Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Fall Hohmann:
Von der politisch korrekten und unkorrekten Entsorgung der deutschen Vergangenheit
Der CDU-Politiker Hohmann bezeichnet in einer Rede die Juden als „Tätervolk“ und wird aus der CDU ausgeschlossen, weil er sich „außerhalb des Verfassungsbogens gestellt“ habe. Hohmann hält die Einordnung der NS-Vergangenheit als „Schuld“ für überholt und eine Umdeutung für überfällig. So soll Deutschland sich von einer moralischen Belastung befreien und zu einer positiven Betrachtung seiner Vergangenheit kommen. Damit fällt er hinter das Programm der deutschen Demokratie zurück, das die NS-Verbrechen als einzigartig einstuft und damit für jetzt und alle Zeiten aus deutscher Politik aussondert – so wird die Nation effektiver reingewaschen.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Der Fall Hohmann:
Von der politisch korrekten und
unkorrekten Entsorgung der deutschen Vergangenheit
Erstmals in der Bundestagsgeschichte
(SZ, 14.11.03) wird ein
CDU-Bundestagsabgeordneter aus seiner Fraktion
ausgeschlossen. Mit seiner Bezeichnung der Juden als
„Tätervolk“ in einer Rede am Tag der Deutschen Einheit
habe er sich „außerhalb des Verfassungsbogens gestellt“
(CSU-Chef Stoiber). Er
vertrete ein Gedankenbild und inhaltliches Konstrukt,
das mit der Demokratie in Deutschland nicht vereinbar
ist.
(CDU-Chefin Merkel, SZ
12.11.)
Der Betroffene versteht die Welt bzw. seine Partei nicht mehr. Er erklärt, „böswillig falsch interpretiert“ worden zu sein. Den ihm nahe gelegten freiwilligen Austritt aus der Fraktion lehnt er ab. Seine Empörung ist aufrichtig: Welcher andere Tag als der, an dem die Nation sich selbst feiert, könnte geeigneter sein, endlich eine von den „Schatten der Vergangenheit“ freie Selbstbeweihräucherung einzufordern? Und was hat er dabei falsch gemacht?
Die Rede
„Unsere Erbsünde lähmt das Land… Schwere Sorgen macht eine allgegenwärtige Mutzerstörung im nationalen Selbstbewusstsein, die durch Hitlers Nachwirkungen ausgelöst wurde. Das durch ihn veranlasste Verbrechen der industrialisierten Vernichtung … besonders der europäischen Juden lastet auf der deutschen Geschichte… Die Schuld von Vorfahren an diesem Menschheitsverbrechen hat fast zu einer neuen Selbstdefinition der Deutschen geführt … Jede andere Nation neigt eher dazu, die dunklen Seiten ihrer Geschichte in ein günstigeres Licht zu rücken. Vor beschämenden Ereignissen werden Sichtschutzblenden aufgestellt. Bei den anderen wird umgedeutet… Solche gnädige … Umdeutung wird den Deutschen nicht gestattet. Das verhindert die zurzeit in Deutschland dominierende politische Klasse und Wissenschaft mit allen Kräften. Sie tun „fast neurotisch auf der deutschen Schuld beharren“, wie Joachim Gauck es am 1.10.03 ausgedrückt hat… Die Deutschen als Tätervolk. Das ist ein Bild von großer, international wirksamer Prägekraft geworden. Der Rest der Welt hat sich hingegen in der Rolle der Unschuldslämmer … bestens eingerichtet… Auf diesem Hintergrund stelle ich die provozierende Frage: Gibt es auch beim jüdischen Volk, das wir ausschließlich in der Opferrolle wahrnehmen, eine dunkle Seite in der neueren Geschichte oder waren Juden ausschließlich die Opfer?“
Es folgen viele einschlägige Zahlen, um den überproportionalen Anteil von Juden an den Untaten der Bolschewiki zu belegen.
