bloß Ausdruck ihrer
volkswirtschaftlichen Größe ist – zumal sich nur noch
fünf von ihnen zu den sieben größten Volkswirtschaften
zählen können. Das macht umso sinnfälliger, dass die
Mitglieder der G7 einen Status beanspruchen, der eben
nicht mit ihrer ökonomischen Größe zusammenfällt; sie
präsentieren sich der Welt vielmehr als Instanzen, die
sich um Probleme
und Herausforderungen
kümmern, die nicht einfach darin bestehen, in der
weltweiten Konkurrenz um Märkte möglichst gut
abzuschneiden, damit sie nach wie vor zu den größten
Konkurrenten gehören. Sie definieren sich vielmehr als
eine eben informelle Weltregierung
, die überhaupt
erst verbindlich definiert, worin die Probleme und
Herausforderungen bestehen, vor denen nicht nur sie,
sondern auch die ganze Welt steht. Umgekehrt ausgedrückt:
Darüber, welchen „Aufgaben“ sich die Staaten der Welt zu
widmen haben, entscheidet eben nicht etwa die in der UNO
versammelte Staatenwelt, sondern diese sieben Mächte. Das
ist eine Sorte Zuständigkeit, die diese Mächte für
sich reservieren; sie grenzen die Verantwortung für
die Definition der Probleme der Welt mitsamt ihren
Lösungen auf sich ein, grenzen insofern andere Mächte,
die ähnlich gelagerte, wenn auch kleiner dimensionierte
Vorstellungen von ihrer Verantwortung für das
Weltgeschehen haben, explizit aus. Da ist zum einen
Russland, ehemaliges Mitglied im Club der
Größten, das nach seiner Annektierung der Krim vor zwei
Jahren ausgeschlossen wurde und dessen Mitgliedschaft mit
seiner Wirtschaftskraft ohnehin nie etwas zu tun hatte.
Zum anderen ist China inzwischen zur
zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Welt geworden, wird in
die informelle Weltregierung
allerdings nach wie
vor nicht aufgenommen. Und was diese zwei Mächte nicht
erst, aber sehr deutlich beim diesjährigen G7-Treffen
erfahren können, ist, dass sie nicht bloß draußen aus dem
Club der Zuständigen, sondern wie alle anderen
Nichtmitglieder Objekte von dessen Aufsicht
sind. Sie zählen bei aller Macht und Größe zum großen
Kreis derjenigen, die Probleme für die Weltordnung weder
definieren noch Lösungen vorgeben. Sie können solche
Probleme allerdings verursachen – und laut der
offiziellen Gipfelmitteilung tun sie das derzeit auch:
-
In der Ukraine kennt der G7-Kreis
Russland als gegnerische Partei in einem
Streit über die Frage, welchem Staat bzw. Staatenblock
die Ukraine zugeordnet werden soll. Doch von dieser Sorte
Auseinandersetzung darum, wessen imperialistisches
Kommando in der Ukraine inwieweit gilt, ist nichts zu
sehen, wenn die G7 sich zu Wort meldet:
„Wir erwarten von Russland, seine Zusagen einzuhalten und seinen Einfluss auf die Separatisten in vollem Umfang geltend zu machen... Wir erinnern daran, dass das Fortbestehen der Sanktionen in direktem Zusammenhang mit der vollständigen Umsetzung der Vereinbarungen von Minsk und der Achtung der Souveränität der Ukraine durch Russland steht. Die Sanktionen können abgebaut werden, sobald Russland diesen Verpflichtungen nachkommt. Dennoch sind wir bereit, auch weitere beschränkende Maßnahmen bezüglich Russland zu ergreifen, um die Kosten für Russland zu erhöhen, sollten seine Handlungen dies erforderlich machen.“ (Dieses und die folgenden Zitate, wenn nicht anders gekennzeichnet, aus: Erklärung der Staats- und Regierungschefs der G7 in Ise-Shima, 26. – 27. Mai 2016)
Hier wird Russland vielmehr als eine Art Auftragnehmer angesprochen, dessen
