Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Nordirland: Von den Tücken eines Friedensprozesses
Der Friedensprozess im Bürgerkrieg in Nordirland will nicht gelingen. Es wird weiter geschossen – trotz des Abkommens. Oder ist dieses gerade der Ausgangspunkt für eine der „blutigsten“ Perioden seit Jahren?!
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Nordirland: Von den Tücken eines Friedensprozesses
Im letzten Jahr noch als Meisterleistung der britischen
und irischen Diplomatie gefeiert und mit dem Nobelpreis
geehrt, wird nun von einer Blockade des
Friedensprozesses in Nordirland
berichtet. Die in dem
sog. „Karfreitagsabkommen“ von 1998 vorgesehene Bildung
eines nordirischen Ministerrats unter Einschluß der
gewählten Vertreter beider Bürgerkriegsparteien – der für
den Verbleib Nordirlands bei Großbritannien eintretenden
Unionisten auf der einen und der für ein vereinigtes
Irland kämpfenden Nationalisten auf der anderen Seite –
will nicht gelingen, die Abgabe der Waffen der
paramilitärischen Verbände beider Seiten – bis zum Mai
des Jahres 2000 vorgesehen – scheitert schon beim ersten
Auftakt. Das hat seinen Grund.
1. Die bange Frage nach der Haltbarkeit des vereinbarten Friedensprozesses bewegt die Öffentlichkeit schon länger. Als dessen unbedingte Parteigängerin interessiert sie sich dabei allerdings weniger für die offensichtlichen Widersprüche des Abkommens, sondern wägt die Chancen seiner Durchsetzung in Form der Frage ab, ob zwischen den „Gemäßigten“ und den „Radikalen“ jeweils beider Seiten wohl ein Ausgleich zustandekommen könne. In der Tat wird den guten Patrioten auf der unionistischen wie der republikanischen Seite, von denen sehr viele bereit waren und noch immer sind, ihr Leben für den Sieg der eigenen Sache zu opfern, einiges abverlangt: Sie sollen nicht einen vorübergehenden Waffenstillstand schließen, sondern ihren Kampf auf Dauer einstellen, sich entwaffnen und darüber den praktischen und endgültigen Verzicht auf die Durchsetzung des Anliegens dokumentieren, für das sie gegeneinander antraten. Trösten dürfen sie sich dafür damit, daß ihrem Anspruch auf Übernahme der Macht in Nordirland ein Stück weit Recht gegeben wird – beiden gemeinsam allerdings: Die beiden miteinander verfeindeten Standpunkte sollen sich auf einen übergeordneten dritten beziehen, fortan friedlich miteinander koexistieren und das Gewaltmonopol, das sie bisher exklusiv gegen die jeweils andere Seite beansprucht hatten, mit dem Feind teilen und es mit ihm gemeinsam ausüben. Kein Wunder, daß da so mancher treue Anhänger Verrat wittert.
Nun soll es ja schon häufiger vorgekommen sein, daß aus ehemaligen Terroristen äußerst respektable Staatsmänner wurden. Nur geht dieser sauberen Karriere in aller Regel voraus, daß die umkämpfte Frage, wer das Gewaltmonopol ausübt, definitiv zu eigenen Gunsten geklärt worden ist. Und genau diese Klärung hat in Nordirland – noch – nicht stattgefunden. Die Besonderheit des nordirischen Friedensprozesses besteht nämlich darin, daß die beiden Bürgerkriegsparteien Anhänger der auf das Abkommen drängenden Staaten sind, die sich in bezug auf Nordirland zu einer gemeinsamen Politik entschlossen haben. Das sind die Subjekte, die ihren Gegensatz in der Hoheitsfrage über einen Zipfel der irischen Insel aus der Welt schaffen wollen, und auf die Beilegung ihres Streits wollen sie ihre bisher aktiv tätigen Parteigänger verpflichten: Weil die nach ihrem Willen in Zukunft Nordirland regieren sollen, werden sie nicht zur bedingungslosen Kapitulation aufgefordert, sondern gemeinsam als Sieger ihrer Sache anerkannt. Als gleichberechtigte Parteien sollen sie dann friedlich konkurrieren, sich nach dem Motto „ballots not bullets!“ wie ganz normale „zivile“ Parteien dem Wählervotum stellen und eine gemeinsame Regierung bilden. Die bullets freilich haben sie noch, was aber nach dem Willen der Paten dieser Befriedung nichts weiter ausmachen soll. Die beiden Lager sollen ihre Waffen einfach als eine Angelegenheit behandeln, die ihre politischen Anliegen weiter gar nicht berührt. So bleiben Unionisten wie Nationalisten, was sie sind, und vorläufig auch noch im Besitz ihrer Waffen; aber regieren sollen sie schon einmal gemeinsam: Weil die britische und irische Regierung die Terrororganisationen bzw. deren sog. politische Flügel zu Koalitionspartnern erklären, sollen die sich als Koalitionäre benehmen, davon Abstand nehmen, ihre jeweilige politische Version Nordirlands gegeneinander durchzukämpfen und sich schiedlich-friedlich auf ein gemeinsames Regierungsprogramm einigen.