„Juden waren in großer Anzahl sowohl in der Führungsebene als auch bei den Tscheka-Erschießungskommandos aktiv. Daher könnte man Juden mit einiger Berechtigung als „Tätervolk“ bezeichnen. Das mag erschreckend klingen. Es würde aber der gleichen Logik folgen, mit der man Deutsche als Tätervolk bezeichnet… wir müssen genauer hinschauen. Die Juden, die sich dem Bolschewismus und der Revolution verschrieben hatten, hatten zuvor ihre religiösen Bindungen gekappt. Sie waren nach Herkunft und Erziehung Juden, von ihrer Weltanschauung her aber meist glühende Hasser jeglicher Religion. Ähnliches galt für die Nationalsozialisten… Verbindendes Element des Bolschewismus und des Nationalsozialismus war also die religionsfeindliche Ausrichtung und die Gottlosigkeit. Daher sind weder „die Deutschen“, noch „die Juden“ ein Tätervolk. Mit vollem Recht aber kann man sagen: Die Gottlosen mit ihren gottlosen Ideologien, sie waren das Tätervolk des letzten, blutigen Jahrhunderts… Daher … plädiere ich entschieden für eine Rückbesinnung auf unsere religiösen Wurzeln und Bindungen. Nur sie werden ähnliche Katastrophen verhindern, wie sie uns Gottlose bereitet haben… Deswegen ist es auch so wichtig, dass wir den Gottesbezug in die europäische Verfassung aufnehmen… Mit Gott in eine gute Zukunft für Europa! Mit Gott in eine gute Zukunft besonders für unser deutsches Vaterland.“ (zitiert nach: www.konkret-verlage.de/kvv)
Um die Aktualität und Dringlichkeit seines Themas zu
unterstreichen, stellt der Redner es in den größeren
Zusammenhang der nationalistischen Debatte um die
Lähmung
des Standorts Deutschland – einer Debatte,
die den Bewohnern dieses Standorts nur mehr das eine
Interesse zubilligt, sich für den Aufschwung Deutschlands
ins Zeug zu legen – und bereichert den diesbezüglichen
Meinungsaustausch um eine nationalmoralische Diagnose:
Ausgerechnet heute, 60 Jahre „danach“, wo laut
Meinungsumfragen mehr als die Hälfte der Heranwachsenden
schon nicht mehr weiß, was „Holocaust“ bzw. „Auschwitz“
bedeuten, leiden die Deutschen mehr denn je unter dem
langen Vorstrafenregister ihrer Vorfahren
bzw.
unter Hitlers Nachwirkungen
. Hohmann denkt hier –
was auch sonst, schließlich repräsentiert er sein
Vaterland! – als Patriot: Er geht ganz
selbstverständlich davon aus, dass die Nation alle, die
ihr angehören, nicht bloß materiell, sondern auch
moralisch vereinnahmt und zu einer „Schicksals- und
Verantwortungsgemeinschaft“ zusammenschweißt. Jedem, der
zufälligerweise deutsche Ahnen hat und den die hiesige
Staatsgewalt, ob er will oder nicht, als ihren Bürger mit
allen Rechten und Pflichten in Anspruch nimmt, erlegt die
Mitgliedschaft in der Nation eine Art ideeller Haftung
auf für alles, was Deutsche vor ihm „verbrochen“ haben,
gleichgültig, ob als Führer oder als dessen mehr oder
weniger „willige Vollstrecker“, ob noch lebendig oder
längst verblichen. Als ein Stück Volk ist jeder
von der Schuld von Vorfahren
betroffen und hat
sich ihr zu stellen, so dass sich die Frage „Was geht
mich Hitler an?“ verbietet. Was im normalen
zwischenmenschlichen Umgang als durchaus wahnhaft gelten
würde, nämlich sich für die Taten und Untaten wildfremder
Menschen in irgendeiner Weise zuständig zu erklären und
moralisch zur Verantwortung ziehen zu lassen, das
versteht sich von selbst, ja ist geradezu geboten, wenn
und weil es um den nationalen Zusammenhang geht.