Einfluss
auf die Parteien vor Ort selbstverständlich so auszuüben ist, dass er nicht den Interessen Russlands, sondern den Ansprüchen der Mächte entspricht, die ihrerseits nicht bloß Interessen verfolgen und dabei Abkommen mit ihren Konkurrenten schließen, sondern sich als Garanten des Vertrags über dieselben stellen: quasi als Gewaltmonopolisten, die bezüglich der involvierten Parteien, zu denen Mitglieder dieses Kreises durchaus selber gehören, gewisse Erwartungen hegen und im Falle der Nichterfüllung Strafen aussprechen und durchsetzen.Doch das ist nur die eine
Herausforderung
, die derzeit von Russland ausgeht. In Syrien stellt es seine Macht hinter eine Regierung, die die G7 mit eigenen Waffen und durch die Unterstützung lokaler Rebellen bekämpft; insofern kennt sie Russland auch dort als konkurrierende imperialistische Partei, als machtvollen Gegner in einem Kampf um die zukünftige Ordnung im Land und in der Region, um den man nicht herumkommt. Doch als G7 spricht man zum imperialistischen Konkurrenten keineswegs von Partei zu Partei:„Wir ... begrüßen Russlands Bekenntnis ... mit den syrischen Behörden zusammenzuarbeiten, um Luftoperationen über Gebieten, die vorwiegend von Zivilisten oder Waffenstillstandsparteien bewohnt werden, zu minimieren. Wir erwarten von Russland und Iran, dass sie das Regime mit Nachdruck auffordern, den erneuten Waffenstillstand einzuhalten und seine Angriffe auf Zivilisten zu beenden.“
Hier tritt die G7 vielmehr als eine Instanz auf, die kollektiv den Schutz oder zumindest die Schonung unbeteiligter, also unschuldiger Menschen verantwortet – aber eben nicht als eine Art Rotes Kreuz, sondern als machtvoller Schiedsrichter über den Konflikt mit Russland, in dem sie zugleich als konkurrierende Partei aktiv ist. Von der Warte aus ist für die G7 klar, welche kriegerische Gewalt im Lande ein Problem für die Welt ist – auf jeden Fall die, die von Russland und seinem Schützling ausgeht – und welches Zuschlagen dem Schutz der Menschen dient.
Auch wenn die G7 an beiden Fronten zu Russland kein neues Vorgehen und keinen neuen Schritt in diesem Konflikt, sondern nur die Verlängerung der Sanktionen beschließt, also kein
Signal des Aufbruchs
setzt, was die interessierte Öffentlichkeit ihr dann wohlwollend als Lösungsvorschlag für ein dringendes „Problem“ der Weltordnung auslegen könnte. Die entscheidende Statuszuordnung wird damit durchaus geleistet, nämlich die eindeutige Antwort auf die Frage, wer hier Subjekt der Ordnung ist und wer daher Objekt von wessen Ordnungsgewalt zu sein hat. Und mit der Klarstellung trifft die G7 dann auch den eigentlichen Kern des Konflikts mit Russland an beiden Fronten und darüber hinaus. -
Im südchinesischen Meer begegnet der G7
China als eine Macht, die nicht nur mit
vielen Containerschiffen unterwegs ist, die mit seinen
Exportschlagern beladen sind, sondern als eine
ansehnliche Militärmacht mit entsprechenden Ansprüchen,
die es vom Urteil des einschlägigen UN-Gerichts nicht
abhängig macht. Es schüttet Inseln auf, errichtet Häfen
und Flugpisten für seine Streitkräfte und stationiert
Raketen, um überdeutlich zu machen, dass es keinesfalls
das Objekt irgendeiner anderen Macht in der Region ist;
dass es vielmehr selbst definiert, wem was gehört und was
sich überhaupt gehört; und dass es schließlich über die
einschlägige militärische Durchsetzungsmacht verfügt.