2. Das Projekt ist der Sache nach absurd. Aber eben so wollen die Republik Irland und Großbritannien die nordirischen Angelegenheiten regeln. Und die Führer der (Ex-)Terrororganisationen akzeptieren diese Regelung dem Prinzip nach. Sie rechtfertigen das in sie gesetzte Vertrauen und machen Politik – allerdings etwas anders, als ihre Paten es sich vorgestellt hatten. Der aus den Wahlen zur Versammlung hervorgegangene Erste Minister Nordirlands und Chef der Unionisten, David Trimble, läßt sich rechtzeitig vor dem Jahrestag des Abkommens ein Junktim einfallen, das im „Karfreitagsabkommen“ so nicht vorgesehen war: Bevor die IRA nicht mit ihrer Entwaffnung beginnt, will er keine Mitglieder von Sinn Fein in seiner Regierung akzeptieren. Er macht damit eine alte Forderung der unionistischen Basis zur conditio sine qua non des Friedens in Nordirland, und die wird von der irisch-republikanischen Seite postwendend zurückgewiesen. Für die sind allein schon symbolische Gesten, die als freiwillige Selbstentwaffnung zu verstehen wären, eine untragbare Zumutung – denn bevor sie ihre Waffen abgibt, will sie zuerst höchstförmlich an der Macht in Nordirland beteiligt werden. Der Streit hat seinen politischen Sinn und Zweck: Trimble will die republikanische Seite zu einem vorzeitigen Verzicht auf ihre Waffen erpressen, weil diese damit selbst ihre Existenz als bewaffnete Organisation für unvereinbar mit ihrer Existenz als Regierungspartei erklären würde. Er verlangt den Leuten von Sinn Fein gewissermaßen das Eingeständnis ab, im Unterschied zu den Unionisten bis jetzt gar nicht mit-regierungsfähig, weil doch „bloß“ eine Terrororganisation zu sein, und gerade dieses Eingeständnis bekommt er von der Führung von Sinn Fein nicht. Die nimmt zwar die Devise „ballots not bullets!“ durchaus ernst und will Bestandteil einer künftigen nordirischen Exekutive sein. In einer vorzeitigen Waffenabgabe entdeckt sie aber – nicht zu Unrecht – die an sie gerichtete Aufforderung, endlich anzuerkennen, daß sie einfach kein mit den Unionisten gleichberechtigter Partner bei der Regelung der nordirischen Angelegenheiten ist. Und dies käme der freiwilligen Räumung genau der Position gleich, die sie nach ihrem eigenen Selbstverständnis den Briten in einem jahrzehntelangen „Befreiungskampf“ abgerungen hat.