Von all dem geht auch der Redner wie von einer
Selbstverständlichkeit aus und stimmt insofern voll und
ganz dem nationalmoralischen Konsens zu. Womit er nicht
einverstanden ist, das ist die national als „politisch
korrekt“ durchgesetzte Einordnung der
NS-Vergangenheit. Nicht dass „wir uns unserer
Vergangenheit zu stellen“ haben, ist Hohmanns Ärgernis,
sondern wie „wir“ das tun. Denn da entdeckt er
eine von den regierenden Nestbeschmutzern zumindest
mitverursachte Neurose
: Die Deutschen verweigern
sich selbst, was ihnen – von wem auch immer – „nicht
gestattet“ wird, nämlich eine „gnädige Umdeutung“ der
„dunklen Seiten“ ihrer Geschichte. Wo andere Nationen,
die auch Dreck am Stecken haben, skrupellos Schönfärberei
betreiben und sich wie die „Unschuldslämmer“ aufführen –
schon interessant, was ein Nationalist in dem Bedürfnis,
seine Nation zu exkulpieren, über die zum Alltag von
Nationen anscheinend notwendig dazugehörenden
„Schattenseiten“ so alles ausplaudert: da werden
massenhaft Menschenleben vernichtet, das Übelste wird
verschwiegen, die Wahrheit verdreht… –, da gestatten
ausgerechnet die Deutschen es sich nicht, vor ihrem
bisschen „industrialisierter Vernichtung der europäischen
Juden“ ein paar wohltätige „Sichtschutzblenden“
aufzustellen. Das kann ein deutscher Patriot
nicht hinnehmen. Und er hat auch gleich eine sorgfältig
durchkonstruierte „Blende“ anzubieten.
Nämlich in erster Instanz ein polemisches „wenn schon, denn schon“: Wenn dem deutschen Volk, dem Volke Hohmanns, der Judenmord nicht vergeben wird, bloß weil der böse Hitler seinerzeit ganz zufällig über diese ansonsten doch herzensgute Mannschaft regiert und ein epochales „Verbrechen veranlasst“ hat, dann wüsste er, Hohmann, doch noch ganz andere Leute, Angehörige ganz anderer Volkstümer. Und er scheut sich nicht, „provozierend“ in medias res zu gehen: dann könnten ihm glatt etliche Juden einfallen, die so prominent am „bolschewistischen Terror“ im revolutionären Russland mitgewirkt haben, dass man das Verdikt „Tätervolk“ gleich postwendend an das jüdische Volk zurückgeben könnte. Was er als gewissenhafter deutscher Volksvertreter, also als Vertreter eines guten deutschen Volksgewissens, selbstverständlich nicht tut, auch nie tun würde und in seiner großen Rede schon gleich nicht im Sinn hat. Er hat nur einmal, auf seine Art, eine Schuldzuweisung ans deutsche Volk verallgemeinernd weitergedacht und will damit auf die befreiende Schlussfolgerung hinaus: So nicht! So wenig das jüdische Volk als ganzes für die bolschewistischen Missetaten einiger seiner Angehörigen haftbar gemacht werden will, darf und soll, genau so wenig müssen sich dann aber auch die Deutschen den Vorwurf gefallen lassen, ihre Vorfahren hätten in ihrer Eigenschaft als deutsches Volk dem Führer als Manövriermasse fürs Juden-Vernichten zur Verfügung gestanden. Da mögen die Nazis noch so sehr ihre besten Volksdeutschen in den Krieg geschickt und für die organisierte Juden-Vernichtung herangezogen, sich dafür aufs deutsche Volk und dessen völkische Reinheit berufen und bei besagtem Volk Anklang gefunden haben – alles nicht so ganz deckungsgleich mit den bolschewistischen Kadern, die sich bei ihrem Einsatz für die Revolution aufs Judentum, dem ein Teil von ihnen entstammte, weder gestützt noch berufen haben. Aber so genau will Hohmann dann doch lieber nicht „hinschauen“ – deswegen brauchen die Deutschen sich noch lange nicht den Massenmord an Europas Juden in ihre völkischen Schuhe schieben zu lassen. Genauso wenig jedenfalls, wie es Hohmann je in den Sinn käme, der in alle Welt zerstreuten und unter verschiedene Nationalitäten subsumierten jüdischen Gemeinde als solcher den revolutionären Terror bolschewistischer Kader aus jüdischem Elternhaus übel zu nehmen.
Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus – meint Hohmann und
kommt damit zur konstruktiven Pointe seines
geschichtsdeuterischen Gedankenexperiments: Gerade an den
jüdisch-bolschewistischen Bösewichten wird doch
deutlich, dass sie mit ihrem Einsatz für die Sowjetmacht
eben überhaupt nicht als Juden, vielmehr als
Nicht-Juden, was für einen frommen Menschen so viel
bedeutet wie: als Renegaten des von Jahwe auserwählten
Volkes, also als Gottlose, zur verbrecherischen
Tat geschritten sind. Und daraus geht doch glasklar
hervor, dass dann auch die deutschen
Nazi-Schergen – obgleich die ihr Deutschtum nun wahrlich
nicht verleugnet haben – nicht als Deutsche
gehandelt haben, als sie im Auftrag des Führers aller
Deutschen Deutschland von den Undeutschen gesäubert
haben. Sondern als was? Das tertium comparationis mit den
jüdischen Bolschewisten gibt die Antwort: als
Gottlose. Genau so ähnlich
wie Trotzki & Co.
vom Judentum haben Hitler & Co. sich von der Kirche
losgesagt und in dieser Eigenschaft, nicht etwa
als deutsche Staats-Rassisten, ihr Volk zur
Ächtung und ihre SS zur Tötung aller erreichbaren Juden
antreten lassen. Was bei Trotzki & Co. plausibel klingt –
mit jüdischem Glaubenskram hatte deren revolutionärer
Kampf wirklich nichts zu tun –, das muss deswegen doch
auch auf Hitlers Untertanen als historische
„Sichtschutzblende“ anwendbar sein: Als Deutsche
sind „wir“ immer sauber geblieben. Den Judenmord schieben
„wir“ der fehlenden Gottesfurcht des Führers in die
Schuhe. Um mit dieser zweifelsohne unseligen nationalen
Vergangenheit konstruktiv fertig zu werden, tut dem
deutschen Volk dementsprechend nur eines Not: mehr
Gott. Eine neue Synthese von Deutschtum und
Gläubigkeit muss her – Regierungsmacht für die CDU. Quod
erat demonstrandum. In Ewigkeit Amen.
Die Rezeption
Und wie reagiert Hohmanns Partei auf diese wahrhaft groß gedachte Wahlempfehlung? Undankbar zeigt sie sich, ja sogar ausgesprochen ungnädig. Kaum reißt eine skandal-geile Öffentlichkeit seinen so gut gemeinten „provozierenden“ Irrealis von den Juden als bolschewistischem Tätervolk aus seinem frommen Zusammenhang, schon knickt die CDU ein, und die Vorsitzende selbst setzt sich an die Spitze der Empörungs-Bewegung.
Ob der ostdeutschen Intellektuellen an der CDU-Spitze
Hohmanns Gedankengang wirklich zu schwierig war und sie
einfach nicht gerafft hat, dass ihr Parteifreund Deutsche
und Juden von dem Vorwurf „Tätervolk“ gerade
freisprechen wollte, oder ob sie es nur für
unmöglich befunden hat, dem Volk der Dichter und Denker
den um die Ecke gedachten Gottesbeweis des tapferen
Hessen plausibel zu machen, mag dahingestellt bleiben.
(Klar ist jedenfalls, dass die Jury, die den Ausdruck
„Tätervolk“ gleich zum „Unwort des Jahres 2003“ erkor,
nicht begriffen hat, dass Hohmann selber den Terminus
verwerfen wollte, weil an allem Bösen die Gottlosen
Schuld sind und ein Volk nie ganz gottlos sein kann.)
Vielleicht ist Frau Merkel ja sogar mit einem Überrest
von DDR-sozialistischem Antifa-Gewissen ein bisschen
darüber erschrocken, welch großen Anklang, und das nicht
nur in ihrer Partei, nicht so sehr Hohmanns gut gemeinte
Verwendung des Nazi-Klischees von der
„jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung“, sondern
dieses Klischee selber gefunden hat: Aber den
jüdischen Kommissar im Ledermantel, den hat es doch
gegeben.