Dass China auf die – vermuteten – üppigen Öl- und
Gasvorkommen in diesem Gebiet spechtet, wie die
geologisch bestens informierte Öffentlichkeit gerne
betont, ist also bloß die eine, eher untergeordnete
Sache; dass es in diesem Fall um einen grundsätzlicheren
Streit geht, ist längst vor dem Gipfel kein Geheimnis:
Hier handelt es sich um einen
seit Jahrzehnten schwelenden Konflikt um die Vormachtstellung im Asien-Pazifik-Raum
(Spiegel Online, 12.7.). Die USA, Haupt- und Führungsmacht der G7, sind der entscheidende Konkurrent in dieser Frage, von der China genauso gut wie die USA weiß, dass sie nicht vor einem Gericht, sondern mit der Gewalt entschieden wird, über die man jeweils verfügt und die man in Stellung bringt. Dazu steht die Mitteilung des Gipfels allerdings in einem interessanten Kontrast:„Wir bekräftigen unser Bekenntnis zur Aufrechterhaltung einer regelbasierten maritimen Ordnung in Übereinstimmung mit den Prinzipien des Völkerrechts, wie sie im Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen Ausdruck findet, zur friedlichen Beilegung von Streitigkeiten, die von vertrauensbildenden Maßnahmen und auch durch Rechtsmittel unterstützt wird, sowie zur nachhaltigen Nutzung der Meere und zur Achtung der Freiheit der Schifffahrt und des Überflugs. Wir bekräftigen, wie wichtig es ist, dass Staaten ihre Ansprüche auf der Grundlage des Völkerrechts geltend machen und klären, von einseitigen Handlungen, die Spannungen verstärken könnten, absehen und sie weder gewaltsam noch zwangsweise durchzusetzen versuchen, und dass sie sich bemühen, Streitfälle mit friedlichen Mitteln zu regeln, auch mithilfe juristischer Mittel einschließlich Schiedsverfahren. Wir sind besorgt angesichts der Situation im Ost- und Südchinesischen Meer und unterstreichen die grundlegende Bedeutung der friedlichen Regelung und Beilegung von Streitigkeiten.“
Dass das Wort ‚China‘ in der Mitteilung kein einziges Mal fällt, obwohl allen Seiten klar ist, gegen wen sie sich richtet, ist alles andere als ein Fall von diplomatischer Zurückhaltung seitens der G7. Das entspricht vielmehr der Stellung, von der aus die G7-Staaten diesen „Inselstreit“ überhaupt ins Visier nehmen: Sie sprechen als Hüter eines Regelwerks, dessen Gültigkeit sich über alle Ecken des Globus, Land und See, erstreckt. Was sich dort abspielt, spielt sich unter der Aufsicht dieser Mächte ab, hat also stets nach ihren Spielregeln abzulaufen. Ihre ordnungsstiftende und -schützende Gewalt ist also offenbar überhaupt nicht bloß punktuell und fallbezogen; die G7 beziehen Chinas Vorgehen auf ihre Ordnung und deren unbestreitbare Gültigkeit als Ganzes – eine Klarstellung, die insofern gar nicht bloß China betrifft. Die Interessen, die China in dieser Gegend durchzusetzen sucht, sind also keine, zu denen man sich von gleich zu gleich, von Konkurrent zu Konkurrent stellt, sondern ein Fall für Autoritäten, die eine ganze Weltordnung zu verantworten haben. Wenn also China seine Ansprüche nicht relativiert, ist das aus dieser Perspektive nicht bloß ein Verstoß gegen die Ansprüche, die die USA und ihre Kumpane im G7-Kreis an die Weltordnung stellen, sondern überhaupt gegen die Ordnung. Die soll sich wiederum dadurch auszeichnen, dass sie
regelbasiert
undfriedlich
ist, auf jeden Fall kein Fall von Gewalt und Aggression, sondern eine Angelegenheit im Interesse aller. Mit dieser Tour verleihen die für diese Ordnung verantwortlichen Mächte ihrer durchgesetzten Ordnungsgewalt die höhere Weihe eines über allen stehenden Rechts, welches Frieden und Gerechtigkeit gegen Gewalt und Streit verbürgt. Also gilt hier ebenfalls: Auch wenn auf dem Gipfel keine neuen Maßnahmen beschlossen werden, wird das Wesentliche an allen Maßnahmen, die daraus folgen mögen, damit schon ausgedrückt: die eigene Zuständigkeit für die Weltordnung, die kein Interesse ist, das die anderen Staaten ins Verhältnis zu ihren eigenen setzen können, sondern das absolut zu achtende Recht, das den Rahmen festlegt, innerhalb dessen staatliche Interessen überhaupt zu fassen und zu verfolgen sind.
2.
