Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Europawahlen 2004:
Demokratische Einübung in einen nicht existenten Europa-Nationalismus

Europaweit sind die Völker aufgerufen, ihres demokratischen Amtes zu walten bei der ersten Wahl zum Europa-Parlament nach der Osterweiterung. Mit ihrer Stimmabgabe sollen sie sich für das Werk ihrer Herren erkenntlich zeigen und Europa, nachdem es ohne ihr ausdrückliches Zutun größer geworden ist, „demokratischer machen“.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Europawahlen 2004:
Demokratische Einübung in einen nicht existenten Europa-Nationalismus

Nach der Eingemeindung der neuen Mitgliedsstaaten, nach zähen Verhandlungen, die die politischen Anführer der alten und neuen EU-Nationen miteinander geführt haben, sind im Frühsommer 2004 die Völker am Zug: Europaweit sind sie aufgerufen, ihres demokratischen Amtes zu walten bei der ersten Wahl zum Europa-Parlament nach der Osterweiterung. Mit ihrer Stimmabgabe sollen sie sich für das Werk ihrer Herren erkenntlich zeigen und Europa, nachdem es ohne ihr ausdrückliches Zutun größer geworden ist, demokratischer machen.

Nicht als ob die Völker, die der Demokratie deren ersten Wortbestandteil spenden, dazu aufgerufen oder gar von selber dazu angetreten wären, über ihren Kontinent die Herrschaft zu übernehmen, wie es der zweite Wortbestandteil suggeriert: Nichts dergleichen haben sie auch nur beantragt. Die Wahl, die Europa – wenigstens „ein bisschen“ – „demokratisieren“ soll, ist allein denen ein Anliegen, die sie veranstalten: den Regierungen, die ein Parlament als Stütze ihrer Herrschaft zu schätzen wissen; den europäischen Institutionen, die ohne eine repräsentative Volksvertretung irgendwie nicht komplett wären; den nationalen Parteien, deren Kandidaten das jeweilige Volk mit seinem Wahlkreuz zu einem Mandat verhelfen soll. Die rufen ihre Völker zum – bekanntermaßen recht einsilbigen – Ur-Akt der demokratischen Volksfreiheit und werben dafür mit interessanten Argumenten: Das Parlament möchte gewählt werden, weil es zwar schwach, aber eben doch auch ungemein wichtig sei und gerne stärker werden möchte, was freilich gar nicht zur Wahl steht. Die Parteien wollen gewählt werden, damit sie als national sortierte Volksvertreter möglichst machtvolle supranationale Fraktionen bilden und so die kontinentale Reichweite ihrer nationalen Machtansprüche dokumentieren können. Und auch wenn sie davon nichts halten, sollen die Bürger trotzdem massenhaft zur Wahl gehen, um „diese einmalige Konstruktion einer transnationalen Demokratie im Bewusstsein der Menschen (also ihrem eigenen) zu verankern.“ (SZ, 15.6.04)

Und die machen das glatt. Zwar nicht vollzählig, aber doch immerhin zur Hälfte geben sie sich für einen Wahlakt her, der den Sinn und Zweck dieser demokratischen Hauptaktion auf originelle Weise entzerrt: Was ein normales nationales Wahlkreuz ungeschieden in einem Aufwasch erledigt – das grundsätzliche Bekenntnis zur Herrschaft, der man sowieso unterworfen ist und zu frischer Personalausstattung verhilft; die Ermächtigung einer Führungsmannschaft, die dann zeigen darf, wie gut sie den Menschen Vorschriften machen kann; schließlich die bürgerliche Freiheit, die sich im kritischen Votum über das zur Herrschaft berufene Personal verwirklicht –, das fällt hier ein wenig auseinander.

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Bei normalen nationalen Wahlen steht die Hauptsache gar nicht zur Debatte, weil sie als Prinzip aller Debatten und Entscheidungen, nämlich als Kriterium zur Beurteilung der Kandidaten und ihrer Politik fraglos vorausgesetzt ist: die Sache der Nation. Worin die besteht – objektiv geht es um die Zusammenfassung aller Potenzen einer nationalen Klassengesellschaft durch eine Staatsgewalt, die im Interesse ihres eigenen Erfolgs dafür sorgt, dass diese Gesellschaft sich als Spitzen-Standort fürs Kapital bewährt, und die mit ihrer so gewonnenen Macht auf den Rest der Staatenwelt losgeht –, das muss dem mitdenkenden Wähler gar nicht klar sein: Dafür muss er sein; dafür, dass „wir“ möglichst prima dastehen in der Welt. Das langt in aller Regel schon, um sich eine für ein Wahlkreuz hinreichende Vorstellung davon zu machen, welche der zur Wahl gestellten personellen Alternativen sich zur Führung des nationalen Kollektivs besser eignet. Und indem der Bürger diese Vorstellung in seinem Wahlkreuz vorschriftsmäßig zu Protokoll gibt, legt er auf alle Fälle ein Bekenntnis zu der „nationalen Sache“ ab – schlicht dadurch, dass er, egal welcher Partei er den Vorzug gibt, für ein gutes Gelingen der Herrschaft votiert, zu deren Manövriermasse er selber zählt.