(SZ, 6.11.). Auf
alle Fälle hat sie sich mit dem christlich-völkischen
Gedankengang ihres Parteigenossen gar nicht weiter
befasst und stattdessen gleich den nationalen Kern der
Sache herausgegriffen: die Irritation, die Hohmanns
Beweisführung für „die Versöhnung der Deutschen mit
sich selbst“ bedeutet. Seine Art, die
„dunklen Seiten“ der deutschen Geschichte „in ein
günstigeres Licht zu rücken“ – man bemüht einen
relativierenden Vergleich mit den Missetaten, welche die
Geschichte anderer Völker verunzieren, sogar die des
„auserwählten Volkes“ des Alten Testaments –, ist nämlich
ein Rückfall hinter den schon erreichten Stand deutscher
Selbstversöhnung. Derartiges Aufrechnen zeugt doch
erstens von schlechtem Gewissen und kommt zweitens dem
Eingeständnis gleich, dass dergleichen irgendwie alle Mal
zur Lebensgeschichte einer Nation gehört und unter
gegebenen Umständen auch wieder dazu gehören könnte. Da
haben Deutschlands demokratische Antifaschisten sich
längst auf eine viel wirkungsvollere Art geeinigt, ihre
Nation rein zu waschen: Sie bescheinigen dem deutschen
Vernichtungsfeldzug gegen die Juden absolute
Einzigartigkeit und Unwiederholbarkeit – ‚Singularität‘.
Sie leugnen jede Möglichkeit eines politischen Zwecks der
damaligen Aktion, der irgendeine Ähnlichkeit mit
anerkannten und noch aktuellen Zielsetzungen einer
aufstrebenden imperialistischen Großmacht haben könnte –
und schlagen auf die Art zwei Fliegen mit einer Klappe.
Zum einen handelt es sich bei jenem Großverbrechen, so betrachtet, schon gar nicht mehr um ein düsteres Kalenderblatt, sondern um ein erratisches Schwarzes Loch in der deutschen Geschichte. So radikal ist es ausgegrenzt aus dem Bereich des Politischen, dass nichts Politisches, was Deutschland treibt, durch eine Erinnerung an nationalsozialistische Vorbilder verunglimpft werden kann und darf. Wer in kritischer Absicht Analogien und Parallelen zwischen „einst“ und heute herstellt (von Vergleichen, die Identität und Differenz zwischen Demokratie und Faschismus festhalten, ganz zu schweigen), der „versündigt sich an den Opfern des Holocaust“, nämlich deren Recht auf Einmaligkeit, das Deutschland ihnen posthum zuerkennt. Umgekehrt geht alles in Ordnung, was deutsche Politiker heute anders machen als der gescheiterte Gröfaz; schon gleich, wenn sie sich dafür auf die „Lehren der Geschichte“ und ihre Absage an Hitler & Co. berufen: ein erstklassiger Freibrief für jede Politik, erhältlich gegen die billige Übung, den abgrundtiefen Abscheu vor dem „Holocaust“ wie eine Monstranz vor sich herzutragen. Diese Übung gehört daher auch zum Grundbestand der politischen Kultur der Nation – und erbringt gleich auch noch den anderen moralischen Extra-Profit: Indem die deutsche Nation, würdig vertreten durch ihre regierenden Antifaschisten, nichts leugnet, nichts beschönigt, sich in Abscheu gegen Hitlers Verbrechen von niemandem übertreffen lässt, übernimmt sie die Regie über alle peinlichen Erinnerungen. Sie bringt sich in die bequeme Position des Richters in eigener Sache und fungiert gleich auch noch als ihr eigener Bewährungshelfer. So funktioniert „die Versöhnung der Deutschen mit sich selbst“. Und dabei können Rückfälle in die Manier der Entschuldigung per Relativierung, mit der die westdeutsche Post-Nazi-Republik sich lange Jahre beholfen hat, wirklich nur stören. Die alte Manier bringt nie den wirklichen „Schlussstrich“, den sie fordert. Der ist nur, aber dann eben auch in unüberbietbarer Qualität, mit einer Gedenk-Kultur zu haben, in der die deutsche Nation sich mit ihrem Verdikt über „Holocaust“ und Hitlerei nicht mehr als Angeklagter aufführt, sondern als unbestechliches, denkbar strengstes und folglich allerkompetentestes historisches Tribunal betätigt und somit in Sachen ‚deutsche Geschichte‘ das letzte Wort behält. Statt sich, vor welchem fiktiven geschichtsmoralischen Gerichtshof auch immer, zu rechtfertigen, erhebt die Nation sich selbst zur letzten Rechtfertigungsinstanz.