So wenig selbstverständlich diese Zuständigkeit ist, so wenig selbstverständlich ist auch der Umstand, dass die G7-Staaten diese Zuständigkeit gemeinsam, als Kollektiv ausüben. Mit jeder mehr oder weniger albernen, in zahlreichen Pressefotos festgehaltenen Demonstration von zwischenmenschlicher Freundschaft und Verbundenheit zwischen den Chefs unterstreichen diese, wie sehr sie ebensolche Demonstrationen nötig haben. Sie zeigen auf ihre Art dann eben, was für ein seltsam widersprüchliches Anliegen es ist, Weltordnung als Gruppenarbeit zu veranstalten. Sie legen mit jedem Treffen davon Zeugnis ab, was für ein Widerspruch ihre Kumpanei als imperialistische Staatsgewalten ist – und zugleich auch, wie produktiv dieser Widerspruch für sie ist. Denn so bezeugen sie ihren Willen, gegeneinander um den Nutzen aus der Weltordnung zu konkurrieren, einander dabei aber die Rolle als Mit-Richter über ihre Konkurrenz zuzuerkennen und zuzugestehen. Diese Dialektik führen sie nicht nur mit demonstrativen Bezeugungen von Respekt und Verbundenheit, sondern auch an jedem einzelnen Gipfelthema vor:
*
Die G7 sorgen sich zum Beispiel um die Weltkonjunktur:
„Das weltweite Wirtschaftswachstum ist von höchster Priorität.“
Wirtschaftswachstum
– bei diesem Stichwort denken
die G7-Staaten wie alle anderen in der Regel nur an das
eine, nämlich an ihr eigenes. Für den Erfolg ihrer
Wirtschaft nehmen diese Staaten einander als Quelle und
Mittel, als Märkte und als Lieferanten in Anspruch – und
zugleich als Konkurrenten um den weltweiten
Markt ins Visier, die es zu besiegen, zu verdrängen gilt.
Das gilt erst recht in einer weltweiten Krise, in der es
um dieses Wachstum aktuell für alle nicht gut bestellt
ist. Oder, um es in der vornehm zurückhaltenden Sprache
der Gipfelerklärung auszudrücken: Das weltweite
Wirtschaftswachstum bleibt moderat und hinter seinem
Potenzial zurück, während die Risiken eines schwachen
Wachstums weiterhin bestehen.
In der Lage fallen die
Ansprüche, die sie an die Wirtschaftspolitik der jeweils
anderen anlegen, umso schärfer aus: Da wollen die einen
mit großangelegten Konjunktur- und Investitionsprogrammen
die Stellung ihrer Währungen als Weltgelder ausnutzen, um
ihre Wirtschaften wieder auf die Beine zu bringen bzw.
auf den Beinen zu halten. Sie verlangen dann vom
Weltgeldhüter Deutschland, seinerseits die dafür nötige
Staatsverschuldung sowohl bei den europäischen Partnern
als auch bei sich zu erlauben, um für jene Kaufkraft zu
sorgen, die die anderen bräuchten, um mit ihrem eigenen
Wachstum zum weltweiten „beizutragen“. Umgekehrt besteht
Deutschland im Interesse der Solidität seiner Weltwährung
darauf, dass Reformen der einzig nachhaltige Weg zum
Wachstum sind – also auch darauf, kein Stück seines
Vorsprungs in puncto Wettbewerbsfähigkeit preiszugeben,
mit dem es sein Wachstum erzielt. Diese
Auseinandersetzung, die längst vor dem Gipfel ihren
Anfang genommen hat, kommt auch auf dem Gipfel nicht zu
ihrem Ende; doch als ein Fall von Uneinigkeit
zwischen den Mitgliedern der Staatenelite soll das eben
nicht gelten. Sie einigen sich vielmehr darauf, die
vielen wirtschaftspolitischen Konkurrenzstrategien als
Ausdruck von länderspezifischen Gegebenheiten
zu
verstehen, die es zu berücksichtigen
gilt; der
Antagonismus ihrer Politik wird in dieser Optik zum
gemeinsamen Willen, eine wirkungsvollere und
ausgewogenere Mischung politischer Instrumente
einzusetzen
, die es auf kooperative Weise zu
verstärken
gilt, um rasch eine starke, nachhaltige
und ausgewogene Wachstumsstruktur
für alle
Beteiligten zu erzielen: Wir verpflichten uns, die
wirtschaftlichen Herausforderungen gemeinsam zu meistern,
und gleichzeitig die Grundlagen für ein stärkeres,
langfristiges weltweites Wachstum zu legen.
Wenn die G7-Mächte ihre Konkurrenzstrategien derart zu
lauter Beiträgen zum gemeinsamen Anliegen namens Wachstum
der Weltwirtschaft umdefinieren, gehört einerseits nicht
viel dazu, die entsprechende Heuchelei darin aufzuspüren.