Was bei einer normalen Wahl stillschweigend als selbstverständliche Prämisse der politischen Meinungsbildung und Entscheidungsfindung vorausgesetzt ist: die Parteilichkeit für die herrschaftliche „Sache“, das ist im Fall der Europa-Wahl ausdrücklich Thema: Der Wähler soll sich als Europa-Bürger und per Wahl einer Körperschaft, die ihrerseits für das gesamteuropäische Gemeinwesen steht, zur EU bekennen – und das ausgerechnet deswegen, weil es dieses Gemeinwesen als souveränes Machtgebilde gar nicht gibt. Daran ändert die Wahl nichts, und sie soll daran auch gar nichts ändern: Was es an supranationaler politischer Herrschaft in der EU gibt, das behalten die nationalen Regierungen sich vor. Ganz ausdrücklich gilt für die Europa-Wahl die Parole der Volkskammer-Wahlen in der einstigen DDR: ‚Wählen heißt sich bekennen!‘ – die wirklichen Machthaber sagen, wozu. Parteilichkeit ist verlangt – und ist genau so viel wert wie „die Sache“, der sie gilt, nämlich wie die Herrschaft, die vor und unabhängig von jedem Wahlakt den gemeinwesenhaften Zwangszusammenhang einer Klassengesellschaft stiftet.

Im Fall der Wahl zum Europa-Parlament also nicht viel.

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Bei normalen nationalen Wahlen versteht sich das Bekenntnis zur „nationalen Sache“, wie gesagt, von selbst; Thema und allseits für ungemein spannend gehaltene Hauptsache ist die Wahl der einen, die Nicht- oder sogar Abwahl der anderen Machtfigur. Der Wahlakt dokumentiert ganz nebenbei das grundsätzliche Einverständnis damit, dass erstens Gewalt sein muss und dass sie zweitens in die Hände von Profis der politischen Gewalt gehört; ausdrücklich ermächtigt das Wahlergebnis den Sieger dazu, verbindlich zu definieren, was das Gemeinwohl der Nation aktuell verlangt: In der Demokratie braucht es für diese Definition kein anderes Argument, als dass der Machthaber, der sie vornimmt, gewählt ist.

Bei der Europa-Wahl stehen auch Profis des politischen Gewaltgeschäfts auf dem Wahlzettel, sogar dieselben Vereine wie bei den richtigen nationalen Wahlen; auch da findet eine Ermächtigung in dem Sinn statt, dass die Gewählten ein wenig an der Macht partizipieren, die und so weit sie von den wirklichen nationalen Machthabern im Kollektiv von Brüssel aus und durch besondere Unions-Organe ausgeübt wird; für gewisse Interessenvertreter ist es daher sogar durchaus von Interesse, welche Parteien sich durchsetzen – von dem letzten Wahlergebnis z.B. erhofft (lt. SZ vom 15.6.) die Unternehmenslobby weniger Vorschriften. In Ermangelung einer souveränen Gewalt in Brüssel findet eine wirkliche Ermächtigung mit der Wahl aber gar nicht statt; dank entsprechender institutioneller Vorkehrungen entscheidet sie nicht einmal über das Personal in der gesamteuropäischen Exekutive, das deswegen auch gar nicht eigentlich zur Wahl stand. Insoweit geht es also bei dieser Wahl um nichts – jedenfalls nicht um das, was das Wählen sonst so interessant, so bedeutsam, überhaupt zum Ur-Akt demokratischer Bürgerfreiheit macht: Sie entscheidet nicht darüber, welchem Wahlsieger man anschließend bedingungslos zu gehorchen hat.

Nach demokratischen Begriffen ein enormes Defizit!

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Bei normalen nationalen Wahlen kommt der freie kritische Geist des Bürgers zu seinem Recht: Er darf sich in der Beurteilung seiner Obrigkeit austoben. Der Zensuren zu erteilen, ist erlaubt, sogar gewünscht, ja gefordert – und geht ganz prinzipiell in Ordnung, jedenfalls solange die Demokratie nicht zu ihrem Notstandsrecht greifen muss. Denn in die kritische Notengebung durch den Wähler ist mit der Sache, die zur Entscheidung ansteht, bereits die Messlatte der fälligen Kritik eingebaut: Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Ermächtigung der einen oder anderen Machtkonkurrenten zur Führung des nationalen Gewaltapparats; die kritische Überprüfung durchs regierte Volk hat also kein anderes Ergebnis, keinen anderen Inhalt, folglich auch kein anderes politisch relevantes Kriterium – ganz gleich, was der Einzelne sich zu seinem Wahlkreuzchen sonst noch einbilden mag – als die Entscheidung darüber, bei welchem Führer die Macht der Nation am besten aufgehoben sein soll. Auf die Art fallen im Wahlakt Freiheit der Kritik, Unterwerfung unter den Wahlsieger und – als Grund und Gesichtspunkt dafür – unbedingte Parteilichkeit für die Nation zusammen.