„Wenn Deutschland den Nazi-Opfern – den „echten“ jedenfalls: den garantiert „unschuldigen“ jüdischen – ein ehrendes Gedenken bewahrt und sie gesetzlich gegen Leugnung schützt; … wenn es für seine neue Hauptstadt sogar ein eigenes „Holocaust“-Denkmal plant; dann nimmt die Nation auf diese Weise jedes moralische Recht, an jene „unselige Vergangenheit“ zu erinnern, definitiv und ungeteilt in die eigenen Hände – also jedem andern, sei es eine auswärtige Instanz oder ein einheimischer Gutachter, aus der Hand und stellt klar: Den Maßstab der moralischen Besserung legt niemand anderer an sie an als sie selbst. Und wenn sie das tut, dann in klarer Absicht und mit eindeutigem Ergebnis: Indem sie sich vor den Opfern des Vorgängerstaats so tief verneigt und dessen Verfehlungen beschwört, die sich nie wiederholen dürften“, erteilt sich „die Führung der Nation einen unendlich ehrenwerten Herrschaftsauftrag, an dem allein sie gemessen werden will – und der die Bequemlichkeit an sich hat, dass er gar nicht zu verfehlen ist: ein neues „Auschwitz“ zu verhindern… So wie andere Nationen … mit guten „geschichtlich beglaubigten“ Rechtsansprüchen und Verpflichtungen rechtfertigen, was sie tun, ganz genauso besteht die BRD mit ihrer negativen Traditionspflege, dem Auschwitz-Gedenken, auf einem unanfechtbaren moralischen Rechtsgrund für ihre Politik: „Auschwitz mahnt“ – die deutschen Machthaber sagen, wozu! … Das freie Bekenntnis zu vergangenen, eindeutig nicht zur Wiederholung vorgesehenen nationalen Missetaten begründet ein unanfechtbar gutes Gewissen, brauchbar für alle nationalen Lebenslagen und Vorhaben… Der Erhebung des Vaterlands zum politischen Höchstwert schadet es nicht, sondern nützt es enorm, wenn man sich dafür auf frühere Verfehlungen des Vaterlands bzw. auf die „Lehren“ aus seiner „schmerzlichen“ Geschichte beruft.“ (K. Hecker: Der Faschismus und seine demokratische Bewältigung, GegenStandpunkt Verlag 1996, S. 346 ff)
Diese Tour, die moralische Unübertrefflichkeit ihres
Staatswesens dadurch zu demonstrieren, dass sie sich zu
unnachsichtigen Anklägern und Richtern der –
„einzigartigen“ – „Verbrechen von Vorfahren“
aufschwingen, ist der großen Mehrheit
bundesrepublikanischer Politiker aller Couleur so in
Fleisch und Blut übergegangen, dass sie den gut gemeinten
Ratschlag eines jüdischen Außenseiters, Deutschland solle
sich doch seinen wirklich wichtigen Problemen widmen und
keinen Antisemitismus entdecken, wo keiner sei
(Norman Finkelstein bei Christiansen
am 9.11.), nur mit Unverständnis quittieren.
Deutsche Untaten gegen jüdische aufzurechnen, und sei es
bloß im Irrealis, und damit die deutschen Taten wie die
jüdischen Opfer zu relativieren, also ihrer
„Singularität“ zu berauben, ist nach all den
Maßstäben, nach denen Deutschland mit sich selber so
wunderbar einverstanden sein kann, Antisemitismus und der
größte anzunehmende Verstoß gegen den nationalen Konsens.
Denn genau so macht sich diese Republik zum
moralischen Subjekt der „Bewältigung“ der
„Verbrechen“ ihres Vorgängers: Die Erinnerung an die
Verbrechen des Nationalsozialismus gehört zum Kern des
staatlichen Selbstverständnisses der Bundesrepublik
Deutschland.