In der erschöpfen sich ihre Bekenntnisse zur
Notwendigkeit eines weltweiten Wachstums, für das sie
alle miteinander sorgen wollen, aber nicht. Auf diese
Weise machen sie andererseits nämlich kenntlich, wie sie
ihr jeweils nationales Wachstumsinteresse überhaupt nur
zu verfolgen trachten: Jede von ihnen will für ihren
nationalen Wachstumsegoismus nicht weniger als den
Weltmarkt ausnutzen, der nun einmal im
Wesentlichen aus den anderen großen kapitalistischen
Industrienationen und im Weiteren aus den vielen
minderbemittelten Nationen besteht. Die sollen alle mit
ihren ökonomischen Potenzen und Anstrengungen der globale
Markt sein, den man jeweils für sich nach Kräften
abzuschöpfen, von dessen Erträgen man die als Beiträger
beanspruchten ‚Partner‘ also zugleich nach Kräften
auszuschließen gedenkt. Auch wenn dazu nichts
Konkreteres als Bekenntnisse
zu haben ist, die
G7-Staaten sich zu keinen neuen oder anderen Maßnahmen
bewegen lassen – den Anspruch machen sie in
aller Form geltend.
*
Für die Einlösung dieses Anspruchs unterstreicht die G7 ihren Willen zum beherzten handelspolitischen Engagement:
„Wir bekräftigen unser Eintreten für offene Märkte und die Bekämpfung aller Formen von Protektionismus. Um den Freihandel weiter zu fördern, verpflichten wir uns, das regelgestützte multilaterale Handelssystem zu stärken und die WTO-Verhandlungen voranzutreiben. Wir ermutigen auch zu Anstrengungen zur Handelsliberalisierung durch regionale Handelsabkommen wie ... TPP, ... WPA, ... TTIP, ... CETA.“
Auch hier bringen die G7-Staaten zum Ausdruck, wie sehr
sie ihr ökonomisches Verhältnis zueinander als eine
konfliktreiche Mischung aus Ausnutzung, Angriff und
Verteidigung kennen. Wenn sie die ‚Protektion‘ zur
Sprache bringen, die sie einander reihum vorhalten und
selber praktizieren, dann zeigen sie, wie sehr sie
einander als auszunutzende Quelle und zugleich als
ernstzunehmende Bedrohung für den eigenen
wirtschaftlichen Erfolg betrachten und behandeln. Und
gerade bei den diversen Handelsabkommen, die sie in der
Pipeline haben, ist ihnen klar, dass sie dabei keineswegs
gemeinsame Sache machen; dass ihre regionalen
Abkommen nur insofern nicht als eine Abkehr vom global
angelegten Hauen und Stechen namens ‚WTO-Verhandlungen‘
zu verstehen sind, als sie sich damit regional
stärken wollen, um ihre Verhandlungsmacht auf Kosten der
anderen globalen Handelspartner zu stärken.
Diese Beteuerung ihres gemeinsamen guten Willens ist
nicht einfach eine Lüge um der Demonstration ihrer
Einheit willen, sondern ist die stets erneuerte
Untermauerung ihres Anspruchs, bei aller Regionalität
ihrer derzeitigen Handelsabkommen nicht weniger als den
Welthandel auf dem Weltmarkt als das Feld zu
bestellen, auf dem sie ihr Wachstum erzielen wollen. Für
ihn sind sie weiterhin zuständig, auch und
gerade wenn sie ihn nicht explizit als den Gegenstand
ihrer Verhandlungen bewirtschaften. Sie definieren, was
auf diesem Weltmarkt in welchen Sektoren und in welcher
Hinsicht als problematische Störung zählt.
*
Zum Beispiel auf dem Weltmarkt für Stahl:
„Wir erkennen an, dass globale Überkapazitäten in Industriezweigen, insbesondere in der Stahlindustrie, eine drängende strukturelle Herausforderung darstellen, die weltweit Auswirkungen hat, und dass dieses Problem dringend angegangen werden muss, indem marktverzerrende Maßnahmen abgeschafft werden und auf diese Weise die Funktionsfähigkeit der Märkte gestärkt wird.“
Die Unternehmer, die als Konkurrenten – gerade aus dem
Club der größten Volkswirtschaften – weit mehr
hergestellt haben, als sich auf dem Weltmarkt absetzen
lässt, kämpfen gegenwärtig darum, wer von ihnen die
Entwertung dieser Überkapazitäten zu tragen hat. Diesen
Kampf, vor allem in Schlüsselindustrien wie Stahl, einem
Grundstoff für alle möglichen Produktionen, wollen die
sieben Weltmächte nicht einfach den Unternehmern
überlassen – dafür ist er ihnen offenkundig zu wichtig.