So ähnlich ist es auch bei der Wahl zum Europa-Parlament – nur ganz anders. Gefordert ist der nationale Wähler als kritischer Europäer. Als solcher hat er allerdings weder eine politische Heimat in einem gesamteuropäischen Gemeinwesen, unter dessen Gewaltmonopol er subsumiert und für dessen Gelingen er als guter Untertan schon allein deswegen automatisch parteilich wäre, noch hat er die Auswahl zwischen alternativen kontinentalen Führungsmannschaften, die anschließend über ihn zu verfügen hätten – also hat er auch keinen stichhaltigen demokratischen Grund, den in einem Wahlakt eigentlich gefragten Europa-Nationalismus an den Tag zu legen und sich, was das Wählen ja erst so richtig schön macht, als Auftraggeber seiner Herrschaft aufzuspielen. Das macht aber nichts weiter. Die Parteien, die sich zur Wahl stellen, verlegen sich darauf, im wahlberechtigten Europa-Bürger den kritischen Nationalisten anzusprechen und aufzuregen.

– Was die Abteilung „Ermächtigung der Machthaber“ betrifft, so empfehlen die Parteien die Europa-Wahl als prima Gelegenheit, sich gar nicht weiter um die gesamteuropäischen Personalfragen zu kümmern, deren Entscheidung sich sowieso die zuständigen Regierungschefs vorbehalten, sondern die heimische Politikermannschaft einer wählerischen Begutachtung zu unterziehen. Dies könne der Wähler ausgerechnet deswegen umso unbefangener tun, weil es um deren Vollmacht ja gerade gar nicht geht: Frei von der Last der Abwägung, von wem man sich für die nächsten Jahre seine Lebensbedingungen diktieren lassen will, insoweit also unverbindlich, aber doch in Form einer regelrechten Wahl soll der Bürger nationalen „Dampf ablassen“, den einen einen Triumph schenken und den andern einen „Denkzettel“ um die Ohren hauen. Von praktischem Nutzen ist das durchaus – für die Parteien, die in ihrem permanenten Wahlkampf zwischen den großen Wahlsonntagen das Grundprinzip des demokratisch-marktwirtschaftlichen Opportunismus zu Tode reiten, wonach das beste und letztlich einzig stichhaltige „Argument“ für Publikumserfolge der Publikumserfolg ist, den man schon hat. Den wahlberechtigten Massen wird so die schöne Chance eröffnet, sich als ihr eigener parteipolitischer Trendsetter zu betätigen – eine Wählerverarschung der erleseneren Art.

– Die nationale Parteilichkeit als Messlatte kommt dabei durchaus auch zu ihrem Recht; freilich nicht die europäische, die es in dem Sinn sowieso nicht gibt. Die Parteien, die sich zur Wahl stellen, agitieren nicht mit Europa – so wie sie in nationalen Wahlen mit der Zukunft der Nation werben, die nur in ihren Händen gut aufgehoben wäre –, sondern beziehen sich auf die EU als Gegenstand der nationalen Politik, als Problemfeld, das im Sinne des nationalen Gesamterfolgs erfolgreich zu bewältigen ist, wobei die jeweilige nationale Führung nach Auffassung der Opposition versagt und nach ihrer eigenen Meinung glänzend abschneidet. Nicht nur die paar erklärten Europa-Gegner und -Skeptiker: die bekennenden Europa-Parteien selber schwören ihre Wähler darauf ein, die Tauglichkeit der nationalen Führung nicht zuletzt im Hinblick darauf zu begutachten, wie gut die Nation in Europa dasteht. Dabei können sie ganz nach eigenem Ermessen und aktueller Erfolgskalkulation mal mehr als Sachwalter der europäischen Vision, mal mehr als nationale Kämpfer gegen den Moloch in Brüssel auftreten; die Botschaft ist alle Mal dieselbe: Europa soll uns nützen – über die Identität dieses „wir“ besteht kein Zweifel. So bekommt der Wähler die schöne Gelegenheit, sich als Echo des Widerspruchs zu betätigen, den die Macher des Europa-Projekts in die Welt gesetzt haben und an dem sie unerbittlich festhalten: Der Supra- fungiert als Instrument des Nationalismus.

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Wie gesagt: Etwa die Hälfte der Bürger des neuen Europa tut ihren Dienst, ohne sich für die Konkurrenzmanöver und europapolitischen Winkelzüge ihrer regierenden bzw. oppositionell mitregierenden Obrigkeit mit einem Wahlkreuz zu engagieren. Die andere, demokratisch gesehen bessere Hälfte, hart gesottene Altbürger ebenso wie aus dem sowjetischen Völkergefängnis befreite Neuwähler, erweist sich jedoch des Vertrauens würdig, das die machthabenden Europäer in ihr multi-nationales Volk setzen, wenn sie es an die Wahlurne beordern. Millionen mündige Patrioten ergreifen die Gelegenheit, mit einem kleinen Kreuz das große Europa „demokratischer zu machen“ – und wundern sich noch nicht einmal darüber, dass das tatsächlich so einfach geht.