So lautet bezeichnenderweise das Motto für das in Bau befindliche
Denkmal für die ermordeten Juden Europas
Und wie der Zufall spielt: Gleichzeitig mit der
Auseinandersetzung um Hohmann tobt eine nationale Debatte
über die pietätvolle Ausgestaltung dieses Mahnmals. Und
die gerät zu einem einzigen Dokument für das
Selbstbewusstsein
, mit dem sich diese Nation ihrer
Vergangenheit stellt und das ein Hohmann so schmerzlich
vermisst. Es geht um nichts Geringeres als die
Antigraffiti-Beschichtung auf den Stelen, welche die
vollständige Unbegreiflichkeit des damaligen Völkermords
so anschaulich symbolisieren sollen: Das schon bewährte
Qualitätsprodukt kommt von der Firma Degussa, deren
Tochter, die Deutsche Gesellschaft für
Schädlingsbekämpfung, einst an der Herstellung des
berüchtigten Zyklon B zur quasi industriellen Vergasung
des jüdischen „Volksfeindes“ verdient hat. Das geht
einigen Kuratoren des Mahnmals zu weit. Nicht als ob sie
ein Argument dagegen hätten. Aber irgendwelchen denkbaren
Nazi-Opfern von auswärts – die ohne die inszenierte
Aufregung von dem Skandal freilich gar nichts erfahren
hätten – sei so viel Kontinuität im Firmennamen nicht
zuzumuten. Mit diesem Bedenken legen sie die Baustelle
kurzfristig still – und geben das Stichwort für eine
Debatte der wahrhaft auserlesenen Art: Ist es nicht ein
an Sinnfälligkeit kaum zu übertreffender Beweis für die
Läuterung der einstigen „Händler des Todes“, wenn deren
Produkt jetzt das Gedenken an ihre Opfer vor den
Schmierereien der Neonazis schützt? Was könnte geeigneter
sein, den Opfern gerecht zu werden, als diese
Manifestation tätiger Reue? Könnte es Lea Roshs
‚ungarischem KZ-Überlebenden‘ nicht Genugtuung sein, der
deutschen Industrie bei der Produktion eines Mahnmals
zuzusehen statt bei der Herstellung von Giftgas?
(Der Spiegel, 45/03) Schwer
zu entscheiden, diese Schicksalsfrage. Und genau das
qualifiziert die Debatte selber zu einer Glanzleistung
deutscher Erinnerungskultur. Bundestagspräsident Thierse
ernennt das unsägliche Hin und Her kurzerhand zum
Teil des Mahnmals selber, dokumentiere es doch
in nicht zu übertreffender Deutlichkeit, dass „wir
Deutsche“ es uns mit „unserer unseligen Vergangenheit“
alles andere als leicht machen. Und in moralischer
Hinsicht gilt auch da: Der Weg ist das Ziel. Durch
seine Entstehungsgeschichte ist das Denkmal eng mit
demokratischem Engagement und Zivilcourage verbunden.
(Denkmalmotto) Demonstrative Selbstzufriedenheit beim
Gedenken, zu der im Übrigen auch gehört, einschlägige
Schadenersatzforderungen kategorisch zurückzuweisen, das
ist die einzig wahre „Schlussstrich-Mentalität“.
Ein Streit unter Nationalisten
Festredner Hohmann freilich bleibt unbelehrbar. Den
Kunstgriff, die moralische Überlegenheit der eigenen
Nation dadurch zu beweisen, dass man die Judenvernichtung
durch den Vorgängerstaat zum Gegenstand immer währenden
nationalen Gedenkens macht, hält er nach wie vor für ein
Schuldeingeständnis, das seine Nation sich um ihrer
volksseelischen Gesundheit willen nicht zumuten darf. Im
letzten Balkankrieg hat er zwar miterleben dürfen, wie
locker deutsche Politiker es schaffen, sich zur
moralischen Autorität in Sachen „Genozid“ und
Präventivkrieg gegen slawische „Völkermörder“
aufzuschwingen, gerade unter Berufung darauf, dass die
eigene Nation selbst bereits als Völkermörder auf dem
Balkan unterwegs war. Aber diese moralisch offensive
Unverschämtheit kommt eben nicht ohne die einschlägige
„Erinnerung“ aus. Und der Preis erscheint einem Hohmann –
und damit steht er keineswegs allein – ein für alle Mal
zu hoch. Er will einfach nicht „auf Schritt und Tritt an
die dunkelsten Momente der eigenen Geschichte“ erinnert
werden. Die eingeschliffene Unbefangenheit, mit der in
der deutschen Öffentlichkeit von den Deutschen als
‚Tätervolk‘ geredet wird
, die die Süddeutsche Zeitung
anlässlich der Wahl des ‚Begriffes‘ Tätervolk
zum
Unwort des Jahres 2003
moniert (SZ vom 21.1.04), überzeugt ihn nicht von
der perfekt gelungenen „Versöhnung der Deutschen mit sich
selbst“. Vielmehr peinigt sie sein
christlich-patriotisches Gemüt mit dem Bekenntnis einer
Erbsünde, die er seinem heimatlichen Kollektiv einfach
nicht nachsagen lassen mag.