Und wenn sie in diesen Kampf als Schutzpatrone ihrer
Unternehmen eingreifen, dann eben nicht als Schutzpatrone
ihrer jeweiligen Unternehmen, sondern als
überparteiliche, also übergeordnete Schutzherrn eines
funktionsfähigen Weltmarktes überhaupt. Und mit dem
klaren Überblick, den die G7-Mächte von dieser Warte aus
genießen, können sie genau unterscheiden, welche dieser
globalen Überkapazitäten
das Produkt
marktverzerrender Maßnahmen
sind, die nicht bloß
eine Herausforderung
, sondern ein Problem
darstellen. Und das sind exakt die chinesischen
Industrieprodukte – schon wieder ohne China beim Namen zu
nennen; diese Kapazitäten sind nicht nur zu viel für die
Absatzbedürfnisse der Unternehmen, die die G7 ihre
eigenen nennen, sondern genau deswegen zu viel überhaupt
für den Markt, der durch die Bedürfnisse ihrer
Unternehmen definiert ist. Auch hier also wenig
Zukunftsweisendes
, dafür immerhin die Klarstellung,
wem der Weltmarkt gehört.
*
Etwas anderer Natur ist das Gipfelthema
„Flüchtlinge“. Hier geht es nicht um
einen Gegenstand der Konkurrenz um den Nutzen
aus der Weltordnung, sei es ökonomischer oder
strategischer Art, sondern um den Umgang mit einer
Last, die unter ihrer gemeinsamen Aufsicht
anfällt: Wegen Krieg und Verelendung in diversen Ecken
des Globus halten die fliehenden Massen es daheim nicht
mehr aus, brechen dorthin auf, wo sich der Reichtum
immerhin befindet, der ihnen abgeht, und ein Frieden
herrscht, der ein Leben überhaupt ermöglicht. Der Umgang
mit der weltweiten Flüchtlingsfrage ist bekanntlich ein
besonderes Anliegen Deutschlands – eines Landes, das
nicht einfach für sich seine Flüchtlingspolitik
beschließt, sondern gleich als eine Macht auftritt, die
allen anderen Staaten – nicht nur, aber erst recht seinen
europäischen Partnern – den einschlägigen Umgang mit dem
fliehenden Elend vorgibt. Auf der Ebene imperialistischer
Realpolitik hat Bundeskanzlerin Merkel schon im Vorfeld
alle Erwartungen der heimischen Öffentlichkeit gedämpft,
sie werde von dem Gipfel mit stattlichen Zusagen in
Sachen Geld und Aufnahmebereitschaft heimkehren – und
dieser Realismus hat sich auf dem Gipfel ja auch
bewahrheitet. Aber der Witz eines solchen Gipfels liegt
ja sowieso auf einer anderen Ebene. Und auf
dieser Ebene lässt sich Merkel nichts von ihrem
humanistischen Schneid abkaufen: Sie lobt Kanada für
seine Bereitschaft, immerhin 25 000 Flüchtlinge
aufzunehmen, als Beispiel, das auch hervorgehoben
werden muss
– und hebt damit vor allem hervor, dass
Deutschland mit seiner Million aufgenommener Flüchtlinge
quasi natürlich die Rolle desjenigen beanspruchen darf,
der den Rest der Versammelten daran misst, ob und wie
sehr die zur Lösung des ‚Flüchtlingsproblems‘ beitragen.
Auf diese Weise besteht sie jenseits aller praktischen
Absagen seitens der anderen G7-Mächte auf der Anerkennung
dieses Problems als Weltproblem, also als zum
Umkreis der Themen gehörend, um die sich die
Weltregierung zu kümmern hat. Die Bedeutung, die dem
Thema damit zuerkannt wird, ist dann vor allem
wegen der Bedeutung entscheidend, die wiederum der
Macht zuerkannt wird, die das Thema auf die
Tagesordnung gesetzt hat. Und das ist schon wieder nicht
einfach der Aspekt, auf den es bloß auf diesem besonderen
Gipfel ankommt, sondern eigentlich das Wesen der Sache
selber: In der Flüchtlingsfrage stellt sich Deutschland
überhaupt als eine Macht auf, die eine Art
Weltsozialpolitik betreibt und dabei allen Staaten ihre
jeweilige Rolle und Aufgabe zuweisen will, bis hin zu den
konkurrierenden Obermächten, die in Syrien den Kampf um
ihre Ordnungszuständigkeit führen. Auch wenn von der G7
wenig Geld fließt und wenig Aufnahmebereitschaft kommt,
wird der Status der deutschen Macht ein ganzes
Stück weit bestätigt.