3. Genau so nehmen die beiden
Bürgerkriegsparteien den Auftrag, sich nur noch politisch
und nicht mehr militärisch auseinanderzusetzen, also an:
Auf Grundlage ihrer nach wie vor unversöhnten
Gegnerschaft wenden sie ihre im „Karfreitagsabkommen“
enthaltene Anerkennung als Bestandteile einer künftigen
nordirischen Exekutive erpresserisch gegeneinander. Das
ruft selbstverständlich wieder die Paten auf den Plan,
weil die nämlich ihren Willen, wonach sich die
ehemaligen Bürgerkriegsparteien gefälligst auf eine
gemeinsame Exekutive zu einigen haben, blockiert
sehen. Clinton und Blair treffen sich mit dem irischen
Ministerpräsidenten Ahern sowie mit Trimble und Gerry
Adams, dem Führer von Sinn Fein, im Weißen Haus –
vergebens, denn auch dem Chef der Weltmacht gelingt es
nicht, die Blockade zu überwinden
. Am 28.3.
veröffentlichen Blair und Ahern im „Observer“ einen
gemeinsamen Aufruf an die beiden „Konfliktparteien“:
„Wir sind bereit, mit beiden Parteien einen Ausweg aus der gegenwärtigen Blockade zu finden… Die Waffe muß für immer aus der Politik in Nordirland verschwinden… Wir wollen mit beiden Parteien herausfinden, wie wir dieses Prinzip umsetzen können… Was könnte bei allen Parteien das nötige Vertrauen schaffen, um den nächsten Schritt zu unternehmen, eine Exekutive zu ernennen?… Gibt es eine Abfolge von Ereignissen, die uns dies erleichtern würde?… Wie kann ein wirklicher Fortschritt bei der Waffenabgabe erreicht werden?“
Diesen überaus milden und wohlwollenden, beinahe schon flehentlich anmutenden Tönen fügen Großbritannien und die Republik Irland dann noch ein Angebot zu Gesprächen mit den Parteien hinzu. Als hätten nicht bereits hunderte von Gesprächen zu keinem anderen Thema als der Reihenfolge von Entwaffnung und Regierungsbeteiligung stattgefunden, erwecken beide Regierungen den Schein, es gelte in diesen Fragen gewissermaßen Neuland zu betreten und überhaupt erst genau zu sondieren, unter welchen Bedingungen ein Kompromiß aushandelbar sein könnte. Das bezeugt einerseits, daß sie mit dem bisherigen Stand bei der Schaffung einer funktionierenden nordirischen Exekutive unzufrieden sind und diesbezüglich auf Fortschritte drängen. Andererseits verrät die Art und Weise, in der diese Unzufriedenheit vorgebracht wird, den nach wie vor tiefen Respekt, den die beiden Staaten den ehemaligen Aktivisten ihres politischen Standpunkts entgegenbringen: Der Fundamentalismus der IRA-Terroristen, eine auch nur symbolische Waffenabgabe grundsätzlich zu verweigern, bevor Sinn Fein an der Regierung beteiligt wird, wird von ihnen ebenso als im Prinzip vertretbare Position anerkannt wie der der Unionisten, die auf freiwilliger Selbstentwaffnung der Gegenseite bestehen. So verstehen sich dieselben Staaten, die eifersüchtig über ihr Gewaltmonopol wachen und es beim Anflug der leisesten Gefährdung rücksichtslos durchzusetzen pflegen, hier auf einen ungemein toleranten Umgang mit der Bewaffnung von Untertanen. Wenn sie sich dazu entschlossen haben, ein neues Gewaltmonopol zu etablieren, lassen sie dessen auserkorenen Inhabern schon einiges an Konkurrenz durchgehen…
4. Und die Freiheit, die sich die
Terrororganisationen beider Seiten – gewissermaßen im
Vorgriff auf die ihnen zugedachte Exekutivfunktion –
herausnehmen dürfen, nehmen sie sich auch: Die
sogenannten punishment attacks
auf mit dem
„Karfreitagsabkommen“ unzufriedene Dissidenten beider
Lager haben dafür gesorgt, daß die Periode des
Friedensprozesses laut „Observer“ eine der blutigsten
seit Jahren
ist – und im Interesse eines breiteren
Friedens
mit der IRA und den Unionisten verzichtet
die britische Regierung auf eine allzu ausufernde
Strafverfolgung. Bevor die Waffe für immer aus der
nordirischen Politik verschwinden
kann, wird also
erst einmal ganz viel von ihr Gebrauch gemacht.