Er knickt jedenfalls nicht ein. Hohmann nimmt den Streit auf mit der Mehrheitsfraktion der politisch korrekten Fans deutscher Unübertrefflichkeit, wer mit seiner Tour der „Vergangenheitsbewältigung“ Deutschland mehr schadet. Und er muss erleben, wie im heutigen Deutschland die Ächtung eines Außenseiters funktioniert. Von seiner Rede will man endgültig nur mehr wissen, dass sie „als antisemitisch gilt“. Das langt, um gebieterisch „Distanzierung“ einzufordern. Weil er die verweigert – er kann an sich und seiner Rede einfach nichts Antisemitisches entdecken, wovon er sich ehrlicherweise distanzieren könnte, und die verlangte heuchlerische Distanzierung will er sich in diesem Fall ausnahmsweise wohl nicht zumuten –, erklärt die Partei- und Fraktionsleitung ihn zu einer Belastung für die „klare Linie“ der C-Parteien: Die Debatte kann sie im Moment gar nicht gebrauchen. Stoiber gibt grünes Licht, Merkel betreibt seinen Ausschluss. Und ab da ist die Affäre endgültig kein Antisemitismus-Problem mehr und auch nicht mehr bloß ein Problemfall der Oppositions-Taktik, sondern eine Frage der Autorität der Chefin. Um die nicht zu „beschädigen“, entschließen sich am Ende auch Hohmanns Gesinnungsgenossen, der Führung zu folgen und den Parteifreund aus der Fraktion auszuschließen.
Die von Frau Merkel angesagte „Patriotismus-Debatte“ ist damit natürlich keineswegs zu Ende. Unter anderen ergreift der Chefredakteur der „Zeit“ die Gelegenheit und unterbreitet allen Hohmännern der Republik ein
Angebot für einen offensiven modernen Patriotismus
Die „argumentieren“ nämlich viel zu defensiv, wenn sie
die „Singularität“ des Holocausts leugnen und
gewissermaßen traditionalistisch mit ihrem ewigen „Die
anderen haben doch auch …“ daherkommen. Das Deutschland
von heute bietet seinen Insassen so viel, auf das sie
stolz sein können, dass die Verteidigungsrede eines
Hohmann, der angestrengt versucht, zwischen Deutschland
und anderen Nationen gewissermaßen eine negative
Gleichheit einzuklagen, alt aussieht im Vergleich zum
zeitgemäßen „Deutschland über alles!“ „Dieses Land … muss
sich nicht seines moralischen Wertes versichern, indem es
den Makel der Vorfahren auf Juden, Israelis, Amerikaner
überträgt… Dies ist die liberalste Demokratie in Europa…
Wenn die Herren Hohmann und Günzel nach Nationalstolz und
Selbstwert lechzen, dann mögen sie sich an der
glücklichen Geschichte dieser Republik laben. Die gibt
mehr her als das Gefasel über Trotzki und
Tätervolk
.“ (J. Joffe, Die
Zeit, 13.11.) Nämlich was? Weit mehr jedenfalls
als die Lehre „Glück gehabt!“ Aus Jahrzehnten des
Aufstiegs zu einiger neuer Weltmacht folgen für echte
Patrioten beste Kopf- und Haltungsnoten für das Land. Wie
Schily und Beckstein in bewährter Tradition das liberale
deutsche Gewaltmonopol verwalten, das erfüllt einen
meinungsbildenden Intellektuellen mit einem Stolz aufs
Volk der deutschen demokratischen Glanztäter, von dem
noch die rechtesten Vaterlands-Fanatiker sich eine
Scheibe abschneiden können. Man spare sich also
problematisierende Rückblicke auf die deutsche Geschichte
am besten gleich ganz, wenn es darum geht, an welchem
deutschen Wesen Europa heutzutage sich ein Beispiel
nehmen sollte. Wir finden uns ganz einfach toll. Echter
Patriotismus braucht keine langen Argumente.