*
Und so geht es weiter mit den gut vierzig Themen,
Krisenfällen und globalen Herausforderungen, die die G7
in ihrem Abschlusskommuniqué dokumentiert: von den vielen
Kriegen in der arabischen Welt über das Scheitern einiger
Staaten in Afrika bis hin zum Klimawandel und der
besonders schweren Lage der Frau. Was auch immer die
G7-Staaten in diesem oder jenem Fall beschließen und was
auch immer daraus im Einzelnen folgen möge – beim Stoff,
in dem die kritische Öffentlichkeit lauter bloß
vollmundige Versprechungen
entdeckt, kommt es vor
allem auf die Masse an. Genau damit dokumentiert die G7
den Umfang ihrer offensichtlich allumfassenden
Zuständigkeit. Dabei mag sich die G7 zu diesen vielen
Problemen
als eine Instanz stellen, die sich
eindämmend, beschwichtigend, mildernd etc. um viele Fälle
von ‚Unordnung‘ kümmert, die es wieder einzurenken gilt –
doch die Wahrheit ist das nicht. Wenn diese sieben
Staaten schon darauf bestehen, die informelle
Weltregierung
, also die Staaten zu sein, denen die
Zuständigkeit für diese Ordnung in aller
Selbstverständlichkeit zufällt; und wenn sie darauf
bestehen, dass das Regelwerk, für das sie sich
starkmachen, nicht bloß die Ordnung ist, die sie erst
durchsetzen wollen, sondern das Regelwerk, das für die
Welt längst gilt und auf das sich die Weltgemeinschaft
längst geeinigt hat, dann geben sie nicht nur seitenlang
zu Protokoll, was an Streitigkeiten, Armut etc. zur
Ordnung gehört, für die sie zuständig sind. Sie
demonstrieren damit auch, wie sehr diese Ordnung
gilt: In dieser Ordnung sorgt
jedenfalls das reihenweise Scheitern von Staaten und die
Verelendung ganzer Völker offenbar für kein bisschen
praktischen Einspruch gegen die Ordnung selber, sondern
für eine massenhafte Flucht der bessergestellten
Verelendeten ins imperialistische Zentrum, dessen
Herrschaft über die Weltordnung feststeht. In diesem
Regelwerk gilt offenbar nach wie vor, dass Öl- und
Gasvorkommen im Südchinesischen Meer nicht einfach das
sind, sondern ein bedeutendes Bereicherungs- und
Machtmittel von Staaten, auf dessen Besitz es daher
unbedingt ankommt. Diese regelbasierte Ordnung hat der
Marktwirtschaft offenbar einen so festen Rahmen gegeben,
dass die Kapitale der Welt es über die Jahre nicht bloß
zu einer ansehnlichen Akkumulation von Kapital, sondern
zu einer weltweiten Krise gebracht haben – was im
Kapitalismus bedeutet: zu einer allgemeinen
Überakkumulation, einem Zuviel an
Reichtum; zu viel deswegen, weil der sich nicht mehr
ausreichend gewinnbringend vermehren lässt. Und so solide
ist diese Ordnung, in der sich diese höchst vernünftige
Wirtschaftsweise abspielt, dass diese Krise für alle
Seiten genau zweierlei verlangt: erstens die Schaffung
von mehr marktwirtschaftlichem Reichtum in
Konkurrenz gegeneinander und zweitens die wechselseitige
Zusicherung ihres Willens, mit den Lasten und
Schwierigkeiten dieser Reichtumsproduktion so zu
verfahren, dass sich an ihr selber nichts ändert. Ein so
erfreuliches Gipfelergebnis, nämlich die Festigkeit des
Regelwerks, das so viele Streitfälle und Ordnungsprobleme
produziert, verdient ein entsprechendes Schlusswort:
„Wir sehen unserem Treffen 2017 unter dem Vorsitz Italiens erwartungsvoll entgegen.“